Ein englischer Mastiff-Rüde, Gewicht 87, also körperlich nicht voll ausgereizt, aber gut im Futter, verfügt bei guter Zucht über einen leicht kläglichen Gesichtsausdruck, verursacht durch das Zusammenspiel aus angewinkelten Brauen, senkrechter Stirnfalte und seitlich abfallenden Schläfen. Die wuchtige schwarze Maske bei ansonsten hell, meist etwas silbrig glänzendem, im Überfluss vorhandenem und üppig wallendem Fell mag das Ihrige dazu beitragen, das sei unbenommen. Die steil dem Maul entfallende Zunge belegt die zweifellos hohe Grundintelligenz des Tiers, auf die seine Halter gesteigerten Wert legen, mit einem Hauch von Sozialkretinismus, wie die Kinder ihn lieben: wo Intelligenzbilder sich mischen, schlägt die menschliche Anmutung durch. Ein Freund der Familie, nicht irgendeiner, sondern der Freund in ihrer Mitte, der Löwe unter den Hunden, wie ein in der Literatur viel zitierter Beschreiber des achtzehnten Jahrhunderts ihn nennt, ein natürlicher Mittelpunkt dort, wo kein Mittelpunkt existiert, wo kein Mittelpunkt existieren darf, wo vielfältige Kreise sich schneiden, falls es denn Kreise sind und nicht Schlingerbewegungen am Rande irgendeines mit Lust prophezeiten Chaos. Langmütig muss er sein, stark und massig, mit einer hohen Toleranzschwelle, so heißt es einhellig unter den Züchtern, denn sonst ist er krank. Kinder können ihn mit der Nadel pieksen und er schleckt sie gleichmütig ab. Das Besondere an seinesgleichen ist die verschärfte Wacht an der Schwelle von innen und außen: wer zum Haus gehört, darf mit subdifferenziertem Wohlwollen rechnen, wer von außen naht, sollte sich besser vorsehen.
Welche Generationen-Erfahrungen sind in ein solches Zucht-Wesen eingeflossen? Die Rasse, sagen ihre Historiker, ist alt, sie kämpfte in römischen Arenen und zerfleischte die Bäuche gepanzerter Pferde, von denen herab Menschen in polierten Rüstungen die hohe Kunst des Mordens zelebrierten. Aber das ist, angesichts wechselnder Vorlieben der Hundehalter, nur die halbe oder Eindrittelwahrheit. Tatsache ist, dass die Rasse in der ersten Hälfte des Jahrhunderts am Boden lag und sich aus verhältnismäßig wenigen Exemplaren regenerieren musste, ehe der Mastiff, in all seiner sinnlichen Präsenz, zum Mode-Hund aufstieg. Die resignative Stirnfalte gibt der unbezweifelbaren physischen Stärke einen seelischen Hintergrund. Sie darf nicht zu scharf ausfallen, das würde der Laune schaden. Denn dazu ist er da: Laune zu machen. Dieses Muskelatoll, dessen Durchschnittsverzehr mit sechzig Kilo Fleisch pro Monat angesetzt wird, Wasser, Strom, Heizkosten nicht gerechnet, nicht gerechnet die dringend empfohlene Wohnung am Stadtrand, um den Auslauf zu sichern und die Belästigung der Nachbarn durch wehrhaftes Gebaren in rechtsverträglichen Grenzen zu halten, soll Laune machen. Welcher Mensch braucht soviel Laune? Als Familienhund taugt jedes fiepende und kläffende Wollknäuel, die Familie ist es nicht, deren Schoß solche Bedürfnisse ausbrütet. Vielleicht ist die Frage etwas undifferenziert gestellt. Vielleicht erfragt man besser den Doppelgänger, den Zwilling, vielleicht den Schatten des Hundes, der lässig sichtbar den Platz am Kamin beansprucht: den unsteten, wenig auftragenden, wenig zuverlässigen, reizbaren, in der Mehrzahl der Fälle zur Selbstverteidigung neigenden Wohngenossen, dessen atmosphärischer Beitrag angesichts unablässiger latenter oder offener Positionskämpfe rasch in den Rotbereich sackt.
Ein Tier, das jeden Positionskampf gewinnt, ohne den Ausdruck der Gelassenheit aufzugeben, kann mit dem Entzücken menschlicher Zuschauer rechnen. Seine Grausamkeit stößt, die Fraktion des Opfers abgerechnet, auf unbegrenztes Wohlwollen, solange sie diese Linie nicht überschreitet. Ein Mastiff ereifert sich nicht, falls doch, so versetzt mit einer Portion Schläfrigkeit, die signalisiert, dass er diesen Zustand nicht braucht, dass er ihn ausgesprochen lästig findet und rasch wieder zu verlassen wünscht, sobald der Störenfried ins Glied zurückgefunden hat oder in der Versenkung verschwunden ist. Was Hartnäckigkeit am Zaun keineswegs ausschließt – Feindschaft muss sein. Das Tier besitzt alle Eigenschaften, die es erlauben, sie zu genießen, nicht kalt, nicht trocken, sondern unter Gegenwarts-Gelächter, Bussi rechts, Bussi links. Gut, dass es ihn gibt, gut, ihn auf seiner Seite zu wissen: eine Momentaufnahme mit hohem sozialem Aussagewert, so sagt man doch, oder? Nein? Schade. Der Mastiff ist nicht wirklich lenkbar, dafür ist er zu eigensinnig und, nie zu vergessen, zu stark. In ihm scheint so etwas wie die Utopie der Lenkbarkeit auf, ein dankbares Feld für Sozialisationsexperimente, die er, im Vertrauen gesprochen, durch sein Grundverhalten herausfordert. Zerbricht dieses Verhalten, dann, wie gesagt, gilt er als gefährlich und muss mit Behandlungen rechnen, die rasch in den Bereich des juristisch Verfügten gehen. Ob das Verhalten zerbricht oder die Situation ohne sein Zutun kippt, vielleicht weil die Angst sich wider alles Gerede nicht abstellen lässt, vielleicht weil Aggressionsfreiheit Aggressivität, zumindest verborgene, in der Nahumgebung freisetzt, in feiner Dosierung, mag sein, gelegentlich auch in gröberer, ist eine Frage der Interpretation und im Nachhinein kaum zu beantworten. Die Tatsache, dass es gefährlich geworden ist, zeugt immer gegen das Tier und die Konsequenzen lassen nicht auf sich warten.
S steht im Rahmen, tänzelnd, ein Schwergewichtsmeister in spe, mag sein, die Beleuchtung täuscht da etwas vor. S ist wichtig, sehr wichtig, ein Plätzefüller, wo immer er antritt, ein Leuchtturm der politischen Klasse, zu der er sich mit der Brechstange, manche sagen auch, mit dem Baseballschläger Zugang verschaffte, je nachdem, welches Filmmaterial man seiner Aussage zugrundelegt und auf welchen Straßenaufnahmen der Betrachter ihn entsprechend der eigenen Parteizugehörigkeit zu erblicken glaubt. Das alles liegt zurück, es liegt dahinten, im Gepäckfach der Politik, die bekanntlich ein langes Gedächtnis ihr eigen nennt, eines Tages wird es auf ihn zurückschwingen, ein Bumerang, darauf ist Verlass. Doch wann das sein wird, weiß niemand. Weiß Gott. Demnach steht das Kürzel für Diskretion:
In der ersten Reihe, wo sonst, der Rektor, vornehm, ein wenig zögerlich, aber tief befriedigt Platz nehmend zwischen Elisabeth und – Dekan Dürrobst. Seine Augen, einen Tick winziger als sonst, wieseln nach der Kamera des Medienteams. Was für ein Tag. Wo sie nur immer bleiben? Dürrobst, beseelt davon, dass aller Augen auf ihn gerichtet sind, strahlt; am liebsten würde er ununterbrochen auf S zeigen: Da spielt die Musik. Ich bin nur der Bote. Nur der Bote… Aus irgendeinem Grund hält er S, frisch eingeschrieben, bereits für seinen Schüler und sieht sich – in gemessenem Abstand – dem Minister in spe auf der Erfolgsleiter nachklettern.
menschlich-allzumenschlich, einsfünfundsechzig,
breitschädelig, ein Paar munterer Lippen am Maul, gut trainiert, ein
geölter Blitz vor Zeiten, jetzt (aber wann ist jetzt?) von eher
gemütlichem Antritt: ein Mastiff? Vielleicht, vielleicht nicht, es geht
… es geht immer, aber in diesem Fall um Besonderes, um
Ausstrahlung, um eine gewisse Ausstrahlung, ein Flair, das Herzen zum
Pochen bringt, nicht das einzelne, verborgen in stiller Kammer oder
unter blühenden Rosenkaskaden, nein, das kollektive Herz, die
Herzensparade, das Meer der Herzen, die dem Volkstribun zufliegen,
sobald er die Tribüne betritt, um dort, verflatternd, ihm zu Füßen zu
liegen, auf dass er über ihren Teppich hinweg zum Podium schreite…
S spricht. Er spricht sich warm.
Ist’s Hass, was da von den Lippen des Nachbarn perlt? Du kennst ihn flüchtig, Jurist. Brav geflüstert, Löwe, aber nicht gut genug. Sieh dich um! Die Kollegenschar liegt ihm dort zu Füßen. Nicht einer da, der nicht gern wäre wie er. Nur feiner, irgendwie sittsamer und damit weniger populär. Wie gern wären sie populär, bloß das Populäre daran stört sie, deshalb stört auch er, anders macht Proskynese gar keinen Sinn. Auf den Bauch!
Du siehst und hörst und siehst…
Eine neue Kirche wächst da heran.
Eine neue Religion? Was zu beweisen wäre.
Etwas fehlt. Es fehlt das Sacrum.
Something is rotten in the state of Denmark.
Noch … noch fehlt das gewisse Etwas, das Religionen so unwiderstehlich macht, der Jenseitshauch, der ihre Formeln umzittert und dem Menschen ein Double erschafft, auf dass er nicht einsam und verlassen der schnöden Materie ausgeliefert bleibt.
Gewiss doch. Wir kommen alle dran. Der eine früher, der andere später. Lebenssatt der eine, unverhofft der andere. Die Hungrigen und die Satten. Wenn der Kuchen ist verzehret, wird die Menschheit ausgekehret. Die Apokalypse, Anleitung zum vorgezogenen Unglücklichsein, schreibt sich praktisch von selbst. Aber die Einsicht ins Unvermeidliche macht noch keine frohe Botschaft. Was dann?
Ein Schiff wird kommen
Aaaahhh, da rollt es herein. Wurde auch langsam Zeit. Am Bug die Aufschrift NACHHALTIGKEIT, am Heck ein keckes FOLGET MIR NACH.Nun sei bedankt, mein lieber Schwan
Das Protokoll, sofern jemand es führt, verzeichnet an dieser Stelle: Lebhafter Beifall. Warum just hier? Das ist leicht zu erklären: Friedenwanger, der taubenblaue, auch er in der ersten Reihe, schwingt die Ellbogen.
It’s now or never
Sein Credo von altersher.
Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen
Also doch. Sancta simplicitas, heilig, heilig, heilig…?
Pace Pace Pace. Friede auf Erden. Aber davor steht der Kampf.
Betrachte S, betrachte ihn aufmerksam: findest du Züge eines Verheißenen? Das Warten deiner Generation auf den blonden Erlöser in Jesuslatschen, umwallt von Lockstoffen aus fernöstlichen Weisheitsküchen, begabt mit paulinischer Flammenzunge, in der Linken das Stöckchen, das feine Magier-Stöckchen, dessen Schlag die härtesten Strukturen des Bestehenden spielend zum Einsturz bringt –: nichts hat es eingebracht außer einer gewissen Erschlaffung, folgend der Daueranspannung eines vollen Jahrzehnts. Währenddessen die mitlaufende Gewaltszene, wie zu erwarten, Stück für Stück vom Staat einkassiert wurde… Nichts hat es eingebracht außer einer weiteren Partei, mehr Sekte denn Partei, manisch dominiert von einander die Hacken abtretenden Höllenpredigern und Magdalenen-Darstellerinnen samt ihren verschlungenen Affären und After-Affärchen.
Und nun dieser da, rotzig aus der Kulisse tretend, der Typ von der Straße, ein Bilderbuch-Macho
wie irgendeiner
aus der Klischee-Box der unteren Stände, Underdog,
ausgestattet mit jenem bissigen Charme, welcher der aufmerksamen
Betrachtung des Mitmenschen entspringt, seinen geheimen Zug zur
Unterwürfigkeit unerbittlich ans Licht zerrend… künftig dein Student.
Behandle ihn sorgsam.
… und es funktioniert. Der einsame Mastiff, angelandet in Menschengestalt, überzeugt die im Aufbruch zu fernen Ufern befindliche Damenwelt, es noch einmal mit einem Kerl zu versuchen, dem letzten, den diese verrottete Männerwelt aufzubieten vermag, dem Alpha-Kerl, wie sie ihn zur Verteidigung ihres unvermutet aufspringenden Gelüstes zu nennen beliebt. Plötzlich füllt sich der eben noch leergefegte Saal mit Alpha-Kerlen, mit einer neuen Lust auf Männlichkeit, unter einer Bedingung: Kernkraft muss weg. Wurde das je psychologisch analysiert? Vermutlich nicht. Die Psychologie fällt unter die affektierten Wissenschaften, in denen der Zeitgeist seinen Schabernack treibt. Betrachte Dürrobst, der sich reckt und streckt, überzeugt, zu den Alpha-Kerlen zu zählen, es merkt nur keiner. Was nicht ganz richtig ist. Sie merken es wohl … da liegt sein Problem.
Eben noch sahst du die beiden nebeneinander stehen: Dekan und Dämon. Deutlicher kann man’s nicht ausdrücken.
… diese Grrrünen … lerne!
Sieh ein, dass
es sie gibt, jetzt und immerdar.
Sie sind
… deine … Kohorte.
Diese Menschen, wie immer du zu ihnen stehst, kennst du von innen.
Gilt das für S?
Nein.
Wauwau das Sprachrohr ist aus anderem Stoff.
So soll es sein
So muss es sein
So wird es sein
Etwas treibt diese kommenden Wesen vorwärts,
stärker, direkter, wirksamer,
erfolgreicher,
drängender als jeder Zwang, der jemals auf Menschen
ausgeübt wurde.
Nenne es: die Lust.
Die Lust als Produktivkraft.
So sagt es die Theorie.
Die Entfesselung der Lust: das Fu-Projekt.
Weitere Hinweise:
Ganz schön bissig, dieser Ruffmann.
Mag sein, mag alles sein. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Des Philosophen Wort dazu, es lautet: unabgegolten.
Das hat sich Argloser bereits gedacht.
Immer wieder staunenswert: der Augenblick, in dem das Personal eines Traums zerrinnt. Argloser und sein Widerpart, sie fahren auseinander, rein abstandmäßig wie im physischen Substrat, ein Flockenwirbel, der sich rasch verzieht. Wohin? Wohin fahren die Figuren des Traums, sobald der Traum sie ziehen lässt? Fahren sie auf? Hat ihnen der Herr ein Plätzchen bereitet? Ein Tässchen mit warmem Zimt? Was soeben noch hart aufeinanderstieß, wo findet sich der Ort seiner Harmonie? Der Traum ist nicht der Schöpfung letztes Wort, er löst die Fülle der Verpflichtungen, er ist das drohend aufgebauschte Nichts, in dem das Wort verhallt, das menschentrennende.
Apropos menschentrennend. Argloser hat recht. Aber er ist dein Feind, Ruffmann hingegen, der Schwätzer, ist dir wohlgesonnen. Fällst du dem Freund in den Rücken, weil dir der Feind besser gefällt? Warum nicht! So etwas kommt vor. Es kommt vor, über kurz oder lang, die Harmonie, sie langweilt dich, solange sie nicht mit Nadeln gespickt…
Beachte den Faktor Selbstachtung. Du kannst nicht achten, was dich verkleinert. Das gilt für Freund und Feind. Wichtig ist, auf welcher Seite du an Größe gewinnst. Auch Anerkennung kann beleidigen. Sie darf nicht billig sein.
die Große Harmonie
Steh auf, übernimm dein Tagwerk und wandle (vor allem letzteres).
Erscheinen sie jetzt und legen zu deinen Füßen nieder, was sie erdacht, erträumt, erschwitzt, erängstigt, ertrotzt, erarbeitet, erfleißigt, erweigert, aufeinandergetürmt und erschwindelt haben: Werke des Drucks und des Wahns, Broschüren, Wälzer, geächtete Lektüren, verbotene Manuskripte, in Privatarchiven vergraben, irgendwann herauszogen und zu Welterfolgen verarbeitet, Semestereingangslektüren für Studenten, die in ihren Aktionsgruppen mitreden wollen und sich nach Waffen für die Partnersuche umsehen, Antörner vor dem Schlafengehen, beständiges Hintergrundrauschen in den Gehirnen von Machern, die sich ihren Teil des Zukunftskuchens hier und jetzt abzuschneiden gedenken und das Volk auf den langen Marsch an die Blaue Lagune einstimmen, Gesellschafts-Tinnitus, mal leiser, mal lauter, eingegraben und nicht mehr wegzukriegen?
Wussten sie schon, dass sie das Hindernis sein würden, das sich zwischen ihren
Gedanken und deren Verwirklichung auftürmt: Rauschebärte, schlohweiß, hier und da vom Schmutz
der Verhältnisse angegraut, unter denen sie dahinvegetieren mussten, eingekerkert in einen
Albtraum, Patriarchen der Lust, kaum wegzukriegen, Ordnungschaffende im wogenden Chaos der
Leiber und Symbole?
Sie wussten es nicht.
Die Fu-Armee schweigt.
Moment mal. Woran willst du das festmachen? Weigern sie sich, ihre Waffen abzugeben und zu kooperieren? Verweigern sie dir den dringend benötigten Erfolg, ohne den es weder Her- noch Fortkommen gibt? Kann schon sein. Wer bist denn du, mit ihren Augen betrachtet? Der Kerl mit der Spritze, der ihre Gedanken auslöscht, um sie zu Wirklichkeit zu verarbeiten. Du bist der Mann vom Schlachthof, breitbeinig aufgestellt, an dir kommt keiner vorbei. Gedankenschlächter. Wie armselig, mit ihren Augen betrachtet, ist das denn? Und wie anmaßend dazu. Verwirklichen, das wollten sie doch, zunächst und vor allem sich selbst, das Nächste mit dem Fernsten, unauflösbar verzwirnt.
Wer ihnen gerecht werden wollte, sähe sich rasch in ihre Feldzüge verwickelt, zur spitzen Feder degradiert, alles links und rechts in den Boden gestikulierend, Parteigänger, armselig, Begriffswelten ›rekonstruierend‹ (ein armseliges Verstehen einem armseligeren opfernd): Wo führt das hin?
Die Fu-Armee schweigt.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Er sagt es leise, wie trotzig, der Trotz schwillt zum Berg, es ist der Berg, den er erklimmt. Warum? Um Bs willen? Das ergibt keinen Sinn. Und Sinn…! Ja sicher. Nicht um des A willen, nicht um des B, nein, um des C willen wird getan, was getan werden muss. C wie Chance, thronend auf einem Berg von Mühen, erahnt eher denn eräugt, denn die Entfernung ist riesig. Und dennoch wird sie ergriffen, als sei sie zur Hand, ein perspektivischer Zauber, in dem sich Drang und Durchblick zu einem Dritten verbinden, dem Erfolg.
Der Mensch lebt für den Erfolg. Aber er muss ihn sich holen. Auch du bist gehalten, ihn dir zu holen, willst du bestehen – vor dir, vor den anderen, vor dem Leben. Der Erfolg, in dir schlummernd, scheintot, bildet dein Geheimnis, du nimmst ihn, sollte er ausbleiben, mit ins Grab, und sowieso, wenn du ihn gewinnst. Das Geheimnis aber, so will es die vertrackte Sprache, schlummert nicht in dir, es lauert draußen im Irgendwo. Der Moment, in dem du sagen kannst: Es geht, es geht wirklich, ist der, in dem es fortgeht, ›in die Welt‹, wie es im Märchen heißt. Aber das hier, die ›Entfesselung‹, wäre kein Märchen, das Virus wäre jetzt in der Welt, es hätte dich benützt, um seinen Weg zu machen, und gleich wäre es frei. Willst du das? Darfst du das wollen? Darfst du das wirklich wollen?
An dieser Grenze standen viele.
Was willst du? Die Liebe neu erfinden? Ganz sicher nicht. Die Lust als Produktionskraft? Die ›freie Liebe‹, Traum zweier Jahrhunderte, soll arbeiten lernen: das ist der Fu-Kerngedanke, auf den alles hinausläuft. Fu, der Original-Fu, dachte an die Intensivierung der industriellen Produktion, an nichts weiter. Darin liegt ein Webfehler, den die fehlgeschlagenen Projekte gnadenlos offenlegten. Die ’68er, revolutionsgeil, dachten sich die sexuelle Revolution als Motor der allgemeinen Befreiung, als ›Bewusstseinsprozess‹. Wie wir wissen, blieb die Revolution aus.
Hier liegt der Hase im Pfeffer. Wenn es Wechsel gibt, dann ist er entweder bloß Mode oder bloß Nacheinander oder wirklicher Fortschritt. Ein Hin-und-Her oder ein Dann-und-Dann oder ein Auf-und-Davon. Was die Leute ›zyklisch‹ nennen, das ist der Wandel der Moden, ihr Ähnlichkeitswesen, ihr Da-war-doch-mal-was. Zyklisch erscheinen die Gesichter des Sexus, wer genauer hinsieht, weiß, dass immer alle Masken im Spiel sind. Bloß die kulturelle Wertigkeit wechselt. Was angesagt ist, muss nicht erfunden werden, es muss zur Hand sein. Alle sind im Bilde, manche mehr, manche weniger, das gibt Gelächter und Unglück.
Du willst keine Mode propagieren, du willst eine Lebensform testen.
Die Fu-Armee marschiert.
WIR alle haben dich verfolgt
und täten’s wieder, wenn man es verlangt.
Dass dem Schreiber die Literatur zum Verhängnis wird, liegt nicht am Schreiben, sondern am -iteratur, dem Wieder-Holen dessen, was doch in allem Geschriebenen deutlich zutage liegt:
SCHREIB’S AUF!
In diesem Wort liegt das Behalten, Behalten-wollen, Behalten-müssen um – fast – jeden Preis, mancher würde sagen: um jeden, um welchen sonst? Der Preis des Schreibens ist das Leben, das schreibend vertane wie das gewonnene. Denn natürlich geht es dem Schreibenden darum, Leben zu gewinnen, nicht anders als jedem beliebigen Goldgräber, der sein Leben einsetzt, um ein anderes zu … zu … der Schreibende stockt, der doppelte Gewinn bricht ihm weg, er entfernt sich im Nachsetzen der Gedanken, er bleibt von ihm getrennt, nein, er trennt sich…
Schreiben als Trennung, als aktiv betriebene Trennung, als Verlust, als Verlustgeschichte, als Apotheose des entgehenden Gewinns (›da geht er hin –‹): so etwa muss der späte Panizza gedacht haben, als er nackt durch München wandelte, um seine erneute Einweisung zu erzwingen, nachdem man ihn endlich entlassen hatte. Entlassen! Was für ein Wort. Er muss so gedacht haben, denn – hier geht es ums Müssen.
Der klassische Fall des Verräters aus Leidenschaft – er verrät der Literatur alles, was er als Therapeut gelernt hat, und sie antwortet ihm: Aber das weiß ich doch selbst! Fehlt nur das Dummerchen, das ergänzt er selbst, das kennt er gut. Literarische Leidenschaft kennt keine Bedenken, und wenn, dann setzt er sich mit einem Federstrich darüber hinweg. ›Warum ich so klug bin‹: die Formel hat sich ihm eingebrannt, auch er ist klug, ein ganz Kluger, ein klug Gewordener, ein Fessellöser, ein Anaphorit, ein Rückwärtserschließer: einer, der die Fesseln der Zivilisation löst, indem er im Vorbeigehen das Rätsel löst, das ihr zu Grunde liegt und sie bindet. Tut das gut? Oh ja, das tut gut, sehr gut, berauschend gut, hinreißend gut, eine Fessel fällt mit der nächsten, ›Nimm und lies!‹ Nimm das! Und das! Und das auch noch! Denk nicht, wir seien miteinander fertig. Wer die Zivilisation auflösen will, muss den Staat auflösen, die befreite Psyche organisiert alles aus sich selbst, jedenfalls scheint es ihr so, und wenn es ihr so scheint, dann wird es wohl auch so sein.
Ein Fehlschluss, einfach einzusehen. Warum hast du nicht gründlicher nachgedacht, König Ohneland mit der schiefen Krone aus Stanniol-Papier? Ein Sommernachtstraum hat dich verrückt, er hat dich verrückt gemacht, er hat dich verrückt werden lassen, hübsch der Reihe nach, das war der Preis, den die ›Kultur‹ von dir forderte und den du entrichtet hast, blindlings, ihr Schüler, ihr Adept, ihr gläubiger, ihr vom Glauben abgefallener Hanswurst. Die Zivilisation, das ist der menschlich gewordene Staat. Jedenfalls kann er auch anders, im Notfall anders. Wer ihn herausfordert, der lernt ihn kennen. Du hast ihn herausgefordert, du hast ihn kennengelernt. Und was hast du daraus gemacht? ›Wo Staat war, soll Ich werden, der lustbetonte Mensch‹ – eine intuitiv gewonnene Formel, primitiv, aber wirkungslos, sie funktioniert nicht, schon deshalb nicht, weil der Staat jedermann gerade so viel Lust gewährt, wie er zum Überleben benötigt. Freie Lust gibt es nicht. Lass dir das gesagt sein in deiner allzu freien, zur Allerleiqual befreiten Literatenseele. Wir haben noch allerlei zu bereden, deshalb das vorneweg.
Warum so kritisch? Sähe er heute auf dein Projekt, er könnte sagen: »Ich bin dabei. Ich bin immer dabei gewesen, ehrlich gesagt, es ist mein Projekt, aber ich überlass es dir gern. Dieser bürokratische Aufwand, er wär’ mir zuviel gewesen. Was ich nicht meinem Hund diktieren kann, lehne ich ab. Man muss ein Hund sein, um Menschen diktieren zu wollen. Ich liebe meinen Hund, er erspart mir das Gefängnis. Er erspart mir den Staat.
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Sie verlassen den kontrollierten Sektor der Zivilisation.
Vorsicht Landminen!
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Peace!
Peace!
Peace!
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Die Zukunft
ist weiblich!
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Schweres Gerät
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Les Chevaliers des Arts
Dr. Freude
1 Treppe höher
Wo Panizza litt,
muss Freude
herrschen.
Die Insel der alten weißen Männer
Du bist die Öffnung und der Verschluss.
Du bist die Wiederkehr und das Neue.
Du bist eine Öffnung in der Wand, du bist der Türbalken, der sie trägt, du bist die Tür, die sie
verschließt.
Du bist die Erwartung der Menschen und ihre Enttäuschung.
Du bist das Wesen ohne Gefühl, das alle Gefühle zum Blühen bringt.
(Jedenfalls scheint es so, aber das muss nicht stimmen. Falls du sie in Not bringst, werden sie sich an dich halten, sie werden mehr von dem Wunderstoff verlangen, bis sie begreifen, dass er verbraucht ist, dann werden sie dein Mitgefühl wollen, deine ›emotionale Begleitung‹. Sobald sie nachlässt, werden sie dich verfluchen. Sollen sie vergessen! Aber das wird nicht einfach. Sie werden diese Erfahrung in sich tragen, ›bis ans Ende ihrer Tage‹, sie werden sie mit anderen teilen, ohne dass einer vom anderen weiß, und falls sie einen Weg finden, sich untereinander auszutauschen, so wird ihr Verstand mit Blindheit geschlagen sein und sie werden nicht wissen, was es da zu bereden gibt).
Warum? Der Verstand ist das Projekt.
Entweder sie denken mit oder es denkt für sie.
Scheitert das Projekt, verlieren sie den Verstand.
Das Projekt kann nicht scheitern.
Allenfalls gehen ihm die Leute aus.
Oder die Mittel.
Elisabeth, leichtfüßig, warm, eine Erscheinung (auch von der Größe her: ja, eine Erscheinung) in Blond und Bronze, ausgegossen in jeder Pose, quicklebendig, Sprache leicht dialektal gefärbt, alemannischer Zungenschlag, nicht aufdringlich, eher im Nachklang erfahrbar, ihre familiären Verhältnisse lassen dich kalt. Elisabeth also, verheiratet, mit strahlenden Augen, die den begangenen Fehler, der vielleicht kein Fehler ist, sondern ein ordnender Eingriff, einfach wegblicken, verändert das System. Dass sie es nicht gleich wieder verlässt, ist der Planerfüllung geschuldet, denn sie will ein Kind und Leckebusch, der aufstrebende Philosoph, soll sein Vater sein. Er weiß nichts davon, auch das Kind, da inexistent, weiß nichts davon, wer weiß, ob es je davon wissen wird, wer weiß, ob das Wissen dann noch Bestand hat. Das soziale Arrangement steht und es steht an: der nächste Schritt.
Ich habe nachgedacht, recherchiert, weitergedacht, kombiniert, alles, was man in einem solchen Fall nicht unterlassen sollte: E = Elisabeth, die erste Bewohnerin des Projekts, vielleicht schon damals Rs Geliebte, vielleicht auch nicht, kalt beobachtet von diesem ... Wesen, das, wäre ich unbedarft genug, mir wie ein Ungeheuer vorkäme. Aber R, darin bleibe ich unerschütterlich, ist kein Ungeheuer, jedenfalls nicht in der Schreckensbedeutung, die das Wort nun einmal besitzt. Ein Zwitter schon, kein Hybrid-, ein Zwischenwesen, das Ergebnis von Vermeidungen, zwei, drei, vielleicht auch mehr. Ist das richtig? Aus Vermeidung kommt nichts, sagt der Verstand, Vermeidungen bereiten die Bühne für das, was sonst seinen Auftritt verpasste, sie helfen dem Unvermeidlichen, das niemand wahrhaben will. In diesem Sinn ist R vielleicht unvermeidlich. Als Professor ist auch er quicklebendig, er muss es sein, sonst wären es andere für ihn und das wäre schlecht, ganz schlecht für den Ruf, den einer weghat, gleichgültig, wie er sich verhält.
Ist Leckebusch, familiär gesehen, ein Versager?
Keineswegs.
Elisabeth wäre erstaunt und beunruhigt, würde er statt der Genese der Dialektik der
Herkunft ihrer Stimmungen nachforschen, nicht, weil sie etwas zu verbergen hätte, sondern
weil es Zweifel an seiner Statur aufkommen ließe. Wäre sie darauf aus, ihn zu ruinieren, es
wäre ein Leichtes für sie. Sie denkt nicht daran.
Warum sollte sie?
Das ist die Frage. Sie stellt sich nicht, also stellt sie sich bohrend, im Untergrund,
dort, wo man sich schon einmal fragt, nein, nicht fragt, nur die Frage berührt, ob der
prachtvolle Schal, dessen Wirkung man gerade vor dem Ladenspiegel studiert, oder ein den
Blicken der Öffentlichkeit ohnehin entzogenes Kleidungsstück wirklich durch die Kasse gehen
und nicht einfach erbeutet werden sollte, wobei das Einfache bekanntlich das Spannende ist,
wie immer man Spannung in diesem Fall definiert.
Warum überhaupt (langsam zieht das seltsame ›Überhaupt‹ aus Leckebuschs Vorlesungen in
den häuslichen Bereich ein): warum ist es nötig, Spannung zu definieren? Wird sie dann
spannender?
Für einen wie Leckebusch: gewiss.
Aus Elisabeths Sicht (die du gerade, dem Ruf des Geschlechts folgend, wie selbstverständlich einnimmst) spitzt sich das Problem auf die Frage zu:
Das meint etwas anderes als das Gerede von alten Freunden, die ›wenig Gemeinsamkeit‹ zwischen den beiden sehen und genüsslich das Scheitern ihrer Ehe voraussagen.
Frage: In welchem Sinn?
Leicht könnte sie ihn über seine finanziellen Möglichkeiten hinaus beanspruchen. Ihn ausbluten, wie man das nennt.
Warum? Es wäre dumm. Das kaufmännische Gewissen, dieses trainierte Familienherz, reagiert mit Befremden auf den erkundenden Einfall.
Sie könnte sein Zeitmanagement durcheinander bringen: fatal für den Denker, der davon lebt, dass er über Büchern, die ihm seit langem vertraut sind, Stunden und Tage verbringt, ohne sagen zu können, wohin sie gegangen sind.
In diesem Fall wäre sie, das spürt sie genau, eine ordinäre Person.
Andererseits: wäre das schlimm?
Sich unterscheiden: wäre das schlimm?
Wäre es wirklich schlimm?
Und wenn es schlimm wäre: ist Schlimmsein schlimm?
Ein wenig komisch wäre es ohne Zweifel, so wie schon die Angst davor komisch ist, jedenfalls in den Augen der Freunde, die das Wort leichtfertig aussprechen, unbetont, mit einem spielenden Nachhall, der das ironischere ›Das ist ja furchtbar‹ enthält, ohne es dem anderen zuzumuten: schlimm.
Komisch also wäre es, Leckebusch als Komiker vorzuführen, der nicht weiß, was das Leben fordert, geschweige denn, worin es besteht.
Will sie das: ein komisches Leben?
Ein komisches Leben an ihrer Seite strahlt zurück: sie wären, kein Zweifel, ein komisches Paar. Sie, ein wenig schlimm, wäre schlimm für ihn, sehr schlimm, weil der leiseste Druck ihn ruiniert. Aber Leben ist Druck: will er nicht leben?
Nein, zugrunderichten will sie ihn nicht.
Aber ebenso wenig will sie zugrunde gehen, ›vor die Hunde gehen‹, wie die Männer sagen, auch nicht ›eingehen‹, wie das weibliche Gegenstück dazu heißt, als bräuchten sie eine pflegende Hand, um ein bisschen zu blühen (so ein Unsinn, eine Hand zu erbeuten, um sie da- oder dorthin zu kommandieren, ist nicht das Problem, wirklich nicht, eher, sie fernzuhalten, all diese Hände, die nur darauf warten, sich in Bewegung zu setzen, falls sie denn warten, auch die Erfahrung ist nicht von Pappe).
Also:
Was soll sie tun? Ihr Körper dehnt sich unter der Kleidung, sie könnte schnurren, wenn
niemand dabei ist, die Tigerin spürt den Sprung.
[Dieser Frage nachgehen heißt, die Sache von der anderen Seite her aufzurollen. Was ist diese andere Seite? Nicht die Seite Leckebuschs, des Moderneforschers, der Theorieprobleme wälzt, nicht-familiäre: auf Elisabeth ist er stolz, das genügt für eine Weile.
Nenne sie: die Seite der unbestimmten Erwartung. Auch Elisabeth erwartet etwas vom Leben, etwas noch Unbestimmtes. Dieses noch Unbestimmte wird sich nach und nach auflösen in ebensoviel Bestimmtes: immer dann, wenn sie mit Bestimmtheit weiß, was sie gerade will, auch wenn sie später wissen wird, dass das Leben im Grunde etwas anderes von ihr wollte.
Die unbestimmte Erwartung kommt nicht von ihr. Auch das spürt sie. Sie kommt nicht von außen, aber ebenso wenig von innen, sie geht eher von der Kleidung aus als von der Haut, auch das spürt sie, sie lebt vom Kontakt, sie ist der Kontakt oder, vorsichtiger gesprochen, die Kontaktzone, ja genau: eine Zone, bestehend aus Erwartung.]
Elisabeth weiß, die in der Regel schwache Erwartung ist im Lauf der vergangenen Jahre stärker geworden, um ein Vielfaches stärker, ohne deshalb weniger diffus geworden zu sein. Eine diffuse, fast schon starke Erwartung, so genau könnte man sie nennen. Gut kann sie sich vorstellen, dass manche Frauen damit Schwierigkeiten bekommen und etliche sich ins Schneckenhaus zurückziehen. Ihr hingegen, auch das spürt sie, tut die gesteigerte Erwartung gut. Sie hebt ihr Lebensgefühl, sie hat nicht, wie früher gelegentlich, die Empfindung einer winzigen Höhlung, in der es sich protestierend verbirgt, sondern trägt es offen auf ihrer Haut.
Ihr tut Moderne gut.
Wie jeder andere Mensch ihres Alters kommt Elisabeth aus einer Vergangenheit, in der man Gefühle, als Gefahrenträger, verbarg, um sie im geeigneten Augenblick zu offenbaren. Heute trägt sie ihr Lebensgefühl offen. Sie wüsste nicht, warum die vor kurzem eingegangene Ehe da eine Ausnahme schaffen sollte. Eher bäumt sich ihr Inneres bei dem Gedanken auf, es könnte so sein.
Bäumt Elisabeth sich auf? Heikle Frage. Etwas in ihr bäumt sich auf. Etwas in ihr bäumt sich nicht auf, im Gegenteil, wie sonst sollte die Frage Kontur bekommen?
Sie hasst diese Art nicht, sie mag sie, sie liebt es, sich neben dem dozierenden Pharao auszustrecken, sphinxhaft, lebendig, ruhig, sehr ruhig, aber mit einem gewissen Unruhepunkt in alledem, der sie veranlasst, ins Leere zu blicken, während sich ihre Gedanken leise davonstehlen und sachte die Zimmertür hinter sich zuziehen.
Später kann sie sagen, sie habe bei Leckebusch viel gelernt.
Moderne ist materiell und gewalttätig.
Moderne ist hypersensibel und abstrakt.
Moderne tut gut.
I
Physisch sind die beiden ein Paar. Rechtlich sowieso, auch wenn das nichts zur Sache tut. Aber psychisch?
Da müsste man wissen, was ein Paar wäre.
Sie wurden hineingeworfen in die Verhältnisse, wie sie sind, in den Gang der
Verhältnisse, genau genommen, denn die Verhältnisse, sie sind nicht so, wie sie bleiben,
sie ändern sich gerade und alle Welt redet davon. Elisabeth erinnert sich lächelnd an ihre Mutter,
die gern modern sein wollte: módern kommt nicht in Frage – man muss nur die Betonung
ändern, um zu wissen, was davon zu halten ist: nichts. Es zerfällt von selbst, es zerfällt in sich
selbst und es bleiben die Widersprüche, jeder ein Türstock, den du passieren musst, auch wenn du,
streng genommen, dabei nichts gewinnst.
II
Modern ist nicht die Person. Modern ist die Zeit, mit der du zurechtkommen musst.
Ganz richtig ist auch das nicht. Modern ist die Zeit, solange sie noch in den Windeln liegt und schreiend die Veränderung aller Verhältnisse fordert, solange sie jeden Hunger, jedes Lust- oder Unlustgefühl nach außen trägt und hemmungslos dafür sorgt, dass andere sich damit befassen.
Moderne ist elitär.
III
Sobald alle Bescheid wissen, rollt sich der Teppich der Modernität zusammen und verdrückt sich in einen Winkel. Modern ist dann, wer ein wenig von gestern ist und Vorstellungen äußert, um die es nun wirklich nicht geht.
Leckebusch zum Beispiel schreibt gern und viel über die Moderne. Aber seine Moderne, soviel hat sie begriffen, zählt nicht nach Jahren, sondern nach Jahrhunderten. Neu ist sie jedenfalls nicht. Niemand hat sie geschaffen, niemand wäre imstande, sie abzuschaffen, niemand wäre imstande, sie wie einen Luxusliner zu erklimmen oder das sinkende Schiff zu verlassen, wenn es denn sänke, nur akademische Stochersucht macht daraus eine Taube, die gurrend den Partner lockt.
Wer mit der Moderne ins Bett steigt, wacht neben einem Leitfaden zur Schädlingsbekämpfung wieder auf.
Elisabeths Zeit fordert Wachsamkeit gegenüber jeder Regel des Beieinander. Einem Partner, der das nicht weiß und glaubt, er sei jetzt in festen Händen, wird unter dem Druck dieser Hände bald die Luft ausgehen.
Das steht zwar nicht im Vertrag, aber es ist die Regel, die einzige übrigens, die nicht ausgesetzt werden kann.
Alles eine Frage der Frequenz.
Absolute Freiheit für alle = absolute Ohnmacht des Einzelnen.
Lass Schauspielerinnen, die mit der Ausbeutung des ›sex appeal‹ ihre Karriere bestreiten, das Spiel bestimmen und über kurz oder lang fängst du dir die Tyrannei der Schein-Prüden ein. Am Ende der langen Straße zur Freiheit steht der Pranger.
Die Unsicherheit beginnt beim Wort. Ist ›beitreten‹ wirklich der richtige Ausdruck? Schließlich handelt es sich um etwas so Unwirkliches wie ein Projekt aus den Schubladen der Denkgeschichte, das niemals umgesetzt wurde. Was Menschen sich ausdenken, das muss doch umgesetzt werden, oder? Geschieht das nicht, ist es dann überhaupt etwas wert? Falls ja, für wen? R will Fus Modell ›an der Wirklichkeit erproben‹. Das ist zweideutige Rede, Elisabeth weiß nicht, was sie davon halten soll. Auch R ist nicht von dieser Welt, nicht ganz jedenfalls. Ganz deutlich spürt sie das. Komischerweise ist er ihr deshalb sympathisch. Auf alle Fälle ist sie entschlossen, viel von diesem Projekt zu halten, anders als von Leckebuschs hermeneutischen Verrenkungen auf dem Katheder, die sie eine Zeitlang aus der ersten Reihe verfolgte, bis ihr dabei langweilig wurde. Die Sache hier, das fühlt sie, könnte ihr Leben ändern, falls so etwas nötig sein sollte. Der Gedanke allein dringt in verschlossene Regionen ein und verändert viel, wenngleich wieder nicht so viel, verglichen mit der Tat selbst. In gewisser Weise liegt alles bereit. Eine attraktive Frau wartet nicht darauf, angesprochen zu werden. Sie fühlt sich angesprochen oder auch nicht. Das hier spricht sie an und sie reagiert: mit Klugheit und Verve.
Nein, beitreten möchte sie doch eher nicht. Das klingt ja, als sei sie im Begriff, sich auf eine Sekte einzulassen. Dabei sein möchte sie, wenn es losgeht, ›mitmachen‹ ihretwegen, mit einer persönlichen Note und einer unpersönlichen, spontan, bizarr, wenn es sein muss, bereit auszusteigen, falls das Ganze eine unvorhergesehene Wendung nimmt oder einfach zuviel wird. R, mit Fragebogen und Zirkel die befreite Lust vermessend (die vermessene Lust befreiend –)? Das ist etwas, das sie belustigt. R wird sie beobachten, soviel steht fest. Befreit sie das? Wenn ja, wovon? Von der Verschwiegenheit? Sicher nicht, sie wird verschwiegen sein wie bisher. Kein Projekt dieser Welt kann daran etwas ändern. Andererseits: öffnen möchte sie sich schon. Doch nicht bloß einen Spaltbreit! Wenn, dann ganz. Ein wenig wie diese komischen Nudisten vor fünfzig Jahren, deren verwaschene Aufnahmen sie kürzlich im Reich-Seminar belächelten, aber anders, richtiger, irgendwie menschlicher, weniger menschelnd, sofern das einen Sinn ergibt. Was heißt das überhaupt, ›sich öffnen‹? Solange sie zurückdenken kann, war sie offen für dies und das, für alles Mögliche, fast für alles, um genau zu sein, das ›fast‹ störte sie nicht, auch das verstand sich von selbst, jedenfalls wüsste sie nicht, dass sie jemals in Schwierigkeiten geraten wäre. Auch jetzt kann sie nicht glauben, es gehe um dieses ›fast‹, das wäre absurd und sie traut es dir nicht zu. Eigentlich weiß sie nicht, was du von ihr erwartest, sie wüsste es gern, aber sie ahnt, dass sie dich nicht drängen darf, das wäre wohl nicht wissenschaftlich und es würde dein Verhältnis zu ihr nachteilig verändern.
Etwas erwartet sie von dir, etwas Unbestimmtes, das ›groß‹ zu nennen sie zögert, etwas, das ihr Leben verändert wird.
Warum duzen wir uns noch?
Nimmt sie die Chance an? Ein wenig schon...
… an der Menschheit statt, das lässt die Sache weniger persönlich erscheinen.
Zeit, die kosmische Dimension ins Gespräch zu bringen.
Das findet Elisabeth grausam und ihr fühlendes Herz füllt sich mit Freundlichkeit gegen den Spinner Fu. Die Erstgeborene findet zur Harmonie.
Wenn Elisabeth anstelle der Menschheit durch diese Tür geht, versuchsweise, versteht sich, dann, weil sie sich für ein wenig erwählt hält, schließlich ist die Wahl auf sie gefallen, aber das wäre gar nicht entscheidend. Eine FoP zu sein hat schließlich auch seine Tücken, man fühlt sich minimal schäbig dabei, nicht gerade beschmutzt, da alles in klinischer Sauberkeit ablaufen wird, aber zweidimensional, da die dritte Dimension der Betrachter einnimmt. Es ist, als ob man sich fotografieren ließe: man streckt dieses Bein vor oder jenes, zwischendurch streckt man die Zunge heraus, aber diese Aufnahme unterbleibt.
Der Revolutionsgedanke: abgenudelt, passé, als Fu antritt, jedenfalls redet er so, aber die Revolution, die er vorschlägt, die Revolution aus der Retorte, die lange geruht hat, sie hat dich bereits erfasst, sie strahlt aus dir heraus. In Elisabeths Augen bist du der Fu-Gesandte, da kannst du leugnen, soviel du willst. Du bist der Mann mit der Spritze, das Serum blinkt, gleich tritt es aus, nein, es wird nicht wehtun, nicht wirklich, mit den Nebenwirkungen befassen wir uns später.
Die Frauen – sie nennen sich nach den keltischen Göttinnen Embede, Warbede und Wilbede – haben ein Recht auf Anonymität. Sie soll ihnen durch die Publikation nicht genommen werden.
LECKEBUSCH
Die elfte Feuerbach-These besagt: Sei kein Frosch.
Aber was dann? Was dann?
ELISABETH
Frosch bleibt Frosch.
LECKEBUSCH
Ist das so?
PROJEKTLEITER
Das Fu-Projekt entsteht im Bewusstsein.
Sie müssen dran glauben, sonst läuft
nichts.
LECKEBUSCH
Ich glaube zu wissen.
PROJEKTLEITER
Die Kollegen-Formel.
Sie bringt uns näher an die Sache heran.
ELISABETH
Wir alle arbeiten an einer neuen Praxis.
Mal mehr, mal weniger.
LECKEBUSCH
Soso. Mal mehr, mal weniger.
PROJEKTLEITER
Recht hat sie. Schließlich sind wir keine Ideologen.
Wir wollen die Praxis
verändern.
LECKEBUSCH
Ihr Herrn, die ihr bloß immer denkt und niemals kämpft
PROJEKTLEITER
Und nie begreift, dass nur der Kämpfer zählt
ELISABETH
Was ihr auch schreibt, ich glaube euch kein Wort.
LECKEBUSCH
Die elfte Feuerbach-These ist eine Zweckbehauptung.
ELISABETH
Die direkt in die Entmündigung führt. Das weiß ich längst.
Aber dieses
Fu-Projekt ist irgendwo auch ein Stück Sozialismus.
Eine Art Bio=Sozialismus.
Jedenfalls
habe ich es so verstanden.
Ich weiß nicht, wie die Projektleitung das jetzt sieht.
PROJEKTLEITER
Das Bewusstsein ist etwas Dynamisches.
Wir verändern die Praxis.
Durch
die veränderte Praxis verändern wir das Bewusstsein.
Das wirkt auf die Praxis zurück.
Die neue Praxis ergibt sich aus dem veränderten Bewusstsein.
Bewusstseinsveränderung ist
der Schlüssel zu allem.
Aber eigentlich ist sie unnötig, wenn wir Fu folgen.
Es genügt,
eine Münze einzuwerfen, schon setzt sich der Apparat in Bewegung. Vielleicht sprengen wir auf
diese Weise sogar die Bank. Unbedingt, sagt Fu, denn die Kette der Wirkungen liegt dann im
Bewusstsein. Ein Erfolg reißt die anderen mit, der Schneeball-Effekt lässt sich nicht aufhalten.
Ausprobiert wurde das nie, vielleicht hier und da auf einer Insel. Wir brauchen keine Ideologen
zu sein, um den Versuch zu wagen. Wir erproben Fu im akademischen Reagenzglas und kommen damit
dem Auftrag nach, den die Gesellschaft uns gibt. Wir erforschen Fu und erfahren so etwas über
uns und die Veränderbarkeit der Bedingungen, unter denen wir leben.
ELISABETH
Aber wir verändern auch uns und damit unser Leben.
Ein klein wenig Scheu bleibt
da schon.
LECKEBUSCH
Wir verändern uns von Sekunde zu Sekunde. Das ist gar nicht aufzuhalten. Es liegt
übrigens nicht an den Genen, sondern am Bewusstsein. Wir legen uns aus=einander, das heißt, wir
vermischen uns mit dem, was wir nicht sind. Wir denken anders über uns, sobald wir anderes
gedacht haben.
PROJEKTLEITER
Erste Regel: Folge deinem Bewusstsein.
Zweite Regel: Misstraue deinem
Bewusstsein.
LECKEBUSCH
Dritte Regel: Folge Fu!
Das wollen wir jetzt eine Weile tun, schon damit sich
Elisabeth nicht so alleingelassen vorkommt.
ELISABETH
Du willst mich kontrollieren.
So läuft das nicht.
PROJEKTLEITER
Keine Angst.
Es wird alles aufgezeichnet.
ELISABETH
Was müssen wir tun?
IRIS
Lassen Sie sich Zeit.
LECKEBUSCH
Was ist das?
ELISABETH
Ein Anhänger. Süß!
PROJEKTLEITER
Praktischen Schwierigkeiten beugt man am besten durch die Ausgabe von Plaketten
vor.
IRIS
Das hier ist auch hübsch.
LECKEBUSCH
Wo bringt man den an? Vielleicht am Hintern?
IRIS
Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber beschweren Sie sich nicht.
Was sagt denn die elfte Feuerbach-These dazu?
LECKEBUSCH
Die elfte Feuerbachthese schweigt.
IRIS
Das wäre doch ein Erfolg.
LECKEBUSCH
Sie wollen Marx zum Schweigen bringen? Interessant.
PROJEKTLEITER
Ich spendiere ihm ein neues Milieu.
LECKEBUSCH
Sehr gewagt. Aber ich bin dabei. Wo soll das teure Stück denn jetzt hin?
PROJEKTLEITER
Manche würden sich die Backe dafür aufschlitzen oder mit gespaltener Zunge
herumlaufen. Aber ich nehme an, Sie werden einen diskreteren Ort zu finden wissen.
IRIS
(klemmt ihm die Spange ans Revers.)
Bleiben Sie diskret.
ELISABETH
O ja. Wir werden diskret sein.
§1 Alle wesentlichen Phänomene des Lebens sind Ballungen.
Sieh das mal so. Das Boot, kaum betreten, hat sich vom Ufer gelöst und der Motor will nicht starten. Er will nicht, auch wenn der Bootsführer wütend auf alle Knöpfe drückt. Er will also und er will nicht, so etwas soll vorkommen, vermutlich ist es die Regel. Der Philosoph Tronka würde sein Lachen verströmen, als besäße er den unversiegbaren Quell, brächte man das Thema vor ihm aufs Tapet. Soll heißen: Kurs halten, immer Kurs halten, egal, was (nicht) geschieht.
§2 Der Gegenstand der Enttäuschung verhindert die Ent-Täuschung.
Diese halbe Außenansicht, die einer halben Innenansicht entspricht, diese Unzufriedenheit mit der Situation, die das Lachen der anderen einschließt, ein Lachen ohne menschliches Urteil, denn schließlich wissen sie nichts und ihr Lachen ist imaginiert, diese fröstelnde Hitze wird auf eine sonderbare Weise durch die Gegenwart der Person, die sie hervorruft, neutralisiert, so, als drücke jemand beim Hereinkommen auf den Fernsehknopf und hindere einen anschließend daran, die Sendung zu verfolgen.
§3 Liebe ist ein dynamischer Prozess, der keine Unterbrechung verträgt.
Wo waren wir stehen geblieben? Genau. Kann man denn stehenbleiben, wo man liebt? Dumme Frage, sie gleicht der bekannteren, ob man liebt, wenn man liebt. Tätigkeiten, bei denen sich eines aus dem anderen ergibt, eignen sich schlecht für Unterbrechungen. Sie bleiben liegen, aber eigentlich schwinden sie, sobald man ihnen den Rücken zukehrt. Man kehrt auch nicht zu ihnen zurück, sondern beginnt den verschwundenen Anfang zu suchen, man lässt sich treiben von einem Strom, der im Vergangenen fließt, aber stark genug ist, die Gegenwart mitzureißen.
§4 Die Vergangenheit ist ein stärkeres Band als die Gegenwart.
Eigentlich fließt er jetzt stärker als in der Vergangenheit, in der er doch Gegenwart war – verständlicherweise, denn in dieser Vergangenheit, die ganz Gegenwart zu sein behauptete, konnte man ihn verlassen, aussteigen, aus Verdruss, aus mangelnder Überzeugtheit, aus Trotz vielleicht und dem leise brennenden Gefühl der Scham, mit der falschen Person unter die Decke gekrochen zu sein, der Person, die jetzt offenbar doch die richtige ist, obwohl das Falsche der Konstellation andauert.
§5 Die zivile Hölle ist der festgeschriebene Sexus.
(a) Die Situation ist richtig, aber die Person ist falsch.
(b) Die Person ist richtig, aber die Situation ist falsch.
Phase (a) simuliert die Aufkündigung der Situation, Phase (b) schreibt sie unergründlich fest. Nun, sagt Fu, fürchte dich nicht. Vielmehr: fürchte dich vor dem, was dich bloß deshalb beherrscht, weil du es nicht beherrschen darfst. Was kann das sein? Nichts weiter als die tausend Fäden, an denen die Gesellschaft dich vorführt – jeder, für sich genommen, zu schwach, um dich aufzuhalten, aber zusammen … ein praktisch unzerreißbares Gespinst.
§6 Sexus = Nexus
Ehe hin, Ehe her, die fixierte Beziehung ist unergründlich. Heißt es, du findest keinen Grund? Aber Gründe, das Verhältnis aufzukündigen, finden sich zuhauf, das, was du Alltag nennst, besteht aus einer Ansammlung solcher Gründe, aus Gerümpel: schon verbraucht, bevor du sie denkst, im Mund dieses Wesens, von dem dich zu trennen du dir nicht erlaubst, lauter Ausgespieenes, das erneut in den Mund zu nehmen schlechterdings ausgeschlossen ist. So geht das nicht! – Menetekel einer Beziehung, die ihr Ende nicht findet, obwohl sie aus nichts weiter besteht als aus der Suche nach ihm.
§7 Eine Beziehung besitzt zwei Seiten.
Wonach sucht die andere Seite? Schwer zu ergründen, ausgesprochen schwer zu ergründen, um nicht zu sagen unmöglich. Dass sie sucht, steht außer Frage, schließlich provoziert sie die Suche, aber so, dass sie zu keinem Ende kommt. Ja, das ist es: Sie blockiert das Ende. Warum? Will sie schneller sein? Will sie es sein, die ein Ende macht? Warum macht sie kein Ende? Offenkundig will sie genau das: in der Beziehung leben. In welcher? In dieser? Das kann nicht sein. Diese Beziehung wird gleichgültig, nein, sie wird nicht sein, sie wird niemals gewesen sein, sobald sie erst in einer anderen lebt. Nur der Weg dorthin ist blockiert. Nicht sie blockiert das Ende, sondern die Beziehung selbst, denn sie existiert.
§8 Die Investition bestimmt die Kleiderwahl.
Du, der Mensch in der Beziehung, bist immer real, das ist dein Fluch. Real nicht in alle Ewigkeit, das wäre ein frommer Fluch, sondern jetzt, hier und jetzt, heute, morgen, immerdar nach der Logik der Wiederholung, die darauf setzt, dass sich die Maschine verbraucht, dass sie irgendwann explodiert oder einfach stehen bleibt und entsorgt werden muss, damit das Leben weiter geht. Noch ist sie nicht abgeschrieben, also müssen beide Seiten mit ihr auskommen, auch die andere Seite muss mit ihr auskommen, wie sie sagt, wenn sie auch sagt, dass sie es nicht erträgt. Sie erträgt es nicht? Also gut: Lass uns Schluss machen. So einfach ist das nicht, sagt sie mit hoher Stirn und gefalteter Stimme, als zitiere sie aus dem Katechismus, doch die Regel, die sie zitiert, verdankt sich keiner Schrift, stattdessen vielleicht, wer weiß, jener unsichtbaren Tinte, mit der das Schulkind einst seine Spickzettel schrieb und die sie noch immer benützt, auch wenn sie darüber lacht.
§9 Wenn es aber keinen Grund gibt...
… wenn es aber keinen Grund gibt, die Beziehung weiter zu führen, warum dann der bohrende Wunsch, ein Ende zu finden? Warum die Suche? Ende der Suche, Ende der Beziehung. Man muss mit der Suche Schluss machen, wenn sie das Gesuchte verstellt. Nur so kommt man an das Gesuchte. Das aber hieße…
§10 Die Beziehung ist keine Affäre ist keine Affäre…
… die Beziehung als Affäre zu behandeln. Doch du hast keine Affäre, du lebst in einer Beziehung. Du bist dir des Unterschiedes vage bewusst, vielleicht nicht bloß vage, vielleicht nicht bloß bewusst, vielleicht betonst du den Unterschied, denn, sei ehrlich, du lebst die Beziehung nicht, eher lebt sie dich und du lebst in jenen Zwischenzeiten, die sie dir übriglässt, jedenfalls lebst du dann auf. Das ist insofern bemerkenswert, als du Wert auf deine Beziehung legst. Aus keinem anderen Grund nennst du sie deine. Du wärest bereit, sie zu verteidigen, gegen wen auch immer. Du kennst die gekräuselte Stirn, vor allem der Frauen, die sich kein X für ein U vormachen lassen und in dir den Gefangenen wittern, jedenfalls fühlst du dich als Gefangener in solchen Momenten, die sprachlos vorübergehen, abflauen wie Gewitter, wie... wie... ja wie denn? Nein, sie flauen nicht ab, nur dir wird flau, rasch und gern wendest du dich deshalb anderen Themen zu. Du liest, was du treibst, am Blick der Gesprächspartnerin ab: ah, jetzt fühlst du dich wieder sicher, du willst nicht verstanden werden, das soll einer verstehen. In einer Beziehung hat keiner frei und wenn doch, so immer der andere, der wägt und wägt und täglich die Grenze neu festlegt, jenseits derer es ihm zu schwer wird oder zu einfach oder zu anstrengend oder zu dumm oder zu prekär oder zu intensiv, obwohl es ihm jetzt schon zu schwer, zu einfach, zu anstrengend, zu dumm, zu prekär und zu intensiv ist, jedenfalls redet er so, diese Liebe besitzt ein loses Maul, man sollte es ihr stopfen, um Unheil zu verhüten. Das ist nicht so einfach.
§11 Was also wäre eine Beziehung?
Ein Fragezeichen zwischen den Geschlechtern.
§12 Beziehung ist unterhaltsam
Die Sprache ist unerbittlich: man unterhält eine Beziehung, daran ist nichts exklusiv außer dem stetigen Strom an Aufmerksamkeiten, mit dem man sie unterhält. Das kann unterhaltsam sein, aber in Maßen, es kann sogar aufregend sein, aber in Maßen, es kann auch schleppend, lose oder verhalten zugehen, das ändert an der Tatsache der Beziehung nichts, nur an der Intensität oder am Ertrag. Eine ertragreiche Beziehung: an dieser Wendung versuchst du dich ohne Ertrag. Kann man die Beziehungen zwischen den Geschlechtern ertragreich nennen? Tragen sie etwas ein? Wenn ja, was? Unterhalten die Geschlechter Beziehungen zueinander? Oder untereinander? Oder miteinander? Das Wort ›Unterhalt‹, eine lästige Fliege, schwirrt durch den Raum. Sollte das am Ende gemeint sein? Reduziert die Beziehung das Verhältnis der Geschlechtspartner mit einer gewissen, nicht zu leugnenden Konsequenz irgendwann auf den Unterhalt? Wofür? Ist die unterhaltene Beziehung ein Pfand auf den Unterhalt, in dem sie die Dauer gewinnt, die ihr ansonsten fehlt? Wenn ja, dann läge die Antwort auf die Frage, die sie aufwirft, im Aufschub, den sie gewährt. Du bist kein Jurist, so gestellt ist dir die Frage zuwider. So weit sind wir noch nicht. Wie aufregend gestaltet sich eine Beziehung? Die Antwort liegt auf der Hand: nach Maßgabe der Gestaltung, also nach der Form des Bezugs. Auch Größe, Farbe, Konsistenz, Passgenauigkeit spielen offenbar eine Rolle, sie spielen, sieh an, eine Rolle, sie verwandeln sich in lebendige Wesen, von denen es urplötzlich wimmelt, an Stellen, an denen du dich gerade noch ruhig und, sprechen wir es aus, ein wenig geborgen fühltest. Nein, ›geborgen‹ ist nicht das richtige Wort, auch ›angekommen‹ scheint den Sinn zu verfehlen, den du gern hineinstecktest. Als Sparbüchse, immerhin, ist es vor der Hand gut zu gebrauchen. Wo angekommen? Beziehung heißt Angekommensein. Man ist noch erschöpft von der Reise, man weiß nicht, was einen erwartet, man hat keine Ahnung davon, dass hier der Teufel los ist, man wusste bis soeben nicht einmal, dass man unterwegs war, eher sehnte man sich nach Aufbrüchen, ›unterschwellig‹, wie sonst, nun also die Ankunft, und sie gestaltet sich: schwierig.
§13 Beziehung ist einsam
Nein, definitiv: man unterhält keine Beziehung. Das ist ihr verschwiegener Punkt.
PROJEKTLEITER
Was erwarten Sie sich?
Momptis Gesicht quert ein gewinnendes Grinsen, stockt auf halbem Weg und macht einer skeptischen Variante Platz.
Specht mit wunderlichen Augenringen, als zöge er sie vor dem Schlafengehen aus und legte sie in die Schublade.
Sehschlitze, die sich unvermutet öffnen und ein Augenpaar zwischen Fels und Brandung freigeben.
Die Geliebte mit hellem Teint und pechschwarzem Haar.
Kurz angebunden.
Neigt zur Fülle.
MOMPTI
Alles, wohin die Neigung geht.
ANNA AMALIA
Soso.
Und wenn sie – Handbewegung – seitwärts geht?
MOMPTI
Was ist seitwärts?
Erneute Handbewegung.
MOMPTI
setzt einen Punkt. Alles sei eine Frage der Zeit.
Seine zum Beispiel – er hält er
kurz inne, als handle es sich um ein hinterhertrippelndes Hündchen, dem er Zeit zum Nachkommen
einräumen müsse – sei keineswegs unbegrenzt.
Er habe noch einen Auftrag auf dem Zeichentisch
liegen.
Sie könnten das hier auch auf einen Zeitpunkt verschieben, der beiden Seiten besser
in den Kram passe.
Er wolle niemandem in sein Zeitregiment pfuschen, am wenigsten R, den er
noch gar nicht kenne, dergleichen liege ihm völlig fern.
Im übrigen habe er unbegrenzt Zeit.
Soweit Zeit unbegrenzt sei.
Es gebe Menschen, die keine Zeit hätten, er kenne so einen
Vogel, er kenne auch seine Routen in der Dämmerung, er kenne sie gut, den Rest könne man sich
denken.
Doch egal, wo einer seine Zeit lasse, er plädiere immer dafür, sich Zeit zu lassen,
gerade in wichtigen Dingen, und niemandem (niemandem!) seine Zeit zu stehlen.
PROJEKTLEITER
wittert die Chance. Keinesfalls ist er bereit, ihn gehen zu lassen.
Zeit
spiele keine Rolle. Überhaupt finde er, sie werde überbewertet.
Es gebe keine verlorene
Zeit.
Zeit sei Zeit, immer und überall.
MOMPTI
zieht seine Künstler-Fresse. Was R verliere?
Er habe mit dem Besuch doch ohnehin
nicht gerechnet, da könne er ihn auch gehen lassen, wie er gekommen sei.
Vielleicht sei er
nur gekommen, weil die Schwester gequengelt habe.
Nun sei er dagewesen und könne auch wieder
gehen.
PROJEKTLEITER
Das ist ein Menschenrecht.
PROJEKTLEITER
wendet sich an die Geliebte.
Mäßig amüsiert, spitze Lippchen, Spottdrossel.
Verhältnismäßig verhangen.
ANNA AMALIA
Ob er auch mit im Projekt sei.
PROJEKTLEITER
Wie meinen Sie das?
ANNA AMALIA
Das sei doch leicht zu verstehen. Ob er auch mitmache.
PROJEKTLEITER
Ich verstehe nicht ganz.
ANNA AMALIA
Privat?
Ob er seine Beziehung privat und beruflich führe.
Und ob sich das
trennen lasse.
Und: was seine Partnerin dazu sage.
PROJEKTLEITER
Das sei schon etwas anderes.
Das hier sei Wissenschaft.
Aber sie habe
schon Recht.
ANNA AMALIA
Da wolle sie doch wissen, worin sie Recht habe.
PROJEKTLEITER
Auch darin habe sie Recht.
ANNA AMALIA
Da wolle sie doch wissen, worin sie Unrecht habe.
PROJEKTLEITER
Das ... herauszufinden überlasse ich Ihnen.
ANNA AMALIA
Und wenn ich es Ihnen überlasse?
PROJEKTLEITER
Dann haben wir eine Situation.
ANNA AMALIA
Also haben wir eine Situation?
PROJEKTLEITER
Das müssten wir jetzt herausfinden.
Hart und klar tritt das Urteil über ihn in ihr Auge.
Änderung ausgeschlossen.
MOMPTI
hat das Formular ausgefüllt und setzt seine Unterschrift, eine Zeichnung
en miniature, mit Schattierungen, Unter- und Hintergründen, Schwingungen, die einen
Betrachter lange zu bannen vermögen, sobald er sich auf sie einlässt.
ANNA AMALIA
Wählt lange, bis sie die passende Stelle gefunden hat, und füllt
sie zögernd
aus.
Ihr Adlerauge überfliegt den Vertrag. Immer aufs Neue. In schwindelnder Höhe. Gleichgültig. Absolut gleichgültig. Absolut. Du versuchst zu ergrübeln, welche Abzweigung du verpasst hast, und findest keine. Der Weg war gerade, glatt, auf beiden Seiten beplankt: keine Chance, dem zu entkommen. Wolltest du das: ihm entkommen? Irgendwie schon. Ja, das wolltest du: ihm entkommen. Wie im Traum: der Verfolger ist hinter dir und du fühlst dich außerstande, einen Haken zu schlagen.
Was heißt das: außerstande? Was setzt dich außer Stand? Wozu wärest du imstande, wärest du es? Darüber musst du grübeln. Wer sagt das? Was sagt das? Wem sagt sich das? Zu welchem Ende sagt sich das? Und schließlich: Was sagt dir das? Zweifellos wärest du imstande – zu was auch immer. Nur: dieses Imstandsein passt nicht zu dir. Es kommt und geht, eine Situation wie diese zerrt es herbei, als seiest du zwingend angewiesen auf seine verborgenen Schätze. Doch es enthüllt sich nicht und geht, wie es gekommen ist: spurlos.
Wo, zwischen den dicken Brauen, nistet die Story? Diese Frau ›hat verstanden‹. Was sie verstanden hat, davon weißt du nichts, außer: nichts Gutes. Negative Verheißung: so kannst du es nennen. Sie macht dich beklommen, denn du weißt nicht, wozu sie fähig sein wird. Wer? Die Verheißung. Die Frau, einen Schritt hinter der Verheißung, bleibt verhüllt.
Du versteht. In Zukunft heißt es: sie oder du. Unterdrück das!
Sexuell geschäftsfähig geworden ist Anna Amalia Selbtritt, genannt Ama, in den sechziger Jahren ihres Jahrhunderts – relativ unspektakulär, würde Iris erklären, die selbst bis zum Hals in Hardcore-Erinnerungen steckt, vor denen die ländliche Initiationspraxis des sanft von der Flurbereinigung modellierten Hügellands jenseits der Peripherie bis zur Unkenntlichkeit verblasst. ›Stark medial geprägt‹: so der Fachausdruck, mit dem Amas Gedächtnis zu bedenken wäre. Leicht zu erläutern übrigens, noch heute beginnt sie unwillkürlich die alten Titel zu summen, sobald ihre Erinnerung diese Dinge streift, mehr kollektiv und im Ganzen als en detail, einen Satz tönender und schwimmender Bilder, wechselweise einander aufrufend und durchdringend, in der Durchdringung sich gegenseitig blockierend, zerfasernd, auflösend, auseinanderdriftend in einem sehr grenzenlosen, sehr persönlichen Ozean aus Körperkontaktgefühl, Mick Jagger et al. und ... leichtem Zahnschmerz.
Ja, Zahnschmerz. Ein leiser, kaum spürbarer, aber notorisch anwesender Zahnschmerz begleitet ihre bescheidenen Eskapaden, bis, deutlich zu jung für einen so weitreichenden Entschluss, aber getrieben von einem unerklärlichen Wunsch nach klaren Verhältnissen, sie ihre erste Ehe eingeht. Dort verliert er sich unbemerkt, so wie sich die Erinnerungen an diese Ehe seither im Zeitschlund verloren haben – kein Sound, kein Zahnschmerz, keine Erinnerung. Neuerdings schmerzt er wieder, der Zahn, aus eigenen, hier nicht zu erörternden Gründen. Es weiß auch keiner.
Was an einem so flächigen Wesen wie Ama ist genau?
Es
geht alles durch sie hindurch.
Alles?
Da wäre, fürs erste, das All: abgehakt.
Aber es gibt
auch anderes.
Ama empfindet keinen politischen Ehrgeiz, der Gedanke daran, sich parteipolitisch zu engagieren oder auch nur festzulegen, kommt nirgends an sie heran. In dem Fluidum, das sie als ihr Leben bezeichnen würde, wirkt er genausowenig real wie das Bedürfnis, ›diese Dinge‹ für sich klarzustellen und zum Beispiel Parteiprogramme zu ›studieren‹, wie diese Tätigkeit vielsagend heißt. Für die Masse der Mitbürger bedeutet leben: keine Parteiprogramme studieren. So gesehen ist Ama Masse, ein winziger Teil der Herde, die sich in Bewegung setzt, wenn in der Ferne ein Hund bellt und sich weit genug vom Gitter entfernt hält, um das Gefühl persönlicher Ungebundenheit genießen zu können.
Glücklicherweise wurde der Begriff der Politik in ihrer Jugend einer gründlichen Revision unterworfen, er bezeichnet jetzt, um es leicht kantisch-verschroben auszudrücken, ein Menschheitsgefühl, das jederzeit eine erwachsene Handlung begleiten können muss, wie kindisch sie auch sei. Welch ein Gefühl das sei und woher es kommen mag, darüber streiten sich die Gesinnungsfraktionen und Ama nimmt sich das Recht heraus, in diesen ideologischen Faustkämpfen, sobald sie in ihrer Nahumgebung ausgetragen werden, keine klare Stellung zu beziehen, sondern aus der Position einer gefühlten und leicht beunruhigten Überlegenheit heraus verbale Blitze zu schleudern und ansonsten zu schweigen.
Schweigen und Reden liegen bei Ama dicht beieinander. Immer ist eins im anderen anwesend: im Schweigen wirkt sie beredt, im Reden schweigsam, gelegentlich geradezu stumm. Nicht dass sie den Eindruck erzeugt, sie halte Informationen zurück oder neige generell zur Verschwiegenheit – ganz im Gegenteil, sie besitzt keine Sperre, heikle Dinge zur Unzeit auszuplaudern, und genießt es, wenngleich in kleinen Portionen, ihr Gegenüber bloßzustellen –, eher könnte ein Gesprächspartner annehmen, der Sprecherin fehlten die entscheidenden Informationen, die ihre Rede erst komplett machen würden.
Nein, sie rundet sich nicht, diese Rede. Stets wirkt sie, als werde sie, mit einer Spur ostentativer Hilflosigkeit, geschickt um eine abwesende Rede herumgeführt, an die sie sich in entscheidenden Punkten anlehnt, während vieles einfach in der Luft hängen bleibt, sei es auf Grund der inneren Trägheit der Wörter und Satzkonstruktionen, sei es, weil Ama die dramatischen Verkürzungen liebt, die dem Schweigen entgegeneilen, als böte es irgendeinen Halt, den die schnöde Welt der Sprache Wesen wie ihr verweigert. Ersichtlich ist dieses Schweigen das Pfund, mit dem sie wuchert, in ihm wirkt sie ungeheuer konzentriert, überlebensgroß, um es genau zu sagen – nicht groß genug, um das Gespräch zu sprengen, aber hinreichend groß, um den Gesprächspartnern die Lieferantenrolle anzuweisen, als sei es jetzt und immerdar ihre Aufgabe, die richtigen Worte zu finden, um einen drohenden Kollaps zu vermeiden, der nach Lage der Dinge nur der eigene sein kann. ›Wesen wie ihr‹ kann der Verlust des Gesprächsfadens nichts anhaben, weil es ihnen nicht einfällt, sich nach ihm zu bücken, sei es aus Rückenschmerzen oder eingeborener Trägheit, dafür haben sie ihre Lakaien.
So ist es möglich, dass sie ein angeregtes Gespräch irgendwann mit der Bemerkung »Worüber reden wir eigentlich?« oder »Warum sitzen wir hier eigentlich zusammen?« unterbricht, ohne dass sie eine konzise Antwort darauf erwartet oder auch nur zulässt – es ist ihr ›einfach zuviel‹ geworden und es verlangt sie nach Luft, nicht nach irgendwelcher, sondern der, die sie den anderen in so einem Augenblick nimmt. Kurz und gut: Ama ist anstrengend und will es sein. Wie alles ist auch das eine Frage der Dosierung. In ihrem Fall – dem Fall einer nicht unattraktiven, früh zur Fülle neigenden, unentwegt zwischen Mädchenhaftigkeit und Härte changierenden Frau – wurde daraus eine Überlebensfrage, mit dem Ergebnis, dass man sie immer und überall, gleichgültig, worum es gerade geht, mit der Mühsal des Dosierens befasst sieht.
Die Frage, so gestellt, erheischt eine Antwort auf der Zahlenskala von eins bis hundert oder ein bedächtiges ›Es kommt darauf an‹. Worauf es ankommt, das ist – zunächst – eine Definitionsfrage:
Was ist eine Frau?
In ihrer magischen Phase besaß Ama darauf eine klare Antwort: Eine Frau ist, wer einen Mann, Kinder, Kühe
und eine Nachbarin besitzt und sich morgens schminkt. Das war zwar der ländlichen Umgebung geschuldet,
in der sie aufwuchs, erfuhr aber eine nicht unerhebliche Beglaubigung durch das erste Schulbuch, das man
ihr in die Hand gab, Fibel genannt, in dem sie zu ihrer großen Freude die vertraute Welt in schwarzweiß
verfremdeten Bildern wiederentdecken konnte.
Allerdings wurde diese allzu ruhige Definition bald
durch eine andere überlagert, die da lautete: Frau ist, wer sündige Gedanken in Bezug auf das andere
Geschlecht hegt. Dabei schwang, anfangs unausgesprochen, die Erwartung mit, dass einen das andere
Geschlecht nicht im Stich ließ und seinerseits sündige Gedanken auf das eigene richtete. Folgerichtig
erwuchs daraus der Wunsch, die Richtung der zunächst eher vermuteten sündhaften Gedanken des anderen
Geschlechts sachte zu manipulieren und schlussendlich mit kindlicher Vehemenz die Bestimmung von Grad
und Ziel selbst in die Hand zu nehmen.
Auf dem Land zählt der Besitz.
Was noch? Also gut, der
Besitz.
Eine hochgepackte Ladefläche ist einer praktisch leeren, auf der nur ein paar lose
Strohbüschel durcheinanderrutschen, unbedingt vorzuziehen. Das ergibt eine Verschiebung der
Definitionsfrage: Eine richtige Frau ist, wer die Besitzfrage jederzeit zu seiner Zufriedenheit
zu regeln vermag.
Zünglein an der Waage zu sein, nicht mit dem Feuer zu spielen, sondern es dort
anzuzünden und zu unterhalten, wo es hingehört, und dafür soviel Brennmaterial einzusetzen, wie es den
Gesetzen der Ökonomie und des Wohlstands entspricht – darin liegt eine nicht unwesentliche Präzisierung
der Ausgangsfrage und zugleich der Schlüssel zu ihrer Auflösung.
Ama jedenfalls...
Doch was
liegt an Ama? Wenig oder fast nichts.
Während sich ihr Lebensprogramm praktisch auszuformulieren beginnt, gehen weit mächtigere Instanzen daran, die Besitzfrage neu zu regeln und jene Ausgangsfrage mit einem Sinn nachzurüsten, der jedenfalls nicht auf dem dörflichen Mist gewachsen war, dessen Duft, zutiefst unbewusst, den Schlüssel zu Amas wirklicher Glückseligkeit enthält.
Wenn alle wenig oder fast nichts gelten, weil immer
eine praktisch unendlich überlegene Instanz die Hand im Spiel hat, dann hat der Liberalismus, also die
Überzeugung, dass letztlich alles dem Glücksbegehren des Einzelnen zu Willen sein soll, ein Problem.
Denn auch er ist eine Instanz, gehört also zu den Mächtigen, mit denen man sich aus keinem anderen Grund
arrangieren muss als dem, dass sie da sind. Wie alle Ismen in der liberalen Gesellschaft gibt es ihn
doppelt: als Ideologie und als Partei. Seine Besonderheit besteht darin, dass die Ideologie in der
Gesellschaft das Sagen hat, die Partei hingegen, verglichen mit ihren Konkurrentinnen, im
Daumesdick-Format antritt, obwohl ihr nach jeder Wahl, kraft einer Macht-Arithmetik, die vielen nicht
einleuchten will, immer wieder, als müsse beim nächsten Mal endlich Schluss sein, die
Regierungsbeteiligung gelingt. Damit gehört er zum Kreis jener kleingroßen Mächte, zu denen sich das
Land selbst zählt: wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg. Es ist das Motto, nach dem auch
die Großparteien ihre jeweilige Klientel im Lande verwalten – eher ein wenig rechts die eine,
eher ein wenig links die andere, beide in gesicherter Tuchfühlung mit den ökonomischen
Notwendigkeiten, sprich: Kapital und Gewerkschaften, ideologisch eher blass, zwergenhaft also,
verglichen mit dem Riesenformat der Ideologie der Vergesellschaftung, in deren Zeichen die Revolte ihren
Sturmlauf beginnt. Kein Wunder also, dass die demoskopischen Zwerge, die Partei der Porschefahrer und
die außerparlamentarische Nicht-Partei derer, die ihre Kinder sein könnten und in der Regel auch sind,
sich gegenseitig als Hauptgegner im ideologischen Gemetzel markieren, aus dem sie beide letztendlich als
durchgestrichene Sieger hervorgehen. Die ökonomische Freiheit des Einzelnen, das findet auch Ama, muss
energisch beschnitten werden, seine sexuelle Freiheit hingegen gilt unumschränkt, denn aus ihr wird, auf
welchen Wegen und in welcher Form auch immer, die neue Gesellschaft hervortreten, strahlend, klar, frei,
solidarisch und zu erschwinglichen Preisen wie der Kurztrip nach Ibiza, auf dem sie den Mann
kennenlernt, den sie anschließend heiratet und, nach näherer Vertrautheit mit den Alltags-Folgen
sexueller Umtriebigkeit auf Seiten des Partners, wieder verlässt. Freiheit gegen Freiheit,
Freiheit der Wahl und Abwahl des Partners je nach Bedürfnislage gegen die halbierte Freiheit der Ehe:
mit dieser Doppelparole räumt sie streitbar das ländliche Terrain und beginnt ihr Kunststudium.
Das alles ist schon ein wenig her, es ist ein wenig von gestern, aber dieses Gestern liegt hinter Ama, als wäre es von heute oder als wäre das Heute ein Gestern, an dem jemand den Ausgang anzubringen versäumt hätte. Heute ist Ama, was zu werden sie nicht verfehlen konnte: eine Frau mit einer Botschaft, die niemand zu enträtseln versteht, am wenigstens Mompti, der Mann an ihrer Seite, der notorische Seitenwechsler, dessen Lebenskonstante der Druck ist. Druck kann sie ihm bieten: nicht zu knapp, eher ausufernd, bislang zusammengehalten durch den gemeinsamen Wunsch, eine Nicht-Ehe zu führen, eine Beziehung, aus der jeder an einem beliebigen Tag aufstehen und fortgehen kann, weil er sich anders entschieden hat, ohne dem Partner oder einer dritten Partei darüber Rechenschaft abzulegen – die klassische Künstler-Beziehung also, eingegangen, um just die Saite schwingen zu lassen, die durch die einmalige Begegnung mit dem anderen angerührt wurde.
Ärgerlich nur, dass es keine klassische Künstlerbeziehung mehr gibt.
All die Spießerseelen, zu denen sie eine wohlige Distanz schafft und schaffen soll, da der kreative Mensch eine solche Distanz benötigt, um Werke schaffen zu können, nach denen der Rest der Menschheit sich umdrehen muss, um sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, – die vielen kleinen Spießerseelen sind zur selben Zeit dieselben Wege wie Ama gegangen, gestolpert, gerannt, sie haben dieselben Wünsche und Erfahrungen akkumuliert und sitzen bereits im Haus, als Ama die halb angelehnte Tür aufdrückt und die ersten Schritte ins Halbdunkel wagt, das so gut mit den Bedürfnissen eines Zeichenstiftes harmoniert.
Wie zum Hohn auf die eigene Zunft tönte dazu all die Zeit über die sanfte, den Minutenruhm für jeden verlangende Stimme des schrillen Andy über den Atlantik und ein Hutträger namens Joseph Beuys legte nach:
Ist das wahr? Ist das wirklich so?
Es hat den Geschmack der Pro-domo-Rede und stürzt Ama, deren
Künstlertum keineswegs in sich gefestigt ist, in ein furchtbares Loch: während es ihr die Bestätigung
liefert, wahrhaft angekommen zu sein, liefert es den Grund zu neuen, nagenden Selbstzweifeln. Das
kann es nicht gewesen sein, um dessentwillen sie aufgebrochen ist.
Ein Mensch, der unverhüllt, praktisch 1 : 1, in seinem Lebensprogramm umsetzt, was als
›politisch‹ angesagt ist, kann entweder als Avantgardist oder als dumm betrachtet werden.
Aber so
einfach liegen die Dinge in Amas Fall nicht.
Was immer in ihrem Leben geschah, stets war sie nur
eine von vielen, deren Aufbruch aus ländlichen Regionen sich nach immer gleichem Muster vollzog, wobei
selbst der tiefliegende Unterschied zwischen einer katholischen und einer protestantischen Erziehung und
den sich daraus ergebenden Dispositionen im Effekt gegen Null tendierte. Wundersamerweise befand
sich Ama, was immer ihr, stets untermalt von passenden Songs, die rein zufällig zur gleichen Zeit die
Hitlisten eroberten, an den verschiedenen Fronten ihres intimen struggle for life widerfuhr, in
Übereinstimmung mit der offiziellen Politik ihres Landes, die, anfänglich zögernd, dann von Vorlage zu
Vorlage entschiedener zu Werke gehend, in engem Erfahrungsverbund mit dem experimentierenden Teil der
Bevölkerung die gesetzlichen Grundlagen schuf, auf denen Amas kommendes Leben und die Leben der
Kommenden dahingleiten sollten.
Diese Art von nachholender staatlicher Sorge, wie sie im Normalfall
nur der Wirtschaft und den Rentnern zuteil wird, hat in den Gemütern ihrer Altersgruppe tiefe Spuren
hinterlassen. Aus privaten Träumen auffahrend kommt es Ama vor, als liege ein Jahrzehnt harten
politischen Kampfes hinter ihr, den auszufechten sich, alles in allem, gelohnt habe, während in den
wirklichen Kämpfen, Frau gegen Mann und Mann gegen Frau, die sogenannte Rechtslage, soweit ihr Hinweise
in der Sache – etwa zur obstinaten Schuldfrage im Scheidungsfall – zu entnehmen waren, kaum eine Rolle
spielte, da sie ohnehin dem Bullenstaat zugeschlagen wurde.
Seine Dienste in Anspruch zu nehmen konnte sich für eine zugegeben kurze Spanne nur leisten, wer politisch und menschlich partout nicht in Betracht kommen wollte.
Philosoph Tronka, des Alkoholismus – vorerst – unverdächtig, bewegt sich auf schwankendem Boden. Man könnte ihn, angesichts der allgemeinen Beliebtheit der Opferkategorie, ohne weiteres als Opfer betrachten, dargebracht auf dem Altar wechselseitiger Liebe, oder aber, prosaischer, als ein Opfer Pidas, die Züge von Durchtriebenheit aufweist, und sich ihm, ungeschminkt gesagt, bei der ersten Gelegenheit zwar nicht an den Hals, wohl aber aufs Bett geworfen hat, vor Vergnügen quietschend und zweifellos den Beweis seiner Männlichkeit erwartend, was ja auch, er muss es gestehen, nach einigem Zögern seinerseits geklappt hat. Nicht geklappt hat es, den leisen Widerwillen gegen den Akt und Pidas Person insgesamt, den sie wohl registriert, peu à peu zum Verschwinden zu bringen, so dass sie es irgendwann angebracht findet, den unerwarteten Widerstand für sich arbeiten zu lassen, um das zweifellos vorhandene Band des Begehrens fester zu knüpfen, als es dem Stand der Zuneigung nach unbedingt nötig wäre. ›Wer ist das Opfer?‹ könnte über diesem Kapitel ihrer Beziehung stehen, oder auch ›Hasch mich, ich bin das Opfer‹ –: ohnehin läuft beides auf dasselbe hinaus. Und ich, könnte Tronka fragen, wo bleibe ich? So könnte er fragen, aber er lässt es bleiben, wohlweislich, um sich nicht noch tiefer in die Schuld zu verstricken, dem verletzten Wesen nicht hinreichend zu Diensten zu sein, wie es das chevalereske Dasein nun einmal von ihm verlangt.
Gehört Tronka in die Klasse der Liebespatienten? Auf gar keinen Fall, sagt das Selbstbewusstsein. Es
schüttelt sich bei diesem Gedanken, als könne davon ein Stäubchen haften bleiben und ihn verraten. An
wen? An was? In welcher Sache? Schwer zu erraten, von der Hand zu weisen noch schwerer, gerade von ihr,
die hier im Spiel ist und den Verräter mimt. Kaum möglich, nicht affiziert zu sein, sobald dieses Organ
sich einer Sache annimmt.
Das Gleiten beschäftigt ihn, er kommt sich gefangen vor, die Gedanken umkreisen das Krankenlager,
das sich in ihrer Mitte aufgeschlagen hat, sie wittern, die Unruhe hat sie erfasst, sie gibt den Takt
vor, den Takt –. Sie ducken sich im Bann eines Willens, der, stärker als sie, dort sein Lager
bezogen hat und offenbar nichts will als weiterkommen, ein schwacher Wille also, vielleicht eine
Willensschwäche, ein tentatives Arztsein, das diese Sache voranbringen möchte, zum Abschluss, den
er verweigert, indem er ihn hinausschiebt.
Er ist nicht so weit, sie gibt ihm Zeit, sie drängt nicht, sie ... ist bereits in der nächsten
Phase, umgewendet gleichsam, wenn sie ihn ansieht, eine Skiläuferin, die den Hang schon genommen hat und
ihr ›Ist nicht so schlimm‹ in den Vormittagshimmel haucht. Eine Partnerin, ohne Zweifel. Der Anblick
ihrer Brüste macht ihn beklommen, er trägt ihn mit sich herum, ein verschütteter Blitz, eine
Offenbarung, die fordert: Verlass mich, geh fort, geh irgendwohin, denn ich bin es nicht,
ich-bin-es-nicht. Wer-ist-es-nicht?
Sucht er den Gral? Ist der Gral eine Brust? Natürlich nicht, hört er sich lachen, tief in der Kehle,
dafür zahlt er, umsonst ist nichts. Als Patient empfindet er Freude über die Ärztin, die anschmiegsam
ihre Arbeit verrichtet, so dass es schon nach Berufung aussieht. Sie hat meine Wunde entdeckt, denkt er,
sie wird sie heilen, Berufung ist niemals einseitig, sollte das ein Spiel sein, ist sie auf beiden
Seiten im Spiel.
Wenn ja, warum so beklommen? Nein, das hier wird ihn nicht heilen, nicht ganz jedenfalls, er hat es
auch nicht erwartet. Er hat überhaupt nicht erwartet, was hier geschieht. Geschieht es wirklich? Mit
Folgen und Folgefolgen, kein Ende in Sicht? Den Faden schneidet er ab. Das hier ist tentativ. Wirklich,
aber: tentativ. Ein Versuchsaufbau, mehr nicht. Er kann ihn abräumen, wann immer er will.
Die Welt hat eine hyperbolische Struktur. Was auseinandergeht, geht ins Unendliche auseinander.
Jedenfalls virtuell, soweit es das Unendliche angeht. Der kleinste Vorschlag in dieser Richtung ist
nicht zurückzuholen.
Die Schere klafft.
Er merkt, dass ihn das berührt, irgendwo, er kennt das Organ nicht, das ihm solche
Schmerzen bereitet. Es sind auch keine Schmerzen, es ist ein Unbehagen, umfassend, nicht lokalisierbar.
Nein, kein Unbehagen, damit ließe sich leben.
Panik?
Das müsste er wissen. Er weiß es aber nicht, es ist aufquellende Panik, die weder Richtung noch
Kraft besitzt, noch nicht. Das kann sich ändern. Keine Sekunde seines Daseins könnte er mit ihr leben.
Unsinn, er lebt doch. Das Leben zieht sich zusammen auf diesen Punkt: wenn sie jetzt fortginge, fort,
durch diese Tür, wäre sie die Richtige, die Eine, die niemals wiederkehrt.
Welche Eine?
Das ist ein Rätsel. Er blickt sie an, nein, die Eine ist sie nicht, noch nicht. Noch ruht sie
fordernd unter seinem Blick, zu ruhig, zu selbstgewiss, zu fordernd, kein Impuls fortzugehen spannt
diesen Körper, aber das kann sich ändern, jetzt, gleich,
von jetzt auf gleich.
Nein, er will nicht, dass sie bleibt. Mit ihr bleibt die Panik, sie könne gehen. Auch die darf nicht
bleiben, sie muss zurück in den Körper, aus dem sie strömt, jetzt, gleich, später, gleich.
Man nimmt einen Menschen wie eine Hürde, denkt Tronka – warum nicht, man kann doch nicht in ihn
hinein, ein Mensch ist keine Öffnung, in die man hineinpasst, es wäre pervers, so zu denken, die Organe
täuschen in diesem Fall etwas vor, was einfach nicht da ist. Ginge es in einen Menschen hinein, so ginge
es auch rückwärts wieder heraus. Nein, so ist es nicht. Die einmal genommene Hürde ist jetzt in mir,
sie ist mein Eigentum geworden. Offenbar handelt es sich hier um einen primitiven
Eigentumsbegriff, den keine gesellschaftliche Entwicklung wegbekommt. Kein Zweifel, er ist eine Quelle
immerwährender Übergriffe. Diese Gewalttätigkeit muss unterdrückt werden – mit Gewalt vermutlich.
Alle Instanzen des Staates stehen bereit, sie zu unterdrücken, nur so entsteht Freiheit, die Freiheit
des Geschlechts. Wer sagt, das Geschlecht muss frei sein, plädiert also für Gewaltunterdrückung, also
für Gewalt. Doch er plädiert auch für die Gewalt des Einzelnen, der sich nimmt, was er braucht.
Was für eine Sprache: Ich nehme mir, was ich brauche. Ich brauche etwas, was mit diesem
Menschen untrennbar verbunden ist, etwas, das mit ihm untergeht, also brauche ich diesen Menschen und –
ich nehme ihn. Ich nehme ihn mir wie ein Dieb, nein, wie ein Räuber, denn ich suche den unmittelbaren
Kontakt mit ihm. Und nun das Bemerkenswerte: das Opfer wendet sich freundlich zu mir und ich merke, es
ist schon weiter. Meine Mordlust ertrinkt in seiner. Nun ja, es ist keine Mordlust, nur das Bewusstsein
der Hürde, die sich hier auftürmt.
Das Opfer ist wild entschlossen, die Schanze zu stürmen, die ich ihm entgegenstelle, übrigens
unbewusst, tief unbewusst. Meine Hürde ist nicht seine Hürde, ich könnte es taktisch beraten, ohne dass
mir das hülfe. Und tatsächlich, es kommt mir entgegen, es ebnet die Wege, das Vorgelände, es baut
Hindernisse an Stellen ab, an denen ich keine vermutet habe, es ist ein einziges Niederreißen, das mir
entgegenkommt und sich in mir auftürmt. Da ist das wahre Hindernis.
Gelänge es mir, Abstand zu wahren, dann wäre ich Nutznießer all dessen, was hier geschieht.
Eigentlich müsste ich es können, aber ich kann es nicht. Ich bin nicht aus Holz und ich bin nicht
tückisch, also kann ich es nicht.
Tückisch ist der Verlauf, den die Sache nimmt. Ich habe ihn nicht gewollt, ich kenne mich darin
nicht aus.
Man könnte den Labyrinthmeister rufen, aber sein Gesicht ist feindselig, das Gefühl zuckt vor ihm
zurück.
TRONKA
Geben Sie her.
IRIS
Das Kleingedruckte zuerst.
TRONKA
Da muss ich erst meine Brille herausholen.
Wenn Sie sagen, ich verkaufe mich, wenn ich das unterschreibe, dann kümmert mich das nicht.
Her mit dem Zaster ist meine Devise, über das andere verhandeln wir später. Es gibt doch
Zaster, nicht wahr? Ich meine, ich mache hier richtig Kohle, wenn ich an der richtigen Stelle
unterschreibe? Zeigen Sie mir die richtige Stelle und ich unterschreibe alles. Schließlich leben wir
in einem Rechtsstaat.
IRIS
Ich muss Sie aufklären.
TRONKA
Mich? Aufklären? Dann fangen Sie mal an.
IRIS
Die Statuten besagen, dass alles, was Sie im Rahmen des Projekts aushandeln und/oder begehen,
festgehalten und ausgewertet werden darf.
TRONKA
Halten Sie fest, werten Sie aus. Sie werden sich noch wundern über all den Müll, den Sie da
produzieren.
IRIS
Sie halten das Projekt für Müll?
TRONKA
Stört Sie der Gedanke? Dann hören Sie mir mal zu. Nehmen wir eine Weltbevölkerung von, sagen
wir, fünf bis sechs Milliarden Menschen. Wie viele davon sind sexuell aktiv? Zwei Drittel? Drei
Viertel? Das ist, wie wir wissen, auch eine Definitionsfrage, belassen wir es dabei.
Wieviele
Kulturen gibt es auf dem Planeten? Ein heißes Eisen, sehr heiß, kaum einer will sich die Finger
daran verbrennen. Sagen wir doch einfach tausend, sagen wir zehntausend. Das genügt völlig.
Betrachten Sie jede einzelne Kultur als ein vergleichbares Projekt, betrachten Sie die Zahl der
Probanden. Glauben Sie wirklich, Sie werden etwas Neues zutage befördern? Viel Glück, kann ich da
nur sagen.
PROJEKTLEITER
Wir machen einen Schnitt.
Alle bisherigen Praxen sind erworben, diese wird kontrolliert
erzeugt. Darin liegt schon ein Unterschied.
TRONKA
So Gott will.
IRIS
Wie bitte?
TRONKA
Die Protokolle der Vergangenheit liegen Ihnen vor, Sie müssen sie nur studieren. Von den
heiligen Büchern, ihren Auslegungen, den Gesetzbüchern samt Kommentaren, den Gerichtsurteilen, den
Folterberichten, den Geständnissen, den Familienchroniken hin zu den abertausend Romanen,
Theaterstücken, Therapeutenprotokollen und psychologischen Studien: alles vorhanden. Nichts
geschieht unkontrolliert. Wo doch, so schlägt jemand ganz schnell Alarm und es wird nachgeforscht
bis zum Erbrechen. Ich persönlich empfehle die Märchenforschung: sehr ergiebig.
IRIS
Dann fangen wir doch einfach damit an.
TRONKA
Wenn Sie es so sehen wollen: ja.
TRONKA
Ich würde Sie gern einladen.
Nein, nicht zu einem Becher Kaffee im Bordbistro, obwohl...
Nein, mit allem Drum und Dran, Sie verstehen schon, was ich meine. Die Tage gehen so schnell vorbei,
dass es dunkel wird, ehe einem ein Licht aufgeht, ich meine, ein Lichtlein, worauf jeder ein Recht
haben sollte.
IRIS
Nach dieser Anstrengung haben wir uns das beide verdient.
TRONKA
So ist es. Und ich füge hinzu: Nemo contra deum nisi deus ipse.
IRIS
Sind Sie immer so anstrengend?
TRONKA
Das ist erst der Anfang. Kommen Sie in meine Vorlesung und ich verklickere Ihnen den Rest.
IRIS
Wann lesen Sie denn?
TRONKA
Wann immer Sie wollen.
IRIS
Tronka, Sie sind eine Vollwaise.
TRONKA
Die Stimme der Vernunft, ganz wie ich sie mir vorgestellt habe. Wissen Sie, meine Großmutter ...
die Dialektik ist ja nicht falsch, man muss sie nur ... nein, nicht was sie denken. Man muss sie auf
ihren logischen Kern reduzieren, der lautet: Gehe über C und kassiere den Wert, den du ihm
einräumst.
IRIS
Dann kassieren Sie mal. Und legen Sie Ihren logischen Kern doch woanders hin. Der Nächste bitte.
müssen entsorgt werden. Wohin fließt dieser Strom, nachdem er die aufnehmenden Organe der Umwelt aus Müttern, Töchtern, Tanten, Neffen, Nichten, Arbeitskollegen, Freunden, Ärzten, Gatten, Liebhabern, Söhnen, Apothekerinnen, Marktfrauen, Gemüsehändlern, Friseuren, Struppis, Kioskbesitzern, Vätern, Sekretärinnen, Chefs, Aushilfskräften, Großmüttern, Onkeln und Anrufbeantwortern durchlaufen hat? Die Frage mag Stirnrunzeln hervorrufen, aber sie ist berechtigt. Was als trautes Zwiegespräch, als Ansprache, Herzensrede, Hetzrede, Denunziation, als familiäres Geplauder, als Zank, Aussprache, Abgleich von Informationen, als Unterredung, Belehrung, Unterrichtung, Predigt, Smalltalk, Flirtrede, Grundsatzrede, Selbstgespräch und dergleichen geführt und verstanden wird, entpuppt sich, andersherum betrachtet (oder behört) als endloses Band aus Sprachlauten, aneinandergereiht nach geheimnisvollen Regeln, die aber, aufs Ganze gesehen, zurücktreten, weil der gleichmäßige, das heißt jede Ungleichmäßigkeit auf mittlere und lange Sicht ausgleichende Fluss einfach keine statistische Möglichkeit auszulassen scheint. Entpuppt sich? Wohl nicht. Hier gibt es, außer für Realitätsfanatiker, keine wirkliche oder eigentliche Seite, die eine Seite ist zugleich mit der anderen, bringt sie zwangsläufig mit hervor und kassiert sie. Dennoch bietet der Strom, einmal ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, den befremdlicheren Anblick, vermutlich deshalb, weil sein Ursprung und sein Ziel der Wahrnehmung entrückt bleibt. Kinder lernen sprechen, ganz recht, aber sie lernen sprechend, Laute versuchend, Laute formend, Sinnanmutungen erzeugend, deren Herkunft im Dunkeln liegt und bleibt und nur durch die elterliche Anmaßung, sie in diesen warmen Körper trickreich und geduldig hineinpraktiziert zu haben, an Schrecken verliert.
Wohin verschwindet er, sobald der Sinn kassiert wurde? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, wie die Entgeisterung zu verstehen gibt, mit der die Umgebung auf sie reagiert.
Der Strom – denn um ihn geht es – lenkt dich hierhin und dorthin, er lässt dich ungerührt deine größten Torheiten begehen und zögert nicht, dir jeden Wunsch abzuschlagen, bevor du ihn äußerst, denn er hat andere Wünsche parat, solche, von denen du gerade eben noch nichts wusstest, manche nennen ihn Wunschmaschine, auch das ein Wort, der Strom trägt es vorbei, er nimmt dich mit, aber er trägt vorbei, du kannst nicht sagen, er nehme dich ein Stückweit mit und lasse dich dann liegen, so liegen die Dinge nicht, du selbst bist der Strom, das Ufer und die Wiesen dahinter, du bist das alles, fragt sich, im wievielten Monat.
und das Unheil nimmt seinen Lauf. Kein besonderes Unheil, nichts, wozu dringender Redebedarf bestünde, nur das allgemeine Unheil, das ausstehende Heil, der Modus vivendi, das Unbegehrte, das zum Begehrten wird und wieder verschwindet in der Fülle des Unbegehrten. Du denkst dir deine Sätze nicht aus, das wäre ja, das wäre ja gekünstelt, das ginge gleich daneben, nein, so unsicher stehst du nicht in der Welt, um zu solchen Mitteln zu greifen. Du sprichst, und wie du sprichst, so ist es gesprochen, man kann es aufzeichnen, es hört sich seltsam an, für dich jedenfalls, anderen kommt es ganz normal vor, sie kennen dich oder sie kennen dich nicht, das ändert nichts an der Normalität. Wer so redet wie du, der denkt nicht, etwas könne falsch sein an seiner Rede, er denkt, was er denkt. Versteht er auch, was er denkt? Das zu erkennen ist nicht so einfach. Schon zu sagen: Er gibt zu verstehen, enthält eine Provokation, denn verstehen heißt nicht, eine Gabe entgegenzunehmen, sondern zu begreifen, worauf der andere hinauswill. Was will er denn? Weiß er es selbst? Weiß er es immer? Das imponiert den Leuten, aber es hält sie auch fern. Was ist das für ein Mensch? Was will er von mir? Kann ich es ihm geben? Kann ich es ihm verweigern? Wie kann ich es ihm verweigern, solange ich nicht weiß, was er will? Seine Rede ist klar, gerade das macht sie mir verdächtig. So klar ist kein Mensch. Und wenn er es wäre: So läuft das Spiel nicht. Wie läuft es dann? Nun ... anders. Immer wissen, was man will, und es immer verfehlen – geht das? Weiß man noch, was man will, geht einem erst einmal die Verfehlung auf, die im Wissen steckt? Ist es dann noch Wissen? Wenn nicht, was dann?
in seiner knappen, jede Entgegnung abschneidenden Art, es sei denn, sie kommt ihm ebenso schneidend entgegen, was er mit einem trocknen Gelächter, gelegentlich auch mit einem unsicher den Boden absuchenden Blick quittiert, Tronka gibt vor, jederzeit zu wissen, was er da sagt. Es misslingt ihm so gründlich, dass ein Kind den Kindskopf in ihm erkennen würde, der sich in einer zu groß geratenen Rolle gefällt, so als schlurfe es selbst in den vorm Bad abgestreiften Schuhen der Mutter durchs elterliche Schlafzimmer. Bekommt man so Sex? Eher nicht. Oder doch? Er amüsiert, das ist einerseits gut, andererseits schlecht, denn in diesem Amüsement steckt ein Eiskern, der niemals schmilzt. Niemals? Wer kann das behaupten? Ersichtlich niemand, auch um Tronka webt, wenigstens in dieser Hinsicht, ein Geheimnis. Dennoch bleibt die Frage erlaubt, wohin man den Wortmüll entsorgen müsste, wollte man Platz für zwei schaffen, sobald er zu sprechen beginnt. Nicht dass er schlechter als andere spräche, er spricht weitaus artikulierter als seine Umgebung, seine Syntax ist selten zu tadeln, er beherrscht die Kunst des Bonmots. Leider ist diese Kunst nicht nur so gut wie ausgestorben, sondern sie löst, wo sie praktiziert wird, fast immer Verlegenheit aus, also das Gegenteil dessen, was ein gutes Wort im Gespräch bewirke sollte.
So lautet die Devise. Sie verbindet Tronkas Kreise mit dem Volk, das ein biologischer Zufall ihnen zum kulturellen Umfeld bestimmt hat. Tronka, überartikulierend, ein Leuteschreck, ist zwar gerüstet, alles haarklein zu erklären, aber nicht, das Befremden aufzulösen, das der Gebrauch jener Kunst zum Ausdruck bringt. Das ist schade, denn so entgeht beiden Seiten, was jede an der anderen haben könnte, aber: so ist das Leben. Tronkas Wortmüll, eine Girlande, die, auseinandergerollt, mehrmals den Erdball umschlingen würde, gehört zu den Menschheitsproblemen, die gelöst werden müssen, soll nicht eintreten, was viele im Lande befürchten: der kulturelle Kollaps durch akutes Personversagen. In Leuten wie Tronka steht die Person auf dem Prüfstand. Nicht irgendeine, nicht diese eine, Tronka genannt, sondern das, was generell Person genannt wird. Es geht ihr nicht gut, ihr System ist in Panik, sie reagiert darauf wie ein pflanzlicher Organismus – mit Scheinwuchs und etwas, das man fast als Scheinblüte bezeichnen könnte, jedenfalls besitzt es für manche Pyramidenbewohner einen eigenen Reiz und mehrt die Zahl seiner Hörer.
Ihr also, der Person zuliebe, sollte das Aufstellen von Sprechkübeln in Erwägung gezogen werden. In gewisser Weise dient bereits die VeränderBar, deren Protokolle jederzeit von den Besuchern abgerufen werden können, einem vergleichbaren Zweck. Doch kommt es hier darauf an, von den vorhergehenden Besuchen (und Besuchern) zu lernen (und Material für wissenschaftliche Auswertungen zu gewinnen). Im Vordergrund steht die Besorgung, nicht die Entsorgung des Gesprochenen. Das mag im einen oder anderen Fall auf dasselbe hinauslaufen – aus den Augen aus dem Sinn gilt sinngemäß auch dann, wenn an dem Vorgang andere Sinne, also zum Beispiel das Gehör, führend beteiligt sind. Indessen zeigt die kleinste Episode mit Tronka, dass es damit nicht getan sein kann. Klassische Wortmüll-Produzenten wie er verdienen angehalten zu werden, ihr Gesprochenes, wann immer es die Grenze zur Auffälligkeit überschreitet, mittels dafür vorgesehener Behältnisse, am besten nach Wortklassen getrennt, beiseitezuschaffen, so dass es das Gedächtnis der Gesprächsparter, das eigene eingeschlossen, nicht weiter belastet. Es steht zu befürchten, dass, welche Eindrücke auch immer es beim Gegenüber hinterlässt, die Langzeitwirkung auf das eigene Gemüt als katastrophal bezeichnet werden muss.
Begreift Tronka die Katastrophe? Bemerkt er sie überhaupt? Wir wissen es nicht. Überhaupt wissen wir so gut wie nichts darüber, was eine Person wie die seinige zusammenhält. Vielleicht hält sie weniger zusammen, als sein Auftreten suggeriert. Vielleicht ist die starke Außenwirkung nur Ausdruck eines vagen Inneren, das durch energische Vorstöße in die Außenwelt sich Bestimmtheit erschleicht? Von Erschleichung jedenfalls ist in Tronkas beruflichem Sprechen viel die Rede. Die Geschichte der Philosophie, hört man ihm zu, steckt voller erschlichener Aussagen: ein Müll-, ein Komposthaufen auch sie, aus dessen Gärung das Geschwätz der Gegenwart seine ungute Nahrung zieht.
Was hast du erwartet? Dass sich das Projekt nicht herumspricht? Was, um aller Welt, soll sich herumsprechen, wenn nicht so ein Projekt? Die Welt ist klein. Die Welt ist nie die ganze, aber sie ist ganz Auge und Ohr, sobald das Geschlecht zu sprechen beginnt.
Das kleine Fubidu
Natürlich suchen sie das Projekt.
Man könnte meinen, die beiden seien ein Herz und eine Seele. So dicht folgen ihre Auftritte aufeinander, dass einer in die Schleppe aus Atemluft tritt, die der andere hinter sich herzieht. Doch so symmetrisch (›der eine ... der andere‹) liegen die Dinge nicht. Es ist der Mann, der folgen muss, weil sonst die Frau auf der Stelle umkehrte und hinter ihm her wäre.
Was wäre daran so schlimm?
Zunächst ... nichts. Es geschieht ja auch alle naselang, die beiden scheinen daran gewöhnt zu sein, nur die Umgebung horcht auf: anders klingen die Gegenstände – der gerückte Stuhl, die abgestellte Tasche, selbst das aufgeklappte Brillenetui, allein dass man sie hört, dass man sie plötzlich hört, verkündet die Umkehrung, den Quell des veränderten Sinns.
Die Fortbewegungsart des männlichen Teils ist der Trott. Nicht gesenkten Hauptes, nicht stolpernd, doch stets leicht am Rande des Überblicks, als verdeckte die bewegliche, bewegte, bewegungshungrige Gestalt der Frau dem inneren Kompass den Pol und übrig bliebe nichts weiter als eine tanzende, hüpfende Nadel, die mehr Aufmerksamkeit verbraucht, als der reale Verkehr zu seiner Bewältigung benötigen würde.
schwer zu ergründen. Sie scheint beweglich, sie scheint überall beweglich, doch näher betrachtet bewegt sie sich kaum. Sie schmiegt sich an: woran? An alles und nichts, an vielerlei, ihre Gegenwart kommt dir vor, als komme sie immerfort auf dich zu. Da bist du dir sicher: sobald du den Raum verlässt, bleibt nichts davon übrig. Was folgt daraus? Solltest du bleiben? Solltest du bleiben, damit der Eindruck, den du zu machen scheinst, nicht auf der Stelle wieder verschwindet? Oder solltest du gleich verschwinden, damit erst gar kein falscher Eindruck entsteht?
Ein schöner Eindruck, den du da machst.
Übrigens schmiegt sie sich nicht körperlich an. Sieh zweimal hin – selbst der Sessel, in den sie sich kuschelt, bleibt unberührt. Dennoch wirkt er: angenehm überrascht.
Wie sie das macht, bleibt ihr Geheimnis.
Trabte der Mann nicht an ihrer Seite, du würdest die Frau kaum bemerken. Der Grund: Sie fällt nicht in
dein Raster.
Trabte die Frau nicht an seiner Seite, du würdest den Mann kaum bemerken. Der Grund:
Auch er fällt nicht in dein Raster.
Beide: eher schlank, von mittlerer Größe, mäßiger Haarwuchs.
Reicht das?
Wofür? Fürs Wiedererkennen?
Wohl kaum.
Die junge Frau auf dem alten Foto, das sie mitgebracht haben, damit alle sehen, wer wir sind und
wer wir waren, ist gertenschlank. Der Mann, Jüngelchen eher, trägt eine Mähne.
Keine einfache Mähne. Eher das, was man damals, in den ›bewegten Zeiten‹, so nannte: der physische
Nachweis des Mannes, ein Alternativer zu sein, in diesem Fall über das übliche Maß hinaus, also
kompensatorisch aufgeplustert.
Was kompensiert eine Löwenmähne? Eine Kindheit als Mäuserich?
Bingo! Leih dem Löwen dein Ohr und er fängt davon an.
Wovon fängt sie an? Sie ›weiß nicht‹. Habe ›schon viel‹ erlebt. Doch, es habe sie ›auch geprägt‹.
Aber es sei nun einmal nicht so, dass sie täglich kotzen müsse.
Das nicht.
Eher habe es sie nachdenklich gemacht.
Irgendwann sei die Mähne einem Kurzschnitt gewichen.
Auch ihre übrigens.
Sie komme damit zurecht.
Obwohl, schade um die alte Pracht sei es schon.
Einfachste Antwort: der Zusammenhalt.
Sie nennen sich:
Was sind das für Namen?
Decken sie gemeinsam ab, was sie füreinander empfinden?
Empfinden sie füreinander, was sie gemeinsam abdecken?
Du nennst ihn: Giselher.
Ihr Name: gemein.
Kitty, der Lenkdrachen
(im Zickzackkurs durch die Lüfte, kaum zu bändigen, solange der Faden hält).
Du blickst ihnen nach.
Siblas Gang.
Der Gang des Straßenköters, der Angst hat, wieder hinaus zu müssen.
Der schnelle Blick über die Schulter zurück: daran erkennst du sie.
Ohne Beute lässt sie nicht los:
Wir verstehn uns.
Aber sicher.
Wenn du vergessen hast, es zu machen,
machst du es irgendwann.
Wenn du niemals vergisst,
wann machst du es dann?
Immer und nie.
Das Geheimnis solcher Paare ist das Immer und Nie.
Sie vergessen nichts.
Sie verheimlichen alles.
Sie ersparen sich nichts.
Was sie am meisten fürchten: den Gedächtnisverlust.
Wer zuerst das Gedächtnis verliert, hat verloren.
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht ist er ja Sieger.
Wer soll das wissen?
Wer braucht dieses Wissen?
Arbeiter im Beinhaus der Norm.
SIBLA
Wenn wir da hineingehen, wohin kommen wir dann?
KITTY
Dazu müssen wir erstmal reinkommen. Willst du den ganzen Tag hier herumstehen?
SIBLA
Ich sehe da Schwierigkeiten.
KITTY
Dass ist ja nichts Besonderes. Müssen wir das jetzt diskutieren?
PROJEKTLEITER
Lassen Sie sich Zeit. Überlegen Sie alles gründlich. Sie können mich auch gern fragen.
KITTY
Also wenn du eine Frage hast, stell sie jetzt. Ich halt mich da raus.
SIBLA
So habe ich das nicht gemeint.
KITTY
Das weiß ich. Deshalb solltest du deine Frage so stellen, dass R sie versteht.
SIBLA
Hast du keine Fragen? Ich meine, das geht uns doch beide an.
KITTY
Natürlich geht es uns beide an. Deshalb sollst du deine Frage doch stellen.
SIBLA
Welche Frage meinst du? Ich habe keine Frage. Ich habe mir alles gut überlegt.
KITTY zum Projektleiter
Keine weiteren Fragen.
SIBLA
Sie brauchen meine Unterschrift, damit ich tun und lassen kann, was ich will? Das verstehe ich
nicht.
PROJEKTLEITER
Wenn Sie es so sagen, da ist was dran.
SIBLA
Ich kann es auch anders sagen: Wozu brauchen Sie meine Unterschrift überhaupt?
KITTY
Haben wir das nicht alles schon besprochen?
SIBLA
Vielleicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir darüber gesprochen hätten.
KITTY
Haben wir aber. Können wir das Thema jetzt beenden?
PROJEKTLEITER
Ich glaube nicht.
SIBLA
Zum Beispiel: Gehen Sie mit aufs Boot? Oder moderieren Sie nur von außen? Wie wollen Sie
moderieren, wenn Sie nicht Teil der Beziehung sind? Dürfen Sie überhaupt eingreifen? Wenn nicht:
Was, wenn alles schiefgeht?
PROJEKTLEITER lacht
Für Ihre Beziehung tragen Sie die Verantwortung.
KITTY
Das glaube ich nicht. Schließlich bin ich auch noch da.
PROJEKTLEITER
Ich meinte Sie beide.
SIBLA
Das ist nicht so einfach.
IRIS
Hier: Ihr Button. Damit geben Sie sich zu erkennen.
SIBLA
Wo soll der hin? Auf den Arsch?
IRIS
Sie werden einen passenden Ort dafür finden.
KITTY
Sind Sie sicher?
SIBLA
So fühlt es sich also an, wenn man sein Privatleben aufgibt.
Fast ein wenig wie
Austernessen.
KITTY
Bist du sicher, dass wir überhaupt je ein Privatleben hatten?
SIBLA
Warum fragst du das?
KITTY
Ich frage, was ich will. Ich dachte, du weißt das.
IRIS
Keine Sorge, Sie behalten Ihr Privatleben.
SIBLA
Ich mache mir Sorgen, weil ich denke, jeder lebt nur einmal.
Das hier kommt mir vor, als
müsste ich von jetzt an doppelt leben.
Das ist ungewohnt, müssen Sie wissen. Man gibt viel dafür
auf, aber ich weiß nicht was.
IRIS
Dazu kann ich nichts sagen.
KITTY
Das muss doch jeder selber entscheiden. Wenn ich etwas aufgebe, will ich auch etwas dafür haben.
SIBLA
Aber was? Ich frage dich: Aber was?
KITTY
Wie soll ich das wissen? Warten wir’s doch einfach ab.
IRIS
Sie betreten jetzt Neuland. Denken Sie immer daran: Sie machen die Erfahrungen. Wir werten nur
aus.
KITTY
Das dürfen Sie. Eine Frage noch: Wie findet man hier jetzt wieder raus? Ich habe noch einen
Termin, müssen Sie wissen. Da ist jemand, den sollte ich nicht warten lassen. Besonders heute nicht.
Kommst du, Sibla?
Es geht nicht um Sätze, es geht um Einstellungen.
... Dann geschieht es deinetwegen –
Ist es deswegen nicht richtig? Ist es nicht
gerade so richtig? Ist es nicht sogar richtiger, weil es den Sachverhalt trifft und nicht einen
anderen zur Erklärung hinzuzieht? Was wäre denn diese Sorge um sich? Ist sie nicht ganz und gar
undurchsichtig? Sind nicht auch hier derjenige, der sorgt, und derjenige, der umsorgt wird, zwei? Ist
nicht der sichtbare Andere ein viel direkteres Objekt der Sorge als dieses abgedunkelte, kaum
›belastbare‹ Selbst? Geht nicht die Sorge um sich durch den anderen hindurch, der sich als Objekt der
Sorge anbietet?
Angenommen aber, sie geht durch ihn hindurch – wie muss man sich das vorstellen? Was geschieht auf
dieser Passage? Du glaubst es zu wissen, jedenfalls schwant dir etwas, es scheint dir mit Händen
greifbar zu sein, du spähst auf deine Hände und sie greifen in die Luft. Sie greifen nichts. Der
umsorgte Andere, weiß er sich umsorgt? Aber sicher, könnte man meinen. Was denn sonst? Vorsicht! Warum
zeigt er sich undankbar? Macht Umsorgtsein undankbar? Reizt es den Spott? Die Ungeduld? Den Ärger, der
nicht mehr weggeht? Wer sich sorgt, der kümmert sich. Er ›sieht nach dem anderen‹. Will der Andere das?
Er will es, er will es nicht. Er will die Sorge abschütteln, die wie eine Klette an ihm hängt. Aber er
will umsorgt sein, andernfalls ›fehlte da etwas‹.
Was fehlt, wenn die Sorge fehlt? Die Sorge? Aber unbesorgt sein: das wäre schön, das wäre
erstrebenswert, das wäre traumhaft. Es fehlt der Andere, der sich sorgt. Es fehlt seine Sorge,
an die ich mich gewöhnt habe. Musste ich mich an sie gewöhnen? Aber sicher: am Anfang war sie ungewohnt.
Ist das richtig? Am Anfang war sie schön. Eine schöne Sorge ist mir da zugeflogen. Schon sorge
ich mich: wird sie auch bleiben? Ich will mich nicht sorgen, nicht jetzt: soll sie doch weiterfliegen!
Aber sie bleibt und das ist schön. Will sie denn bleiben? Was weiß ich? Soll ich sie festhalten? Eine
Sorge? Warum denn das? Weil sie bequem ist? Ist sie bequem? Wer weiß das schon? Sie ist wirklich, sie
verändert mein Leben, sie öffnet es: ist das bequem?
Was bleibt, wenn er trotzdem bleibt? Ein Fremdkörper, weiter nichts. Ein fremder Körper, zu nah dem meinigen. Was, wenn der Mensch geht, aber die Sorge bleibt? Das will ich nicht, nein, das will ich nicht. Eine fremde Sorge, das ist die Zerstörung. Ein fremde Sorge, das ist keine Hilfe, sondern ihr Gegenteil: wenig hilfreich. Sie kreuzt meinen Willen, sie kreuzt ihn in seinem Ursprung, dort, wo er sich regt: sie stellt mich kalt. Kalt trete ich ihr gegenüber: ein Feind.
Keine Sorge, liebe Sorge (so unlieb du mir bist): ich gehe nicht. Wo ich sorge, da bin ich nah. Immer bin ich dir nah, so fern du auch sein magst. Wo denkst du hin? Es ist schön, dass du dich sorgst, ich könnte gehen. Es ist die Schönheit der Welt noch einmal: sie gehört jetzt mir. Vielleicht gehe ich irgendwann, vielleicht will ich gehen und entscheide mich doch zu bleiben. Dann geht mein Wille an dieser Stelle auseinander: in einen, der gehen, und in einen, der bleiben will. Seltsamer Wille, der Unvereinbares will und es auch bekommt. Er bekommt seinen Willen, nur ich, ich gehe leer aus.
Ich gehe leer aus, weil ich es will. Erfüllt von Sorge bin ich nicht die Person, die ich sein will. Ich will die Sorge dieses Menschen nicht und ich spüre, er will auch meine nicht. Er lässt sie sich gefallen: das ist etwas anderes. Es empört mich: er lässt meine Sorge zu, aber sie existiert für ihn nicht. Dieser luftleere Raum, dieser Raum ohne Schwingung: keine Sorge! Es ist der Raum, in dem wir uns begegnen. Wir haben ihn uns geschaffen, er entspricht unserem Bedürfnis, er ist Ausdruck unserer gemeinsamen Sorge, es könnte aus sein, die wir nur getrennt leben können.
Die VeränderBar liegt in der Regel verwaist. Das kann sich von einem Augenblick zum anderen ändern: Licht an (gedämpft) –: und die Seele beginnt ihren Tanz. Sie beginnt ihn nicht allein, sie braucht den Partner. Ohne Partner sondert sie keinen Stoff ab. Mit Partner hingegen, falls es der richtige ist… Aber geschenkt. Alles, was Seele heißt, ist geschenkt. Es ist geschenkt, aber dabei bleibt es nicht. Ganz im Gegenteil: Es ist die Quelle aller Verbindlichkeiten. Was hier geknüpft wird, muss sich draußen erweisen.
Draußen erweist sich, was hier geknüpft wird, als nichtig. Der Partner, den die VeränderBar spendet, existiert nur hier. Draußen ist er nicht vorhanden. Er soll vergessen werden, darin liegt der Reiz. Doch ob er vergessen wird, das ist die Frage. Warum sollte er? Er ist langweilig, er ist aufregend. Er ist langweilig, denn er kommt nicht in Betracht. Er ist aufregend, denn er steht für alles, was in Betracht kommt – nicht als Objekt der Betrachtung, sondern als Objekt der freizusetzenden Begierde.
Dieses Objekt der Begierde… Der Fehler besteht darin, es zu zeigen (oder zeigen zu wollen). Dabei muss es entstehen. Die Begierde ist immer da, sie ist auf dem Sprung oder kurz davor, sie scheint schlaff, wenn sie nicht bedient wird, aber der Anblick der Schlaffheit trügt. Der Partner lässt die Objektstelle unbesetzt, er zeigt sich nicht, er zeigt (fast) alles außer sich selbst, er ist nicht gemeint, er steht für das, was gemeint sein könnte. Er lockt die Begierde, bis sie mit ihm zu spielen beginnt wie die Katze mit dem Wollknäuel: kein schlechter Ersatz für die Maus, aber wer spricht von Ersatz?
Definition des Partners: Wirrsal aus Fäden, leicht abzurollen, bereits im Abrollen beginnen sie sich zu verwirren, Platz zu beanspruchen, den Abroller zu verstricken, bis er, schockiert, davonläuft. Doch er kommt wieder: neugierig, zögernd, bereit, sich einzulassen: worauf? Worauf lässt sich ein, wer weiß, dass er, wenn’s brenzlig wird, weg ist? Auf nichts? Das wäre zu wenig. Auf ein Spiel? Das wäre zuviel. Das Spiel mit dem Wollknäuel ist kein Spiel, auch wenn es vielen so vorkommt. Es ist eine Figur der Ratlosigkeit, die sich Rat schafft.
Verändere nichts, verändere alles. Verändere alles, verändere nichts. Verändere, was dir nichtig erscheint, vernichte, was du verändert hast. Ist das ein Spiel? Natürlich nicht, denn es geht um dich. Wer behaupten wollte, du übst, hätte das Entscheidende übersehen: du folgst keiner Regel und du übst nicht für anderes. Besser wäre es zu sagen: Du setzt dich in Gang. Oder: Du hältst dich in Gang. Oder: Etwas hält dich in Gang. Was du sonst stückweise tust, ansatzweise, hier rollst du es ab wie die Maus dort den immer weiter rollenden Faden – schreckhaft, neugierig, so über- wie unterlegen, mit dem Gefühl, nicht im Griff zu haben, was du da tust, und es doch jederzeit beherrschen zu können, käme es nur darauf an. Es kommt aber nicht darauf an und so lässt du es laufen.
Nichts, was in der VeränderBar geschieht, geschieht für immer. Ihr Reiz liegt darin, dass jeder proben kann, was er sich sonst nicht erlaubte. Er will Veränderung, aber nicht gleich, nicht unwiderruflich, und er will sich erproben, will wissen, ob er es kann. Beides geht schwer zusammen und ist nur zusammen zu haben. Mehr noch: es ist in jedem Augenblick zusammen, es lässt sich nirgendwo trennen. Also lässt er es laufen.
Unkosten? Gehen aufs Konto des Hauses. Da erhebt sich die Frage: Wie groß werden sie sein? Das Projekt selbst verfügt nur über begrenzte Mittel. Symbolisch, wie es angelegt ist, sind auch die Ausschüttungen für erlittenes Ungemach zu nehmen: als Anerkennung? Wofür? Für die Teilnahme?
EIN KLEINER SCHRITT FÜR SIE
EIN GROSSER SCHRITT FÜR DIE WISSENSCHAFT
Oder umgekehrt. Sicher weiß das niemand.
Bei Gefahr verfällt der theoretische Mensch ins nautische Plappern. Warum? Weil er sich darin gefällt. Seine Daseinsbürde ist die Verflüssigung des Gewussten. Darin kennt er sich aus. Die Verwaltung könnte ihn zwingen, Warntäfelchen aufzustellen: ›Halten Sie sich von allem fern, was hier geschieht. Es könnte sie treffen.‹ Aber das wäre kontraproduktiv (einer der schwersten Vorwürfe überhaupt). Der produktive Mensch geht nicht seitwärts, er geht woran. Was immer geschieht, es trifft ihn mit der Wucht des Daseins.
In der VeränderBar spukt die Idee der Reinheit, verstanden als Reinheit der Idee. Die pure Idee, unter die Haut gebracht, erzeugt den Zwiespalt, dem die Sehnsucht nach Reinheit entspringt. Im Paradies der Lädierten herrscht Aufbruchstimmung, untermalt von Heulen und Zähneknirschen, denn die mitgebrachten Schmerzen sind wirklicher als die Wirklichkeit selbst. Und das wollen sie alle, die kommen: wirklicher sein als die Wirklichkeit. Sie ›strömen zu‹: korrekter Ausdruck für etwas, das sich mit der Unerbittlichkeit eines physikalischen Vorgangs vollzieht, als sauge ein Vakuum sie an oder der berühmte Sturm vom Paradiese her, den sie, heilsüchtig, wie sie sind, die Geschichte nennen, ziehe sie als Schleppe hinter sich her. Was wäre der Moment der Reinheit, wenn nicht der, in dem ein Mensch in sein Verhängnis tritt? Es lockt nicht, es wartet nicht, und es erhebt sich doch, menschengroß, übermenschengroß, gernegroß, ganz wie der Einzelne es begehrt.
wilbede . gescheit sein Du verstehst, was ich damit sagen will? Der männliche Blick. Ich gehe ins Museum und da finde ich ihn überall. Diese Bilder erschlagen mich. Was hat man unserem Geschlecht angetan, dass es ihm so zu Willen ist? Betrachte diese Frau. Ihr Blick ist ein einziges Warten. Sie ist wir. Sie erwartet den Blick, der sie entblößt, und während sie ihre Position einnimmt, ist es schon geschehen. Warum tut sie das? Warum tut sie sich das an? Das ist das Schreckliche: nicht abseits stehen zu können. Niemals und nirgends abseits. Und dann: ab damit ins Museum. Da hängen wir herum wie die Kostüme vom letzten Karneval. Oder war es der vorletzte? Frau kämpft sich tapfer durch die Jahrhunderte. Ich habe eine Meduse gesehen, die Trümmer einer Frau: das, was der Künstler von ihr passieren ließ. Was ist Medusa anderes als der autonome weibliche Blick? Sie können ihn nicht ertragen, eher töten sie uns. Ja, ihr Blick tötet uns. Und wir lassen es geschehen. Lassen es immer wieder geschehen. Das ist ein Skandal.
warbede . bewegt sein Ich lebe und er lebt nicht. Das ist komisch, finden Sie nicht? Ich lebe mit ihm und er lebt nicht mit mir. Mit wem also lebe ich? Kann mir das einer erklären? Ich will, dass diese Frage geklärt wird. Ich will, dass sie jetzt geklärt wird. Ich lasse nicht zu, dass seine Bücher mein Leben zerstören. Eins habe ich gelesen, in dem zündet sie am Ende seine Bibliothek an und alles verbrennt. Kann vorkommen, wenn einer seine Haushälterin heiratet. Ein empörendes Buch. Unsere Freunde haben es gelesen und lachen, weil er die Haushälterin geheiratet hat. Nein, sie lachen nicht wirklich. Sie ziehen ihre Stirn kraus und tun so, als dächten sie nach. Lass dich nicht erwischen, heißt das. Haushälterin ist passé. Heiraten ist passé. Kinderkriegen ist passé, obwohl ich gern eine Tochter hätte. Wenn es ein Sohn wird, bring ich mich um. Das ist eine Redensart, die ich von meiner Mutter kenne. Ich bringe mich nicht um und es wird kein Sohn. Es wird kein Mensch. Kein Mensch wird. Sie kommen alle ungerufen. Bewegt sein ist alles. Mag kommen wer will. Er ist nicht der eine, er ist einer von vielen. Viele minus X. X = xxx (gestrichen).
Was zum Teufel ist ein Kulturschock?
Vielleicht sollten wir einen Kurs in body painting anbieten. Oder in martial arts. Das könnte die Spannung herausnehmen.
Die leicht erhitzte Blässe steht ihr gut.
In jeder vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen Beziehung leben: Läge hier die Lösung?
Aber sie leben doch!
In welcher Hinsicht sollte das Nicht-Leben sie tangieren?
Dennoch …
dass hier der Hund begraben liegt, davon zeugen Spuren, die ausreichen würden, den Mond zu einer
quicklebendigen Pflanzschule des Geistes zu erkären. Das Ungenügen an der Beziehung, die besteht,
weil sie besteht, stammt aus vielen Quellen, es fließt, wenn man hinhört, von allen Seiten zu und
benützt sie als Sammelbecken.
Warum? Nicht, weil sie das Behagen verweigert. Ungenügen und Unbehagen sind nicht dasselbe. Dennoch erwächst das Unbehagen aus dem Ungenügen, es wächst aus dem Behagen selbst heraus und winkt zu Zeiten mit ihm, als wolle es so demonstrieren, dass es an der Zeit wäre, aufzubrechen in irgendeine neue Beziehung, nicht, weil die Lust am Neuen so groß wäre, sondern weil die Lust sich so schnell verbraucht.
Ist das nicht dasselbe?
Gewissermaßen ja, was soll Lust schon sein, wenn nicht die
Lust am Neuen? Das ist bekannt. Was, andererseits, weiß man über sie, wenn man sie so in Reih und
Glied stellt? Lust, Unlust, liegen sie so dicht beieinander? Wenn eine Beziehung etwas ist, das
gelebt werden muss, dann ist jede Nicht-Beziehung, jede nicht aufgenommene Beziehung meinetwegen,
eine ausgelassene, die unnachgiebig an die Tür des Hauses klopft und sagt: Lebe mich!
Das erscheint immerhin möglich, wenngleich im strengen Sinn nicht durchführbar, solange die Kontakte sich zukunftsoffen gestalten. Warum auch? Die Nicht-Beziehung braucht, unter Fu-Bedingungen, nur ein wenig Geduld, bis sie dran sein wird, soviel muss man von ihr verlangen können, falls nichts, sprengt sie sich selbst ins Aus. Anders die verpasste Beziehung, die nicht weichen will und als Zweit-Beziehung unter der gelebten zu wuchern beginnt, bis sie der anderen Licht, Luft und Wärme entzogen hat. So etwas soll vorkommen, es kommt, wie man hört, wenn man die Ohren aufhat, alle Tage vor und ist das Normale. Es ist also normal und ganz unabwendbar, dass die gegenwärtige Beziehung durchzogen, ach was: durchwabert wird von den nicht gelebten – je länger sie lebt, umso dichter und gewissermaßen gründlicher, bis in alle ihre fast-geheimen Ecken und Winkel hinein.
Das Emma-Syndrom.
Man muss diese Dinge symmetrisch denken – streng symmetrisch, andernfalls verschließt sich ihr Kern und lässt nur die Platitüde übrig, also das selbstfabrizierte oder von Romanschriftstellern und Apotheken-Therapeuten gestreute Recht aufs Abenteuer, das man sich nimmt, ohne viel zu fragen, weil das Geheimnis der Spontaneität in der Spontaneität liegt und nirgendwo sonst.
Damit aus dem Emma-Syndrom ein wirklicher Aufbruch entsteht, müssen beide Seiten im Bild sein, ›verständigt‹, wie der passende Ausdruck lautet, doch über was? Über nichts, über alles. Darüber, dass der andere nicht alles ist, nicht alles sein kann, da er nicht in jeder Beziehung sein kann, was er sein müsste, damit es möglich wäre, jede Art von Beziehung mit ihm ›einzugehen‹ oder zu durchleben.
Sich über diesen Punkt zu verständigen, sollte im Prinzip nicht zu schwer sein. Da beide Seiten den Mangel empfinden, wäre er der klassische Aussprache-Gegenstand einer Beziehung, die Klarheit über ihre Grundlagen wünscht. Ich kann dir nicht genügen, also verlass mich, wenn du es kannst, lautet einer der vielen Sätze, mit denen, sagen wir sie geläufig – und ein wenig hinterhältig – in Frage stellt, was sie sich in der Beziehung ‹erarbeitet hat‹, und stößt damit bei ihm auf ein ebenso standardisiertes Wie recht sie hat! Aber ich kann nicht. Dieser Satz aber will nicht über die Lippen, es sei denn, in einer forcierten Form, die alle Beteiligten zum Lachen bringt und die Aussage aufhebt.
Generell hebelt das Erarbeitet-Haben jeden Klärungs-Vorstoß der anderen Seite im Ansatz aus, denn was sie, in diesem Fall Pida, sich ›erarbeitet‹ hat, bleibt ihm schlechterdings unklar. Auch der Arbeitsvorgang selbst hüllt sich in ein Dunkel, bei dem Tronka nicht wohl wird. Weder sieht er, was sie damit meint, noch, was er daneben legen könnte, noch, was sie ›wirklich‹ treibt, wenn sie so redet – in beiderlei Sinn. Er sieht es nicht, seine Phantasie ist an dieser Stelle blockiert, das jedenfalls gibt er sich unumwunden zu, auch wenn seine Lippen versiegelt bleiben, da, soviel scheint ihm gewiss, jede Rede die Sache nur schlimmer machte. Wie sähe aus, was seine Phantasie ihm zu sehen verweigert? Er könnte, sofern ihm die Beziehung das entsprechende Quantum Souveränität erlaubte, an dieser Stelle die Geburt der Asymmetrie aus der Symmetrie konstatieren, doch davon ist er noch weit entfernt.
Noch –? Wer darf das entscheiden? Die Beziehung, ihre Beziehung ist also das: Arbeit, ›ein schweres Stück Arbeit‹, von dem er nichts weiß, dem auf seiner Seite offenbar nichts entspricht, also – von seiner Seite her – ein Versäumnis. Das muss es sein: er versäumt die Beziehung, deren Nutznießer er doch offenbar ist, da die ganze Arbeit gewiss nicht umsonst getan wird, nur letztendlich umsonst, da er sie nicht sieht, sie also wohl gesehen werden will, zwecklos, um ihrer selbst willen, aber doch auch um der Sache willen, um der Gemeinsamkeit willen, die nur existiert, weil dort, auf der anderen Seite, ein Opfer gebracht wird, das für ihn offenbar nicht existiert.
Es ist die Beziehungsarbeit, die zur Asymmetrie drängt. Vielleicht wäre es besser, sie unterbliebe, auch das zu beurteilen fehlen Tronka, ahnungslos, wie er ist, die Mittel, denn wie die Dinge liegen, bleibt ihm nur das haltlose Schwanken zwischen zwei Einschätzungen: entweder er entschließt sich, anzunehmen, dass diese Arbeit, von der er nichts sieht und weiß, getan wird, dann ist er ausgeschlossen von dem, was in seiner Beziehung wirklich geschieht, in gewisser Weise also von der Beziehung selbst, oder er zieht es vor, sie als einen rhetorischen Trick abzutun, der ihn in Verlegenheit bringen soll und wirklich bringt.
In letzterem Fall kann er sich der Folgerung nicht verschließen, dass Pida, um ihn zu manipulieren, sich nicht scheut, eine Lüge ins Spiel zu bringen. Das wieder würde bedeuten, dass sie das Grundaxiom der Beziehung – ›Sei wahrhaftig!‹ – mutwillig um eines billigen Vorteils willen verletzt. Das kann eigentlich nicht sein – ein Satz, dessen überbordende Einfalt umstandslos den Widerpart auf den Plan ruft: Sei kein Tropf.
Ist er einer? Wäre er einer? Sicher wäre er einer, ließe er die Sache mit der Arbeit auf sich beruhen und akzeptierte, ohne zu murren oder auch murrend, warum denn nicht, den Deutungsanspruch, der darin liegt und vage etwas in Spiel bringt, das zwischen Deutungshoheit und wirklicher Hoheit changiert. Wäre er keiner, ließe er sie nicht auf sich beruhen und forschte nach, um, da nun einmal gearbeitet werden muss, sich um eine Anstellung als Hilfsarbeiter zu bemühen? Immerhin könnte er sie damit in Verlegenheit bringen. Wäre das ein Gewinn? Natürlich nicht. Es wäre nicht ein Verlust, es wäre der Verlust, der alle anderen und schließlich den der Beziehung nach sich zöge. Der Zwiespalt bleibt demnach und mit ihm boxt sich die Einfalt wieder nach vorn: Sei einfältig! Lebe deine Beziehung, denn eine andere hast du nicht. Noch nicht!
Not so much.
Westpoint-Absolvent, Entlaubungseinsatz in Indochina, Chemtrail-Spezialist,
Whistleblower (enttarnt), unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen, Mr. World. Spitzname: AGENT
BLUE, auch BIG BLUE. Studium der Physik, Soziologie, Verhaltenswissenschaft, Ausbildung zum
praktizierenden Psychoanalytiker, Ausschluss aus der American Psychological Association
(APA), Hobbymusiker, freier Schriftsteller. Alternativer Denker. Gründer der Bewegung With Love
From Space.
Autor des Buches Toxigenesis. The World behind Future.
Jurij Tellerman turnt in den Wipfeln der Welt und greift nach der letzten verbliebenen Frucht.
Dieser Baum ist nur für dich gedacht und er bietet: alles Erdenkliche.
Alles Erdenkliche? Was ist das?
Es ist, was es ist.
Wer vom Baum der Erkenntnis nascht, dem wird, bei Strafe der Ungeduld, der Boden entzogen. Keine Leiter der Welt kommt ihm hinterher.
Jurij, Jurij, warum verfolgst du gerade diesen Gedanken bis in den obersten Wipfel? War er nicht ohnehin dein? Hättest du denn nicht warten können?
Warten worauf? Dass er zu Boden fällt? Mit einem satten Aufschlag und einer Delle?
Warum nicht? Stört dich der Aufschlag so sehr? Schreckt dich die Delle so sehr? Der braune Fleck, wenn erst das Faulen begann?
Nebenbei: War’s eine Frau, die dich hinauftrieb? Oder ein Mann? Oder ein anderes Wesen? Hat es sich gelohnt?
Jetzt hockst du dort oben, Rabe im Sonnenschein, krächzend, ob Freud oder Leid, wer weiß?
Du wolltest die Grenze zerbrechen und jetzt zerbricht sie dich.
Zu weit entfernt sitzt dieser Apfel. Eine kleine Dehnung noch und du stürzt.
Irgendwann ist die kleinste Weite eine Weite zuviel.
Dieser Apfel bleibt unerreichbar für dich und die deinen.
Die kleinste Weite, der Tick Weite zuviel, es ist die Geschlechtergrenze.
Das Gift im Leibe spüren, das Gift Männlichkeit, und nichts tun können: Darin zeigt sich der Biss der Schlange. Das Gift bist du, du allein. Kein Biss wirkt so tödlich wie dieser Nicht-Biss, der in Aufruhr versetzt, was da war, da ist und da sein wird.
Sich in Aufruhr befinden ist viel. Doch wie sollst du beschreiben, was dich überrollt, der elende Wunsch nach Besitz? Die Besessenheit, die alle anderen einschließt?
Denn ein Elend ist er, mit allen Konsequenzen des Elends. Wo Fluch ist, soll Flucht sein.
Gerade das will ein Tellerman sein: der letzte Besessene.
Warum bin ich nach außen stark und nach innen schwach? Meine Bücher sind stark, ihre Botschaft ist stark, die Sprüche sind stark und ihr Absatz … hat alle Rekorde geknackt, hat geknackt… Ein Stück weiter noch und … und … was? Was will ich mir heute sagen, was heult mich aus mir an? Welcher Köter drängt da ans Licht? Bellen möchte ich, doch das bekäme mir nicht. Ein Hund aus einem Raben: Welch ein Bild. Was kann dieser, was ich nicht kann? Er kann bellen. Wuff. Das kommt ein bisschen kraftlos, nicht wahr? Das ist kein Bellen, nicht wahr? Komm schon, du kannst nicht bellen, das ist dir verwehrt. Du kannst ein bisschen so tun als ob, mehr kannst du nicht. Fick dich.
Rüde sein: das kannst du.
Ein Rüde sein: das verweigerst du.
Nein, so ist es nicht. Jedenfalls nicht ganz.
Der Rüde in dir, er
will nicht heraus. Er zieht es vor, in dir zu kläffen.
Sei
ehrlich: Er ist der kleine Kläffer, der nachts den Mond anheult.
Wahrscheinlich hält er ihn für…
Hörte ich ein: Hör auf? Warum hörst du nicht auf?
Nein, das kannst du nicht? Du kannst nicht
aufhören?
Das, immerhin, wäre doch … ein Anfang.
Dieser Anfang, der nicht weggeht, er ist dein Schatz. Kein verborgener, alle Welt sieht dir zu, aber als guter Schatz hält er dich in Trab. Du darfst nicht nachlassen, Süßer. Jetzt nicht und niemals. Lässt du los, so ist es um dich geschehen. Sei kein Selbst, sei ein Rudel. Nicht ein Rudel: deins. Das Rudel, das treibt und zieht und –
Tellerman hat, durchaus denkbar, eine Lustsperre entdeckt, und dazu nach guter Denunzianten-Art den Übeltäter geliefert – den toxischen Mann, den Mann, der Abhängigkeiten (und Unglück) schafft, wo immer er geht und steht, weil er nicht anders kann, weil er so programmiert ist. AGENT BLUE, wie ihn seine Anhänger rufen, hat auch gleich den einschlägigen biologischen Typus – groß, durchtrainiert, weiß – in den Fokus gerückt, vermutlich um nicht als Rassist dazustehen, ein Windbeutel also, auch er ein Fu-Adept, ein Fumant, dem blauer Rauch aus den Poren dringt, ein Wollt-ihr-die-totale-Lust-Typ, dem das frenetische Ja! aus tausend College-Kehlen den Kopf (und vielleicht einiges mehr) verdreht hat, ein militanter Streiter wider das Maskulinat auf Feindfahrt, der seinen Auftrag kennt. Wo solche U-Boote unterwegs sind, kann der Opfer-Konvoi nicht weit sein.
Siehe ich verkündige euch eine unfrohe Botschaft.
Macht eine frohe draus,
so ihr könnt.
So macht man Pferde scheu.
Vielleicht sind das, was du gerade jetzt an Tronka verfolgst, als liefe ein Film in dir ab, die Geburtswehen ›toxischer‹, leidvoll verkehrter Männlichkeit? Tronka ist Pida-anfällig, und Pida ist … Gift, willst du schreiben, aber das verdirbt die Pointe. Pida ist Pida, nichts weiter, du kannst es bezeugen. Pida ist Tronkas maximaler Unfall. Noch weiß er es nicht, aber er verfällt bereits. Er verfällt dem Leiden. Falls Gift im Spiel ist, dann steckt es in Tronka selbst, nirgendwo sonst. ›Selbstvergiftung‹ … vielleicht trifft es das. In diesem Fall wäre Tellerman ihr Prophet. Vielleicht, vielleicht. Ob der Prophet Recht behält? Noch ist er schwarze Lektüre. Es ist zu früh, um darüber ein Urteil zu fällen. Die Dinge wachsen sich aus.
Tellerman/Tronka
Vorder- und
Rückseite
ein und desselben Problems.
Wer ist Vorder‑,
wer Rückseite?
Ein bunter Hund, ein Langstrecken-Spießrutenläufer, der die Pyramide mit dem Brecheisen in der Faust betritt und, einen Strauß sorgsam vergifteter Glückwünsche im Arm, wieder verlässt. Tellerman ist eine Personifikation. Ob ihm das bewusst ist? Was ist einem solchen Menschen bewusst? Nicht viel, aber allerlei. Tellerman, das ist … die Person gewordene Autoaggression:
So etwas sagt man nicht (noch nicht), so etwas denkt man nicht (noch nicht), so etwas stellt sich vor. Dieser Mann ist ein Blender: Abziehbild des Mannes, der fest entschlossen ist, den ›Krebs‹ Mannsein, verziert mit seinem Konterfei, unter die Leute zu bringen – gedruckte Auslegware im Museumsshop für zeitgenössische Kunst. Dort gehört er hin.
Ein Rüde ist Tellerman, aber ein kleiner. Ein Rüdchen, das Rüde spielt. Das unterscheidet ihn, nebenbei, von Tronka. Nicht im Traum wünscht Tronka an dieser Exposition von Männlichkeit teilzunehmen. Tronka liest berufsmäßig, auch einen Tellerman wird er gelesen haben. Mag sein, er hat ihn im Blick. Falls ja, hält er ihn für einen Scharlatan: soviel steht fest.
Nein, er duldets nicht. Was er nicht duldet, entzieht sich seiner Ein-, vielleicht auch Ansicht, denn ansichtig muss man seiner doch sein, bevor die Einsicht sich Bahn bricht, und diese Einsicht, als ausstehende, drückt aufs Gemüt, als stünde sie nicht bevor, sondern als stünde sie hinter ihm und lasse nicht los, ehe sie das Werk vollendet und ihn hinabgestürzt habe – wo auch immer hinab, ist das wichtig? Wäre das wichtig? Diese Bilder des Hinauf und Hinab stammen nicht aus dem Märchen, sondern direkt aus dem Selbstumgang, der Leib ist eigen in ihnen und eignet sich nicht für lösende Späße. Die Aussicht, ›über die Klippe‹ gedrückt zu werden, wirkt harmlos, man kann mit ihr leben, solange keine Klippe in Sicht kommt, dem Leben eignet auf einmal ein Richtungssinn, der ihm üblicherweise abgeht, und darin liegt ohne Zweifel ein Fortschritt, denn das wirkliche Leben, das fortschreiten will, kennt Phasen der Stockung, der Verdichtung, der Ent-Dichtung, aus denen es herausgeholt werden möchte um fast jeden Preis. Herrscht nicht auch hier die Doppelbewegung und herrscht sie nicht unbedingt? Demokrat der Seele, möchte er sein Leben einrichten, wie er will, er möchte schon, wie er will, er möchte schon, doch wäre er Demokrat ohne das Bewusstsein, dass die Majorität nicht in seiner Haut steckt, dass sie nicht die Majorität wäre, steckte sie ruhig in seiner Haut, und wenn sie drin steckte, wollte sie nicht heraus? So will auch er aus seiner Haut heraus, mit Leib und Seele und möglichst mit Führerschein, für den er jetzt Stunden nimmt. Er will heraus, aber er will sie natürlich nicht aufgeben, das gerade nicht, er will, dass alles in ihr abgetan ist, das aber will er unbedingt.
Eben deshalb lässt er sich ja entführen, ins Reich der Sinne, falls diese Vokabeln geeignet sind, einen demokratischen Sinn aufzunehmen und nicht bloß zur Serenissimus-Oper taugen. Entführung, wie er sie verstehen will, ist horizontal, eine Bewegung, in der Entführung und Entführtsein ursprünglich eins sind, eine Bewegung, eine einzige. Warum fällt es so schwer, sich an diesem relativ einfachen Punkt klar auszudrücken, wenn doch Klarheit geradewegs das Erstrebte ist? Nun, es ist nicht der Ausdruck, der ihn beschäftigt, ehrlich gesagt, er leidet an dieser Beziehung, ohne zu leiden, selbst das Wort ›leiden‹ ist ihm verleidet, weil es keinerlei Kräfte in ihm mobilisiert, weder in die eine noch in die andere Richtung. Ihn verwirrt eine Gemeinsamkeit, die keine ist, sobald sie gemeinsam einem Dritten gegenüber treten, aber auch keine, wenn sie zu zweit sind, nur dass jeweils eine andere fehlt, so als ob deren zwei im Spiel wären, was ja auch stimmt, da sie dem Dritten gemeinsam gegenüber treten und sich gemeinsam über ihn äußern, sobald sie allein sind. Das Alleinsein also fügt zusammen, doch so zu denken enthüllt nur die halbe Wahrheit, denn dieses Zusammensein kränkt, es enthält eine Kränkung, wie eine Tasche ein zusammengeknülltes und vergessenes Blatt Papier enthält, auf dem eine Warnung stand, der man keinen Zugang zu den Entscheidungszentren erteilt hat, als noch Zeit dafür war.
Eine Kränkung, daher könnte man schließen: eine Verletzung der Eigenliebe. Doch vielleicht wäre dieser Schluss, der unmittelbar ins Schwarze zielt, gerade deshalb verfehlt, weil Eigenliebe die Kränkung eher verbirgt: wie sollte das Verbergende das Verborgene sein? So zu denken enthielte doch einen Widersinn, dessen Eigenlogik ihm nicht aufgehen will, es sei denn, er denkt in Begriffen schlichter Geselligkeit, wo einer nicht zugeben mag, was für alle nur zu offensichtlich ist. Die Eigenliebe ist ein sozialer Akteur, ein ›Handlungsträger‹, geneigt, Spiele zu spielen, andererseits etwas, in das sich einer hineinsteigert, so dass es eine Weile braucht, bevor er wieder mit sich ins Reine kommt. Die reine, nicht durch Rivalität künstlich gesteigerte Eigenliebe, sollte es sie geben, wäre einerseits ganz sozial, andererseits ganz gleichgültig gegenüber dem Sozialen, eine zweite Haut sozusagen, das Innenaußen noch einmal, vielleicht erst wirklich, denn in gewisser Weise bleibt die biologische Haut doch stets eine Metapher. Wie nun, wenn diese reine Eigenliebe sich einmal verletzte? Wäre sie dann noch rein? Oder wäre sie der soziale Akteur, der sich unmittelbar zum Tyrannen aufschwingt? Im gegebenen Fall deckt ja das Nichthandeln die Kränkung zu, nicht das geheuchelte, in dem der Dolch steckt, sondern ein zweifellos zu konstatierendes. Dass dieses Nichthandeln spürbar wird, ist offenbar bereits zuviel des Guten, es zeigt die Kränkung an, hebt sie sozusagen in die Wahrnehmung, unwahrscheinlich, dass es der Eigenliebe geschuldet sein könnte, die nur dulden kann, was geschieht, wenn sie am längeren Hebel sitzt, wenn also das gegenwärtige – oder allgegenwärtige – Nichthandeln sich irgendwann in ein jetzt aufgeschobenes Handeln auflöst. Wünscht er denn, irgendwann zu handeln? Offenkundig nicht, denn damit höbe er auch die Rest-Gemeinsamkeit auf und daran ist ihm nicht nur nicht gelegen, sondern er will sie festhalten mit allen Mitteln, erlaubten und unerlaubten, nur dass er in diesem Fall nicht so recht weiß, ob das gewählte Mittel der stornierten Eigenliebe zu den erlaubten zählt. Mit allen Mitteln? Ganz sicher nicht, eine Grenze gibt es auch hier, aber er wüsste sie nicht zu benennen, er kann sie sich einfach nicht vorstellen.
Das Alleinsein fügt sie zusammen und trennt sie. Aber vielleicht liegt darin nur ein Reflex jener übergroßen Zerreißprobe, auf die er sich jedes Mal gestellt sieht, sobald ein Dritter die Szene betritt. Er würde, wäre er weniger leidensbereit, das prompte auf-dem-Markt-Sein der anderen Seite darin erkennen und er erkennt es wohl auch, doch im Modus des Leidens, aus der Perspektive des Leid-Wesens, das sich in ihm breit macht, wann immer es Gelegenheit dazu findet. ›Zu seinem Leidwesen‹ muss er erfahren, dass Besitz gegen die Möglichkeit neuen Besitzes zurücktritt. Er erfährt davon als Besessener, der sich verloren gibt – zu Unrecht, jedenfalls so weit er sich in ihrem Besitz befindet, da dieser nicht in Frage steht, zu Recht, da er in solchen Situationen die Gleichgültigkeit des Besessenseins und Besessenwerdens drastisch erfährt. Dieses Wesen, das er vor kurzem noch abgestreift hätte wie einen Handschuh, der kneift, verfährt jetzt mit ihm nach Belieben, es brüskiert ihn, es führt ihn vor, es präsentiert sich lachend, als existiere er nicht oder als sei er ein Hund, zugelaufen oder aus dem Tierheim ins Haus geholt, was weiß man schon. Brüskiert es ihn? Führt es ihn vor? Er weiß es nicht, das einzige, was er wissen könnte, wäre, dass das Wort ›Eifersucht‹ die Wahrnehmung zuverlässig blockiert, denn das ist es, was sie ihm lachend entgegenhält, als er seinem Kummer Laut gibt: E***, das Durchgestrichene, Verbotene, Undenkbare, Relikt einer vergangenen Geschlechter-Epoche, weniger als nichts, deutlich weniger, ein Verdacht, nein, kein Verdacht, eine Unmöglichkeit. Worauf eifersüchtig? Auf die umschmeichelnde Welt? Schmeichelt sie denn? Hätte sie Anlass zu schmeicheln? Womit sollte sie schmeicheln? Eher riskiert er Blicke dafür, dass er sich so hat binden wollen, können, Blicke, die ein Wissen zu signalisieren scheinen, das ihm abgeht und die sich senken, sobald er sie auffängt. Auch diese Partie endet unentschieden, bevor sie begann.
Besser wäre es, die Dinge zu betrachten, wie sie sich ohne Dritte gestalten. Dazu gehört eine bestimmte Art von Geduld … die des Beobachters, der sich in der Gewissheit wiegt, dass seine Stunde naht. Also etwas, das es in einer Beziehung nicht gibt, nicht geben darf, solange sie ernst gemeint ist. Ist seine Beziehung ernst gemeint? Wie meint man es ernst? Von Kindesbeinen auf geläufig ist ihm der Ausdruck ›ernste Absichten hegen‹, er kennt ihn aus dem Repertoire bedenkenträgerischer Fragen aus der älteren Generation, er bestreicht das Vorfeld einer durchgestrichenen Institution, der ›traditionellen‹, auch ›konventionell‹ genannten Ehe, in ihr hätte er nichts zu suchen. In der Beziehung nun, das sagt der Alltag deutlich, sind Absichten unangebracht, aber die Frage nach dem Ernst bleibt. Sie zum Beispiel meint es mit ihrer beider Beziehung ›sehr ernst‹, überhaupt meint sie das, was sie dann sagt, wenn sie darüber spricht, sehr ernst, die Stimme unterstreicht diesen Umstand nicht nur, sie wird selbst sehr ernst in den Momenten, in denen sie es vorträgt, ganz im Gegenteil zum munteren Plapperton, mit dem sie ihn sonst überzieht, als solle er nicht zu Wort kommen oder als entzöge sie ihm das Wort, bevor er es an sie richten könnte.
Gewiss fände einer, der seinen Redeanteil mit der Stoppuhr mäße, eine solche Aussage absurd und vielleicht ist sie es auch in gewissen Maßen, nichtsdestoweniger deckt sie eine Realität. So fühlt sich sein Ernstsein blockiert an und ›an den Rand gedrängt‹, bevor es sich richtig entfalten kann, nicht unähnlich einem Regenschirm, der für alle Fälle bereitsteht und ansonsten nur als störendes Objekt aus einer Ecke in die andere geschoben wird. Was daran stört, wüsste er nicht zu sagen, selbst dass es stört, steht außerhalb aller Gewissheit. Ja, dieser Ernst stört, ohne zu stören, vielleicht, weil er nicht stören will, vielleicht auch, weil er als Störenfried beibehalten werden soll, daran kann man schon einmal denken, ohne den Gedanken als solchen zuzulassen oder gar von allen Seiten zu betrachten. Überhaupt liegt vieles Angedachte in allem, was undenkbar erscheint. Es führen mancherlei Wege in den Nebel hinein, doch keiner führt wieder heraus. Er müsste jetzt, wollte er die eingetretene Situation beschreiben, Beispiele auf den Tisch legen, das ist, so wie er sich fühlt, ausgeschlossen, auch gäbe es, vorderhand, niemanden, an den das Verfahren sich wenden würde, also auch keinen Grund, es anzuwenden. Gestern zum Beispiel... Oder wäre es vorgestern...? Gestern war gestern und vorgestern vorgestern. Heute ist heute, könnte man darauf entgegnen, man kann es aber auch lassen. Schwieriger wäre es, morgen heute sein zu lassen und übermorgen ein weiteres Heute, ohne Abstriche, ohne Zusätze, ohne dass etwas sich änderte, doch was soll sich ändern?
Das Glück an die Stelle des Vorhangs setzen: Ist es das?
Und war’s das?
Wenn nicht das, was dann?
Aber das Glück ist der Vorhang: was also wird hier an wessen Stelle gesetzt? Nun ... mag sein, das
Glück ist nicht der Vorhang, sondern liegt in der simplen Tatsache, dass er vorhanden ist. Dann wäre das
ganze Unterfangen nur ein Versuch, das Glück nackt zu genießen. Aber dazu müsste man den Unterschied
kennen. Müsste ihn so kennen, wie die Sprache ihn kennt. Man müsste also ... das verhüllte Glück im
enthüllten sehen, müsste, kurz gesagt, die Differenz empfinden, die das eine vom anderen trennt. Damit
läge das unverhüllte, das unverhängte Glück im Genuss der Differenz – jedenfalls für den Fall, dass die
Empfindung der Differenz, die da sein muss, unbedingt da sein muss, das Glück nicht trüben soll, und
Glück etwas ist, das sich im Genuss öffnet oder erschließt, also gewissermaßen enthüllt. Das unverhängte
Glück wäre also das Glück doppelt: das unverhüllte und das im Genuss sich enthüllende. Wie das? Wer im
Genuss watet, weil das Glück unverhüllt zugegen ist, was sagt dem die Differenz? Ist ihm das Glück nicht
ganz und gar eröffnet? Und ist es dann nicht einfach? Ist es nicht einfach Glück?
Nicht ganz. Denn, ehrlich gesagt, das gerade noch etwas verharmlosend ›Vorhang‹ Genannte lässt sich nicht einfach beiseite schieben. Ebensowenig wäre das, was sich blicken ließe, gelänge es dennoch einmal, das Glück. Eher gleicht es etwas, das man, ein wenig vereinfachend, als Glücksverlassenheit bezeichnen könnte: ein Zustand, der über die bloße Abwesenheit von Glück oder das aktuell empfundene Unglück deutlich hinausgeht. Sollte es stimmen, dass der Vorhang das Glück verhüllt, dann stimmt ebenso sehr, dass er es zeigt, und wenn es richtig ist, dass ein Glück, das sich zeigt, das Glück dessen ist, dem es sich zeigt, dann nimmt, wer den Vorhang fortnimmt, auch das Glück – sein Glück – mit hinweg.
Was ist der Vorhang? Das sich verbergende und entbergende Glück? Schöbe, wer ihn beiseiteschöbe, sein Glück beiseite: das ihm, dem Einzelnen, zugemessene Quantum Glück, über das hinaus es für ihn keines gibt? Dann wäre dieser Vorhang nur für ihn bestimmt – nein, nicht einmal das: er wäre bloß vorgehängt, das Verhängte wäre das Schicksal des Einzelnen und das Glück eine Lüge. ›Dieses Glück war nur für dich bestimmt‹: der Sinn dieser Rede liegt im vorgreifenden Unglück, quicklebendig wird er in dem unbestimmten Gefühl, etwas zu verpassen und damit ein für allemal verpasst zu haben, falls – nun ja, falls man es sich nicht nimmt: jetzt, hier, unbekümmert darum, dass dahinter das Unheil lauert.
das Wort schreibt sich leicht hin, vermutlich, weil es in der Pendelbewegung des Denkens den Moment des Stillstands, der Umkehr, der Gegenwendigkeit bezeichnet –, allerdings erwüchse aus dieser Sichtweise für das selbstverantwortete Leben die Pflicht, geradezu die Notwendigkeit, einen seiner unendlich kostbaren Blicke auf das zu richten, was es hinter dem Vorhang erwartet, und zwar auch für den Fall, dass es gewillt wäre, sich vor in der Lüge einzurichten. Nichts fixiert einen Lügner stärker in der Lüge als das Bewusstsein der Lüge. Nichts lässt das falsche Glück wirkungsvoller als das richtige erscheinen als die als Überzeugung getarnte Panik, für die kein wahres Glück existiert. Und nichts befördert diese Einsicht stärker als der Blick hinter den Vorhang. Das System der Lüge ist ein Zweikammern-System, in dem hinten immer bereits im Grundsatz annulliert ist, was vorne gerade beschlossen wird. Das Glück der Lüge liegt im Vorsatz, es genießen zu wollen, wissend, dass man nicht weit damit kommen wird. Anders gesagt: es fließt aus dem Recht aufs je eigene Unglück.
wer so empfindet, zeigt sich empfänglich für den Geist des Aufruhrs, der nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit in sozialen Beziehungen gelten lassen will – den Geist des Aufruhrs, nicht den Aufruhr selbst –, immer vorausgesetzt, ein solcher Mensch ist jung und findet, langsam sei es an der Zeit, dass es losgeht, das Leben: vermutlich um ihn, nachdem es sich durch ein geniales Manöver freigespielt hat, mit einem präzisen und kraftvollen Wurf ins Ziel zu schleudern. Dem Geist des Aufruhrs ist jeder Vorhang und jeder Schleier ein Schleier zuviel und er wird stets sein Glück darin finden, ihn herunterzureißen: das ganze Glück liegt hinter dem Vorhang, denn dort liegt...
... Panama oder das Andere. Der Schleier, der zerrissen werden muss, ist gerade gut genug, es hervorzubringen und die Welt nach dem Muster des ersten Mals einzurichten oder zu deuten: wo liegt da der Unterschied? Im Ernst, sehen Sie da einen Unterschied? Ich nicht und Sie nicht und sie schon gar nicht, Pida, die fromme Helene, in die Revolutionsklasse aufgestiegen aus dem Provinz-Untergrund einer weitverzweigten katholischen Schwesternschaft: ein properes, etwas kurzbeiniges, wohlgerundetes Wesen, das sich eines unvordenklichen Tages auf Tronkas Schreibtisch ausbreitet, um sich von ihm, nun ja, schwängern zu lassen, sehr zu seinem Erstaunen übrigens, denn damit hat er, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Einmal dem Schleier entronnen, ist es ihr Schicksal, keinen Schleier und kein Jungfernhäutchen gelten zu lassen. Aus der Nichtgeltung alles Trennenden erwächst ihr eigentlicher Lebenstraum: Tagtraum, ex negativo genährt von nächtlichen Heimsuchungen, die unter dem erklärenden Zugriff ihrer freudkundigen Freunde wie Schnee an der Sonne zergehen.
Natürlich hat Tronka nicht damit gerechnet, auf diese Weise Vater zu werden. Überhaupt hat er nicht damit gerechnet, jemals Vater werden. Er hat damit gerechnet, unauffällig zu leben und niemanden in den Abgrund seiner Obsessionen zu reißen, den einen oder anderen Star-Studenten ausgenommen, der das Zeug dazu besitzen könnte, ihm zu folgen. In seinen vorauseilend erstellten Lebensbilanzen taucht ein Posten ›Studentinnen‹ nirgends auf (ganz zu schweigen von jenen unerhört jungen haarigen Wesen, mit denen manche Kollegen ihre Wohnzimmer drapieren, wenn sie ihn auf ein Glas Wein oder zu einem Essen empfangen). Er ist artig zu ihnen, vielleicht zu artig, man könnte meinen, die eine oder andere habe schon lange auf einen Fußabstreifer wie ihn gewartet, jedenfalls interpretiert er die bei solchen Gelegenheiten aufbrechende schwüle Kälte in dieser Richtung. Aber wie gesagt, er ist schon immer auf und davon, bevor die Situation eskalieren könnte. Warum? Tronka weiß es nicht und will es nicht wissen. Ein wenig, heißt das, weiß er es schon, oder er könnte es wissen, wenn er es wollte, obwohl er auch dann definitiv nicht wüsste, woran er wäre, denn auf diesem Feld zählen, wie auf anderen auch, Taten, nicht müßige Deklarationen. Er lebt in einer Zeit, in der mancher Schwule aus seiner Bekanntschaft, angeregt durch medial überkonnotierte Zeitgenossen wie Schauspieler und Fußball-Recken, sein Coming-out präsentiert, als sei ihm vorbestimmt, damit in die Annalen der Geschichte einzugehen. Vielredner Tronka schweigt dazu. Und dieses Schweigen setzt sich in seinem Inneren fort – zitternd, tentativ und, jedenfalls bis auf weiteres, unverbrüchlich.
Pida erwischt ihn durch Dreistigkeit. Nicht dass sie sich vorgenommen hätte, ihn zu erobern – welche Eroberung, würde sie fragen, das müsste ich wissen, worum geht es hier eigentlich? –, aber man muss doch wissen, wie man mit jemandem dran ist, und dazu gibt es nun einmal dieses probate Mittel, ein sehr probates und relativ einfach zu handhabendes Mittel, das seine Wirkung selten verfehlt. Im Internat ist Pida, das sollte vielleicht angemerkt werden, weil es ihr Vorgehen in den Rang literarischer Nachfolge erhebt, einst die Ehre widerfahren, von einem der geistlichen Fräulein über der Lektüre von Lady Chatterley’s Lovers ertappt und bloßgestellt zu werden: der Vorgang zeitigt vielfältigere und mächtigere Folgen als die Lektüre selbst. Pida ist zwar eine schwache Leserin, aber eine aufmerksame Erkunderin sozialer Wirkungen, ohne Scheu, auf eigene Faust zu experimentieren, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Warum warf keines der Fräulein die naheliegende Frage auf, wie zum Teufel das ihr unter gewaltigem Getöse abgenommene Buchexemplar derart zerlesen sein konnte, dass sie unmöglich als Verursacherin in Betracht kam? Pida, wie jede ihrer Mitschülerinnen, glaubt die Gründe zu kennen, und wenn sie Tronkas Sprechstunde dazu benützt, ihm erst in die Arme zu sinken und einige Wochen später, nach kurzem, aber scharfsichtigem Studium der eingetretenen psychischen Folgen, sich den Pullover vom Leib zu ziehen, um diesen Tronkas prüfenden Händen auszuliefern, dann demonstriert sie damit unter anderem, dass sie nicht gewillt ist, gleich ihren verehrten Erzieherinnen sich auf den Buchpfad durch den Dschungel des Lebens zu begeben: ›Seht her, all diese Dinge warten darauf, getan zu werden, und darauf kommt es an, nicht erst am Ende, sondern: von Anfang an.‹ Was immer sie im Verborgenen tut, was immer sie sich leistet, wenn sie sich überzeugt hat, dass kein Unbeteiligter zugegen ist, sie tut es unter den entrüstet-gierigen Augen jener famosen Fräulein, von denen sie sicher sein kann, dass ihnen nichts, aber auch gar nichts entgeht.
Tronka ist nicht der erste, an dem sie das Verfahren erprobt. Aber er ist ihr vorerst dankbarstes Opfer, das Wort in jenem unmaßgeblichen, alsbald der Vergessenheit anheimfallenden Sinn genommen, in dem man Gummibäume und Plastik-Tischdecken damit bedenkt. Gewohnt, sich etwas dabei zu denken, gleichgültig, in welcher Gestalt das Leben ihn gerade einholt, fällt es ihm leicht, sich etwas dabei zu fühlen, wenn Pida ihn mit einer ihrer überraschenden Handlungen beglückt. Er könnte, analog zu den Gedanken-Erfindungen, mit denen er seine Tage verbringt, das, was ihm in solchen Momenten gelingt, ›Erfühlungen‹ nennen, mehr oder minder willkürlich ausgeführte Gefühlsbewegungen, die sich dem Wunsch verdanken, emotional zu verstehen, was sich im Anderen abspielt, – nicht, weil er das Innere der anderen Person für eine Bühne hielte, auf der nacheinander unterschiedliche Stücke zur Aufführung gelangen (Descartes’ Bewusstseins-Theater, theoretisch ausgemustert, besitzt in Tronkas Augen allenfalls den Wert einer historischen Reminiszenz), sondern weil er die – unbestreitbar von einer fremden Haut umschlossenen – psychischen Vorgänge durch die Brille eines reaktiven Beobachters sieht, der sich von allem, was geschieht, tief im eigenen Inneren angesprochen weiß und unter dem Zwang steht, darauf spontan erwidern zu müssen, gleichsam emotional Laut zu geben, auch wenn kein Laut über seine Lippen kommt. Später, in Phasen wachsender Entfremdung, neigt er dazu, für die gleichen Vorgänge das Wort ›Übersprunghandlung‹ zu verwenden, teils aus unerschütterlichem Vertrauen in die Theoriekonstrukte der Kollegen (vorausgesetzt, sie sind in anderen Disziplinen tätig), teils, weil die Mode-Vokabel etwas an sich Unverständliches dem Verstehen öffnet und ihm dadurch einen Platz in der Wirklichkeit der Dinge anweist – unwiderleglich gerechtfertigt, weil keiner weiteren Rechtfertigung bedürftig.
Der Wert der Übersprunghandlung liegt im Auge des Betrachters. Er kann mit ihr nach Belieben schalten und walten. Darin liegt ein großer Vorteil. Keiner kennt die widerstreitenden Impulse, denen sie sich verdankt. So ist es ohne weiteres denkbar, eine schmutzige Handlung... aber was heißt schon ›schmutzig‹: eine befremdliche Handlung aus dem Zusammenprall zweier im Grunde harmloser Motive zu erklären. Pidas rapide sexuelle Praxis zum Beispiel als Resultat der wechselseitigen Blockade eines antrainierten Keuschheitswahns und des Bedürfnisses nach einem selbstbestimmten Leben. Der Rotz-und-Wasser-Ausbruch in der Nacht vor ihrer Hochzeit, in dessen Verlauf sie Tronka mehr als einmal bestürmt, das Weite zu suchen und sie ihrem unerklärlichen Elend zu überantworten: ein Crash, ein programmiertes Zug-Unglück zwischen dem archaischen Impuls, sich den elterlichen Lebensregeln zu beugen, und dem generations-typischen Verlangen nach freier Partnerschaft.
Zusammenprall, -bruch, zugespitzt im Sinn von Systemzusammenbruch, wobei System und Systemart differieren können, wie im Beispiel Börsencrash, der die vorübergehende Aussetzung des Börsengeschehens einschließt, aber nicht den – finalen – Zusammenbruch, der hier eher im rapiden Schwund bestimmter Vermögenswerte zu suchen ist. Ein System wird schlagartig dysfunktional, so ließe sich der Effekt am besten beschreiben, wobei dem Schlagartigen, auch Unerwarteten eine gehobene Bedeutung zukommt: der eintretende Geltungsverlust kann Werte aller Art betreffen, finanzielle wie symbolische, etwa wenn eine gestern noch als hocheffizient angesehene Wissenschaftsdisziplin kollabiert – ein seltener, aber nicht ausgeschlossener Vorgang, der die Frage aufwirft: Ist es sinnvoll, den ›Crash‹ einer Wissenschaftskultur, wie es gelegentlich passiert, zu prognostizieren? Wäre es vorstellbar, dass eine Gesellschaft kollabiert, die auf Wissenschaft gebaut ist? Demgegenüber klingt die Bezeichnung ›Crash‹ für Tronkas Erlebnis in der Nacht vor seiner Hochzeit ausgesprochen harmlos. Doch auch das kann täuschen.
Gespräch über die Stabilität von Begriffen und die Milieus, denen sie entstammen.
Teuschner redet sich warm.
Kein Was-auch-immer.
Das weckt Argloser, der bisher kaum hingehört hat.
Man weiß nie, wo Argloser sich gerade befindet.
liegt darin, dass sie sich ebenso mühelos verbünden wie aufs Messer bekämpfen. Nicht selten geht das eine beinahe unmerklich aus dem anderen hervor, wobei die Reihenfolge gleichgültig – ... sagen wir ... sich wechselnden Problemlagen verdankt, deren wissenschaftlicher Ursprung, naja... Aber im wissenschaftlichen Mäntelchen erheben sie einen gewissen Anspruch auf Gediegenheit, auch Sachlichkeit – sofern letztere als Wert in Betracht kommt –, der auf anderen Schauplätzen schwerer zu behaupten wäre. Wissenschaftler, die sich zu weit auf den gesellschaftlichen Kampfplatz vorwagen, müssen bereit sein, auch schmerzhafte Blessuren wegzustecken. Der antiwissenschaftliche Affekt ist im Volk fest verankert, er lässt sich immer leicht mobilisieren.
Warum das so ist? Teuschner zuckt die Schultern.
Unverkennbar Friedenwanger.
Teuschners Liebling.
Teuschner weiß, wovon er redet. Er bedauert die Entwicklung, vermutlich, weil er zu ihren Nutznießern zählt. Friedenwanger, ein Bein lässig über das andere geschlagen, schneidet ihm lachend das Wort ab: ein wenig Missachtung habe noch keinem geschadet. Und überhaupt.
―Sind wir krank? Sind wir alle so krank? Ich weiß, die Analyse ist ein langer langer Selbstfindungsprozess, an dessen Ausgang jeden von uns eine neue Persönlichkeit erwartet. Fein. Aber ehrlich gesagt, ich fürchte mich vor diesem Moment. Wer weiß schon, welche Monster uns am Ende der Therapie ins Haus stehen werden, die wir der Gesellschaft gerade verpassen? Und: will sie das überhaupt?
Tronka, ahnungslos, hat die Bruchstelle der Theorie von der Übersprunghandlung schnell erkannt.
Mit dieser Ansicht wenigstens steht er im Kollegenkreis nicht allein.
Angenommen, die Theorien B1 … Bn fußen auf Hypothese A.
Es handelt sich um
anerkannte Theorien, auf denen die Arbeiten der Gelehrten Xa … Xz beruhen,
allesamt angesehene Mitglieder der Scientific Community, gut vernetzt, einflussreich, zum
Teil mächtig, mit einer Gefolgschaft, die in die Tausende geht.
Ein Newcomer namens Y widerlegt A.
Was, denkst du, wird geschehen?
Glaub nicht, du kommst mit deiner Antwort davon.
Wissenschaftler sind Menschen.
Auch Tronka ist ein Mensch. Sein Alltagsvertrauen in die Theoriekonstrukte der Kollegen
(vorausgesetzt, wie gesagt, sie sind in anderen Disziplinen tätig) ist ebenso unerschütterlich wie
schütter. Der eingeführte Begriff der Übersprunghandlung in einer zum psychologischen Kanon
gehörenden Publikation ist sakrosankt, anders als der Gegenstand einer offenen Plauderei unter
Kollegen, in der die immer rege Kantische Aufforderung, sich seines scharfen Verstandes zu bedienen,
nicht von anderen Motive durchkreuzt wird. Dass diese anderen Motive nicht allein
wissenschaftslogischer Herkunft sind – ›der Stand der Forschung ist exakt das, was wir wissen, und
nur durch Forschung veränderbar‹ –, sondern, in diesem Fall, jener fatalen Nacht der
Nächte entstammen, an deren Folgen er noch immer laboriert, würde er vermutlich nicht
bestreiten. Vermutlich würde er sogar, einmal auf dieser Schiene argumentierend, mit einem kurzen
Auflachen bestätigen, dass auch er, nicht anders als die geschätzte Mehrzahl seiner Zeitgenossen, im
Alltag ungeniert auf Erklärungsmuster zurückgreift, die er als homo theoreticus für
›obsolet‹ hält und gegenüber den Studenten kühl als Schwachsinn abtut. Wahrscheinlich würde er
behaupten, er habe damit kein Problem. Wirklich? Doch in dieser Auskunft wartet bereits das
nächste. Denn selbstverständlich hat er ein Problem damit, dass überall dort, wo Not am Mann ist, in
seelischer Hinsicht und überhaupt, sich hinterrücks zu seinem Denken Deutungen Zugang verschaffen,
die er an der Vordertür mit einem knappen Kein Bedarf! abwimmeln würde. Stünde er mit dem
Freudschen Modell nicht auf Kriegsfuß, dann könnte er sagen, sie stiegen zwanghaft aus dem
Unterbewusstsein auf, und er könnte letzteres, wiederum zwanghaft, mit dem Adjektiv
›gesellschaftlich‹ versehen, um damit anzuzeigen, an welcher Stelle es bei jenem in Ehren ergrauten
Modell hapert.
Beides liegt ihm fern.
Daher begnügt er sich damit, die Bewusstseinsverengung zu konstatieren, die ihn dazu veranlasst,
einer Hypothese Raum zu geben, deren Prämisse er nicht teilt, weil sein theoretisches Wissen es ihm
verwehrt, während das praktische Bedürfnis, sich die Dinge zurecht zu legen, nicht nach Prämissen
verlangt, sondern...
Nach Effekten natürlich, selbstredend solchen, die eine gewisse Entlastung... eine gewisse
Entlastung ... sprich’s aus, sprich’s einfach aus: eine Entlastung vom Alb einer einmal getroffenen,
möglicherweise falschen, jedenfalls fatalen Entscheidung versprechen, denn es versteht sich von
selbst, dass das Beharren auf der Behauptung, Pidas Gemütsausbruch einer Nacht habe sich dem
Zusammenstoß unverstandener Motive verdankt und daher nichts zu bedeuten gehabt, sein
unerschütterliches Festhalten an der Heirat mit einer Rationalitätsaura umgibt, die auf der Stelle
verschwinden würde, könnte er dem Gedanken Raum geben, dass ihn in dieser Nacht einfach bestürmt
habe, die Heirat abzublasen, und dass sie dafür verdammt gute Gründe besessen haben könnte.
Eine Bewusstseinsverengung also … wenig erstaunlich eine, die seinen einmal mit
zusammengepressten Zähnen gegen sich selbst ertrotzten Entschluss gegen jede erneute Anfechtung
abschirmte. Die Entscheidung, soweit sie ihn betraf, war gefallen, und jene längst verblasste Glorie
aus Rationalität, die sie damals umgab, diente offenkundig dazu, ihren irrationalen Kern gegen jeden
Versuch der Offenlegung abzuschirmen – ganz so, wie die umgebende Muskulatur ein verletztes Gelenk
vor den Lockungen einer ganz normalen Beweglichkeit in Verwahrung nimmt und damit am Ende die
eingetretene Misere auf Dauer stellt.
Tronkas Ehe, kein Zweifel, ist ein Flop.
Versuch, das Einfache zu verstehen, das schwer zu fassen ist
Zwei naheliegende Erklärungen blockieren einander und die dritte, theoretisch sinnlose, steigt, ein Phönix, empor, um, so sei es gesagt, die Beziehung zu retten, die Pida in jener Nacht um ein Haar pulverisiert hätte, und nicht bloß das: die ›Integrität‹ des eigenen Handelns.
Warum heiraten Menschen? Um, etwas schlicht gesagt, den geplanten, kommenden oder bereits vorhandenen Kindern ein gesichertes Heim zu geben und die dazugehörigen Rechte und Vorteile, nicht zu vergessen die steuerlichen, in Anspruch zu nehmen? So jedenfalls dachte Tronka, in einer langen Reihe von Vorgängern stehend, vor, während und nach jener Nacht, so flüstert sein Tagbewusstsein es ihm noch immer zu, nicht bedenkend, dass er, der Apologet des beweglichen Denkens, damit, auf dem Cis-Schild stehend, hier und jetzt zum Monument des toxischen Mannes erstarrt, angefeindet und, nun ja, angegiftet von Pidas Freundinnen und, sooft die Stunde naht, von Pida selbst, in deren Kleingedrucktem er den Schrei nach Freiheit wohl gröblich fehlinterpretierte, als er aus ihm das große Gemeinsame herauslas, das sie verbinden würde.
Soviel zu Hypothese A. Eben noch gültig, plötzlich passé. Aber die kennen wir doch. Durchgestrichen für alle Zeit! Jedenfalls für die Zeit seiner Ehe, seines Lebens, seiner ›Ehrpusseligkeit‹, um auch dieses Gruselwort ins Spiel zu bringen, denn gewiss: das Gefühl, ehrenhaft handeln zu müssen, hat ihm (letztlich, wie sonst?) seinen Entschluss diktiert. Schlecht, sehr schlecht. Ein archaischer Impuls. Den verschweigen wir lieber ganz. Tronka, wo war dein Verstand, als du ihn brauchtest? Du hast dich, klug wie du bist, an einem Kadaver, genannt Ehre, vergriffen und dich daran vergiftet.
Selber schuld. Oder nicht? Oder doch?
Natürlich waren sie Tronka gut bekannt, die gängigen Theorien B1 … Bn des akademischen Feminismus, fußend auf A nur insoweit, als sie den Fuß auf das Fell des erlegten Bären setzen, den Bettvorleger Patriarchalismus, über den jeder hüpft, der im Wissenschaftsbetrieb etwas werden will, also einer aus der langen Reihe Xa … Xz –: so gesehen wurde er über Nacht zum Herausforderer, ohne zu wissen, wie ihm geschah. Er hätte es wissen müssen, irgendwo in einer der vielen Taschen seines Bewusstseins steckte auch diese Information, und wenn er es vorzog, sie stecken zu lassen, dann erinnert ihn Pida seither jede Stunde daran, welch ungeheures Unrecht ihr durch seine männliche Anwesenheit geschieht, übrigens auch durch seine Abwesenheit, denn Ab- und Anwesenheit sind in diesem Fall institutioneller Unterdrückung nur zwei Seiten ein und derselben Münze. Zweifellos hat sie ihre Idole durch die Heirat mit Tronka verraten und ebenso zweifellos bedeutet das Bewusstsein, ihre Sache verraten zu haben, einen Verrat am heiligen Ehebund, der ebenfalls in ihr spukt. Aus diesem Dilemma führt nur ein Weg: die Bussfertigkeit des Mannes. Der Mann muss führen, Worte der Tanzlehrerin, ein Leben lang haftend, gleichgültig, was die Liturgie der Befreiung verkündet, in der sich alle Deutungen sammeln, Hauptsache, sie dienen dem Zweck der Zwecke: die böse und die gute, die schöne und die hässliche, die an den Haaren herbeigezogene, die aus dem Bett herbeigeschleppte, der bösartige Verdacht, der genährte Verdacht, der inszenierte Verdacht, den trügerische Verdacht, der betrügerische.
Sinnlos wäre es, geheiratet zu haben, um zu beweisen, dass sie das wollte, dass jene durchlittenen Anfechtungen, ja, Anfechtungen, von dritter Seite kamen, sie also von ihnen beiden durchlitten und bestanden wurden in jener Nacht – in jener Mordsnacht, in der ein ungeborenes Leben zwei Leben mordete, nein, rechtwinklig abbog, vielleicht auch nur eines (aber dann erhebt sich die Frage, welches der beiden: welch/es). Was, wenn aus Pida damals die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sprach? Dann hätte er gehen müssen, kein Zweifel. Festgebannt durch den Eigensinn, die einmal begonnene Sache durchzuziehen, koste es, was es wolle, koste es, was es koste, koste es ... die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, das Leben und nichts als das Leben, das eigene und das andere, fremde, nicht als fremd anerkannte: er hätte sich lösen, er hätte gehen müssen. Was allerdings, wenn aus ihr damals der Wahnsinn und nichts als der Wahnsinn sprach? Dann hätte er bleiben müssen, kein Zweifel. Aber er hätte nicht bleiben können, weil das andere, vertraute und nicht als vertraut anerkannte, sich offen als das gezeigt hätte, was es, insgeheim oder nicht, bereits war: als Fessel, schwarz, lichtlos, vollkommen inakzeptabel für ein Leben im Sonnenaufgang, in dem eins sich im anderen wärmt und beflügelt, härmt und betrügelt, verlärmt und besiegelt: na was schon.
Na was schon.
Was aber, wenn jene verfluchte Übersprunghandlung ein klug
gewähltes Mittel und nichts als ein Mittel war, um die Wahrheit vor ihm zu verbergen und ihn so sicher
über die Schwelle dieser verfluchten Nacht zu bugsieren? Was, wenn Pida instinktiv annahm, der Einsatz
ihres gesegneten Leibes könne sich in diesem Fall nicht als ausreichend erweisen und sie deshalb auf ein
stärkeres Mittel setzte? Dann ... ja dann war seine scheinbare Übersprungdeutung nicht
sinnlos, sondern provoziert, dann war sie das nüchtern kalkulierte Produkt einer überlegenen Strategie,
der er – respektive seine Psyche – in jener Nacht und in jener Lage nichts entgegenzusetzen hatte.
Aber aber... das setzt doch voraus, dass sie seinem Unwillen, sich in ein von ihnen beiden als
vollkommen abgestanden betrachtetes Heiratsmodell zu fügen, einen anderen Stellenwert zuschrieb als
ihrem eigenen, der zweifellos vorhanden war und daher ebenfalls überlistet werden musste. Worin kann
dieser andere Stellenwert bestanden haben?
Ganz einfach: wenn sie ihn in jener Nacht behandelt hat (was nicht sicher ist, sondern eine
bloße Hypothese), dann zweifellos nicht aus emotionaler Verbundenheit, sondern ziemlich kalt und
ziemlich berechnend, das heißt, als Trottel oder als Mann (was hier praktisch auf dasselbe hinausläuft).
Behandelte sie ihn als Mann, dann unterstellte sie ihm eine Denkweise, die das Wörtchen ›heiratsscheu‹
ganz angemessen umschreibt: eine abgestandene Vokabel aus einer abgestandenen Zeit und einem
abgestandenen Universum. Zufällig koinzidiert sie im Resultat mit seiner offen und vielfältig
kommunizierten und freudig aufgenommenen Überzeugung, eine Liebesbeziehung dürfe nicht anders als frei
und spontan gelebt werden.
Tronka, sei wachsam. Misstraue der Schläfrigkeit, die dich zu übermannen versucht, sobald Du Dich dieser Zone näherst. Misstraue dir selbst, misstraue der Partei, die du bist, misstraue der, die du nicht bist. Falls du sicher bist, diese Überzeugung mit ihr geteilt zu haben, so sei dir nicht sicher, sie so wie sie verstanden zu haben, bevor die Nacht eure Gemeinsamkeit pulverisierte. Auch sei dir nicht sicher, verstanden zu haben, wovon du da überzeugt gewesen bist. Schließlich, da du sagst, ihr hättet diese Überzeugung geteilt: zu welchen Teilen? Wer von euch beiden hat sich da welchen Teil genommen? Und, wenn sie teilbar war: wurde sie dadurch weniger oder mehr? Mag sein, ihr habt sie redlich unter euch aufgeteilt: war es ein und dieselbe Redlichkeit hüben wie drüben? Womöglich übte jeder in dieser Nacht seine Redlichkeit oder glaubte sie zu üben oder hielt sie zumindest fest wie einen Bettzipfel, um nicht völlig nackt vor sich selbst dazustehen? War diese innere Stimme, deren ihr euch sicher wähntet, eine Art Rufen im Dunkeln? Und: gab es sie denn auf beiden Seiten? War das, was du auf der anderen Seite hörtest, vielleicht nicht nur ein Echo deiner eigenen Stimme, und du verstärktest es willkürlich, um darin die Stimme der Partnerin zu vernehmen, die du so dringlich hören wolltest? Oder hast du es vorgezogen, blind und taub bei ihr etwas vorauszusetzen, das gerade drauf und dran war, sich aufzulösen oder sich in etwas anderes zu verwandeln? Angesichts des Ergebnisses berechtigte, lange von ihm unterschlagene Fragen. Und siehe da: er kann und will sie nicht beantworten. Er kann sie nicht beantworten, da er die Antwort im voraus weiß und im voraus verwirft. Er will sie nicht beantworten, da er den Mechanismus des Wissens-und-Verwerfens zuinnerst verabscheut und daher instinktiv dafür Sorge trägt, ihn nicht auszulösen.
Seine Devise heißt Gehen machen. Mompti ist Spezialist für die ungelösten Probleme der Kunst. Er kreuzt an Ecken auf, an denen andere scheiterten, im Mund eine dieser ungefilterten Zigarillos, in denen Freund Hein sich nur oberflächlich verbirgt:
Zum Ethos des Handwerkers gehört das Wissen vom Hohl.
Dann, abrupt:
Mompti braucht Ama, er braucht ihr Geschlecht und kommt regelmäßig mit demselben Gleichmut darauf zurück, mit dem andere Leute Brötchen holen. Unser täglich Brot gib uns heute. Zwischen Laib und Leib passt wenig und kaum Bedeutendes. Ihm genügt, dass sie da ist, er wird unruhig, wenn sie das Haus verlässt und kehrt in sich selbst zurück, sobald sich ihr Schlüssel im Hausschloss dreht.
Von seiner früheren Frau hat er sich getrennt, weil ihn die Aussicht, eine Familie ernähren zu müssen, zutiefst erschreckte. Amas bäuerliche Bewegungen, ihr herausforderndes Gebaren gegenüber Dritten, ihr lasziver Gang … all das stört ihn nicht. Es schenkt ihm die Gewissheit, im unerschütterlichen Egoismus eines anderen Menschen eine feste Bleibe ergattert zu haben. Warum Ama? Sie war da, als die andere ging, weil der nicht unterdrückbare Kindeswunsch es ihr befahl –, sie war da, weil die andere ging, und sie war in einer Weise da, die ihm signalisierte, sein Problem sei durch ihre Gegenwart zu beheben, nein, es sei durch sie bereits behoben und er müsse jetzt und in Zukunft um nichts anderes sorgen als darum, sie zu beherbergen.
Seltsamer Gedanke für einen, der die Unbehaustheit so schätzt.
Die Frage schickt sich zwar nicht, aber sie ist unabweisbar, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Ama im Haus, Ama in Garten und Feld, wo sie ihre Motive sammelt, ihre ›Bilder‹, wie sie sie nennt: ein, zwei, drei, manchmal vier Steinchen, ein paar Blätter, ein Grasbüschel, selten, sehr selten, ein Blütenzweig. Zuhause kommen sie auf den Zeichentisch, Ama betrachtet sie, schiebt sie hin und her, stupst sie an … ja, sie stupst sie an, als wollte sie sagen: Renn! Mehr als einmal spürt Mompti die Regung, sie ihr wegzunehmen, sei es aus Neugier, um Amas Fauchreflex zu stimulieren, sei es aus Künstlerlaune, weil der Anblick in allen Stadien welkenden Grünzeugs, das die Wände ihres Ateliers bedeckt und sich auf penibel gerahmten Buntstiftzeichnungen vom Holzboden aufwärts rankt, ihn melancholisch stimmt, als sei der Whisky im Haus ausgegangen und habe Lücken im Regal hinterlassen, Merkzeichen eines unbestimmten Handlungsbedarfs, der aus irgendeinem Grund niemals angesprochen werden darf.
Aus irgendeinem Grund sind Ama und Mompti eins. Nicht, dass sie sich jemals dafür entschieden hätten – schließlich vollzieht sich das Einswerden nicht auf einen Schlag, und wenn es Zeiten gab, in denen zwei Lebenspartner nichts anderes erwarteten und eher erstaunt nach einigen Jahren ehelicher Zwiesprache zur Kenntnis nahmen, dass ihre Lebensauffassungen unverrückbar dieselben und weiterhin different geblieben waren, so hat sich in ihrem Fall offenkundig das umgekehrte Wunder vollzogen: weder gab es einen Zeitpunkt, zu dem sie sich, sozusagen offiziell, beim jeweils anderen als Partner fürs Leben eingetragen hätten, noch hätten sie sich jemals jene stille Drift eingestehen dürfen, die mit der Zeit dazu geführt hat, dass die Marotten, Vorlieben, Abneigungen, Sprüche und Gewohnheiten des anderen, sein Bezugspersonal und seine offenkundigen Lebenslügen jeden von ihnen in einem Schwingungszustand halten, aus dem kein Entkommen möglich zu sein scheint. Einer des anderen Uhr – man muss nicht zu jeder Stunde das Zifferblatt kontrollieren, um zu wissen, was es geschlagen hat, man muss nicht sonderlich mögen, wie der andere tickt, aber es gibt Orientierung.
Warum auch entkommen? Warum sollten sie…? Nun … der beiden ins Gehirn geschriebene ideologische Code, der Symbiosen dieser Art strikt untersagt, wäre so ein Grund. Er lässt sich aber durch rituelle Feinsteuerung austricksen, bei der die sogenannten ›Freiheiten‹, die man sich gegeneinander nimmt, obenan stehen. Aus ebenso undurchdringlichen wie durchsichtigen Gründen verweigert Ama die Verrichtungen, die ein Haushalt mit sich bringt. Mompti, der ironisch die Augenbrauen hochziehen würde, käme jemand auf die Idee, ihn als ›Hausmann‹ zu bezeichnen, wäscht, spült, kocht an der Gleichheitsfront, so wie er Amas leichtgewichtige Zeichenkünste unerschrocken den seinigen zur Seite stellt, allerdings mit verräterischen Zusätzen, die zwar nicht erkennen lassen, was er wirklich von der Sache hält – nichts –, dafür aber den Bogen zum Feuilleton schlagen, in dem Arbeiten wie die ihren als ›wichtig‹ gelten, weil sie als lebendige Widerlegungen des alten Vorurteils, das künstlerische Produktivität als vorwiegend männliche Domäne betrachtet, einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzen.
›Wichtig‹, ›ganz wichtig‹ nennt Mompti das, was Ama treibt, wenn sie, vom Feld- und Wiesengang zurückgekehrt, zum Zeichenstift greift. Sehr erstaunt wäre er, bezichtigte ihn jemand deshalb des Verrats an einer aufrichtig bewunderten Kollegin, deren Ausstellungen er sich ungern entgehen lässt. Schon eher lassen Amas Anzüglichkeiten darauf schließen, dass sie sich bei solchen Anlässen zurückgesetzt fühlt. Was geht’s dich an, was diese Frauen treiben? scheint ihre Mimik zu fragen, um gleich die Antwort hinzuzusetzen: Natürlich, wer wüsste es nicht? Hand aufs Herz: wer wüsste es nicht? Mompti weiß es nicht, er will es nicht wissen, er wehrt das Ansinnen, sich mit seinen Motiven auseinanderzusetzen, wie eine lästige Fliege ab, er lässt, nach dem Autoschlüssel kramend, ein tapsiges Brummen hören und verlässt das Haus mit einem Grinsen im Gesicht, als habe er, die sich anbahnende Szene im Rücken, den Beweis, als Mann ernstgenommen zu werden, einen Tag länger in der Tasche und als fühle sich das – irgendwie – gut an.
Weniger gut fühlt es sich an, als er einen Band mit Pastellbildern einer gewissen Rosalba Carriera aus dem Einkaufsbeutel schält, deren Prominentenporträts an den Höfen des achtzehnten Jahrhunderts Furore machten, um in den Museen des zwanzigsten als klassische Staubfänger auf Expertenjagd zu gehen.
Den Kommentar, findet Mompti, hätte sie sich schenken können. Umsichtig wendet er Seite um Seite, entzückt von einer Kunst, die, das spürt er genau, auf unterirdische Weise mit der seinigen korrespondiert. Gern würde er Ama in die gerade entdeckte Gemeinsamkeit einbinden, doch daran ist wohl bis auf weiteres nicht zu denken. Eifersucht über Gräbern? Ama, die wichtige Künstlerin, ist beleidigt, weil es die Bilder der anderen gibt? Ist das möglich? Wäre es besser, es gäbe sie nicht, damit Ama leben kann? Ein Hauch streift Mompti, den er nicht einordnen kann. Es ist auch besser so, denn leben wollen sie beide.
steht über einem seiner Blätter, und darunter:
Die Formel deckt in etwa ab, was er darüber denkt.
Weiß Mompti von der bohrenden Ungewissheit, die Ama auf ihren Feldgängen begleitet und dafür verantwortlich ist, dass sie sich nach allem bückt, was ihr unscheinbar, welk und verlassen dünkt?
Nein, er weiß es nicht.
Weiß Mompti, wie oft ihr der Blick in den Spiegel eine weiße Fläche zurückgibt, ein unbestimmtes, konturloses Nichts ohne Strahlkraft, ohne die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu erregen oder, falls sie sich wie aus Versehen doch einmal einstellt, länger als einen Wimpernschlag lang festzuhalten?
Nein, er weiß es nicht.
Weiß Mompti, was ihr durch den Kopf geht, wenn sie den Zeichenstift zückt und mit unendlich scheinender Geduld ihre Striche setzt, bis auch der letzte Winkel des vor ihr liegenden Papiers sich in eine grün-braun-graue Einheitsfläche verwandelt hat, aus der hier und da die zackige Kontur eines Ahornblattes oder eine verwitterte Steininschrift hervortritt?
Nein, er weiß es nicht.
Seiner festen Überzeugung nach ist ein Kopf dazu da, Wirkungen auszuknobeln, die aus dem Zusammenspiel
feinster, in winzigen Farbnuancen gegeneinander verschobener Lineamente hervorgehen, und er hat
beschlossen, Amas Arbeiten, wie er sie nennt, als entferntes und doch, der Richtung nach, eng verwandtes
Pendant zu seinen Bildexperimenten gelten zu lassen, als Versuche, etwas unnennbar Gemeinsames wirklich
werden zu lassen, das seiner ununterbrochenen mentalen Unterstützung bedarf, auch wenn er nicht genau
weiß, worin diese bestehen könnte.
Weiß Ama, dass Mompti, wenn seine Gedanken zu ihrem ein halbes Stockwerk über seinen Gerätschaften
aufgestellten Zeichentisch hinauf- und hinüberzirkulieren, die Leere ihrer Gedanken durch ein brodelndes
Stimmengewirr ersetzt, das ihn verwirrt, ratlos, stolz auf das Erreichte und niedergeschlagen, als gehe
es ihm und seiner Zunft in naher Zukunft an den Kragen, zu dem zurückkehren lässt, was er sein tägliches
Pensum nennt?
Sie ahnt es.
Sie ahnt es und es ist ihr recht. Sie ahnt, dass es Unrecht ist, so zu denken, sie genießt dieses Unrecht, so wie sie jedes Recht als Vorrecht zu verabscheuen gelernt hat, es sei denn, es handelt sich um das ihre. Gleichzeitig registriert sie mit leiser Erbitterung, dass sie sich auf diese Weise von Mompti entfernt, und gibt ihm instinktiv die Schuld daran.
Rosalba Carriera? Der Name sagt Ama nichts. Da sie keine Kunstgeschichte studiert hat, ist das ›gestattet‹, es fällt in ihren Kreisen nicht weiter auf. Allein Professor Wegenaer träte ein feines Lächeln auf die Lippen, wäre es ihm vergönnt, Ama in Fahrt zu bewundern. Was sie wahrnimmt, wenn Mompti den Band aufschlägt – er schlägt ihn ungeniert in ihrer Anwesenheit auf, er lässt ihn aufgeschlagen liegen, wenn er das Haus verlässt –, ist simples Rokoko und sonst nichts. Nur von jenem größeren Nichts, das sie vor dem Spiegel studiert, hat sich etwas daruntergemischt und lässt ihre Lippen beben. Schon der Name Rosalba spricht Bände. Er erinnert sie an quietschrote, zu beiden Seiten in Schwänzchen eingedrehte Bonbonverpackungen. Doch vor allem lässt ›Carriera‹ das Modewort ›Karriere‹ in ihr erblühen, das in ihren jungen Jahren die Summe aller verabscheuungswürdigen Lebensläufe umfasste und neuerdings die Gesamtheit all dessen zum Ausdruck bringt, was einer Frau zusteht und deshalb von ihr verlangt werden muss. Verlangt? Oder erwartet? Wird, was verlangt ist, nicht auch erwartet? Welches Verlangen streckt da seine Fühler nach ihr aus?
Selbstverständlich ist Ama Karrierefrau. Was denn sonst? Doch ebenso selbstverständlich entzieht sich ihr der Sinn dieses Wortes, wann immer sie ihn mit ihrem realen Tagesablauf abzugleichen versucht. Was daran wäre Karriere? Ihr Vater, der ihre Existenz finanziert, ist in der Regel diskret genug, die Frage nicht laut zu stellen. Doch lässt sie sich mühelos aus seinen halb schmerzlichen, halb amüsierten Blicken herauslesen, die sie stets zur Weißglut bringen, weil sie etwas ausdrücken, das unablässig in ihr selber kreist.
War es das, was du wolltest? Ist es das, was du willst?
Natürlich nicht, macht sich eine Stimme zu rufen bereit. Aber Ama besitzt große Routine darin, sie im Ansatz zu unterbrechen und zu zerstreuen.
Rosalba Carriera oder die Talentfrage: Da liegt sie, unaufgeschnitten wie eine Bütten-Ausgabe von Lettre International, wer soll darin lesen? Ama weiß nichts von der Altersblindheit der Konkurrentin, sie neidet ihr keinen ihrer verbürgten Erfolge, sie neidet ihr: das Talent.
Talent, was ist das?
Eine Dienstleistung der Natur, von der keiner weiß, ob, wann und wo sie erbracht wurde, ganz zu
schweigen vom Zweck und der Hoffnung, die nimmer ruht.
Ein Anspruch, ein Argwohn, ein Fegefeuer, ein Rausch, eine Verzweiflung, eine
Selbstverständlichkeit, eine Quantité négligeable, ein Papageienmund, ein weißer Rabe, ein
Gerücht.
Ein Wahn, ein Krankmacher, ein Ungleichmacher, ein Büchsenspanner, ein Handbuch für
Heckenschützen, ein avis contraire.
Das Einfache, das Leben schwer macht.
Ama stößt hier in Gefilde des Nachdenkens vor, die nur wenigen Menschen existentiell zugänglich sind, aber das Gemütsleben vieler nachhaltig affizieren: Bin ich wirklich gut? Bin ich wirklich Künstler?
Ama weiß nicht, was gut ist. Sie ist nicht gut darin, sich zu taxieren, sie lehnt die Leistungsschau ab, nennt sie: männliches Potenzgehabe.
Ist Ama Künstlerin? Sie lehnt diese Frage ab. Andere müssen sie beantworten, sie nicht. Das ist jetzt nicht ihr Problem. Wer ein Problem damit hat, der trete vor oder schweige auf ewig.
Der männliche Blick schweigt und sinnt auf Flucht.
Wenn Ama fremdgeht, dann nicht mit einem anderen Mann. Nicht der Andere erregt ihr Interesse, sondern der Mann als Fremder. Alle Kunst ist Kunst der Verführung. Rosalbas Palette aus Liebreiz, Koketterie, um- und beiherspielenden Anzüglichkeiten, aus fließenden Übergängen und halbmodellierten, rasch sich verhärtenden Ansprüchen: So nicht. Wie dann? Alle wirkliche Kunst ist spröde. Sie will, dass der Betrachter sie aufschließt, und sie verweigert den Schlüssel. Wirkliche Kunst zeigt kein Talent, sie verbirgt es, sie schließt es tief in sich ein, sie negiert es. Sie entlarvt nicht die Verhältnisse, sie bestreitet, auf Verhältnisse aus zu sein. Was sind Verhältnisse? Ein Schlag ins Gesicht. Sonst nichts. Eine Kunst kümmert sich nicht um Verhältnisse, sie zieht sie hinter sich her. Die ganze Kunst besteht darin, sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen. Überhaupt heißt Kunst: geschickt sein. Wozu? Von wem? Zu wem?
Wenn Mompti fremdgeht, dann in Gedanken. Momptis Gedanken sind notorisch, sie fügen sich zu keiner Welt zusammen, sie laufen auseinander, man könnte meinen, sie liefen voreinander weg. Was nicht der Fall ist. Ehrlich gesagt, sie kennen einander gar nicht. Ein Gedanke? Was soll das sein? Man macht sich so seine Gedanken: schon purzeln sie. Lass sie purzeln, sie kommen nicht weit. Das Nächstliegende ist das Nächstbeste, genug, es zu betasten, zu beriechen, zu erschmecken, sich daran zu belustigen und irgendwann dem Keuchzwang zu erliegen, dem Vorboten aller Lust & Last. ›Lustlast‹, die Last, Lust zu empfinden: Mompti empfindet sie tief. Allein der Zeichentisch bietet Sicherheit und die bleibt relativ. Mompti will nicht allein sein – da liegt sein Problem. Er will nicht belästigt werden – da liegt sein zweites. Zeichnen heißt: Last abwerfen. Da kommt sein drittes, aber er will es nicht sehen. Es kommt leise, es kommt auf Zehenspitzen, es kommt wie es kommt, hoppla, nun ist es da und legt sich ihm um den Hals.
Einige Projekt-Aspiranten zögern noch. Dass Elisabeth vorangehen konnte, hat sicher mit Souveränität zu tun, innerer Souveränität, aber auch – Vorsicht! – mit Empfindungslosigkeit. Ja, Elisabeth besitzt, bei allem, was sie ausgezeichnet beherrscht, eine kleine innere Taubheit.
Vielleicht liegt hier der Grund, dass sie es sich leisten konnte, mit einem wie Leckebusch zusammenzugehen – ihrer beider kleines, verwischtes Geheimnis. Leckebusch trägt keine Bedenken, sich zu exponieren, vorausgesetzt, Elisabeth geht voraus. Leckebusch weiß nichts. Beruflich ist er Bedenkenträger. Kommt er nach Hause, so zieht er sie aus und hängt sie auf einen Bügel. (Das ist ein Bild. Schließlich arbeitet er meistens zu Hause.)
Elisabeth beherrscht sich. Eigentlich hat sie nichts in dieser Reihe zu suchen. Gerade deshalb geht sie vermutlich voran. Mit gutem Beispiel, sozusagen, sie will zeigen, dass sie weiß, wie es geht. Natürlich weiß auch sie nicht, wie es geht, auch sie muss sich einlassen, sie weiß, dass sie sich einlassen muss, es ist ein Spiel mit dem Feuer, also ihr Spiel. Sie weiß, sie wird gewinnen … und sie zieht Lust daraus. Das weiß sie unbedingt.
Leckebusch rauscht an allem vorbei, was ihn weiterbrächte. Der Grund: Er ist immer schon weiter. Andere hinken notorisch nach. ›Schleppenträger‹ nannte man sie wohl einst. Vor allem müssen sie eines: sich sputen. ›Hinksputer‹ könnte man sie nennen. Leckebusch dagegen schlägt große Bögen. Weh dem, der nicht mitkommt.
Sibla … wo bleibt Sibla? Dass er nicht kommt, wundert dich. Er ist schwer geworden, das muss einmal anders gewesen sein. Aber schwerfällig? Nein. Könnte es sein, dass er auf Kitty…? Nein, mit Kitty zusammen geht er nicht dort hinein. Das wäre ja… Ein Eigentor wäre das. Das hier ist die VeränderBar und ihrer beider Beziehung scheint unabänderlich. Gerade das scheint die beiden gegeneinander aufzubringen. Die Frage ist also: Was bringen sie dem Projekt ein? Jeder von ihnen, einzeln: Was bringt er ein? Bis jetzt: nichts.
Ist BKN heilbar? Offenbar nicht, sonst wäre es nicht, was du annimmst. Es wäre auch gleichgültig. Das Projekt soll schließlich keine Beziehung zerstören. Es soll auch keine reparieren. Es soll lediglich testen, ob es möglich ist, die Triebkraft Lust zu entfesseln, unter welchen Bedingungen, in welcher Form auch immer. Falls die Beziehung das aushält – umso besser. Falls nicht – was liegt an einer Beziehung?
Wenn Kitty kommt – was nicht sicher ist, siehe oben –, wenn sie kommt, dann gerät vieles ins Rutschen. Vielleicht täuschst du dich auch. So banal sie dir scheinen mag: diese Person ist abgebrüht. Vergiss das nie.
/ Als ob einer das vergessen könnte. /
Die gute Nachricht: Mompti kommt.
Was macht dich da so sicher?
Ganz einfach: er sucht. Er denkt, er sucht nach einem neuen Konzept, aber das einzige Konzept, über
das er verfügt, ist er. Er kann und will sich nicht entwerfen, das wäre wie wegwerfen, es geht ihm
›gegen den Strich‹ und er braucht den Strich. Was, wenn der Strich sich versagte? Nicht auszudenken, es
wäre die Katastrophe. Dieser dichte, verwobene, leicht verwunschene Strich, der sich endlich, nach
langer Mühsal, hergestellt, nein, eingestellt hat, er ist sein Leben, sein Ein-und-Alles, seine Marke,
sein Weltsiegel. Er ist das, was Mompti kann.
Kunst kommt von Können. Ist das wahr?
Wenn es wahr wäre, wäre Mompti ein großer Künstler.
Oder gar keiner.
Mompti zeichnet … Geflechte. Darin ist er Weltmeister. Eines kann er nicht: ihnen Welt geben. Weltzeichner ohne Weltbezug müsste man ihn nennen. Oder anders, ganz anders: Lesezeichner. Das Buch der Welt: für ihn keine Metapher. Er muss es vor sich auf dem Tisch liegen haben, damit fängt es an. Er schlägt es auf, beschnüffelt die Enden, als wittere er in alle vier Windrichtungen, erst dann ist es richtig. Format ist alles. Ohne Format lässt er sich auf nichts ein. »Das Buch hat kein Format.« Wer da eine Aussage über den Inhalt heraushört, ist selbst schuld. Und doch … er hat recht. Das Format gibt den Inhalt. Es verlangt nach Füllung. Die Füllung verlangt nach Mompti und er gibt, was er kann.
Das ist nicht schlecht, das ist auffällig gut, solange er Bücher illustriert. Mompti ein Illustrator? Welche Beleidigung. Witterung hin, Witterung her:
MOMPTI IST AUTONOM!
Das stimmt sogar, am Ende illustriert der Text seine Zeichnungen, sie sind Text geworden, der Text, die Schrift schlängelt sich als Dekoration drumherum. Wer wird schon lesen, sobald er einmal die erlesene Kette der Mompti-Grafiken entdeckt hat? Ein Ignorant, vielleicht. Das soll es geben.
Mompti hat Lust aufs Ganze. Was ist das Ganze? Mompti ist Künstler, nichts anderes will er, nichts anderes will er sein: er will es als Gegenwurf, als würfe ihm einer die Fensterscheiben ein und sie blieben heil. Er ist Lust-Sucher, er sucht das Lust-Objekt, er denkt, es müsse ihm vor die Füße fallen, dafür geht er weit.
Ama ist schon da. Ama ist immer schon da. Wo sonst sollte sie sein? Ama, der Augapfel des Projekts, muss sich nicht bewegen. Ihr Dasein, ihr ganzes Dasein atmet den Geist des Projekts. Oder nicht? Wie sie da ist, das ist die Frage. Sie ist nicht dabei, weil es angesagt ist, dabei zu sein, oder weil es sich schickt. Das registriert sie, aber es bestimmt sie nicht. Es macht sie bloß bockig.
Mit wem sonst? Mit wem sonst, wenn nicht mit ihr? So müsste die Frage lauten, damit kämen die Kontrahenten einander näher.
Der Duft, der Ama einhüllt, ist stärker als jedes
Parfum.
Der Duft der Amarose, echt oder falsch.
Was macht ihn aus?
Sie macht dich an. Immer und überall. Wo immer du willst. Wann immer du willst. Wie immer du willst.
Amaryll.
Wenn du dich da mal nicht täuschst.
Ama geht nicht auf Täuschung. Sie geht auf Ent-Täuschung.
Wenn einmal die Geschichte dieser Jahre geschrieben wird, wird sie Amas Geschichte sein.
……………
Nein.
Wenn Tronka kommt, dann kommt er allein. Es ist nicht die Einsamkeit des Genies, die ihm zu schaffen macht, die Einsamkeit des Schaffenden, die Einsamkeit des Ausgenommenen, der weiß und schweigt, es ist die Einsamkeit der Vernunft. Nein, er ist kein Rufer in der Wüste, er ist die Wüste selbst. Jedenfalls bringt er sie mit, wann immer er aufkreuzt.
Für Tronka ist das Projekt: Schweinkram. Du weißt es und er weiß, dass du es weißt. Du weißt, dass er weiß, dass du weißt, dass ihm das gefällt. Warum so kompliziert? Alles an Tronka ist kompliziert. Es ist die Kehrseite seiner Einfachheit. Tronka wäre der einfachste Mensch der Welt, käme einer seiner Sätze so an, wie er abgesandt wurde.
Wenn einer in Sätzen lebt, dann er. Beachte die Gesten, durchtränkt von Sprache: vermitteln sollen sie, anreißen, aufreißen, Augen öffnen. Sie unterstreichen: Spott, Wortwahl, Wortwitz, Sarkasmen, Ratschläge. Keine Einsamkeit, nur keine Einsamkeit! Nein, wollen sie sagen, Denken führt nicht in die Einsamkeit, nicht im Geringsten, gerade das wäre – was denn? Falsches Denken.
Falsches Denken führt, Tronka zufolge, nirgendwo hin. Was wollen Sie dort? scheint sein Blick zu fragen, gibt ihm einer Paroli, den es, Eike B z.B., zur Skepsis zieht oder zur Theologie. Sie können das machen, aber was wollen Sie dort? Der Unglaube daran, dass einer den Weg in die Vereinzelung wählt, wissentlich wählt, wo doch alles ins Meer des gemeinsam zu Begehrenden mündet, hat ihn zum Parteimenschen werden lassen.
Tronka ist Sozialist. Der Sozialismus will nichts davon wissen. Für ihn ist Tronka ein Spinner mehr.
Tronka hat kein Problem. Er hat Probleme. Welcher Art sie sind, darüber darf spekuliert werden. Es ist die ausströmende Diskussionslust, die zu Stockungen führt. Niemand in seiner Umgebung, das studentische Häuflein bekennender Tronkisten ausgenommen, hat Lust, sich dem auszusetzen. Woran das liegt? Fürchtet jemand seine Intelligenz? Nein. Das wäre ja Anerkennung.
Intelligenz, die sozial wirkungslos bleibt, wird verachtet. Wird Tronka, ein Mann mit Titel und einer Publikationsliste, breit wie der Mississippi, verachtet? Nicht ganz. Auch an dieser Front herrscht ein gewisser Bedarf. Achtung kennt viele Verwerfungen. Wer sagt, dass dahinter stets derselbe Reflex steckt? Verachtung, wie fast jeder moralische Affekt, ist polymorph-divers.
Tronka setzt sich aus, er ›exponiert‹ sich, er sucht das Gegenüber, er treibt es mit Worten heraus. Das weckt, nach der ersten Verblüffung, Überlegenheitsgefühle, denen sich kaum ein Gegenüber entzieht. Wer ist dieser Mensch? So fragt das Bewusstsein, während der Prophet des Bewusstseins seine Bahnen zieht. Worauf will er hinaus? Warum spricht er mich zu? Wenn er etwas von mir will, warum verrät er es nicht?
Intelligenz, bereit zur Paarung, auf Partnersuche: jeder soll Partner sein.
Ist das Fu? Ist
das ein Fall von Fu?
Ein wenig kompliziert, aber im Grundsatz: ja.
Wispernde Stimmen, die signalisieren: Hier ist alles Baustelle. Was wie Gerümpel aussieht, dient einem, nein, nicht guten, einem wohlerwogenen Zweck: vielleicht. Was daran wohlerwogen ist, wird man sehen. Manche Baustellen scheinen nur aufgemacht, um sachte zu verrotten, an anderen geht es rau und streng zu, bisweilen eng. Ein Projekt schraubt sich in die Höhe und irgendwann kommen die Glaser. Ein anderes verfällt, ohne mit den Gründen der Stockung bekanntzumachen. Mangel an Geld ist einer der Gründe, die immer zählen, Mangel an Witz, Galanterie, Einfallsreichtum, Einfühlung, Herzenswärme, wahrer Empfindung, sexueller Ausstrahlung, Lustbereitschaft, Traumkompetenz, Mondsüchtigkeit, Triebhaftigkeit, Lasterhaftigkeit, Experimentierfreude, was immer zählt oder nicht zählt, am Ende, unterm Strich, dem makabren Strich, der einen dem Erdreich näherbringt als gedacht, am Ende zählt alles, ohne Ausnahme, ohne Abstrich.
Die Schwierigkeit, eine Schwierigkeit des Projekts besteht darin, dass es Entblößung erzwingt – auf freiwilliger Basis, wie sonst, schließlich meldet sich jeder an. Geschäftsfähigkeit ist die Grundlage allen Geschäfts. Dieses Geschäft dient dem Fortschritt, auch dazu muss jemand die erforderliche Fähigkeit mitbringen, sonst wird daraus nichts, es sei denn Missbrauch. Fortschritt durch Missbrauch? Das wäre ja Missbrauch durch Fortschritt. Ist das möglich? Es ist möglich, keine Frage. Gar keine Frage. Wenn es aber möglich ist, dann muss es vermieden werden: ein klarer Imperativ, nicht zu verwechseln mit den üblichen Steuerfloskeln, die nichts weiter bedeuten als: Untiefe, Vorsicht Ruder. Missbrauch ist keine Untiefe, Missbrauch ist sichtbares, fühl- und fassbares Unrecht, finis.
Wenn Fortschritt an Missbrauch aufläuft, wenn er notwendig an ihm aufläuft, sobald er ins Spiel tritt, dann … dann … dann ist Missbrauch die geheime Seele des Spiels. Er muss vermieden werden, klar doch, unbedingt, auf alle Fälle, um jeden Preis, selbst den des Abbruchs: so beherrscht er das Spiel. Wer meint, Entblößung sei Missbrauch, der darf gar nicht erst hinein. Spätestens an der Aufnahme sollte er scheitern. Was aber, wenn eine hineingerät und plötzlich bricht es aus ihr heraus: Entblößung ist Missbrauch? Vielleicht hat sie es soeben entdeckt, vielleicht durchströmt die Erfahrung sie just in dieser Minute, eine tiefe, ihr innerstes Wesen durchtränkende Erfahrung, eine Erfahrung, die sie herausschreien muss oder die im Verborgenen wuchert, als Neurosengeflecht, als Krebsgeschwür, als neuralgisches Was-auch-immer. Vorsorge ist alles. Kann ein erwachsener Mensch missbraucht werden? Aber sicher. Der Mensch in der Geschichte, der Mensch inmitten seiner Geschichten ist der missbrauchte Mensch. Der sexuelle Missbrauch wäre da nur eine Facette. Einer benützt die Hand, ein weiterer den Verstand, ein dritter… – Missbrauch ist – fast – alles.
Fühlt sie die Entblößung, der sie sich aussetzt? Eher nicht. Stattdessen brennt sie darauf, sich zu entblößen, in welcher Weise auch immer, nur sicher muss sie sich fühlen, alles Unsichere schreckt sie ab. Dabei wirkt sie nicht schreckhaft oder verschreckt, eher so, als habe sie einmal der Schreck gestreift und sei bei der Gelegenheit in sie hineingeschlüpft, um nicht mehr herauszufinden. Er muss tief sitzen, tief unter der Oberfläche, an der sie sich locker gibt, locker und nüchtern: mit diesem Blick für das Wesentliche, der sich am Unwesentlichen mästet, weil er anders nicht … zum Zug käme. ›Kitty kindlich‹ – das schmerzt. Diese Kindlichkeitsreste, die sie umflattern wie die aufgesetzten Zipfel ihrer Jäckchen und Röckchen, sprechen, bei einem großen, etwas gewaltsam sich Bahn brechenden Bedürfnis nach Unterscheidung, von der fortgesetzten Unfähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, sie sprechen laut und leise, sie plappern in einem fort, was angesichts der eher kargen Rede ein wenig verwundert, du verstehst (in diesem Moment bist du jedermann), dass hier etwas herauswill, ans Licht der Ungebremstheit, und sich selbst dabei unentwegt abbremst, vermutlich, weil es die Folgen schon kennt. Kitty hält sich für klug, für unklug hielte sie es, das zu erkennen zu geben, sie will klug scheinen, sie beansprucht den Schein der Klugheit für sich – in diesem Zirkel brummt sie herum, gefangen, eine Fliege im Glas, ausgestellt wider Willen, sich selbst ausstellend, mehr zeigend als sie will, mehr zeigen wollend als sie zu zeigen bereit ist, als bereite sie sich innerlich auf eine Rolle vor, die ihr die Welt gegenwärtig nicht bietet, doch dazu müsste sie erst wissen, wie man sich innerlich vorbereitet.
Sich eine Blöße geben – bedeutet: unklug sein, unklug handeln, nicht aufgepasst haben, einen Zug
nicht bedacht haben. Gibt, wer sich entblößt, sich eine Blöße? Ja und nein. Er kehrt zurück zur Natur.
Schamlos agiert, wer seine Blöße einsetzt, um ein Ziel zu erreichen, das anders nicht erreicht werden
könnte, es sei denn durch harte Arbeit, aber auch da gehen die Ansichten schnell auseinander.
Was ist Blöße? Ein öffentliches Gut. Wer sich, abseits der Intimsphäre, freimacht, der verwandelt sich –
›mit ein paar Handgriffen‹ – in eine öffentliche Person. Das hat Vor-, das hat Nachteile. Blöße ist, was
als Blöße gilt. Geltung aber, das wissen Fritz und Grete genau, ist ambivalent: positiv-negativ,
gut-schlecht, gut-böse, schön-hässlich, schön-schrecklich, angenehm-unangenehm,
bewundernswert-verächtlich, alles auf Messers Schneide, eine Gratwanderung, stetig vom Absturz bedroht.
Blöße und Offenheit sind zwei kommunizierende Röhren: steigt der Pegel links, steigt er auch rechts,
aber mit unterschiedlicher Wirkung. Offenheit bedarf der gekonnten Entblößung, ungekonnte verschließt.
Auch die Angst vor ungekonnter Entblößung verschließt, sie verschließt zuverlässiger als die Scham,
diesem Stück Natur, das darauf lauert, überspielt zu werden wie alles Selbstverständliche, das sich
verrätselt.
Alle Fragerei konzentriert sich daher in einem Punkt: Was heißt gekonnte Entblößung?
Er provoziert. So weit, so gut: fragt sich nur, was er damit provoziert. Im Ernstfall nicht mehr als seine Verurteilung – eine juristische Bagatelle, doch im Verborgenen schlagen die Wellen hoch. Exhibitionismus ist männlich: eine seltsame, jeder Erfahrung ins Gesicht schlagende Aussage, solange man bloß den Wunsch damit verbindet, sich nackt zu zeigen, und die wesentliche Anmutung unterschlägt, die da lautet: exhibitionistisches Treiben macht Angst. Angst aber … ist nicht jedermanns Angst.
Männerangst birgt die Gefahr, in blinde Gewalt umzuschlagen. Man muss sich hüten, ihr
nachzugeben, man muss vor ihr auf der Hut sein, man muss sie zur Anzeige bringen, wann immer man ihr
begegnet. Man muss, man muss…
Alle Kulturen kommen in diesem Punkt überein.
Die Kultur der Aufklärung fügt hinzu: Der zivilisierte Mann muss sich zu ihr bekennen.
Eine Mutprobe eigener Art, die da verlangt wird: ›Bekenne, was dich richtet! Nur so kannst du dich
erlösen.‹
Männlicher Exhibitionismus ist blinde passive Gewalt – ein Straftatbestand, gerechtfertigt dadurch, dass dem durch keine Erwartung gefilterten Anblick menschlicher Nacktheit ein Schreckmoment innewohnt, ein Stachel, gedeutet als Normübertretung: die Rechtsnorm wirkt gleichsam nachgeschoben, damit irgendeine Norm vorhanden sei, deren Übertretung sich feststellen und ahnden lässt. Ob er sich in Gelächter auflöst oder in Furcht, in Bewunderung, Abscheu, Begehren oder gequältes Desinteresse, darin zeigt sich die Geschlechterkonstellation unverhüllt: das weibliche Recht auf Furcht vor weiterer Übertretung, dem Übergang passiver in aktive männliche Gewalt, mag archaisch anmuten, widerlegt durch genauere Einsicht in den Charakter dessen, was sich als harmlose Verhaltensauffälligkeit beschreiben lässt, aber es steht außer Frage, es rechtfertigt sich selbst. Es ›schreibt sich ein‹.
Was wäre weiblicher Exhibitionismus? Sehende passive Gewalt? Keine Gewalt? Mutwillige Selbstgefährdung? Tanz auf Messers Schneide? Sexarbeit? Exposition des Grundstoffs ›Schönheit‹, ohne den die Menschheit nicht auskommt, ohne zu verrohen und zu verrotten? Einfaches wunschloses Offensein? Verführung? Appell an den Mann, seine Furcht zu überwinden? Fürchtet er sich denn? Fürchtet er sich wirklich? Wenn ja, wovor? Doch nicht vor physischer Bedrohung? Wovor dann? Vor Komplikationen…? Nun gut, diese Furcht muss, jedenfalls zeitweise, von ihm genommen werden, soll die Menschheit fortexistieren. Ansonsten ist sie, sagen wir, nützlich, denn sie verleiht Macht. Manche sagen, sie konstituiert Macht. Macht ist weiblich. Eine Übertreibung, aber auch da gilt: sie ist, jedenfalls hin und wieder, nützlich.
In strahlender Nacktheit erscheint der Gott. Sein Name: Eros. Adresse: wo immer ihr wollt. Herkunft: das
Universum. Geboren: aus Dreck und Feuer. Beruf: Produzent. Familienstand: Soll das ein Witz sein? … Ja
gewiss, gewiss doch, Nacktheit ist konstitutiv, essentiell meinetwegen, nennen Sie es, wie Sie wollen,
hüllenlos steht der Mensch vor der Gottheit. Zwischen Nackt und Nackt passt kein Blatt … es gibt, soll
das heißen, kein Dazwischen. Doch dazwischen, immer dazwischen, steht Fu, gerade er wie kein zweiter.
Darin eben besteht sie, die Utopie, im Dazwischensein, das sich niemals auflöst, wieviel
Menschenmaterial an dieser Front auch verheizt wird. Hüllenlos sein, hüllenlos leben, begehren, sich
befriedigen und fortgehen: das heißt, den Wunsch zum Vater des Gedankens zu machen, zum Vater
wohlgemerkt, zum Erzeuger, doch auch dieser Gedanke geht, einmal geboren, seiner Wege wie alles Erzeugte
und lässt dem Erzeuger das Nachsehen. Wohin führt das? Fällt die letzte Hülle, beschlägt sich der Geist.
Dabei fällt sie nur in Gedanken. Nacktheit benötigt, um zu erscheinen, Abstand, sie erscheint, wo sonst,
im Auge des Betrachters, sie benötigt jenen Moment, in dem das Auge von Ferne auf Nähe umschaltet, das
Aha, das Beben, den Schock der Enthüllung: wo kein Körper in Sicht kommt, da tritt die Utopie in ihre
Rechte und enthüllt das Spiel der kosmischen Kräfte. Enthüllung, ganz recht, ist das Anliegen Fus, er
genießt im voraus die Wirkung dessen, was da zum Vorschein kommt, er stellt sich vor, es geschehe, und
sieh da, es geschieht – in ihm, im Geiste, im Geiste all derer, die seinen Sirenenklängen verfallen und
zu stammeln beginnen, lallend, sabbernd, sich überschlagend, voll blindem Eifer, den Anfangsbuchstaben
zu bilden, das große B.
Das wäre dann Pornographie.
Was vereint Ama, Betty, Christa, Dorte, Elfi, Frieda, Gerda, Hansi, Irmel, Kitty, Lore, Marta, Nelly,
Nora, Olga, Piggy, Quappi, Reni, Susi, Traudel, Uschi, Vroni, Wally, Xeni, Zara?
Als der große Hass klein war, flog er über den Atlantik. Der Flug dauerte lang, er hatte etwas Aufregendes, der kleine Hass empfand ein gewisses Gefühl, nun ja, der Erleichterung, als er wieder festen Grund unter den Füßen spürte. Am ersten Abend begegnete er vielen Leuten. Sie kamen ihm so natürlich vor, dass es ihm die Feuchtigkeit in die Augen trieb. Du bist gerührt, sagte er sich, gib zu, dass du gerührt bist. Pass auf. Du darfst das nie, nie zu erkennen geben. Was soll man in diesem Land von dir denken? Die halten dich ja für bestusst. Am zweiten Abend saß er allein im Hotelzimmer und dachte nach. Wie witzig diese Menschen sind, dachte der kleine Hass. Ich verstehe das nicht. Selbst die einfachen Leute, der Kaffeeausschenker heute morgen, die Eisverkäuferin vorhin: sie haben immer eine flotte Bemerkung parat. Du weißt gar nicht, was du darauf antworten sollst. Trotzdem fühlst du dich gut. Woher kommt das? Diese Menschen scheinen Genies zu sein. Nein nein, sie haben einfach das Geheimnis des Lebens entdeckt. Was mögen sie von dir halten? Am dritten Tag schlenderte er durch eine Passage und besah sich die Auslagen, als ihn ein Hunger überfiel. Hass und Hunger, was sagt sich das? Nicht viel, aber es reicht für ein Gespräch in der Pizza Bar. Der kleine Hunger bestellte. Beherzt griff der kleine Hass zu Messer und Gabel und ließ sie willenlos sinken. Was ist los, fragte der kleine Hunger, bist du meschugge oder was?
Der kleine Hass … nun, wir wollen nicht vorgreifen.
Der kleine Hass dachte nach. Er konnte nicht richtig denken und deshalb schweifte sein Blick hinüber zum Nebentisch. Diese Frau ist wie ihre Kollegen gekleidet, aber aparter. Der gleiche Anzug, nur eine Spur heller, der Stoff feiner, der Schnitt, der Schnitt … körperbetont (aber das war nicht das Wort, das er suchte, etwas zwischen körpernah und verstellt, ja verstellt, als handle es sich um ein Theaterkostüm, das eine Frau männlich erscheinen lassen sollte, ohne ihr die feminine Note zu nehmen, nein, in gewisser Weise soll es sie weiblicher erscheinen lassen, männlicher als männlich und weiblicher als weiblich). Fake, dachte er, das ist fake. Aber warum? Wen will sie täuschen? Die Kollegen? Sich selbst? Den Boss? Ihre Umgebung? Ihre Familie? Mom und dad? Unwahrscheinlich. Denen macht sie nichts vor. Gut, angenommen, sie will niemandem etwas vormachen, sie will ehrlich sein. Wie geht das, ehrlich sein? Sicher will sie einen ehrlichen Job machen. Sie will respektiert werden. Dafür die Maskerade? Braucht es eine Maskerade, um respektiert zu werden? Nein, ›respektiert‹ ist nicht das richtige Wort. Sie will akzeptiert sein. Warum das denn? Schuftet sie in einer boy group? Augenscheinlich. Seht her, sagt ihr Outfit, ich bin eine von euch, einer von euch, um genau zu sein, aber doch eher eine, Pfoten weg. Sagt sie wirklich ›Pfoten weg?‹ Nicht verbal, das wäre old style, sondern per Stoff und Schnitt. Vergiss nicht die seltsame Stimmlage, dieses Ich-will-jetzt-nicht-als Frau-wahrgenommen-werden, können wir uns nicht auf die Sache konzentrieren? Wie war nicht gleich die Sache? Welcher Mann kann sich, diese Stimme im Ohr, konzentrieren? Was hört eine Frau, wenn sie diese Stimme hört? Die Stimme der Konkurrenz? Konkurrenz um was?
Und die Männer, dachte der kleine Hass, was denken sie? Denken sie überhaupt? Sie schweigen dazu, sie nehmen schweigend zur Kenntnis, darüber reden, das wäre ja … peinlich, peinlich. Degoutant. Außerdem despektierlich, man riskiert seinen Job dabei und es kommt, außer Scherereien, nichts dabei heraus. Wenn ich schweige, was geht’s dich an? Die Gedanken sind frei, sie schweifen nach Belieben, doch an dieser Wand prallen sie ab und schwirren in alle Richtungen davon.
… In Maos Reich, dachte der kleine Hass, tragen alle Einheitskleidung. Man erkennt die hohen Funktionäre am feineren Stoff und Schnitt. Stoff und Schnitt… Sind sie vielleicht, wie die Frauen, innerlich aus feinerem Stoff? Wollen sie, dass man ihre Ausstrahlung sieht? Muss man Ausstrahlung sehen? Gedämpft muss sie sein, um akzeptiert zu werden, Frauen dämpfen ihre weibliche Aura, um akzeptiert zu werden, gleichzeitig steigern sie sie, um akzeptiert zu werden, vielleicht auch, um hinter der männlichen Maskerade nicht in Vergessenheit zu geraten. Ist das Urangst? Angst davor, vergessen oder verkannt zu werden? Vergessen oder verkannt? Vergessen und verkannt? Wer könnte vergessen, dass es sie gibt? Niemand. Angst vor niemand … sie haben vor Niemand Angst, nachdem sie sich einmal geschworen haben, vor niemandem Angst zu haben. Wer ist Niemand? Wer wäre Niemand? Kenne ich ihn?
Der kleine Hass hatte den Auftritt fast schon vergessen, da bekam er Besuch. Besuch? Im Hotel? Der kleine Hass erkannte ihn gleich, teils am Gang, teils am Outfit, und salutierte –: es war THE HATRED. Der kleine Hass wusste nicht viel über ihn, er hatte ein paar Gangsterfilme gesehen, beste Hollywood-Manier aus den Dreißigern, einige Dokus, nichts, was ihn lange hätte fesseln können, dazu war er zu entspannt erzogen worden, zu leger in seinen Manieren, zu gemäßigt im Appetit, zu träumerisch in seinem Wesen, zu sehr … Nachkrieg, er machte sich nicht viel aus der Zukunft, er wusste, sie würde unbemerkt eintreten und nicht halb so schlimm ausfallen, wie die Schwarzmaler sie beschrieben. Er war zu sehr auf Alltag getrimmt, um auf sie scharf zu sein. Echauffierte er sich, so ließ er deshalb keinen Vorteil links liegen, sondern strich ihn ein, unverzüglich und ohne Bedenken. Willkommen in der Zukunft! Die Tür stand offen und der kleine Hass hatte die Empfindung, sie werde sich nie wieder schließen lassen. Er vergaß sie auch gleich, denn THE HATRED hatte sich einen Stuhl geangelt und seinen dürren rastlosen Körper auf ihn niedergestoßen, als wolle er sich seiner hier und jetzt entledigen. Hier und jetzt –
Verführung ist weiblich, überlegte der kleine Hass. Der Verführer hingegen ist männlich. Komische Sache eigentlich. Komisch … in diesem Wort steckt der Schlüssel zu allem, dreht er sich, fallen die Schranken, der Tanz beginnt. Die Geschlechterfrage … wie ging nicht gleich die Geschlechterfrage? Mal so, mal so. Mal so, mal anders. Anders ausgedrückt: die Geschlechterfrage hat keine Gestalt. Ich, THE HATRED, bin ihre Gestalt. Warum? Weil ich sie ihr gebe. Ein anderer Grund ist nicht denkbar. Und was nicht denkbar ist, das kann auch nicht wahr sein, nicht wahr? Nimm den Kinderwunsch aus den Frauen heraus und sie sind keine Frauen mehr. Sie sind Wesen wie du und ich. Sehr witzig. Nein? Was sind sie dann? Die Differenz? Welche Differenz? Leere Differenz? Die Differenz auf der Suche nach Gleichheit? Welche Suche sollte das sein? Welche Gleichheit sollte das sein? Gleiche Bedingungen? Wenn das Geschlecht zu den Bedingungen zählt? Nein, mein Lieber, die Suche schenke ich dir. Die Suche … c’est moi. Nimm den Wunsch, eine Frau zu besitzen, aus den Männern heraus und sie sind keine Männer mehr. Was sind sie dann? ›Normalos‹? ›Ganz normale Heteros‹? Oder doch eher: ›Versehrte‹? Sieh mich an – sieh mich an! Nein, sieh weg! Sieh einfach weg. Die Normaldifferenz … hör mir zu, du kleiner Scheißer! – die Normaldifferenz ist verflucht. Sie ist verflucht, sage ich dir, darauf kannst du dich verlassen. Verlassen … ganz recht. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Ich wünsche viel Glück! Wozu? Das ist die Frage. Leider gibt es darauf keine Antwort. Die Geschlechterfrage, ihre Geschlechterfrage nehmen sie mit, sie sind Gezeichnete, sie ist ihnen eintätowiert, sie regiert ihre Körper. Wohin sie auch treten, sie sinken ein. Es gibt keinen Grund, der sie hält. Es sei denn, sie halten sich an mich. Klug, klug… ›Ausdruck von Klugheit‹, ganz recht, das gefällt mir selbst, ich bin ein Ausdruck von Klugheit, hast du das gewusst? Klugheit schafft Grund, Klugheit schafft Gründe, Klugheit schafft Gelegenheit, Klugheit schafft Stoff, Klugheit schafft… Das wollen sie doch: Schaffen. Sie wollen sich, was sie sind, vom Leibe schaffen – ich rate zu. Ich bin ihre Ratlosigkeit, in Rat verwandelt. Der Spruch ist gut, er stammt von mir.
Vielleicht ist er jener Niemand, sinnierte der kleine Hass. Sie hat Angst vor ihm und schon ist sie von ihm besessen. Frauen wie sie – es gibt vielleicht noch nicht allzu viele davon, aber ihr Ehrgeiz scheint unermesslich –, Frauen wie sie wollen Männer sein und sie wollen es nicht, sie wollen wie Männer sein und lehnen die Männer ab, warum? Weil sie zwischen ihnen und der Fiktion stehen, die sie erreichen wollen. Sie bemerken es nicht einmal, dass sie sie ablehnen – so sehr lehnen sie sie ab. Sie verzehren sich danach, an ihre Stelle zu treten, und nehmen es ihnen übel, wenn sie die Stelle leer finden. Sie wollen ihnen gleichen, zugleich wollen sie, dass sie sich ändern. Sie wollen alles miteinander und es geht nicht. Also sind sie wandelnde Bewusstseine dessen, dass es nicht geht, dass es nicht geht, dass es einfach nicht weggeht, das begehrende Wesen, das sie auch sind, das sie immerfort sind, gleichgültig, was sie daraus machen und was es aus ihnen macht. Sie machen den Mund auf, um endlich wahr zu sein, und es kommen lauter Lügen heraus. Die Wahrheit, die Wahrheit … es ist seine Klugheit, die ihren Vordenkerinnen gebietet, sie als männliches Konzept zu schmähen, dessen Zeit abgelaufen sei. Dieser verschwiegene, halb abgetriebene Wahrheitswunsch verzerrt ihre Stimmen und ihren Gang, den aufrechten Gang, den Gang der Zukurzgekommenen, die immer zu kurz springen werden, hastig wie ein gierig bewegter Mund, auftrumpfend wie ein Holzbein.
Spectabilis,
noch ist es an unserer Hochschule üblich, Forschungsprojekte nach angemessener Laufzeit zu
evaluieren. Es erfüllt mich mit Sorge, wenn ich sehe, dass unsere Fakultät derzeit Gefahr läuft, auf
diesem Gebiet den Anschluss zu verlieren.
Gestatten Sie mir, meiner Sorge umfassend Ausdruck zu verleihen.
Ich verweise auf den Beschluss vom 26. Februar xx, erneuert am 19. Mai xx sowie am 11. Dezember xx, modifiziert am 23. Januar xx, sowie zuletzt unter meinem Dekanat am 11. November xx (Protokoll beiliegend). Zur Erinnerung: jedes durch den Fakultätsrat genehmigte Forschungsvorhaben muss, so die durchaus aktuelle Beschlusslage, semesterweise evaluiert werden.
Das Instrument der Selbstevaluation ist zugelassen. Es bedarf jedoch von Fall zu Fall der Genehmigung durch den Dekan. Der Fakultätsrat ist darüber in Kenntnis zu setzen und besitzt ein begründetes Einspruchsrecht. Ansonsten gilt, fast überflüssig zu erwähnen, das übliche Procedere: Einsetzung einer Arbeitsgruppe, bestehend aus mindestens zwei Kollegen, Anforderung eines Zwischenberichts, Begehung, Aussprache, Bericht etc.
Hochachtungsvoll
(Anlage)
Spectabilis!
Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich heute erneut (!) den Finger auf eine Wunde lege, die unsere Fakultät als ganze betrifft: die Wunde der Kollegialität. Kollegialität als solche, dem Wortsinn nach praktiziert, ist eine Haltung, die unser aller tiefsten Respekt genießt. Nicht ohne Genugtuung bekenne ich meine Zugehörigkeit zu einer Institution, die sie in so großem Umfang praktiziert. Wie meine Kollegen genieße auch ich seit langen Jahren ihre Vorzüge und habe sie – so steht zu hoffen – stets selbst geübt. Ich wünsche und hoffe, der Pyramide möge dieser Geist dauerhaft erhalten bleiben.
Eine kleine Abschweifung: was ich gerade als ›Geist‹ bezeichnete, ist ›Anti-Geist‹ in des Wortes tiefster und anspruchsvollster Bedeutung. Denn der ›Geist‹ einer Institution, gewöhnlich Korpsgeist genannt, bedeutet etwas vollkommen anderes. Korpsgeist bedeutet die Reduktion einer Institution auf den Zusammenhalt einer Gruppe, die sich als Gemeinschaft missversteht. Das ist, im Namen der Wissenschaft sei es gesagt, zutiefst Schädliches und Schändliches, das unserem Land und unserer Wirtschaft in der Vergangenheit schweren Schaden zugefügt hat und weiter zufügt (!).
Wo war ich stehengeblieben? Die Wunde der Kollegialität öffnet sich überall dort, wo Forschungsgelder bewilligt werden, um anschließend im Leerlauf einer falsch verstandenen, forscherbezogenen Alltagswissenschaft zu versickern. Die Institution als ganze – insbesondere unsere Fakultät – hat ein Recht darauf, nicht allein zu erfahren, worum es sich beim je einzelnen Projekt handelt und wie es vorankommt, sondern auch – ich schreibe ›auch‹, doch in Wirklichkeit handelt es sich um den Kern des Gesellschaftsvertrags, den alle Wissenschaft unterschreibt – darauf, von ihm in ihrer Gesamtausrichtung zu profitieren.
Das gelingt allerdings nur, solange sie auch die Chance ergreift, sich im Projekt und seinen
Fortschritten wiederzuerkennen. Es wäre falsche Kollegialität, verzeihen Sie die blumige
Sprache, den Spiegel zu verhängen und dem Kollegen viel Glück auf der Reise ins Unbekannte zu
wünschen.
Belehren Sie mich, wenn ich mit meinem Misstrauen falsch liege.
Die Reise ins Unbekannte hat einen für jedermann klar erkennbaren Haken: wichtige Vorhaben müssen zurückstehen, während gut ausgestattete Einzelkämpfer unkontrolliert Ergebnisse produzieren, die schließlich in randständigen Publikationen versanden, falls überhaupt (!) in der Sache jemals etwas dabei herauskommt. Wir führen hier eine Debatte.
Das ist Verschwendung!
Hochachtungsvoll
P.S.: Ich will keine Zweifel streuen. Ich will nur – ich betone: nur – Gewissheit.
Spectabilis,
lieber Kollege Argloser,
niemand bestreitet die fachliche Kompetenz des Kollegen. Niemand beschneidet ihm die Freiheit des
Forschens. Niemand möchte über die Ergebnisse seiner Forschungen, sollten sie eines fernen Tages
vorliegen, mit ihm rechten.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Doch – verzeihen Sie, dass ich mich deutlich ausdrücke – das Geben und Nehmen innerhalb einer Fakultät, der fruchtbare Austausch zwischen den Lehrstühlen, die von der Hochschulleitung angestrebte Kommunikation zwischen Pyramide und Gesellschaft sieht anders aus. Mag sein, dieses Ziel liegt in weiter Ferne – ich denke nicht –, dann liegt es eben an uns, dem besonderen Verantwortungsdruck gerecht zu werden, der auf unserer Generation liegt.
Ich gehöre zu einer Alterskohorte, in der die Mitwirkung am Umbau der Gesellschaft zu den selbstverständlichen Pflichten jedes Einzelnen zählt. Für manche hört sich das inzwischen ›hybrid‹ an – damals mussten wir uns ganz andere Sachen anhören –, der Witz dieses Vorwurfs besteht aber gerade darin, dass wir hier und heute die Hybridisierung der Wissenschaft vorantreiben müssen, sofern wir als offene Gesellschaft bestehen wollen.
Nur eine Wissenschaft, die beides ist und sein will: Wissenschaft und Gesellschaft, wird der doppelten Verantwortung für die Gesellschaft gerecht, die keiner ihr von den Schultern nimmt. Wir entscheiden darüber, wie es gemacht wird. Ich darf dazu unseren Rektor zitieren (dem ich hierin ausnahmsweise Recht gebe): Was wir alle bitter nötig haben, ist eine atmende Wissenschaft, eine Wissenschaft, die sich stark macht für authentische, in der Gesellschaft verankerte und sie mitnehmende Forschungsinhalte.
Hier allerdings sehe ich, nicht nur im vorliegenden Fall, deutliche Defizite. Sie zu beklagen wäre billig, solange jeder Einzelne von uns aufgerufen bleibt, sie aus der Welt zu schaffen. Ich schreibe das, seien Sie dessen versichert, ohne den geringsten maliziösen Unterton. Er verböte sich in diesem Fall auch von selbst, da ich, als der seinerzeit bewilligende Dekan, das in Frage stehende Projekt im Ansatz nicht bloß schätze, sondern nachdrücklich seine Vollendung wünsche, vorausgesetzt, es entwickelt sich in den Bahnen, die seinerzeit angedacht wurden.
Wenn stimmt, was gerüchteweise im Umlauf ist, dann droht dieses Projekt, geradeheraus formuliert, aus dem Ruder zu laufen. Ich weiß, es ist nicht fein, auf Gerüchte abzuheben, aber es gehört zu den selbstverständlichen Pflichten eines Dekanats, wie ich sie verstehe, ihnen rechtzeitig auf den Grund zu gehen. Sollte das, was der von mir außerordentlich geschätzte Kollege R hier treibt (oder treiben lässt), auf einen öffentlichen Skandal hinsteuern, dann droht das Ansehen der gesamten Pyramide Schaden zu nehmen. Das kann keinen von uns gleichgültig lassen.*)
Ein Heine-Vers, der mir nicht aus dem Sinn gehen will, lautet:
Hier ist es still, kein Windchen weht,
Die Wetterfahnen sind sehr verlegen,
Sie wissen nicht, wohin sich bewegen…
Ich verspreche: das wird nicht lange so bleiben.
In diesem Sinne
Mit freundlichem Gruß
*) Daher rate ich dringend, im vorliegenden Fall vom Instrument der Selbstevaluation keinen Gebrauch zu machen.
Erstens: Gelassen bleiben. Sei ganz ruhig, beruhige dich, lass abflauen, was an Unruhe da ist, gib ihr keinen Raum. Gib ihr keinen Raum. Gut gebrüllt, Löwe. Sie ist da, sie flutet den Raum, sie ist überall.
Zweitens: Trennen. Natürlich geht es gegen das Projekt, das Projekt macht dich angreifbar, also geht es gegen dich. Natürlich zielt Dürrobst ins Blaue, da ist nichts, was ihm Anlass böte … es sei denn die Geschäftsordnung. Das Gerücht? Es gibt kein Gerücht. Er streut das Gerücht von einem Gerücht und schon ist das Gerücht in der Welt.
Drittens: Sei kein Narr. Welche Defizite sieht der geschätzte Kollege? Ist er mit an Bord? Hast du einen Agenten an Bord? Warum glaubt Dürrobst, dass etwas schiefläuft? Hast du etwas übersehen? Bist du blind? Hast du etwas überhört? Bist du taub?
Viertens: Nüchtern bleiben. Du übertreibst. Du bist der, dem, wie er sagt, das Projekt aus dem Ruder läuft. Wie kommt er darauf? Hat er Informanten? Schießt er ins Blaue? Wie auch immer, der Schuss gilt dir. Nein, er gilt nicht dir: er gilt dem Projekt. Nein, er gilt dir. Pawlows Hund in dir drängt: Verteidigen, was das Zeug hält! Abblocken, abstreiten, offenlegen, rechtfertigen, zurechtreden, übertreiben, untertreiben, schönfärben, beidrehen, retten. Sei kein Narr: er kitzelt den Hund mit dem Stock, er führt den Stock um ihn herum, er macht ihn närrisch. Warum macht er ihn närrisch? Er will ihn sehen.
Fünftens: Nimm dich heraus! Vielleicht hat das alles nichts mit dir und dem Projekt zu tun. Er gibt sich wichtig, er gibt sich immer wichtig, warum nicht auch in deinem Fall? Die Frage ist müßig, sie zieht die andere hinter sich her: Warum just hier? Was lässt ihn einsteigen? In diesem Fall?
Fest steht: Dürrobst will diesen Fall.
Na großartig! Es gibt also einen Fall. Es gibt einen Fall und er, er steigt ein. Ungefragt, er tut es ungefragt, es handelt sich daher um einen Einbruch, er will an die Kasse, natürlich will er an die Kasse, was sonst, das sieht einer doch sofort, das bedarf keiner Analyse. Es bedarf keiner… Vielleicht doch? Vielleicht will er nicht an die Kasse. Woran dann? Ans Konzept?
Hast du ihn beleidigt? Nein. Gekränkt? Nein? Beeinträchtigt? Nein. Schlimmer: Er sieht sich zurückgesetzt. Wodurch? Was hat er verloren? Was hat er bei dir verloren? Nichts. Doch. Alles. Er war im Amt, als dieses Projekt bewilligt wurde. Es ist sein Baby. Er ist nicht mehr im Amt und niemand schert sich um seine Meinung. Die einzige Meinung, die im Moment zählt, ist der Einspruch. Also erhebt er Einspruch – aus diesem und keinem anderen Grund. Er will gehört werden, nichts weiter. Sie soll Gewicht haben, seine Stimme. Er will zerstören, was er zur Welt bringen half.
Nein, er will nicht zerstören. Er will übernehmen. Ist das dein Ernst? Dürrobst will übernehmen? Was will er übernehmen? Was kann er übernehmen? Was daran ist so beliebig, dass einer wie Dürrobst übernehmen kann? Einer wie Dürrobst. Einer wie Dürrobst? Woran erinnert dich das? Wer ist dieser Dürrobst, dass…? Nein, falsche Spur. Bleib ruhig, bleibe ruhig. Einer wie Dürrobst findet sich überall. Dürrobst ist beliebig … aber nicht beliebig genug.
Dürrobst ist das Beforschte.Du hast nie darüber nachgedacht, stimmt’s? Du hast ihn beobachtet, ihn und die anderen, sie haben dir Empfindungen eingegeben, diffuse Empfindungen, wie dir jetzt scheint, nur: als du sie empfandest, als sie reell waren, empfandest du sie als genau. Eine davon lautete:
Dürrobst lebt in der Vergangenheit.
Das war richtig und das ist falsch. Er lebt in zwei Vergangenheiten: in den leidenschaftlichen Überzeugungen der Zeit, in der er jung war und sich revolutionär dünkte, und in der Zeit davor, mit der er sich durch die Nabelschnur einer vage aufscheinenden Kindheit verbunden fühlt. Wenn du nach dem Tabuwort forschst, das ihn beherrscht, obwohl er es niemals ausspricht, dann findest du eines:
Er hat es (in seinem früheren Leben) so oft geschmettert, dass es sich falsch anfühlt, sooft er es in den Mund nimmt: Das ist Faschismus. Nein, ist es nicht. Dabei ist alles Faschismus. Es verwächst sich nur, sobald einer wie er Teil des Systems wird, sobald er zu Amt und Würden gelangt. ›Faschismus‹ ist ein Türöffner, niemand rennt mit dem Schlüssel in der Hand herum, der sich bereits im Raum befindet. Aber er hat ihn griffbereit in der Tasche und tastet nach ihm, wann immer ihn Unsicherheit überkommt.
Nein, Dürrobst hat den Faschismus nicht erlebt. Nein, Dürrobst war nicht dabei, es sei denn in seinem Todeskampf: als winziges schreiendes, wimmerndes, nuckelndes Bündel Mensch. Soweit reicht Erinnerung nicht. Selbst wenn sie soweit reichte: was hätte sie aufnehmen sollen? Was Dürrobst, was es in ihm Faschismus nennt, ist der Geschmack der Kindheit danach: Gerüche aus der Elternwelt, Küchengespräche zwischen Erwachsenen, die er, Knirps, der er war, nicht verstand, aber tief in sich stapelte, Stimmen, angeraut, raunend oder heftig, raunend und heftig, schwelender Streit, scheinbar anlasslos aufflammend, Satzfetzen ohne Zusammenhang, im Gedächtnis haftend und schamhaft verschwiegen – ganz recht, schamhaft, denn er deutet sie allesamt in eine Richtung: Ich stamme aus einem faschistischen Elternhaus.
Was geht’s dich an? Mag sein, es stimmt, mag sein, es ist nur ein Hirngespinst: wo läge der Unterschied? Für dich: nirgends. Wenn Dürrobst den Faschismus bekämpft, dann bekämpft er sein Elternhaus. Kämpft er denn? Unentwegt. Vielleicht auch nicht, aber: er ist ein Kämpfer. Oder: er gibt den Kämpfer. Besteht da ein Unterschied? Natürlich.
Wer aber Dürrobst ist, weiß ich nit.
Wann immer er antritt, bekämpft er Tendenzen. Er leiht ihnen viele Namen, aber jeder, der ihn kennt, weiß: insgeheim hören sie alle auf einen. Dass er verschwiegen wird, dass er verschwiegen bleibt, geht in Ordnung, denn: wer ihn ausspräche, erzeugte nur eines: Gähnen. Oder Gelächter. Oder Verdruss. Oder Langeweile. Die Schleifspur einer verjährten Revolte verödet den Blick und verschließt die Münder. Das Leben? Hat eine Tendenz zum Faschismus. Hat es das? In Dürrobsts Optik schon und nicht nur in seiner. Soll er zum Optiker gehen! Das sagt sich leicht, aber der Optiker ist seiner Meinung. Oder sein Opfer. Oder beides. Niemand, dessen Optik verrutscht ist, geht deshalb zum Optiker. Der Optiker hält die passenden Brillen bereit, um sagen zu können: Geht doch! Was soll da gehen? Jedes Wahnsystem benötigt Brillen, viele Brillen, viele unterschiedliche Brillen. Und doch ähneln sich alle wie ein Ei…
Nein, nicht dieses Bild. Nicht dieses Bild!
Wenn Dürrobst zum Optiker geht, trifft er sich selbst. Er beugt sich über die Ladentheke und sieht sich fest in die Augen, ins rechte zuerst, dann ins linke. Was er dort sieht? Die Verhältnisse, was denn sonst.
Der Arzt, der Dürrobsts Leiden heilen kann, muss noch geboren werden. Er müsste geboren werden, doch nicht vom Weibe, um dich der zweitausendjährigen Sprache der Repression zu bedienen, denn vom Weibe geboren zu sein ist gerade das, was Dürrobst abweist: er kann es nicht gelten lassen. Durch sein bloßes Dasein reduziert der Mann die Frau auf die Gebärfunktion, jagt sie, qua Geburt, durch dieses Nadelöhr: erste, nie wieder gutzumachende Untat! Geburt, Urquell des Faschismus! Dürrobst Blick, fest auf den Gesprächspartner gerichtet, spricht es aus: Leidest du nicht, wenn du eine Mutter zusammen mit ihrem Knäblein die Straße entlang laufen siehst? Der helle Sohnesblick, ahnungslos, welches Los er seiner Mutter bereitet, ihr Halb-und-Halb-Wissen, das dem eigenen Leid durch Zärtlichkeit zuvorkommen will, während es ihm nur hinterherzockelt, verletzt er nicht tief? Fühlst du dich nicht – schuldig an Kindes statt? Der Mann hat kein Recht darauf, vom Weibe geboren zu sein. Er erzwingt seinen Weg, er okkupiert sie, er zwingt sie in seine Bahn, er zwingt sie, seine Bahn zu sein: Geschossbahn, Lauf einer Flinte, deren Abzug er drückt, sie bleibt zurück, er jagt hinaus – wohin? Diese männliche Jagd, das Projekt Mann, es muss ausgebremst werden: Dürrobsts Credo, sein zweites, nachdem das erste, die Eroberung der Macht, mangels Masse zur Seite gelegt werden musste. Ist Macht über die Köpfe denn keine Macht? Ist sie nicht Über-Macht? Am Ende reicht es, einen Brief zu schreiben und abzuwarten: diese Macht ist königlich, wenngleich im Verborgenen.
Warum sollten sie? Gerade sie…? Ein verborgener, alle Verhältnisse durchdringender Name, ein Name, der nie genannt werden darf und stets anwesend ist … ein derart ausgezeichneter Name erwirbt sich Attribute der Gottheit: Allgegenwart, Allzuständigkeit, Macht ohne Grenzen, Macht über Seelenzustände, Macht über ein Denken, das an kein Ende kommt, aber überall an sie grenzt. Wenn Dürrobst dein Projekt bekämpft, dann bekämpft er, insgeheim oder nicht, nur eines: seine Tendenz. Hat es denn eine? Heilige Unbedarftheit…! Die Frage trifft dich, sie trifft dich ahnungslos vor der Tür, sie trifft dich wehrlos. Bevor du antworten kannst, ist sie vorbeigeschlüpft und schon im Haus.
Dreh dich um! Wo immer Dürrobst auftritt, ist er im Recht. In welchem Recht? In dem, das er sich herausnimmt. Niemand widerspricht einem Dürrobst direkt. Wer kann, zieht Stolperdrähte. Das hast du Dutzende Male erlebt.
Schon gehst du ihm auf den Leim.
Dürrobst ist ein Meister der Entgrenzung. Lege dich mit ihm an und du weißt bereits, er kommt an kein Ende. Was immer er dir vorzuwerfen hat, es ist nur der Anfang. Was immer er dir vorwerfen wird, es läuft auf dasselbe hinaus. Jeder weiß es, du weißt es und da alle Welt es weiß, lautet die Parole: Leg dich nicht an. Nicht mit dem. Mit so einem legt man sich nicht an. Wer oder was ist so einer? Ein Denken, dessen Enden überall zurückgebogen sind auf eine unbegriffene Kindheit und auf das erlösende Wort, das ihn von ihr absprengte, um ihn in alle Ewigkeit an sie zu fesseln, das Wort, das ihn zum Ritt auf der Kanonenkugel verdammte, never ending, ein solches Denken lässt sich nicht aufhalten. Nenne es: Männlichkeitswahn zweiter Stufe. Ihn musst du stoppen. Aber wie? Alle Fäden liegen in seiner Hand. Gestern ein loses Häufchen Verbindungen, heute ein Netz…: eine Handbewegung, schon zieht es sich zu. Was hättest du zu verbergen? Nichts. Das ist der Kern seines Vorwurfs: nichts. Du suchst und du findest: Panik. Das ist sein Ziel: du findest nichts und du bist schon in Aufruhr. Wo liegt der Fehler? Immer bei dir.
Kann er dir schaden? Er kann. Ein Befund, so deprimierend wie unumgänglich. Mach dir nichts vor. Wenn Dürrobst warnend den Finger hebt, blinzelt der kollegiale Rest in die Sonne und bestätigt ergeben: Stopp! Nichts geht mehr. Kannst du ihn daran hindern? Nein, das kannst du nicht. Was kannst du dann? Dich zur Wehr setzen. Wie sieht sie aus, die ›Wehr‹? Wer wird sich ihr, sagen wir … aussetzen? Dürrobst? Nein, das wird er nicht. Leute wie er wiederholen sich bloß. Sie wechseln die Foren. Was du morgen aus diesem Mund hörste, erfährst du übermorgen aus jenem. Dürrobst ist eine Hydra. Dürrobst ist … sie alle. Er wird jeden, den er auftreiben kann, gegen dich in Stellung bringen. Wie er das macht? Keine Ahnung. Ist das wichtig? Nicht wirklich. Warum kann er es denn? Er kann es, weil du ein Fremdkörper bist, ein Splitter in diesem Körper, genannt Fakultät, jedenfalls fühlst du dich so, jetzt, in diesem Moment, gestern fühltest du anders, doch das war gestern. Woher diese Bereitschaft, dich isoliert zu fühlen? Ganz einfach: es ist wahr. Akzeptier das! Dankbar solltest du dem Kerl sein, ganz recht: dankbar. Er lockt heraus, was du von Anfang an wusstest. Du bist keiner von denen, du warst es nie und wirst es nie sein.
Dürrobst will nicht an dein Projekt. Es hat ihn an seines erinnert, es hat ihn rege gemacht und jetzt fällt er über dich her, mit frischem Appetit, erfolgshungrig, lüstern nach Bestätigung. In ihm rattert die Mitrailleuse des Geschlechterkampfs: Allons enfants de la psychose… Was will er denn? Die totale Frau, das ist die total verfügbare Frau, das ist die total unverfügbare Frau, die Frau an sich, das Wesen, das keiner kennt, das noch keiner kennt, das aus all dem Brimborium heraustreten muss wie … wie … Rennen sie nicht, um zu sein wie keine zuvor? Ist es nicht gerade das, was sie aus tiefstem Antrieb wollen? Ist das nicht ihre männliche Zukunft? Dass ein Dürrobst sie dort erwartet, klingt hart, aber es dürfte nicht übertrieben sein. Zumindest arbeitet er dran. Mit Schwanz und Hirn.
Was willst du mit deinem Projekt? Dir einen Name machen. Selbstverständlich willst du das. Es ist normal. Ebenso selbstverständlich tritt der andere dir in den Weg. Das ist auch normal. Es ist, was stets geschieht. Warum musste es dieses Projekt sein? Noch immer hast du das Gefühl, es nicht ausformuliert zu haben. Wenn es deines wurde, dann deshalb, weil es dich anzog. Auch das: normal. Dein Projekt ist das Projekt deiner Generation. Du selbst bist ein Teil von ihm. Träte dir eine Frau in den Weg, du wärest tief gekränkt. Wie das Leben so spielt … genau das musste geschehen. Frage: Wie ernst ist die Sache? Und: wer weiß davon?
… Dürrobst ist diese Frau. Pfeifenputzer-Dürrobst. Wie das? Dürrobst ist alle Frauen. Nein, er intrigiert nicht bloß in ihrem Namen. Er ist ganz Frau, ganz Mann. Als Mann ist er ganz Frau. Nicht auszudenken, was er als Frau wäre. Er ist der Geist der Revolte. Ihr Gespenst. Ihr Monument ohne Rückgrat. Ihre Sphinx.
Ödipus auf dem Weg zur Mutter: so könnte, so muss Laios ihm in den Weg getreten sein, nicht als Sphinx,
sondern als Fremder, nein, nicht als Fremder, sondern als jemand, der nicht zu weichen gedenkt. Denn
hier ist er Herr. Herr über was? Über die Wege zur Frau. Laios ist diese Frau, er ist alle Frauen. Er
ist Dürrobst.
Aufhören! Das ist … Kitsch. Geschlechterkitsch. Was ist Kitsch? Frage, zu oft gestellt, es hat keinen Sinn, sie zu beantworten. Kitsch ist die Antwort, nach der nicht gefragt wurde. Sie drängt sich dazwischen, sie spreizt sich, sie reizt dich, sie flüstert: Nimm mich! Aber es hat keinen Sinn, es führt nicht weiter, es blockiert deinen Weg. Nenne ihn, wie du willst, die Blockade bleibt. Sie bleibt, und du … arbeitest dich an ihr ab. Was bedeutet das: abarbeiten? Deine Arbeit liegt dort, auf der anderen Seite, die Blockade hindert dich daran, deine Arbeit zu tun, warum arbeitest du hier, wenn du dort zu tun hättest? Du arbeitest hier, um deine Arbeit dort leisten zu dürfen? Was für ein Irrsinn! Herr Kitsch – nenne ihn so, es entlastet nur einen Moment, aber dieser Moment ist gewonnen –, Herr Kitsch zwingt dich, für dein Projekt zu kämpfen, er nötigt dich in die Spirale, er will dich trudeln sehen, er will deinen Absturz, vielleicht auch nicht, vielleicht mehr: Was wäre mehr? Was wäre mehr?
Umsonst, ja, ist das eine, umsonst das andere nicht zu haben, sinnfrei nie, vielmehr im Vollsinn, doppelten Halbsinn, vierfachen Viertelsinn, achtfachen Achtelsinn, sechzehnfachen Sechzehntelsinn etc. (die Stückelung macht Sinn, wenn man bedenkt, wie zerstückelt alle Verhältnisse sind mitsamt dem ihnen innewohnenden Drang zum Zusammenschluss, koste es, was es wolle), eine Art Freimachung, bequemer zu haben als im wirklichen Leben mit seinen stets aufs Neue fesselnden Komponenten, nur aus den Kleidern zu schlüpfen geht rascher, auch das eine Art, sich freizustellen, und wirklich, nun ja, wirklich ist hier alles:
Nofretete? Nofretete! Warum Nofretete? Steht sie nicht gut im Museum? Warum gerade ihr das Geheimnis der Weiblichkeit entreißen? Enthält sie es denn? Ist sie ein Koffer, vollgestopft mit Auskünften, die nur abgezapft werden müssten (aufschließen lässt sich der Koffer nicht, der Schlüssel ist auf den Pfaden der menschlichen Evolution verlorengegangen, selbst wenn man ihn fände, es wäre vergeblich, denn so oder so würde er heut’ nicht mehr passen, also gilt es, sich irregulär Zugang zu verschaffen), um, sagen wir, den Ur-Sprüngen weiblicher Macht … hinterherzuforschen?
Kann Macht weiblich sein? Macht ist Macht, sie wird verliehen (vererbt wie verliehen), sie ist transitorisch, sie vergeht hier, um dort zu erwachen, ganz recht, zu erwachen … es gibt sie demnach, in allen Formen und Modi, schlafende Macht, die geweckt werden will, gähnende Macht, rülpsende, lärmende, lähmende, schauerliche, befeuernde, trödelnde, ganz recht, trödelnde, dem Trödel verfallene, dem Trödel aufsitzende und, nicht zu vergessen, jene, die niemals schläft, wachende Macht, Ordnungsmacht, tröstende Macht, Macht der Verheißung, Macht des Erbarmens, Macht des Versprechens und der Versprecher, der vielversprechenden Worte, des Aufruhrs, der Persönlichkeit, des Neides, der Missgunst, der Erinnerung, des Vergessens, des Geltenlassens, der Anerkennung, der Schönheit – hoppla, da hätten wir sie, die Kandidatin, herausgefischt aus dem Abwasserfluss der Wörter, der durch alle vorstellbaren Leidenschaften entklarten Brühe des Deklarierten.
Amas Stimme verrät viel. Hörst du sie auch? Hast du sie im Ohr? Wenn es nur das wäre. Amas Stimme haftet, klettengleich, überall, du müsstest versuchen, sie abzuwaschen, aber auch das wäre vergeblich, du schrubbtest sie nur tiefer in deine Haut. Ama besitzt eine Haut-Stimme, sie geht nicht unter die Haut, sie klebt an ihr, sie nistet sich in ihr ein, sie breitet sich in ihr aus, als handle es sich um Löschpapier. Sie ist tintig, von tintiger Schwärze, das war’s, was dir gleich auffiel, neben den Brauen, den dichten Brauen aus festem schwarzem Haar, als seien Stimme und Braue aus einem Stoff. Macht ist weiblich, sagt diese Stimme, nimm mich, sagt diese Stimme, versuch’s doch, sagt diese Stimme, lieber nicht, sagt diese Stimme, an mir wirst du scheitern… Du möchtest gern wissen, woran du scheitern wirst? Vielleicht möchte ich das auch, da hätten wir eine Gemeinsamkeit, darauf könnte man … nicht bauen, aber den Versuch wäre es wert.
In Amas Versuchswelt bist du ein kleines Licht. Vielleicht nicht einmal das. Könnte es nicht aber sein (sagt diese Stimme), dass dieses winzige Licht, dieses Lichtlein andererseits – andererseits! – identisch wäre mit dem Licht am Ende des Tunnels? Des Tunnels, ganz recht, und damit das Ziel einer Reise durch Schwärze und Nacht, eine Nacht nur im Gehirn, schwarzes Fieber, angefacht vom Begehren, voluptas, das die Klassiker zügellos nannten, obwohl es, auf seine Weise, Zügel und Zaumzeug liefert, auf dass du parieren lernst… Du parierst schon, stimmt’s? Winde dich nicht. Natürlich parierst du, subkutan, es knackt und knistert unter der Oberfläche. Du bist angesprungen, ganz recht, das ist peinlich, das ist … geschmacklos, es verstößt gegen die Regel, es schadet dem Projekt.
Dass es Menschen gibt, die diese Grundspannung brauchen.
Dein Eindruck ist eher, dass sie dich verhindert.
Woher dieser Eindruck?
Sie zieht dich ab.
Wovon?
So befragt, bleibt es stumm.
Amas Apologeten sind überall.
Sag’s ruhig, dein Geschlecht ist auf ihrer Seite.
Warum sagst du es nicht?
Dein Geschlecht gehört dir.
Eine fremde Macht? Das müsstest du wissen.
Bist du Geschlecht?
Bist das du?
Seltsame Frage.
Nein, das bist du nicht.
Anderseits… Doch…
Nein, du bist es nicht. Ein Widerwille ergreift dich, sobald Zirkuleits Stimme ertönt (du hörst sie, während du liest, eine Radiostimme, ausgeschlagen mit einer Lebendigkeit, ebenso falsch wie eigen, ein Schnurrbart, der angeklebt wirkt, aber man begreift, er ist echt), mehr Widerspenstigkeit als Widerwille, als wärest du versehentlich in eine Hecke am Wegsaum geraten und müsstest erst wieder heraus, bevor du deinen Weg fortsetzen kannst, du arbeitest dich aber nur stärker hinein, solange du weiterliest.
Reinheit, sagt die fidele Stimme, diese Idee der Reinheit, die dich vom Weibe trennt, was ist sie nur? Lass es dir sagen, folge mir, folge mir zögernd, folge mir widerwillig, knurre nur, zerre an deiner Leine, aber folge mir, denn an dieser Leine hängst du nun einmal, solange du der Spur meiner Wörter folgst, der Spur der … nennen wir’s Aufklärung, nennen wir es ruhig Aufklärung, warum denn nicht, es ist doch Aufklärung, oder nicht? Gäbest du dich weniger widerborstig, wäre es dann nicht Aufklärung? Warum sonst müsstest du Widerstand leisten? Folge ihm ruhig, wenn du mir nicht folgen magst (was ich verstehen kann), Leben ist Widerstand, Leben ist gut, du bist ein Kämpfer, zieh deines Weges, aber folge mir, folge mir leise, beharrlich, merkst du, wie er mir zuarbeitet, dein berühmter Widerstand? So sieht es aus mit dem Widerstand.
Diese Idee der Reinheit, sagt Zirkuleit, sie ist der Ausgang aller Perversität, erst mit ihr kommt dieses köstliche Ich ins Spiel, das männlich sein will, männlich, verstehst du, nichts-anderes-als, verstehst du, beimischungsfrei, denn, oh Wunder, diese Beimischungen, dieses Auszuscheidende, es hat einen Namen. Es ist weiblich: was sonst? Du erschaffst diese Polarität, du selbst erschaffst dir das Weibliche – Macht! Majestät des Gefühls! Fluss der Gedanken! Dein Leben bekommt einen Inhalt, endlich, einen ganz neuen Inhalt, er strömt in dich ein, erkennst du das Vakuum, das du geschaffen hast? Ich aber sage dir: es ist ein Trick. Komm, ich verrate ihn dir. Dazu musst du erst ruhig werden, ganz ruhig. Ich spüre sie noch, deine Unruhe. So wird das nichts. Ganz ruhig! So, nun ist es soweit. Wo waren wir…? Ach, der Trick. Wer denkt an den Trick? Denkst du an den Trick? Ich denke an keinen Trick. Ich überschlage diese … diese … ursprüngliche Perversion und erkenne in ihr den Sprung. Der Mann erscheint und es erscheint, wie aus dem Bilderbuch geschnitten: die Macht. Ja gewiss, die Macht. Wer sonst? Ich spüre dein Zögern, den Gedankengang fortzusetzen, du würdest gern rückwärts gehen, habe ich recht? Natürlich habe ich recht, natürlicherweise, denn alles, was du dir erdacht hast, alles, was du dir erbaut hast (ich rede jetzt nicht über dich, du bist nur ein winziges Glied in der Kette), das alles ist Macht: Rühr mich nicht an. Macht ist alles und alles ist Macht. Unter einer Voraussetzung… Männlichkeit ist eine männliche Obsession.
Und das soll wahr sein? Wahrheit, raunt die fidele Stimme, ist eine männliche Obsession… Da fährst du zusammen und lachst. Doch dein Lachen klingt merkwürdig hohl, du bist ziemlich allein in deiner Umgebung mit einem Lachen, das sich weigert, Gelächter zu werden, da die Einstimmung fehlt… Wessen Einstimmung? Aller Einstimmung, Dummchen, an wen dachtest du denn? An Dürrobst? An Teuschner, Ruffmann, Hölzchen, Friedenwanger? Hölzchen vielleicht, aber er bleibt ein unsicherer Kantonist. Leckebusch auch, er ist ein Meister der dialektischen Verdrehung, heute schickt er dich ins Gefecht, morgen erklärt er dir deinen Irrtum, als gehe er ihn nichts an und nie, nie habe er ihn geteilt.
Dieses doppelte ›Nie‹, gleich schürt es wieder Verdacht. Leckebusch, Hölzchen, sie sind nur Gast in
diesem Haus, sie kommen aus einer anderen Welt, sie schneien herein und ihre Rede zerläuft. Was bleibt,
sind Flecken, jede Putzkraft schrubbt so etwas weg. Wer bleibt, ist einzig Tronka, er ist eine
andere Welt, eine Welt für sich, aber für andere? Er würde dein Lachen teilen, kein Zweifel. Schon hörst
du euer Gelächter.
Hörst du es gut?
Er nimmt es dir ab, gleich ist es nicht mehr das deine. Ernüchtert folgst du dem Klang dieser
Stimme. Etwas stimmt nicht daran. Tronka kennt die Wahrheit, doch er selber ist unwahr. Worin ist er
unwahr? Nicht wahr, raunt die fidele Stimme, du hast ihn erkannt? ›Erkannt‹ ist ein gewichtiges Wort.
Sagen wir … du hast einen Verdacht. Welcher Art dieser Verdacht ist, willst du nicht sagen, deine Hand
sträubt sich, ihn niederzuschreiben, du willst nicht der sein, der ihn hinausposaunt, dieser Verdacht
ist diskret.
Es liegt bei Tronka, sich hinauszuposaunen. Tut er es nicht, bleibt er das einsame T, eingemauert in
seine Gedankengespinste, die niemand ihm abnimmt, weil ihnen … das Preisschild fehlt. Der Preis der
Tronka-Lektüre ist Schweiß, Denkschweiß, dem in der Welt der Diskurse das Sozialprestige fehlt. Tronka
strengt an. Warum sollte man…? Darauf weiß T, sooft die Frage an ihn herantritt, nur eine Antwort:
BEMÜHT EUCH NICHT!
Früher, in einer Welt, die jetzt langsam versinkt, die hier, in der Pyramide, bereits spurlos vergangen scheint, es sei denn, man nimmt den Eifer, sie zu erforschen, als Spur – damals hätte jemand Zweifel an seiner Männlichkeit angemeldet: Na also, raunt die fidele Stimme, war das so schwer? Nun ist es heraus, damit lässt sich doch etwas anfangen. Aber was? Leute vom anderen Ufer, das trennende Meer, der Geruch des Fremden, der Geschmack des Fremden, ja der Geschmack … sein Geschmack ist eigen, nicht wahr? Und er lässt ihn nicht heraus, er selbst lässt ihn nicht heraus, er lässt ihn drin, als gehöre er dort hinein … warum?
Nein, Tronka ist kein Wiedergeborener, er laboriert an seiner ersten Geburt, er möchte sie gern noch ein wenig hinauszögern, aber sie ist schon vollzogen, sie hat ihn zurückgelassen, eigen und fremd. Schwer vorstellbar, doch so wird es sein. Wie sonst? Als Leidender steht er über dem Leid, er genießt seinen Hochmut, er ertränkt sich im Hochmut wie andere ihren Kummer im Wodka. Tronka ist alte Schule – du verstehst, raunt die fatale Stimme, was immer du über Wahrheit lernen kannst, lernst du von ihm, besser: du lernst es an ihm, du lernst es ihm ab, wenn du verstehen willst. Old school – achte darauf, seine Theorien sind avanciert, aber er selbst, er ist hoffnungslos antiquiert, deshalb wird es nichts mit dem Schick.
Ama: schadet sie dem Projekt? Du bist verpflichtet, die Frage zu stellen. Du entgehst ihr nicht. (Ama oder der Frage? Das wäre bereits die nächste.) Zu lösen ist da nichts. Frage hin, Frage her – willst du das: ihr entgehen? Was entginge dir da? Ihr Apologetenschwarm? Kein Zweifel, das wäre verkraftbar. Vergleiche Ama/Elisabeth: jene ›Wand aus Männlichkeit‹, die sich um Elisabeth … bildet, wo immer sie geht und steht – erdrückend, einschüchternd, beleidigend für den Erkorenen, es sei denn, er wäre ein Terrier und genösse die Szene. Nichts dergleichen im Falle Ama (jedenfalls nicht, soweit dieses Stück innerhalb deines Blickfeldes spielt). Das Feld ist frei. Geht man ihr aus dem Weg? Gehst du ihr aus dem Weg? Innerlich schon, jedenfalls war das dein erster Reflex. Lehnst du sie ab? Nicht im geringsten.
Richtig ist: du weichst ihr aus. Aber willst du ihr ausweichen? Es geschieht, als könne es nicht anders sein. Weichst du denn wirklich aus? Eure sporadischen Kontakte sind ›vermittelt‹ durch das Projekt, sie ergeben sich zwangsläufig, sie sind, aus deiner Sicht, dienstlich, kaum zu vermeiden –: ändert das ihren Charakter? Ein wenig schon, es gibt ihnen eine Basis. Wo stehen wir jetzt? Und was steht an? Darüber müssen wir reden. Nächste Woche, ja, bei mir ginge das gut. Also gut, nächste Woche. Schon nächste Woche? Als wäre glühende Asche auf den Terminkalender gefallen und hätte ein Loch in den Tag gebrannt.
Ach Ama. Etwas ist falsch an deinen Auftritten. Du bist so einfach und alles an dir ist doppelt. Du kannst nicht anders. Wir können beide nicht anders. Von dir geht Zwang aus.
Sie macht es nicht mit den Hüften.
Sie macht es – sei vorsichtig, wie du es sagst! – mit dem leicht tranigen, auf spezielle Punkte trainierten Verstand. Blitzwach im Tran. Sie unterläuft deine Aufmerksamkeit mühelos. Als wäre das, was dir durch den Kopf geht, nicht der Mühe wert, beredet zu werden: Wie stehe ich vor ihr da? Wie stehe ich vor mir da? Und wie stehst du da? Kaninchen vor Schlange, ausgebremst, in der Bewegung erstarrt … nein, aus der Bewegung herausgeholt, die weiterläuft, aber fahrerlos, ins Gelände: seltsames Kaninchen, seltsame Schlange, Buddha-Schlange, ein Dauerkommentar zu dem, was du redest, nicht redest, treibst, bis in die Haarspitzen hinein, ja sicher: auch sie entgehen ihm nicht.
Mit welchem Recht gibt sie sich so? Mit dem Recht dessen, der sich nicht anders gibt, niemals anders gibt … vielleicht, weil sie sich sonst aufgeben würde. Das wird es sein. Sie wäre nicht Ama, sie wäre nichts. Weniger als nichts: eine Unsicherheitsanmutung. Gib zu, du würdest sie übergehen, wann immer sich die Gelegenheit böte. Dieser leicht aus der Form gegangene Körper zieht dich nicht an, er klebt an den Fältelungen ihrer Klamotten, als brächte ihn nichts und niemand heraus – wohin? Scheut er das Licht? Eher scheust du das Licht, das auf ihn fallen könnte. Du scheust es durch alle um ihn drapierten Tücher hindurch. Er macht dich lichtscheu, dieser Körper, vorsorglich klammerst du dich ans Licht: diese Frau verströmt Dunkelheit und Dunkelheit bedeutet Erwartung. Er-wart-ung, Sie-wart-ung… Wenn sie sich aufgeben wollte, was müsste sie aufgeben? Zweifellos das, was sie niemals loslässt, so wie die Dinge liegen: ihr Frausein, ihre Frauheit, ihr eisernes Bewusstsein, Frau zu sein. Ist das Bewusstsein? Es zielt auf dein Bewusstsein, vielleicht auch ein wenig tiefer. Aber ist es Bewusstsein? Die zur Gewohnheit gewordene Weigerung, anders zu sein, ist sie Bewusstsein? Was wäre das Gegenteil? Instinkt? Überlebensinstinkt? Sieger-Instinkt? Komische, komisch unausgefüllte Wortkaskade. Womöglich liegst du ja falsch und es handelt sich um das Gegenteil einer Gewohnheit – um die volle Schärfe des Jetzt, die nichts, auch das Selbstverständliche nicht, zurücktreten lässt. Ist Ama unausweichlich?
Vielleicht, vielleicht nicht.
Ist sie nicht. Was ist sie dann? Eine Projektteilnehmerin. Eine Projektfigur unter anderen. Dummerweise wird es ihr nicht gerecht, wenn du so über sie redest. Du stößt sie zurück. Warum? Weil sie, sie allein, das Projekt flutet. Ama ist das Projekt. Randvoll füllt sie es aus, auf ihre Weise, auf keine andere, alles andere wäre schließlich pervers.
Apropos pervers: Ist Ama pervers? Oder alle anderen? Auch darüber solltest du nachdenken. (Ist das dein Ernst? Warum denn nicht? Wäre es das nicht, dann solltest du anfangen darüber nachzudenken.)
Vielleicht nicht dem Typus nach, was bedeutet schon Typus, vielleicht … du weißt es noch nicht. Du weißt so vieles noch nicht. Ama, ewig stumm, ewig beredt. Ein Plappermaul an Verschlossenheit.
Ist Ama links? Ama ist unpolitisch, sie plappert die Sprüche der Linken nach, weil sie zu ihrem Milieu gehören, genauer, zu Momptis Milieu, nein, doch eher zu ihrem, denn in diesem Milieu erblühte sie einst, scheue Knospe, heute nicht mehr wiederzuerkennen, aber zu ahnen. Wärst du ein paar Jahre älter, würdest du ihre Geheimnisse kennen. Ahnung ist eine Funktion der Altersschichtung.
Tronka, soviel ist sicher, die zynische Herzensdosis vergessend, sucht nach der Blume Wundersam, dem Antidot gegen Pida, die ihn fixiert hat wie Ama einen ihrer getrockneten Blütenflügel zwischen zwei Buchblättern, um ihm auch die letzte hier und da anzutreffende Feuchte zu entziehen. Ama, die geschmeidige Ama, wissend, wie man ein abgestorbenes Flügelpaar zu neuer Regsamkeit stimuliert, hat ihn, ganz wie in alten Zeiten, abgeschleppt und massiert seinen Flugmuskel. Schon lösen sich die Verspannungen, ungleichzeitig, wie sonst, selbst ihm fällt auf, wie unbeholfen ein dunkel-gäriges Inneres sein kann, bei völliger Wirksamkeit der Glieder.
bei ansprechender Beleuchtung aus tausend geschickt im Raum verteilten spots, unter gewaltigen Kronleuchtern zwischen ernsthaft dreinblickenden Herrscherporträts, auf Podien, so raffiniert gestaltet, dass nur die ungekrönten Häupter der Wissenskultur sie wirklich zu bespielen imstande sind, während die kommunalen Einführungsredner sich kurz zu fassen gehalten sind, damit im Saal nicht der Unmut quillt. Die fidele Wissenschaft hat stets eine lange Anfahrt hinter sich, auf der ihr merkwürdige Dinge passieren, so dass Erleben und Erdenken, sich Ausleben und Sich-Ausdenken jetzt in einem Fluss dahingleiten: das ist wahre Wissenschaft, zur Freude des informierten Bürgers, der dafür gern Eintrittsgeld zahlt, denn wahres Wissen, das weiß er tief in seinem Herzen, gibt’s nicht umsonst, Buchverkauf inklusive.
Apropos Bürger – sie sind alle da, von Ama bis Zara, die Fürstinnen der VeränderBar: hier sitzen sie, schenken einander ihr ansprechendstes Lächeln und genießen … Zirkuleit. Aufhalten, stimmt er sein Publikum ein, lässt sich die Wahrheit nie: wahre Wahrheit dient … dient … den Interessen der Emanzipation. Mucksmäuschenstill sind die Interessen der Emanzipation, wenn der Meister die Worte setzt, immer eins vor das andere. Die Geister der Aufklärung wandern in der Kulisse mit, sie verdoppeln den Schritt, sie geben ihm Hall.
Gäbe es keine Wissenschaft, gäbe es auch nicht ihre Parodie. Das leuchtet ein, doch in der Praxis vermengen sich die Inszenierungen. Niemand kann sicher sein, nicht zu Füßen der Parodie zu sitzen, im Hörsaal nicht und im Bürgersaal auch nicht. Im tiefen Ernst der wahren Wissenschaft glüht gedämpft das alte Feuer des Fanatismus. Welcher Fanatismus der größere ist, der des Konformismus oder des Nonkonformismus, das weißt du nit.
Hier wie da ist der Erwartungsdruck groß.
Ama, eingesponnen in Feld-Wald-Wiesen-Träume von einer Kunst, die still mit den Wassern fließt und gemächlich am Blumenstiel emporrankt, empor bis zu den blinkenden Sternen in einem Firmamentmosaik, angefertigt für die Firma Zeidler & Co, Rechnung beiliegend, bei Abholung zu begleichen, am besten bar auf die Hand –: Ama lockt, die mildesten ihrer Mittel zum Einsatz bringend, Tronka an der Höhle des abwesenden Löwen, sprich Momptis Atelier vorbei, still die ausgewaschenen Treppenstufen empor ins Kunstkämmerchen, wo, zwischen goldenen und silbernen Schälchen, auf gewachster Eichenebene, überzogen von den Adern und Runzeln des ewig lebendigen Werkstoffs, ihr persönlichstes Blattwerk ausliegt, umrankt von farbenfroh blinkenden Stiften, in denen die Fülle des Universums sich mit der Kraft der Erde verbindet, Gaia, der Großen Atmenden, deren Atem Kraft für sie zwei enthält, wie sie nun sich gemeinsam über das halb und halb im Entstehen Begriffene beugen, dem ebensoviel noch Unbegriffenes, dem Entstehen Voranschwebendes gegenübersteht, so die Bilanz des Milden und des Scharfen, des Kräftigen und des Nachgiebigen, des Erstaunlichen und des still zu Betrachtenden, in der Betrachtung sich entbergenden Einfachen hin zu einem geheimen Mittelpunkt ausgleichend, den es umzittert, umschwebt, umwebt, umschwirrt, umflirrt, umflimmert, bis Tronka, weitgehend schummrig im Kopf und geschwellt von alltagsfernem Zartgefühl, die goldenen Worte spricht, nein, zu sprechen sich anschickt, – denn sie legt ihm den gleichfalls goldenen Finger auf die darob geadelten, die Kühnheit ihres Schwungs spontan übertreibenden, im Augenblick etwas rissigen Lippen, ihn solcherhand schweigen heißend.
Sobald Tronka mit dir zu sprechen beginnt, nimmt er diese überlegene Pose ein, er wölbt sich innerlich vor, als müsse er seine Sätze springen lassen, so wie man sagt, jemand lässt eine Runde springen, er spendiert sie, er kann es sich leisten, er pfeift auf die Unkosten, sie jucken ihn nicht, jedenfalls nicht in der Situation. Gleichzeitig bleibt er am Rande, ein wenig, als schütte er sie beiseite, wie eine Bühnenfigur, die bereits ihren Abgang vorwegnimmt, auch wenn der Haupttext noch nicht gesagt ist. Warum er das tut? Das zu ergründen wäre eine Abhandlung wert. Du wirst sie nicht schreiben. Willst du sie schreiben? Nein. Warum eigentlich nicht? Tronka ist ein ungewöhnlicher Gelehrter, un vero filosofo, genügt das, um ihn links liegen zu lassen? Offenbar.
Was ist das für eine Wissenschaft, in der einer wie Tronka links liegen gelassen wird, als existierten seine Arbeiten nicht? Was ist das für eine Gesellschaft, in der einer wie Tronka die Gründe für seinen Misserfolg bei sich selbst suchen muss? Wer suchet, der findet. Wer mit gewaltigen Suchorganen ausgerüstet ist, der findet Gewaltiges. Tronka ist ein rüstiger Finder. Weil er alles auf die Spitze treibt, findet sich alles dort, weithin sichtbar, vor Angst bebend, es könne im nächsten Augenblick herunterfallen. Ist diese Angst reell? Offenbar. Offenbar nichts. In diesem Winkel der Gesellschaft ist alles offenbar und es ist alles nichts.
Ruffmann zum Beispiel, der ewige Kollege, gönnerhafter Freund der örtlichen Schwulenszene, ist viel zu sehr mit seiner Karriere beschäftigt, um in ein Gespräch mit ihm einzutreten. Tronka, a black hole. Jeder Versuch, mit ihm zu debattieren, erübrigt sich, denn man müsste ihn vorher lesen und dazu reicht die Weltzeit des Durchschnittsgelehrten, den nächsten Kongress vor Augen, nicht aus. Einer wie Ruffmann fühlt den Imperativ, sich nicht zu verzetteln, bereits am Frühstückstisch. Tronkas Bücher sind schwer: sie wiegen schwer und sie lassen sich, bis in den letzten Satz hinein, schwer entziffern, jedenfalls dann, wenn Entzifferung bedeutet, den darin liegenden Sinn zu entschlüsseln. Besitzen sie deshalb keinen? Oder ist schon die Antwort auf diese Frage gleichgültig? Falls ja, dann ist die Existenzform all dieser Gelehrten nichtig.
Weil dem so ist, wiegen auch deine Gespräche mit ihm schwer. Jedenfalls ist das die Empfindung, die sie begleitet. Du kommst nicht von ihnen los, das ist die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit? Die Wahrheit ist: du würdest gern von ihnen loskommen, immer wieder suchst du den Moment des Absprungs. Und ein ums andere Mal verpasst du ihn. Auch du schiebst ihm die Schuld zu, niemand zu sein. Ist Tronka niemand? In welchem Sinn? Auch Ama ist niemand, aber das gehört sich so und sie wüsste nicht, was an ihrer Existenz falsch genannt werden dürfte. Ama ist Ama. Ist Tronka Tronka? Tronka ist ein Kunstprodukt der Gesellschaft. Eine Schwellenfigur: entstanden aus der Notwendigkeit zu existieren, vereint mit der Unmöglichkeit, als der durchzugehen, der er ist oder wäre, besäße er dazu das nötige Ansehen, das jene ihm konsequent verweigert.
Viele vermutlich, allzu viele, um jedem von ihnen ein verbrieftes Recht auf Anerkennung zuzugestehen. Zu wenige allerdings, um eine Macht darzustellen, die um Anerkennung zu streiten imstande wäre. Gerade da liegt der Hase im Pfeffer. Die Tronkas dieser Welt sind zu emanzipiert, um jenen Emanzipationsprozess zu durchlaufen, der aus Problemgruppen gesellschaftliche Akteure zaubert, imstande, konsequente Image-Arbeit zu betreiben und irgendwann politische Schlüsselpositionen zu besetzen. Jeder Tronka ist mit derselben Selbstverständlichkeit Genie, mit der jedes anständige Genie die gesellschaftliche Skala zwischen Verachtung und Verehrung durchmisst. Es sind die unanständigen Genies, die sich im Glanz steter Anerkennung und gleichbleibender Selbstachtung sonnen. Nichts für Tronka! In seinem Gemüt besitzt der Anstand die Funktion des Zeigers: worauf er auch zeigt, es ist gerichtet oder auserwählt – zwei Weisen desselben ›Seins‹.
Nicht sonderlich viele, sollte man meinen. Aber das heißt nicht viel. Den Tronka-Anteil misst man nicht nach Prozenten, auch nicht in Promille. Man misst ihn nach Gemeinschaftserlebnissen, aus denen er sich davonmacht. Wie oft hast du beobachtet, wie Tronka verschwand, aus dem Raum diffundierte, sobald sich ein Kreis von Kollegen zur Selbstfeier zusammenfand? Ein-, zwei-, fünfmal? Es ist eine Urszene. Tronka in trauter Unterredung mit Dürrobst, halb abgewandt vom Rest der Gesellschaft im diffusen Licht einer Fensternische das Sektglas zwischen den Händen drehend, besitzt Erheiterungswert: So nicht! Wie dann? Nicht immer stiehlt sich Tronka davon. Abgesichert durch den Cordon seiner Jünger kann er einen Tisch halten, ohne ein einziges Mal aufzublicken, erkennbar entschlossen, die Stellung gegen die Lemuren zu verteidigen, deren Treiben er nichts weiter entgegenzusetzen weiß als unverbrüchliche Nichtbeachtung.
Ama und Tronka, vereint im Café –: sich das vorzustellen fällt leicht, leichter jedenfalls als
anderes, einen wandernden Tronka im Gebirge zum Beispiel oder eine strickende Ama. In ihrem Dasein ist
das Stricken, als falsche Geste, verpönt. An seine Stelle trat die sinnende Handhabung der
Pastellstifte, deren akkurates Zusammenspiel einem Stein, einer zerlappten Wiesenblume oder einem
rostigen Stück Draht auf dem Papier die Aura doppelter Leblosigkeit verleiht. Für Mompti ist das
›wichtig‹. Es entbindet ihn familiärer Pflichten und nährt das Gefühl, verstanden zu werden. Er sieht
nicht die Konkurrenzgebärde darin, er leidet, aber er leidet diffus. Auch Tronka leidet, doch das
Gespräch mit Ama entlastet ihn. Nein, er fühlt sich nicht verstanden, schon gar nicht von Ama. Ganz im
Gegenteil: ihre Gegenwart erlaubt ihm die Empfindung maximaler Distanz. Nicht dass ihn ihr Magnetblick
verschonte – er empfindet ihn und fühlt sich belustigt.
Auch Ama fühlt sich belustigt.
Jedenfalls entnimmt er das ihrem Signalement.
Nofretete das Biest
Sekretärin von nebenan. Leben zwischen gezupften Augenbrauen und passendem Lidschatten, passend zu was? Ihrer Erscheinung, ihrem Style, ihrer Art sich zu geben, Passivität in Arbeit zu verwandeln und Arbeit in Schweben.
Das Biest. Niemandem untertan als der Stunde, härteste aller Gegebenheiten, der sich die Abläufe unterordnen, träg oder hastig, in diesem: Es ist genug.
Apart. Das passiv Herrschende, Stein des Anstoßes, durch keine feministische Attacke aus dem Weg zu räumen.
Parenchyma: beiläufig, der Stoff, in dem das Leben spielt.
Kannten die beiden sich, bevor das Projekt sie zusammenbrachte?
Diese ab-ovo-Vertrautheit sollte dich misstrauisch machen.
Sich nichts dabei denken:
Regelverstoß Nummer eins.
Du hast dir nichts dabei gedacht.
Und jetzt?
Denkst du dir etwas dabei?
Was denkst du dir eigentlich dabei?
Nichts Bestimmtes.
Es rumort in dir, aber es kommt nichts heraus.
Also: Lege etwas hinein.
Angenommen, sie kannten einander nicht: Woher die Vertrautheit? Wie es scheint, aus Erfahrung. Zwei Erfahrene begegnen einander, denen der jeweils andere kein X für ein U vormachen kann. Zwei Grundattitüden begegnen sich und ergänzen einander zum Paar. Wunder der Symmetrie! Ebenbürtigkeit der Geschlechter! Damit ist die Liste der Ähnlichkeiten dann auch geschlossen. Es ist, als seien sie auf verschiedenen Sternen geboren und mit so unterschiedlichen Bedürfnissen aufgewachsen, dass bereits die Nahrungsaufnahme inkompatiblen Ritualen gleicht. Ama, die Nicht-Köchin, stellt ihre physische Bedürfnislosigkeit heraus, wo immer sie kann. Man ahnt kaum, wie sie zu ihrer üppigen Figur kommt und vermutet verschwiegene Exzesse. Tronkas Rede hingegen atmet Völlerei, wo immer sie dazu Gelegenheit bekommt. Blickt man auf den zurückgehenden, mit derben Köstlichkeiten überladenen Teller, so bleibt davon wenig übrig. An der Verzehrfront schrumpft Tronka zum sparsamen Esser. Spräche er nicht eifrig dem Vino rosso zu, der den Frascati fast völlig verdrängt hat, so könntest du ihn als Krümler bezeichnen. Unwichtig ist das nicht.
Ama, bäuerlicher Herkunft, mimt die aparte Frau. Sie ist aber nicht so apart, dass nicht die Herkunft sich mit Wucht gegen die exzentrische Lebensform würfe. Die angemessene Weise zu leben, so das Diktat ererbter Leiblichkeit, ist die Zuführung materieller Güter, Probe um Probe, Stück für Stück, jeden Tag ein wenig mehr. Das Ergebnis dieser umfassenden Einverleibung der äußeren Welt ist Amas Körper: derb und apart zugleich, entfernt einer Anakonda ähnelnd, die ein Rind verspeist hat – allerdings ohne dadurch an Beweglichkeit eingebüßt zu haben. Tronka dagegen, der Sitzriese, neigt ›von Haus aus‹ zu jener rundlichen Fülle, der er unentwegt das Wort redet. Aber irgendetwas in ihm bremst sie aus, bevor sie ihr Ziel, ihr Telos, wie er zu sagen beliebt, erreicht. Nicht schmal, aber schmächtig, überaus lebendig in seinem Widerspruch, ein Geist in einer Flasche, innen vom Rotwein beschlagen, ein Monument unfreiwilliger Askese, die auf Magenprobleme deutet.
Tronka kocht gern, just for fun, um sich selbst zu beeindrucken, so wie er in jungen Jahren ein Theaterstück schrieb, um dem Genie eine Alltagsgestalt zu geben, die sich sehen lassen konnte, und es damit ein für allemal festzuschreiben. Beim Kochen ist der Mensch nackt: so denkt Tronka und gibt dieser fixen Idee, wähnt er sich unter seinesgleichen, hemmungslos nach. Selbstverständlich gehört auch der Kontrollwahn zum Spiel:
DER MENSCH IST NUR DA GANZ MENSCH
WO ER ZU SPIELEN SCHEINT
Betonung auf Schein. Nie würde er das so ausdrücken, er würde die schillernde Phrase lachend zurückweisen, das Lachen würde eine Zeitlang in seinem Gesicht stehenbleiben, während letzteres, einem inneren Befehl folgend, sich bereits anders sortierte. Tronka kocht, wie er sich das Leben gern denkt: beidhändig zupackend, detailverliebt bis zur Zweckumkehr, im Dauerdialog mit den Kräutern, den Gemüseblättern und vor allem dem fast noch zuckenden Fisch, den er gleich zu verzehren gedenkt.
Der Augenblick, in dem das Fett zu sieden beginnt, ist ihm der liebste – es ist so weit.
Der Tanz kann beginnen.
Solche Momente kennt Ama nicht. Ihre biologische Dienstanweisung lautet auf Sex, keuschen Sex, um genau zu sein, keine billige Anmache oder dergleichen. Ihrem Blick, alles andere als sanft, eignet eine leichte Starre, er geht durch dich hindurch, er fixiert dich an einem Punkt weit hinter deinem Rücken, also gar nicht, obwohl das Wort ›gar‹ hier seinen Sinn verfehlt. Ihr Blick will gesehen werden, er trinkt dich, ja, er trinkt dich hinterrücks, er leert den Becher und lässt ihn zurück. Wen immer Amas Blick streift, er ist ein Zurückgelassener, er muss sich rütteln, um wieder der alte zu sein. Und da liegt der Irrtum.
Wie man es nimmt: stark oder gar nicht. Frühere Generationen hätten ihr einen Zaubergarten angedichtet oder, gleich Kirke, einen Schweinekoben. Versuch’ es nur! Ein Wort davon und die halbe Welt lacht sich tot. Glaub nicht, du hättest die andere Hälfte auf deiner Seite. Sie verstünde einfach nicht, was du meinst. Sprich das Wort ›Zauberin‹ – und die Welt, beschränkt und verlogen, wie sie nun einmal ist, gibt dir zurück: ›Hexe‹. Von Männern verbrannt und jetzt auf dem Vormarsch: die starke Frau. Die autonome Frau. Ausgewiesen durch autonomen Sex. Pervers (falls es das überhaupt gibt) und mutig. Keins dieser Walleweiber, Mutter Erde verkörpernd, die eine Zeitlang die Vernissagen beherrschten, Zwischenfiguren einer unentwegt sich weiter wandelnden Szenerie.
Um das herauszufinden, müsstest du Mompti befragen. Und dazu, sorry, fehlt dir der Mut. Quatsch. Du weißt seine Antwort im voraus. Nachbohren: dazu fehlt dir der Mut. Nachbohren müsstest du schon, weil von ihm aus nichts käme, was zu hören sich lohnte. Der domestizierte Mann hält die Frau, der er sich unterordnet, für das wichtigste seiner Werke. Niemals dran rühren! Das klingt etwas seltsam, da auch dieses Werk, wie jedes, aus Berührung entsteht. Aber: So ist das Leben. Was ist ihm so wichtig, dass er die Augen, so offen er sie auch hält, vor Ama verschließt, so dass kein Sonnenstrahl der Erkenntnis hindurchdringt? Dass Ama existiert? Dass nichts sie in Frage stellt? Wie sähe das aus: sie in Frage stellen? Änderte sich ihr Aussehen? Spräche sie anders? Explodierte seine Beziehung? Aber sie ist längst explodiert, er trägt die Brandnarben im Gesicht. Selbst das leise Lächeln, das hin und wieder auf das Gesicht einer Freundin tritt, wenn die Rede auf Ama kommt, registriert er wohl. So unempfindlich ist er nicht, dass er nicht verstünde. Aber er nimmt die Botschaft nicht an, so wie er den Spott nicht zuließ, der einst seine Berufung in Frage stellte. Davor hütet sich Ama. Da liegt sie, die Botschaft, gleich neben der Tür, jeder steigt darüber hinweg, als sei sie dort nie deponiert worden. Frischer lässt sie das nicht erscheinen. Nichts sieht vergammelter aus als eine verjährte, nicht angenommene Botschaft. Niemand beschmutzt sich gern, indem er sie anfasst. ›Fass mich nicht an!‹ steht in unsichtbaren, aber für jedermann lesbaren Lettern auf ihrer Hülle. In welcher Handschrift? Wer schreibt so etwas? Vergebliches Fragen. Vergeblich auch, die Augen davor zu verschließen, dass hier etwas nicht stimmt. Was sollte nicht stimmen, da doch alles in Ordnung ist? Schon die Frage klingt, als enthielte sie ein Sakrileg.
Kein Ehedrama zu haben ist ebenso schwer wie die Handhabung eines Zeichenstifts. »Mach etwas draus und du hast schon verloren.« So oder ähnlich lautet Momptis Devise. Sie prangt nicht auf der Schwelle, sie ist die Schwelle. Sie droht nicht, sie löscht. Es ist mühsam, über diese Schwelle zu gehen.
Ama ist keine Hexe. Ama ist ein Besatzungskind.
Wo Mompti schweigt, schwadroniert Tronka. Diskret, wie er nun einmal ist, weiß er alles über Ama und ihresgleichen. Woher? Egal, er weiß es und du wärest der letzte, ihm zu widersprechen.
―Man muss sich Ama als jemand vorstellen, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Ich sage nicht, die Erde hat sie gemacht, das wäre Nonsens, ich sage nur: Ama hat Herkunft. Wie sie in diesen ’68er-Zirkus geriet: keine Ahnung. Ist das wichtig? ’68 war längst vorbei, sie hätte zu Hause bleiben können. Lach nicht, sie hätte zu Hause bleiben sollen: das ist meine ehrliche Meinung. Jemand hat sie dort abgeholt, vermutlich Talentsucher, das gabs, das lief mit den Mädels nicht anders als mit den Jungs – die Jungs zum Fußball, die Mädels zum Drumrum. Ama ist ein Drumrum-Mädel, glauben Sie mir. Wer genau hinsieht, merkt es noch heute. Kein Kind von Traurigkeit, aber: gesund. Feste Waden. Einmal ist das vorbei und dann kommt das Erwachen. Kein böses, igitt, nur so ein … Erwachen eben. Pech für Mompti, aber so ist das Leben. Außerdem hat er Glück: Ama ist klasse. Damit meine ich jetzt nicht ihre Bilder, davor möge uns der Kunstgott bewahren, aber Ausstrahlung hat sie, dick wie die Stallluft, aus der sie herstammt. Versteh mich da nicht falsch, sie wäre nicht mein Geschmack, aber beurteilen lässt sich das schon. Ama hat Aura. Doch, sie hat. Glaube einem erfahrenen Romantiker: Das ist Aura. Und jetzt lass mich bitte aus, ich habe noch zu tun.
Geht es um Frauen, tönt Tronka falsch. Manchmal klingt es, als rede er sie sich von der Seele.
Ama, Tronka betreffend:
―Dieser Mann ist ein Hochstapler. Bitte lasst mich mit ihm allein.
Ist Ama mutig? |
Ihr Mut erschöpft sich darin, morgens aufzustehen, in die Küche zu gehen und sich Kaffee zu holen. Nicht, dass sie dafür ihren ganzen Mut zusammennehmen müsste, sie hat ihn nie erprobt. Sie weiß nur. sie hat Reserven, aber sie empfindet panische Angst davor, sie anzugreifen. Das gibt ihr den sanften Gang, der nicht geschmeidig wirkt, sondern verhalten, einen Dreiviertelgang sozusagen, mit Luft nach oben. – »Gehts noch langsamer?« bekäme ein Mann, der so ginge, über kurz oder lang zu hören. Und schon begänne für ihn ein Spießrutenlauf ohne Ende: »Lahmer Sack!« Keiner käme auf die Idee, mit Ama so umzuspringen. Zu sehr ist sie Vertreterin ihres Geschlechts, das ganz und ungeteilt in ihr ruht. Wie vermutlich jeder Mann spürst auch du, wie tief es beleidigt würde, ließe einer die Hunde der Hast auf sie los. |
Ist Ama pervers? |
Es gibt Tage, da wirkt sie, als sei sie dem surrealistischen Bilderbuch entsprungen: ein Stück Nacht am hellen Tag, kein bleicher Mond, eine ausgeschnittene Schwärze, in der sich nichts spiegelt, während alle Augen sich nach ihr drehen. Alle? Da irrst du dich. In der Menge ist Ama unauffällig. Ama ist die Frau, die dir in den Weg tritt: zufällig, absichtslos, ein Ärgernis, nicht wieder gut zu machen. Darin gleicht sie Tronka. Einem Tronka begegnet man nicht auf der Straße. Wer Menschen nur von der Straße kennt, weiß gar nicht, dass es einen wie ihn gibt. Das ist, auf Tronka bezogen, normal. Tronka braucht Raum, um zu reden. Ama braucht Raum, um sich zu entfalten. Sie braucht nicht viel, im Grunde genügt ihr der engste, sie kann Raum schaffen, sie schafft ihn, wann immer ihr danach ist. |
Was ist pervers? |
Dass jemand sexuelle Gewaltphantasien mit sich herumträgt? Wie armselig muss man sein, um so zu denken. Das ist auch pervers, kein Zweifel, aber eine wie Ama erreicht man damit nicht. Amas Perversität – worin besteht sie? Darin, dass sie ihre Umgebung umdreht. In die richtige Richtung? In die falsche? Falsch gefragt. Sie dreht sie um und sie läuft von Stund an rückwärts. Mompti läuft rückwärts. Er kann seine Augen öffnen, so weit er mag, es nützt ihm nichts. In der Richtung, in die sie ihn lenkt, besitzt er keine. Und wenn er dort welche besäße, wären sie ihm zu nichts nütze. Er weiß nicht, dass er rückwärts läuft, er darf es nicht wissen, die Kränkung wäre zu groß. Auch Tronka läuft rückwärts, solange ihr Zauber wirkt. Wie armselig klingt der Spott des großen Spötters, sobald er in ihre Nähe gerät. Ist er befangen? Ein Tronka ist nicht befangen. Dabei bricht ihm die Befangenheit aus allen Poren. |
Ist Ama kalt? |
Dumme Frage. Stupid, sehr stupid. Ama, so bizarr sie sich gibt, führt die Geschäfte. Das hindert sie nicht daran, das Füllhorn ihrer nächtlichen Depressionen über Mompti auszuschütten, so dass er bleich und gerädert in seinen neuen Tag startet, während sie frisch neben ihm die Zügel in die Hand nimmt, sobald die rosenfingrige Eos den Horizont absteckt. Dieses Nebeneinander von Frische und Depression, diese Frische aus Depression, dieses Tagundnachtwesen ist ihre Signatur. Das Geld, das ihr Angst macht – es könnte auch etwas anderes sein, vorausgesetzt, Momptis Sorglosigkeit suchte sich über Nacht ein anderes Revier –, die unausgesetzte Sorge ums Geld zerstreut und sammelt ihre Kraft und bewirkt ihre tägliche Verwandlung in eine Hoheit sans titre, die jede Berechtigung in den Grund tritt, wie berechtigt sie immer sein mag. |
Ganz einfach: es liegt am Zeichenstift. Jedes Fragezeichen, das du ihr gönnst, zieht einen weiteren Strich, zieht ihn, gleich dem Vorgänger, aus dir hervor, und jetzt steht er da. Hat sie auch dich umgedreht? Wer weiß. Du weißt es nicht. Du willst es ebensowenig wissen wie Tronka. Und noch einen Zug habt ihr gemeinsam. Mompti fühlt ihr euch überlegen. Er ist der Mann, dessen Fall offen zutage liegt. Kein Mitleid weit und breit, eher lüsterne Rachsucht: wie er sich schlägt, so ist er, wie er aus der Sache herauskommt, so wird er gewesen sein. Und wie schon? Sie wird ihn verlassen haben, ihre Spur in ihm wird verblichen, sie wird erloschen sein, unerinnerlich. Ama, bleiche Witwe, lange, allzu lange Zeit an ein Wrack gebunden, einen Mann, der Ansprüche erhob, ohne sie einzulösen, sie wird das Feld behaupten. Sein beachtliches Œuvre wird ihr Beachtung sichern, es wird ihr Werk sein, ihr ausgeschlagenes Erbe, ihr ungeborenes Werk, ihr verhindertes Werk, ein Totschlag an dem, was hätte sein müssen.
In Wahrheit ist sie die Zerstörerin seines Werks.
In Wahrheit?
In deiner Wahrheit?
Woher der
Groll?
In Wahrheit ist nichts dergleichen.
Wenn Ama Mompti umgedreht hat, dann deshalb, weil etwas in ihm darauf lauerte, rückwärts zu gehen, als alle Zeichen auf ›vorwärts‹ standen. Gib einem Menschen freie Bahn und er verschanzt sich hinter Hindernissen. Das Hindernis, hinter dem sich Mompti verschanzt, heißt Geld. Ama nimmt es wichtig, so wie sie alles wichtig nimmt, was ihm wichtig ist. Darin liegt schon die Umkehr. Alles, was sie wichtig nimmt, bringt ihn zur Strecke. Mompti ist eine Künstlernatur, er muss mit dem Geld in der Tasche klimpern können. Dann fühlt er sich wohl. Seit er weiß, dass es Ama ums Geld zu tun ist, fürchtet er, es könnte ihm ausgehen. Tatsächlich, der Zustrom lässt nach. Seit Ama mit Mompti zusammenlebt, fürchtet sie sich. Sie fürchtet sich vor dem Geld, es ist ihr fremd, es kommt ihr vor, als sei es ein Rohstoff, dessen Vorrat unerbittlich zur Neige geht. Bevor sie Mompti kannte, wusste sie nichts von ihrem Künstlertum, seitdem sie mit ihm zusammenzog, ist es da und gebiert diese Angst.
Dazu fällt dir nichts ein.
Warum?
Weil es heikel ist.
Was soll daran heikel sein? Wenn in jedem Menschen ein Künstler steckt, dann ist auch Ama
Künstlerin. Das ist eine Definitionsfrage. Ama umgeht die Definitionen, aber sie probiert jede aus.
Außerdem will sie sich kostbar machen. Was ist für Mompti der höchste Wert? Erraten. Iris hat recht,
mehr steckt nicht dahinter. Es steckt aber mehr dahinter, als Iris weiß. Dass jeder Mensch ein Künstler
ist, setzt voraus, dass jeder Mensch Künstler sein will. Das aber ist ein Künstlertraum. Was sind
Künstlerträume? Träume, die ausgeträumt sind, sobald die Realität sich mit ihnen vollsog. Ama, die nur
Angstträume kennt, hat den Traum in sich aufgesogen, sie lebt ihn und ist grenzenlos ernüchtert. Ein Mensch,
der nüchterner wäre als sie, lässt sich nicht ausdenken. Wenn du an sie denkst: denke daran, wie
nüchtern sie ist. Du musst ihre Nüchternheit stets in Rechnung stellen, alles andere wäre ein Fehler.
Bedenke: sie ist weitaus nüchterner als du. Kommst du damit zurecht? Kannst du das: eine Nüchternheit
denken, die deine eigene übersteigt? Aber das ist vielleicht keine Frage des Denkens mehr.
Neigte Mompti zur Eifersucht, er müsste auf alle Welt eifersüchtig sein. Amas Wirkung bleibt dieselbe, gleichgültig, ob sie unwillkürlich, provoziert oder – feiner Unterschied! – unbedacht ist. Nur das Vorzeichen wechselt – Plus oder Minus. Gewitzte Männer wissen Bescheid. Besonnene geraten in Bedrängnis und suchen sich daraus zu befreien. Arglose fühlen sich angesprochen und fallen in eine Benommenheit, der nur schwer zu entkommen ist. Vorsichtige begegnen einer wie Ama mit Geringschätzung und greifen nächtens auf sie zurück, dem Maurer gleich, der sein Frühstücksbrot in der Pause entpackt, nachdem er es vorher im Kopf ›ganz nach hinten‹ geschoben hatte. Dort hinten aber, dort brodelt die Lava und manchmal fallen Stücke davon ins siedende Meer.
Dass Ama nur auf Männer wirkt, hältst du für ein Gerücht. Könnte sein, dass sie stärker auf Frauen wirkt. Doch für das Wie hast du keine Skala. Warum? Weil du dich nicht in sie hineinversetzen kannst? Seltsames Argument, wenig überzeugend, ausgesprochen dünn sogar: so zimperlich bist du sonst nicht. Warum hier? Wenn du Scheu empfindest, so gehe ihr nach. Es gibt so viele Arten davon, dass es Dummheit wäre, gleich bei der ersten Eingebung abzuschwenken. Wo Scheu ist, da ist das Tabu nicht weit.
Auf welches Tabu bist du da gestoßen? Stört es dich, dass Ama auf Lesben wirkt? Liegt da die ›Perversion‹? Bist du befangen? Sicher? Ganz sicher? Nein. Wirkt Ama auf Lesben? Ehrlich gesagt, der Gedanke lässt dich kalt. Er kommt nicht an dich heran. Er ist künstlich. Amas Geheimnis: sie wirkt auf jeden. Geschlecht, was ist das? Schon das Wort ›Geheimnis‹ wirkt fehl am Platz. Du solltest es ausstreichen.
Amas die Geschlechtergrenzen annullierender Eros erstaunt dich mehr und mehr. Er scheint neu und uralt zu sein, etwas, das von beiden Seiten zusammenwächst und das andere verschlingt, nein, überwuchert, so dass es blass und harmlos aus dem Hintergrund schimmert … das geregelte Leben an der Geschlechtergrenze, am Abgrund des Geschlechts, wie die korrekte Bezeichnung lautet, am Sankt-Andreas-Graben der Menschheit –: vielleicht ist diese Bezeichnung die korrekteste, denn die Vorstellung, dass alle hundert bis hundertfünfzig Jahre ein gewaltiges Beben die angestauten Spannungen bereinigt, begleitet den westlichen Kulturkreis seit langem. Zweifellos sind ›wir‹ Zeitzeugen eines solchen Bebens, Ama so gut wie du, mit dem Unterschied, dass Ama, von der Peripherie kommend, magisch attrahiert von den Kräften der Verwerfung, von Beginn an unaufhaltsam ins Zentrum hineinsteuerte, während du…
Das gehört nicht hierher.
Kitty, eheliche Kratzbürste, glättet und schärft ihre Krallen, bevor sie sie sorgfältig wegschließt. Mit Sibla hat sie ein Hühnchen zu rupfen, aber das hat Zeit. Mehr als Zeit, es ist ein Ewigkeitsspiel, das da entbrannte.
Sibla ist The Man Who. Welches sind die Kriterien, welche The Man Who erfüllen muss? Er muss
Hervorzuheben sind die Punkte 1, 4 und 7.
Der Mann, dem Kittys Herzschlag gelten soll, muss wichtig sein. Der wichtige Mann zeichnet sich durch eine Doppeleigenschaft aus: er nimmt sich selbst wichtig und wird wichtig genommen. Tief im Herzen attestiert Kitty sich ein sicheres Gespür dafür, wann dies der Fall ist. Gertenschlank, wie der Spiegel sie zeigt, würde sie sich, falls einer ihr das Wort nahelegte, ohne Zögern als Wünschelrute bezeichnen, die unfehlbar ausschlägt, sobald sie in die Nähe eines solchen Individuums gelangt. Ist es denkbar, dass einer wie Sibla dieser Person genügt? Dass sie mit ihm ihr Auskommen findet? Offensichtlich nicht. Und dennoch: Es muss einmal geschehen sein.
Und es wirkt fort und fort.
Zwischen Kitty und Sibla – sorry, aber es muss gesagt werden – herrscht ein Altersunterschied von zehn Jahren. Er herrscht, auch das sollte an dieser Stelle gesagt werden, unumschränkt, soll heißen: aus welcher Perspektive du das Verhältnis der beiden auch untersuchst, immer stößt du auf ihn. Er ist der Generalschlüssel, der diese Beziehung aufschließt, das Sesam-öffne-dich der zwischen beiden mit antiker Zwangsläufigkeit abrollenden Geschichte. Zehn Jahre – das hält die Mitte zwischen dem väterlichen Freund und dem gleichaltrigen Spiel- und Bettgenossen, es bedeutet werbende Autorität, die jederzeit beiseitegesetzt werden kann und dennoch aus allen Poren hervorschimmert. Es bedeutet einen uneinholbaren Vorsprung an Weltdeutung, daraus unmittelbar hervorgehender Kompetenz in praktischen Lebensdingen und damit…
… Verantwortung. Kitty, die verantwortungslose Kindfrau, unfähig, sich der Anziehungskraft des Drogen-und-Alkohol-Milieus auf Heranwachsende aus Bordmitteln zu entziehen, ist irgendwann in seine Hände hinübergeglitten, weniger, weil es zwischen beiden ›gefunkt‹ hätte, vielmehr, weil es ihr deutlich leichter fiel, mit ihm mitzugehen, als seiner kümmernden Werbung einen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Gewiss, ein Kümmerer ist Sibla bis auf den heutigen Tag, da er sich praktisch um nichts mehr kümmert, ein Kümmerer von Geburt wie irgendein Geburtsadliger, dessen Adel irgendwann in der Gosse gelandet ist, um dort heller denn je zu strahlen. Und dass sich einer um Kitty kümmern musste, war nicht bloß für ihn offensichtlich. So herrscht in diesem Punkt zwischen beiden eine vertauschte Symmetrie: die Aufgabe, die nun einmal existierte, blieb an ihm hängen, weil Kitty an ihm hängen blieb, und sie blieb an ihm hängen, weil … er sich um sie kümmerte, nein, weil er tiefer als andere empfand, dass einer sich um sie kümmern musste.
Hätte Kitty ihn eines Tages gefragt: Willst du die totale Verantwortung, so hätte er mit sanftem Augenaufschlag geantwortet: Nein, Kitty, die will ich nicht. In diesem Leben trägt jeder für sich Verantwortung. Alles andere liefe darauf hinaus, sein Karma zu beschädigen, und das, liebe Kitty, das kannst du nicht wollen. Forsche in dir und du wirst finden: Du kannst es wirklich nicht, selbst dann nicht, wenn du es wollen wolltest. Dein Karma ist unzerstörbar. Und da sie aus ihrem Umgang mit den Halb- und Dreivierteltoten der Szene bereits wusste, dass es bei den Männern irgendwo auf diesen Punkt hinausläuft, hat sie, als kluges Kind, die Frage nie gestellt. Stattdessen hat sie sich an ihn geschmiegt und ihn gebeten, sie bloß bis an die nächste Straßenkreuzung zu begleiten, dort warte bereits ein Kumpel und sie müsse heute noch jemanden besuchen. Auf diese Weise haben sie in ihrem gemeinsamen Leben viele Straßenkreuzungen passiert, bis Sibla das Muster irgendwann akzeptierte. Man nennt dergleichen Gewöhnung, aber es ist noch etwas anderes dabei, die List der Unvernunft, welche höher ist als alle Vernunft, jedenfalls macht sie in der Regel zuschanden, was die andere aufträgt.
Wenn aber der geborene Kümmerer Sibla diese Funktion in Kittys Leben übernehmen durfte, dann deshalb, weil sie insgeheim beschlossen hatte, die Welt mit seinen Augen zu sehen – insgeheim, weil sie wusste, dass sie sich in diesem Punkt keine Blöße geben durfte: schließlich geschieht, was hier geschieht, auf dem Höhepunkt der Los-vom-Mann-Bewegung des westlichen Weibes, und so sehr die clevere Kitty damals das Vollweib mit der Kraft des in stürmischen Tagen gewachsenen Ressentiments ablehnte, so wusste sie doch, dass diese Welt gerade an den Orten nach echten Frauen verlangte, an denen ›frau‹ dem Weiblichkeitskomplex aus vollem Herzen auf jetzt und immerdar entsagte.
Man kann sich fragen, ob Sibla der Aufgabe, seiner nachreifenden Anbeterin eine weltanschauliche Rundumversorgung zu bieten, in jenen überaus heiklen Jahren denn auch gewachsen war. Zu seinem Glück stellt sich die Frage nicht wirklich, einesteils, weil Selbstzweifel seinen ein wenig einfältigen Geist ohnehin nicht anfochten (sie sollten ihn erst ein paar Jahre später, dann aber vehement, überkommen), anderenteils, weil er sich gerade in der fraglichen Zeit entschlossen hatte, sein Herz über die Hürde zu werfen und an die Stelle seiner kindlich-christlichen Erziehung den östlichen Mystizismus des großen Bhagwan Shree Rajneesh zu pflanzen: vornehmlich deshalb, weil der Gedanke der Erlösung des Individuums durch das Sexualorgan in ihm auf eine tief empfängliche Seele traf, aber auch aus anderen, weniger privaten und erst später zu erörternden Gründen.
In Wirklichkeit – es schmerzt, an dieser Stelle einen gänzlich anderen Ton anschlagen zu
müssen –, in Wirklichkeit war, ist und wird Sibla auf ewig als verantwortungsloses Subjekt
seine Bahn ziehen: Casanova mit einem Lederbeutel anstelle des Herzens, dem er von Zeit zu
Zeit ein wenig Stoff entnimmt – denn auch er ist süchtig, mit dem kleinen, aber feinen
Unterschied, dass bei ihm die Sucht nach Anerkennung alle anderen Süchte überwächst, bis sie
schließlich von der gefährlichsten überhaupt zum Aschenputtel degradiert wird, der
Fixationssucht, die kein dringlicheres Anliegen kennt, als alle Dinge der näheren und
weiteren Umgebung, eingeschlossen die angetraute, aber gefährlich fluide Frau, an ihren Platz zu
bannen und mit Schlössern, Riegeln und ausgeklügelten Warnsystemen dafür zu sorgen, dass nichts
wegkommen kann.
Was hingegen die Zukunft angeht, die ewig unerfüllte, ewig makellose, ewig künftige…
FLOP
Die Welt … sie kennt unterschiedliche Flops, langweilige, weniger langweilige, ausgesprochen kurzweilige, lehrreiche… Sibla, daran kann kein Zweifel bestehen, fällt unter die lehrreichen. Sein verborgenes Schaffen, so empfindet es Kitty, atmet bis in die kleinste Lebensritze hinein Au… Au… Authentizität, der Mann ist, was er ist, ein Goldstück des reinen, unverfälschten Willens … aber zu was? Gut erinnert sich Kitty an eine Band, die jahrelang Siblas häusliches Aufnahmestudio frequentierte, ihn hin und wieder, wenn Not am Mann war – nein, wenn der Termin bei ihm auf der Kippe stand, weil der Respekt, der erforderliche Respekt ein wenig zu lange auf sich warten gelassen hatte –, die ohnehin selten eingesetzte Tuba blasen ließ, es entstanden auch ein paar Gesangsaufnahmen mit ihr, das hatte sie eine Zeitlang sehr bewegt, bis sie herausbekam, dass man sie als Lückenbüßerin eingesetzt hatte und sie nicht eine Sekunde lang als Sängerin in Erwägung gezogen worden war … da verwandelte sich ihr lange schwelender Groll über Nacht in flammenden Hass und sie warf die ganze Bande, den kalkbleichen Sibla an ihrer Seite, aus dem Haus und aus dem Sinn.
Die Antwort lautete klipp und klar: Keineswegs. Ihr gefällt nicht, mit wem ihr Sibla musizierend die Zeit totschlägt, es gefällt ihr ganz und gar nicht, denn in der Finsternis ist ihr ein Licht aufgegangen und lehrt sie zu sehen, was sie immer schon hätte sehen können, hätte nicht grenzenlose Leichtgläubigkeit sie daran gehindert: die kleinen Vorteilsschiebereien, den Unernst der Rollenverteilung, das dreiste Plünderungsverhalten der neuen Freunde, einmal aus der Schule, in der Sibla seit ein paar Jahren Stunden gibt, dann wieder aus dem Nichts auftauchend und in ihm verschwindend, stets ein Stück schlecht genutzter Lebenszeit mit sich nehmend, ganz, als hätten sie beide nichts Eigenes, das zu leben sich lohnte, und seien nur da, damit die anderen sich ein Stück aus dem Ihren herausschneiden konnten.
Sibla, stets offen für neue sexuelle Praktiken, ist sich ganz sicher: der Unterschied zwischen Freiheit und Unterdrückung befindet sich zwischen den Beinen. Dort jedenfalls wird er messbar und das Maß heißt: Versagung. Entsprechend lautet der Imperativ, unter den er sein Leben gestellt hat: Versage dir nichts! Andere mögen darin eine Anleitung für egoistische Exzentriker sehen, Sibla, frei von aller Blasiertheit, weiß es besser: Im Geschlechtsakt, wie er ihn versteht, vollzieht sich die Vereinigung kosmischer Substanzen, die ohne ihn ziel- und normlos durch ein entgeistertes All taumeln würden. Die Versagung, aus der richtigen Perspektive in Augenschein genommen, stellt daher einen heimtückischen Anschlag auf den Kosmos dar, die lebendige, in jedem Wesen manifest werdende All-Einheit, dem die verderbliche Wirkung auf dem Fuß folgt. Man kann es seine Idee der Vollständigkeit nennen: Der Mensch ist vollständig nur da, wo er im Gebrauch des Geschlechts keinen Einschränkungen unterworfen ist. Jede Einschränkung, die sich der Mensch in diesem Punkt auferlegt (um von denen zu schweigen, die ihm von außen auferlegt werden), zerstört die geheimnisvollen Fäden, die seine psychophysische Einheit mit dem All verknüpfen, und verkrüppelt damit seine Person.
Ist das schon Fu? Nicht ganz. Es ist Mystizismus, insofern gerade das Gegenteil. Wie man sieht, gilt in diesem Fall der Satz les extrêmes se touchent auf dramatisch gesteigerte Weise: in der Theorie streben die Modelle auseinander, in der Praxis verschränken sie sich bis zur Ununterscheidbarkeit, insofern – ein gefährliches Wort! – beide Male der gesunde sexuelle Appetit im Mittelpunkt steht.
Vor der Hand ist Kitty dabei. Hinter der Hand … sieht es anders aus. Hinter der Hand hat Kitty längst begriffen, dass sie die Einschränkung verkörpert, dass sie, jedenfalls aus seiner Sicht der Dinge, Sibla verkrüppelt. Der Groschen fiel, als zum wiederholten Mal Eifersucht von ihr Besitz ergriff und das Verbot, das über derlei Anwandlungen hing, sich plötzlich, seine unschöne Rückseite preisgebend, umkehrte. Das sorgsam zurückgehaltene Wissen verleiht ihrem Verhältnis die bitterscharfe Note, es öffnet dem illusionslosen Realismus die Tür, ein scharfer Wind der Verachtung durchweht den Tempel, den die Anbetung sich geschaffen hat und weiterhin emsig mit getrockneten Blumen schmückt.
Ist’s Lust? Ist’s Rache? Die Emotion ist ein rasender Trichter, wer hätte Lust, auf ihrem Rand spazieren zu gehen?
Tronkas Terrier Hiero, die Brunft in Person, zögert keinen Moment, das Terrain zu erkunden. Er findet es, nach der ersten Hitze, dürftig, nicht der Rede wert, doch auch das ist nur eine Redensart. Fest hält ihn Kitty umklammert, seit sich zu ersten Mal ein Laken über dem Zappelwesen schloss, in dem der Mensch sich dem Absoluten nähert, das ihn, aufs Papier gebannt, in endlose Zweifel stürzt. Nach und nach findet Hiero, die Rede vom kleinen Tod sei in diesem Fall doch recht passend:
Er meint es ernst. Aber nicht so ganz.
Die Beziehung Tronka – Pida betrachten, als sei sie vergangen.
Lösung
Und wenn es so wäre? Wenn es längst so wäre?
(Warum ist das wichtig für das Projekt? Weil beide das Projekt sind. Sie beide kommen aus Fus Küche. Sie sind die Köche, sie sind das Mahl. Nur beim Abwasch geht es regelmäßig auseinander.)
(Wärest du an Tronkas statt, würdest du anders handeln? Vermutlich nicht. Tronkas Denken ist für dich ein offenes Buch. Du blätterst darin. Verschwimmen die Buchstaben, bist du bei dir selbst.)
Die Beziehung zwischen Tronka und Pida starb in einer Nacht. Sie starb und wurde geboren in jener Nacht der Erpressung, da Pida etwas erzwang (erzwingen zu müssen glaubte), was sich für Tronka bis dahin von selbst verstand, ohne dass er anzugeben vermocht hätte, worin es bestand. Einem Dritten gegenüber hätte er es wohl seine ›Liebe‹ genannt und sich gewundert, wie widerstrebend das Wort über die Lippen kam, ohne sich sehr zu wundern, das Wort stand unter ihresgleichen nicht hoch im Kurs und musste ohnehin mit künstlich gekräuselten Lippen artikuliert werden. Im Probierstadium des Begehrens ist jede Bezeichnung recht, ausgenommen die Platzhalterin für Bezeichnungen, die erst noch erfunden werden müssen. Dennoch war es Tronka bewusst, dass in seinem Fall sich ein ganz persönlicher Widerwille hineinmischte – eingeflößt nicht durch die Natur des Begehrens, sondern durch physische Ausstrahlung. Pidas Schwangerschaft hatte diesen manchmal leisen, manchmal vehementen Widerwillen in einem schmerzhaften Prozess pulverisiert, so dass Tronka fast über sich erschrak, als in der bewussten Nacht sein alter ego bei Pidas ersten Worten aufsprang und schweigsam, mit verschränkten Armen, dabeistand, während das leidenschaftliche Gespräch seinen Fortgang nahm.
›Nimm mich oder verschwinde aus meinem Leben.‹ Hat er sie ›genommen‹? In welchem Sinn? Natürlich hat er sie genommen – schon deshalb, weil er den Grund nicht fand, der ihn hätte veranlassen sollen, gerade zu diesem Zeitpunkt aus ihrem Leben zu verschwinden. Währenddessen sah sie offenbar tausend Gründe, die sie aber vor ihm nur als seine gelten lassen durfte, obwohl es doch, nüchtern betrachtet, ihre eigenen waren. Pidas erste Erpressung, so viel steht fest, galt ihr selbst. Aber mit fast demselben Recht ließe sich dasselbe von der zweiten behaupten, mit der sie ihn ins Korsett ihrer Befürchtungen presste. In jener Nacht der Verzweiflung schworen sie einander … nicht ewige Treue, sondern ewige Freiheit: die Freiheit zu gehen, wann immer es einem von ihnen passte. Das war zwar, von außen betrachtet, nichts weiter als die rechtliche Lage und daher kaum der Aufregung wert. Doch angesichts der in Pida angeblich reifenden Leibesfrucht war es eine von ihr auf Tronka projizierte und von ihm eine Spur zu eifrig angenommene Lüge.
Wie in fast jeder Lüge steckt auch in dieser ein Körnchen Wahrheit. Pidas Schrei nach Freiheit, nach sexueller Selbstbestimmung in jeder erdenklichen Lage, ist echt. Sie benützt Tronka … wozu? Um sich zu binden, ohne sich zu binden. Sie stürzt sich in ihre Beziehung wie in einen unausweichlichen Schwindel, tief deprimiert von der Aussicht auf die mit ihr heraufziehende Depression. Damit aber … damit aber … macht sie sich zum Fall. Die erste Person, die das bemerkt – die einzige, die es bemerken soll –, ist Tronka. Pidas Depression bindet ihn: nicht aus Liebe, nicht, weil sie einen Vertrag eingingen, sondern aus Verantwortung. Kein Freiheitsgelüst kommt gegen das wabernde Depressionsgeflecht an, das ihn zu Hause erwartet. Erwartet es ihn? Erwartet ihn etwas?
Nicht einfach, diese Frage zu beantworten. Kein bisschen einfach, um die Wahrheit zu sagen, denn die Wahrheit, die Wahrheit … was an Pida ist wahr? Ist sie eine Lügnerin? Eine notorische Lügnerin? Eine, der es nicht auf die Wahrheit dessen ankommt, was sie behauptet? Tronka schwankt. Wäre es nur sein Urteil, das schwankt, er könnte gut damit auskommen. Schwankende Urteile sind sein Metier, der feste Gang der Wissenschaften vollzieht sich auf schwankendem Fuß, er setzt sich zusammen aus einigen großen und vielen kleinen Mikro-Entscheidungen, die jederzeit, wenn es die Sache gebietet, revidiert werden können. Das gilt für die eigenen Überzeugungen in nicht geringerem Maße. Gut gelaunt würde er so weit gehen, hinter den gegründeten Überzeugungen andere, schwerer zugängliche und daher nur unter großen Mühen revidierbare zu vermuten, gewissermaßen ins Holz eingewachsene, für die bekanntlich die Bezeichnung ›Psyche‹ bereitsteht.
Nichtsdestotrotz: Pidas schwankende Wahrheit scheint ihm aus anderem Holz zu sein. Dieses tanzende Auf und Ab einer Person – nicht irgendeiner, sondern der Person an seiner Seite –, teilt sich auf anderen Wegen als durch Beobachtung mit. Es lässt ihn mitschwanken, als lägen ihrer beider Boote vertäut in irgendeinem Hafenbecken und würden gemeinsam von der Bugwelle eines vorbeiziehenden Kutters erfasst. Richtig ist dieses Bild nicht, da die Unruhe, der Grund seines Mitschwankens, aus ihr selbst hervorströmt, ein endloser Strudel, der ständig für Reibereien sorgt. Pidas bewegliche Wahrheit bricht sich an keiner Mole, sie rauscht durch bis an den Horizont. Kein Faktum hält sie auf. Der härteste Einwand, kaum formuliert, beginnt unverzüglich in ihrer Suada mitzutanzen und zeugt gegen den, der ihn formuliert hat, als bestünde darin sein angestammter Verwendungszweck. Nemo contra naturam nisi natura ipse. Gegen die Natur ist kein Kraut gewachsen, nur ihresgleichen. Das gilt für die zweite und dritte genauso wie für die erste.
Nicht sich bringt Pida zur Welt (das müsste sie wissen :-)), sondern ihr Gesetz.
Fassung 1: | Du musst dir fremd sein, wenn du dir nah sein willst. |
Fassung 2: | Du weichst der Nähe, die dich verschlingt. |
Fassung 3: | Sieh zu, dass du weg bist, ohne zu gehen. |
Fassung 4: | Dieser Schlaf kennt kein Erwachen. |
Fassung 5: | Festhalten und weitersuchen. |
Fassung 6: | Ich muss leben. Dafür tue ich alles. |
Pida ist fruchtbar. Das steht außer Zweifel. Außer Zweifel steht auch, dass alles, was ihr zustößt, etwas ins Leben stößt, das besser verborgen geblieben wäre, jedenfalls aus Tronkas Sicht, aber das ist nicht verbürgt. Tronkas Erkenntnisdrang spielt vielleicht so etwas wie den Geburtshelfer. Aber das ist ihm nicht bewusst. Pida hingegen leidet darunter und kompensiert Leiden durch Fremdheit. Sie macht sich fremd, um nicht leiden zu müssen: darin zeigt sich ihr Leiden. Ist das Psychologie? Nein. Es ist das Gesetz. Sie weiß: alles ist ganz anders. Woher sie das weiß? Sie weiß es ja nicht. Es ist ihr aufgegeben. Immer wieder kommt sie darauf zurück. Das ist ihr Wissen. Leben, als Aufgabe betrachtet, bedeutet Selbstaufgabe. Gib dich auf und lebe. Gib dich nicht auf und du zerstörst dich auf der Stelle. Schlafe den Niemandsschlaf. Erst wenn du jedem zu Gefallen bist, bist du niemandem zu Gefallen. Jeder ist jeder. Du darfst keine Ausnahme machen. Nimm dich aus: dann bist du im Spiel.
Maxime
Wenn du in eine Kreissäge läufst, achte auf einen geraden Schnitt.
Parabel
Die entfangene Frau lebt durch ihr Geschlecht. Ihr Geschlecht sagt ihr, dass kein Gott sei. Dieser Satz versetzt sie in Unruhe: Sie schwingt. An ihrer Tür steht das Wort »AUFRUHR« in Großbuchstaben und: »Diese Tür bleibt zu«. Die Tür ist angelehnt und jeder kann herein. »Da ist Platz«, tönt eine Stimme, »wenn du willst, lass dich nieder.« Nach einiger Zeit geht der Fremde hinaus und kehrt nicht zurück.
So geht die Parabel, aber die Wahrheit tickt anders. Der Fremde ist kein Fremder. Er ist der Vertraute und beobachtet sein eigenes Kommen und Gehen. An der Innenseite der Tür liest er das Wort »WAHL«. Er kann nicht ergründen, an welcher Stelle die Wahl geschieht: vor der Tür, auf der Schwelle oder nachdem sie passiert wurde. Es ist auch gleichgültig, weil die Wahl nichtig ist. Keine Wahl hält die entfangene Frau. Ihre Freiheit ist absolut.
Pida und Ama, Ama und Pida, Ama als Pida, Ama statt Pida, Pida für Ama: denkbar ist vieles. Welche Form es in Tronka annimmt, hängt nicht von Tronka ab, sondern von den Umständen. Ama ist Tronka fremd. Er spiegelt sich in ihrem Gebaren und findet sich: abstoßend. Er fühlt sich von ihr durchschaut, aber nur dort, wo es weh tut. Ama annuliert sein Verdienst, sie annuliert seinen Wert, sie annuliert seine Werte, nicht anders als Pida, aber mit diesem wissenden Blick, der ihn abschätzig streift. Dieser Blick, sagt sich Tronka (er muss es sich sagen, denn es bleibt ihm kein anderer Ausweg), dieser Blick vernichtet dich, aber nicht ganz. Er lässt ein Gluthäufchen übrig, gerade groß genug, um deinen Widerstand anzufachen. Widerstand? Wogegen? Gegen Ama? Das wäre lächerlich. Sie ginge triumphierend darüber hinweg. Bleibt nur Pida. Warum Pida? Ist sie nicht vom gleichen Holz? Mag sein, doch du hast sie adoptiert. Du gleichst ihre Mängel aus, wann immer du ihnen begegnest – bei dir selbst, bei den anderen. Du hast es aufgegeben, sie bilden zu wollen, ihre Bildung ist fertig, was nicht heißen soll, sie sei perfekt. Im Gegenteil: Sie ist das Imperfekte, das niemals ankommt und nicht vergeht.
Wenn Pida tanzt, tanzt sie für sich allein. Ein Leuchten liegt auf ihrem Gesicht, ein fremder Vogel, Tronka könnte ihn greifen und forttragen, mit sich forttragen, irgendwohin, weit weg, denn dieser Vogel, er weiß es, hat seine Seele gegessen, irgendwo unterm Gefieder, da muss sie sein. Kaum erinnert sich Tronka, sie jemals besessen zu haben, nur dieses Gefühl der Vollständigkeit, das ihn befällt, wenn er sie schmerzhaft vermisst, lässt ihn daran zweifeln, dass er sie jemals verloren hat. Solange Pida tanzt, gehört ihr Leuchten ihm. Warum? Weil sie mit sich allein ist. Mit sich allein? Was heißt das? Alles dreht sich um sie – das heißt es. Nicht mehr, nicht weniger. Sie scheut jede Berührung, weil alles sie berührt. Die Welt dreht sich um sie. Nicht wie ein Rummelplatz, wenn man das Karussell bestiegen hat, die alte Leier hebt an und die Haare fliegen, nicht so, anders. Wenn Pida tanzt, wird alle Welt Blick, sie spürt den Druck auf ihrer Haut, tief geht die sanfte Fülle in sie hinein und Pida gibt sie zurück: als Leuchten, das von innen zu kommen scheint, und ihre Haut erglänzt.
Jene Nacht … worin liegt ihre Bedeutung? Nicht für die beiden, das liegt auf der Hand, sondern fürs Projekt? Die Beziehung ist eine Beziehung ist eine –: Wann wird sie zur Lebensform? Wie wird sie zur Lebensform? In Nächten wie dieser greift sie nach der Ehe, dem alten Lebensbund, voller Angst, in ihr zu vergehen. Sie will aber nicht vergehen, sie will ihr Recht gegen ein älteres Recht erhalten, das der Familie, und weiß sich keinen anderen Rat als die Beschwörung des Endes. Wenn es aus ist zwischen uns, lass mich gehen. Halte mich nicht, schwöre, dass du kein Recht erwirbst, mich zu halten. Schwöre, dass du morgen kein Recht an mir erwirbst. Was erwirbst du dann? Was erwerben wir dann? Eine Lüge. Die Lüge des Beisammenseins, als führten wir eine Ehe. Die Lüge der Ehe, als seien wir beisammen. Das Jawort selbst wird die Lüge sein. Auch Neinsagen würde nicht helfen: es wäre Lüge. Jetzt, auf dem Weg zum Standesamt, umkehren – auch das wäre Lüge. Wie es ist, kann es nicht bleiben, und wie es wird, kann es nicht sein. Wir werden verheiratet sein und uns jeden Tag sagen: Das kann nicht sein. Darin also zeigt sich die Beziehung, wenn sie zur Lebensform wird: als Pein, aufgelockert durch Momente des Vergessens und der forcierten Bejahung, die prompt ins Leere geht.
Das Experiment ist das eine. Die Leute sind das andere. Kann man mit Leuten experimentieren? Gestern noch hättest du gesagt: Mit wem sonst? Heute bist du dir dessen nicht mehr so sicher. Was hat dich verändert? Die Leute? Warum denn das? Du kanntest sie vorher. Haben sie sich verändert? Kein Jota, um ehrlich zu sein. Sie nützen dein Angebot ohne hinzusehen. Es schert sie nicht, wieviel Wasser sie dabei verschütten. Es könnte Taufwasser sein und es juckte sie nicht. Sie leben ihr Leben, was sonst, und du lieferst ihnen … einen kleinen Kitzel? Eher schon die Rechtfertigung … das gute Gewissen, um genau zu sein, schlechtes zu gutem, also doch die Taufe –
Da übertreibst du aber ein wenig. Sie und du und du und sie – wo liegt der Unterschied? Ihr seid alle aus einem Holz. Die Pyramide ist die Gesellschaft. Allein deshalb wurde dein Projekt durchgewunken. Ah ja, das müsste man mal systematisch angehen. Gute Idee! Auch Leckebusch, angesprochen, fand es eine gute Idee. Das hätte dich misstrauisch machen müssen. Stattdessen hat es dich beruhigt.
TABULA PRAEDICTORIA
1
Warum einen Menschen zerstören, wenn es darum geht, die Familie zu zerstören?
2
Warum die Familie zerstören, wenn es darum geht, das System zu zerstören?
3
Warum das System zerstören, wenn es darum geht, die Ökonomie zu zerstören?
4
Warum eine Ökonomie zerstören, wenn es darum geht, ein System zu zerstören?
5
Warum ein System zerstören, wenn es darum geht, eine Familie zu zerstören?
6
Warum eine Familie zerstören, wenn es darum geht, einen Menschen zu zerstören?
Welcher Mensch mag das sein?
Der Name dieses Menschen ist Leckebusch
Nicht zum Opfer ist Leckebusch geboren, sondern zum Helden. Das prädestiniert ihn zum Opfer in einem Land, das sich glücklich schätzt, keine Helden zu brauchen. Er weiß nichts davon, als er dieses Land betritt, denn das Land, aus dem er geflohen ist, brauchte Helden, sie wurden Verräter genannt, sobald sie die Maske lüfteten. Auch heute weiß er es nicht und wird es niemals erfahren. Denn seine Rolle ist die des tragischen Helden ohne Wiederkehr, ohne ›Apotheose‹: Leckebusch ist, in unserem ›Spiel‹, der letzte Vater.
Wer wird ihn töten?
Tronka, wer sonst.
Auch Tronka ist prädestiniert: Hagen, ewiger Siegfriedtöter, unwissend, dass er Siegfried ist und
dass sich in Fafner Siegfried verbirgt, der Lindwurmmörder aus der Unteren Fafnergasse, dass alle Rollen
nur Spiel sind und alles Spiel Verrat, Verrat an den, der danach kommt, Verrat an dem, der davor kam, an
dem, der es ernst meinte und verschwand, Verrat an sich selbst, als sei das Selbst ein anderer und man
selbst ginge derweil spazieren, einfach so, weil ein Mensch atmen muss.
Tronka meint es ernst.
Was bedeutet ›ernst‹?
Es bedeutet, die Rolle nicht ›spielen‹ zu wollen, sondern auszufüllen, teils wie ein Formular, in das man sich einträgt, damit es abgestempelt und zu den Akten gelegt werden kann, teils wie ein Behältnis, aber so, dass nirgends Luft bleibt, es also in jeder Hinsicht als ›voll‹ betrachtet werden kann. Bleibt die Frage des Drucks, mittels dessen der Inhalt in die Form gepresst wird, der als Spannungsgeber zwischen Inhalt und Form weiter besteht. Tronka erscheint, als Person, druckvoll –: er steht unter Druck, er kann, er darf sich nicht entspannen, es sei denn, er fällt aus der Rolle, was Spannungen anderer Art mit sich bringt.
Auch Leckebusch meint es ernst. Auch er steht unter Spannung, auch er trägt sich ein, ad acta, mit glatter, kühler Handschrift, die ein wenig wackelt, sobald es an die Fixierung des Namens geht, an den er, anders als Tronka, nicht glaubt. So wie er ihn redend verschleiert – und nur auf Nachfrage preisgibt –, so setzt er schreibend voraus, dass jeder ihn kennt und im voraus respektiert: eine nicht ganz falsche, aber auch nicht ganz richtige Annahme, die unterschlägt, dass, selbst im Leben eines Gelehrten, nicht alles Schrift ist. Was dann? Wäre der Schatz, den er hütet, aus purem Gold, sein Name wäre es auch. Niemand weiß das ganz genau und der Name … so ein Name weckt Zweifel. Leckebusch zu besiegen ist Pflicht. Wessen Pflicht? Jedermanns Pflicht.
Auch in Tronka steckt ein Jedermann und will heraus.
Der kluge Student hat noch eine Frage.
Es fällt dir leicht, Tronka reden zu lassen, nicht wahr? Du könntest ihn tagelang schwadronieren lassen, ohne Punkt und Komma, nach Strich und Faden, als Sprechpuppe, als Horizontabsucher. Du meinst seinen Horizont zu kennen, nicht wahr? Kennst du ihn wirklich? Nein, kennst du nicht. Du lässt ihn reden, weil er nichts aus sich herauslässt. Darin gleicht er dir. Du lässt ihn reden, weil sonst du reden müsstest. So redest du und redest durch ihn hindurch. Es macht dir nichts aus. Eifersucht? Weshalb? Wozu? Was immer sie spielen, dein Projekt bleibt es doch. Lass sie spielen, sie brauchen es ja. Was Elisabeth an Fafner, pardon, an Leckebusch bindet, wie willst du es nennen?
Das pure Gold/Gift der Konvention.
Leckebusch ist verletzlich, verletzlich gleichgültig, falls die Wortverbindung hier taugt. Was taugen Wörter angesichts solcher Wörtermacher? Liegt hier nicht doch Konkurrenz vor? Oder Verdammtsein? Wörter für diejenigen zu finden, die für alles Wörter finden, nur um zu beweisen, dass auch diese stumm sind, bar aller Eigenpenetranz, eine Handvoll Zierfische in einem Haifischbecken, wissend, dass ER existiert, auch wenn sie ihm nie begegnet sind. Elisabeth wäre nicht töricht genug, das Lauernde ›SIE‹ zu nennen, obwohl sie dazu neigt, die Sprache ihrer feministischen Anbeterinnen zu persiflieren – zu tief sitzt der alles vorwegnehmende, nichts belegende, durch nichts – außer durch den Tod, der nicht gilt, als fait social – belegte Schrecken, ohne den der Mut nur ein Kindermut wäre, ein Mütlein.
Diese spontane Geschlechterverrechnung, wo, in welchen Teilen des Gehirns, womöglich der DNA, ist sie angelegt? Alle bekannten Mythen sind männlich/weiblich, das Neutrum ist ein Spätprodukt, Eigendisziplin, ein Stück Zivilisation. Zerfällt die Welt, so zerfällt sie in Männer und Frauen. Zerfallen Männer und Frauen untereinander, so zerfällt der Mythos. Selbstverständlich kennt er auch weibliche Schreckgestalten: Gorgo, Kali… Sie überbieten den männlichen Schrecken – durch Erwartungsenttäuschung. Folge dem Mythos und du kommst überallhin. Auch zur Vernunft? Zum letzten Schrecken? Der letzte Schrecken, jenseits von Tod und Vernichtung: die grausame Frau.
Eine Männerphantasie? Gewiss. So gewiss wie weibliche Schönheit. Die richtige Frau ist unempfindlich gegen ihre Anmutungen und findet sich in jeder Gestalt: schön. Aber gewiss doch. So hätten sie’s gern, die Hüterinnen des Geschlechts. Leider speist das Geschlecht auswärts und die Hut gilt der Leere. Ist Elisabeth eine richtige Frau? Ist sie keine richtige Frau? Ist sie ein Kunstprodukt der Männergesellschaft, das zerstört werden muss? Ist sie selbst eine Zerstörerin? Sicher, sie wird Leckebusch zerstören, aber ist sie eine Zerstörerin? Wer wagt es zu behaupten, dass sie eine Zerstörerin ist? Sie besitzt den Zauber. Welchen Zauber? Sie ist schön, sie erscheint begehrenswert bis weit jenseits des Begehrens. Die Frauen starren sie an, ihre Blicke kleben an ihr, folgen ihr, legen sich ihr zu Füßen. Dort liegt schon einer, zusammengerollt, schlafend: Leckebusch. Er schläft, der Gute. Lass ihn erwachen und er wird leiden.
Was immer mit ihnen geschieht: Leckebusch und Elisabeth haben ein Kind, eines nur, aber das verändert die Perspektive.
Warum nur eines, könnte man fragen. Auch darauf gibt es, wie auf fast alles, unterschiedliche Antworten.
Tronka wird Vater, doch Vaterschaft ist abgeschafft.
Pida? Bleibt zurück, weil sie zurückbleiben will. Einer wird kommen (und noch einer).
Warum sagt Friedenwanger so etwas? Gerade er. Freundlich wie immer. Ratte. Hat Dürrobst ihn auf seine Seite gezogen? Oder hat er’s aus dem Rektorat? Tronka hält sich für informiert. Dabei schnappt er nur Zufallsbrocken auf. Hör nicht auf Tronka. Er liefert verzerrte Bilder. Achte nicht auf sein Gerede. Zieht Friedenwanger die Hand ab, wird es schwierig. Am besten sprichst du mit ihm. Worüber? Dass du ihn für eine Ratte hältst? Dass Du’s vom Rektor hättest? Oder vom Dekan?
dem die Gelder gestrichen werden, ist wie ein leckgeschlagenes Schiff. Es besteht keinerlei Grund, die Fahrt zu drosseln, schließlich reichen die Ölvorräte, die Lebensmittel, die Lektüren für den stillen Passagier und alles andere. Es reicht nicht nur, es ist reiner Überfluss, der zum Prassen einlädt, zur reinen Verschwendung, allerdings nicht ohne Ende, denn das Ende ist nahe und diese Nähe verändert alles, es treibt die wahren Interessen der Menschen hervor und die lauten: Rette sich, wer kann. Es ist gut, dass die Mannschaft einen kleinen Kenntnisvorsprung bekommt, auch wenn sie als letzte von Bord geht, denn jede Rettung will organisiert sein.
Schwieriger wird es, sobald das Gerücht sich verbreitet, das Schiff sei leck, ohne dass darüber Gewissheit
erlangt werden könnte. Ein Leck? Wo? Wer hat das gesagt? Wenn Friedenwanger so etwas loslässt, dann hat er seine
Gründe. Auch Tronka hat seine Gründe. Warum hat er es dir überhaupt erzählt? Warum hat er es so erzählt?
Wie steht er zu Friedenwanger? Was, wenn er die Quelle des Gerüchts wäre? Wenn er Friedenwanger aufs
Gleis gesetzt hätte? Schließlich ist er beteiligt und besitzt Insiderwissen. Mehr als das: er kann
von Pida nicht lassen. Das Projekt bringt ihn in Bedrängnis. Dafür bringt er jetzt dich in Bedrängnis: die einzige
Gewissheit, die du in dieser Sache besitzt.
Apropos: Weiß er von Dürrobsts Aktivitäten?
Natürlich weiß
er davon.
Es wird Zeit, dir einzugestehen: Tronka ist der weiße Elefant des Projekts. Er passt nicht hinein und gleichzeitig sitzt es ihm, vorausgesetzt, er bewegt sich nicht, wie angegossen. Wie der Zufall so spielt, ist Bewegung die Essenz des Projekts, gleichgültig, was der Philosoph von Essenzen hält. Tronka also hätte das Zeug, das Projekt zu sprengen. Warum in aller Welt hast du ihn zur Teilnahme genötigt (denn das hast du, es wäre verlorene Liebesmüh, das leugnen zu wollen)? Aus Neugier, gib’s zu, aus purer Erwartungsgier. Denn ehrlich gesagt, was wäre ein Projekt ohne weißen Elefanten schon wert?
Wenn aber Tronka ––? Was folgt daraus? Das will etwas gründlicher bedacht werden als Friedenwangers Ranküne. Falls – falls! – Tronka der Verräter sein sollte, so fühlt er sich existenziell bedroht. Tronka ist kein Intrigant und eigentlich will er dir nicht ans Zeug. Gerade in letzter Zeit seid ihr euch näher gekommen, fast wie Leute, die beim Herannahen eines Gewitters zusammenrücken.
Pida, so weit du das beurteilen kannst, ist dem Projekt verfallen. In den Papieren ist dieser Fall nicht vorgesehen, aber er ist nun einmal eingetreten und du musst dich der Tatsache stellen. Wenn Tronka dir die Schuld am Zerfall seiner Ehe gibt, dann seid ihr auf ewig auseinander. Alle Psyche ist mehrschichtig: je nach Höhe blasen die Winde in unterschiedliche Richtungen. Natürlich könntest du ihm auf den Kopf zusagen, seine Pida-Geschichte sei doch von Anfang an schiefgelaufen. Einem klugen Mann wie Tronka? Das wäre sehr unklug und albern obendrein. Er hat es zu jedem Zeitpunkt gewusst und aus der kunstvoll verschachtelten Überbrückung dieses Höllensubstrats seine höchst persönliche Lebensform entwickelt … so lässt sich das doch ausdrücken, oder?
Also…
nimmt das Projekt ihm mehr als nur die Frau (die in mehrfacher Hinsicht nie seine
war). Es zerstört ihm das mühsam erbaute Produkt dieser Jahre und begräbt ihn nackt unter seinem Schutt.
Das hast du nicht gewollt. Es tut dir leid.
Das ist bitter. Aber gibt es Tronka das Recht, das Projekt heimlich zu hintertreiben? Eine Beziehung zerbricht … wann immer eine Seite das will, aus dem oder jenem Anlass. Im Grunde ist sie nichts weiter als das: die unaufhaltsame Suche nach einem Anlass, der’s wert ist, dass sie an ihm zerbricht. Die Leute machen sich das nicht klar, obwohl sie natürlich im Bilde sind. Und Fu – Fu bringt es an den Tag. Auch ein Tronka sollte dir dafür dankbar sein. Sollte … Ist es menschenmöglich, gerade dafür dankbar zu sein?
Das Fu-Projekt muss Pida viel bedeuten. Oder auch nichts, da sie sich so leichtfertig über seine Regeln hinwegsetzt. Pida ist Pida und Fu ist Fu. Pida ist nicht zähmbar und Fu kein Verein zur Abrichtung sexuell auffälliger Zeitgenossen. Bitte halte das fest. Du hast dir in dieser Sache nichts vorzuwerfen. Niemals.
Wer sie hält, muss sie auch füttern.
Die Fütterung beginnt mit Abfällen. Das Abfälligste ist gerade gut genug: Es muss reichen. Wo nicht, muss nachgereicht werden.
Untersteh dich! Das ist keine Drohung.
Transzendenz ist eine Männerdomäne. Sorge dafür, dass sie nicht davonkommen.
Die Choreographie des Männlichen ist beschränkt. Schöpfe sie aus. Oder verhindere, dass sie zur Ausführung kommt.
Worin sie sich einrichten, darin sei ihnen über.
Krankheit ist Männerherrschaft. Mann macht krank. (Männlichkeit ist krankhaft.)
Der Zauberschlag des Hier und Da ist eine geschlechtliche Ressource. Du darfst sie niemals aus der Hand geben, nur so darfst du alles (und alles meint alles).
Wer den Männerpark betritt, tut dies auf eigene Gefahr. Sorge dafür, dass medizinisches Personal bereitsteht.
Der Park ist eine Wüste. Deine Aufgabe besteht nicht darin, Blumen mitzubringen.
Sei unversöhnt! Nur das Unversöhnte hat Aussicht auf Verwirklichung.
Vergiss nie: Du weißt, wer sie sind. Dieses Wissen ist unteilbar. Teile es mit!
Vergiss nie: Wo Sie sind, soll Du werden. Mache dich nicht gemein.
Frau sein heißt perfekt sein. Mann sein heißt sich in seiner Unvollkommenheit suhlen.
Sei nicht der Kopf der Bande. Wo doch, entmündige sie.
Versuche nicht fair zu sein. (Kein Mann ist fair.)
Sei, was sie sind. Versuche nicht, wie sie zu sein.
Falls du das nicht schaffst: Sei besser. Sei perfekt.
Es gibt keine Männerberufe. Es gibt bloß Männer, die einander berufen.
Nimm dir, was du willst. Lass es hinter dir, wenn dir danach ist.
Es gibt keine Frauenberufe. Zerbrich die Dienstbarkeit!
Frauen in Frauenberufen: verbotene Gesellschaft.
Berufung ist ein männliches Konzept. Zerstöre es, indem du es der Lächerlichkeit preisgibst.
Kein Mann vermag, was eine Frau vermag.
Kein Mann begreift, was eine Frau leistet.
Leiste dir alles.
Der Mann ist Tod. Die Frau ist Leben.
Alles, was du tust, gibt Leben. Alles, was du dir tust, gibt dir Leben.
Das Leben gehört dir und du gehörst dem Leben.
Der Tod ist ein männliches Konzept.
Vergessen ist eine soziale Urkraft. Bediene dich ihrer mit Umsicht und Stärke und sie bringt dich überall hin.
Maskuline Begierde = Wille zur Dominanz.
Kreuzige ihn am Holz seiner Begierden.
Gleichheit ist der Weg, Herrschaft ist das Ziel.
Gebäre dich aus dir selbst. Sei dein erstes und, wenn möglich, einziges Kind.
Alles ist möglich. Immer.
Der Weg aus der Erniedrigung führt über die Selbsterhöhung.
Unrecht, nicht wieder gutzumachen: dass Frauen Männer gebären. Dass es ihre ›Natur‹ ist.
Du willst Kinder? Die Welt ist voll davon.
Gebärtrauma, Mutter aller Traumata.
Verweigere dich einer Bestimmung, die deine sein soll.
Sei, die du bist. Sei, was du sein könntest.
Alle Versuche, Frau zu sein, führen in die Irre.
Alles Recht ist dein Recht oder Fremdrecht (Unrecht).
Der Hass geht vom Manne aus. Der Mann zwingt die Frau zu hassen. Aller Hass ist Hass auf das weibliche Geschlecht.
Die Nötigung, Frau zu sein, ist die Geburtsstunde des Hasses.
Niemand weißt, wer du bist? Sehr gut, du bist weiter.
Glaube nicht an dich, glaube an deinen Körper. Er wird dir alles Nötige sagen.
Glaube nicht an das, was du forderst. Fordere es!
Geschlechterkampf: aufs Äußerste gesteigerte Ungerechtigkeit, verbunden mit der Forderung nach Gerechtigkeit.
Entscheidend ist nicht der Schnitt, sondern der Gebrauch, den du von ihm machst. Das zu wissen macht dich unbesiegbar.
Die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit ist strategisch. Darüber hinaus ergibt sie keinen Sinn.
Verlässlichkeit ist die Summe aller falschen Prägungen. Sollte ein Mann dich ›verlässlich‹ finden, hast du falsch gelebt.
Der Glaube an die Menschheit ist männlich. Frauen denken menschheitlich.
Die Vernunft ist eine fremde Instanz.
Es gibt keine Unvernunft, nur das heilige Recht auf Regelverletzung.
Wer von Frauen verlangt, dass sie keine materiellen Interessen verfolgen, stellt sie unter Kriegsrecht.
Alle Sklaverei ist sexistisch (Mimikry am patriarchalischen Geschlechterverhältnis).
Es gibt keine Patriarchen. Der Kampf gegen das Patriarchat ist eine (notwendige) Finte.
Eine Frau, die sich zu etwas zwingt, ist eine unterwürfige Person.
Notwendige Regel: nicht der eigenen Propaganda auf den Leim gehen.
Alle Frauen sind Schwestern.
Der alles gebärenden Frau ist alle Welt ursprünglicher Besitz.
Du sollst deine Mutter gebären. Deine Mutter gehört dir (nicht umgekehrt).
Die Spur der Mutter in der Tochter ist das Gängelband der Abhängigkeit vom Mann.
Alle Freiheit ist männlich, also unfrei. Nimm sie dir und du zerstörst das Konzept Männlichkeit.
Alle Prinzipien sind auf Sand gebaut. Sei dieser Sand. Sei die Düne, die heute diese, morgen jene Gestalt annimmt und niemals an einem Ort bleibt. Sei der Irrtum der anderen und ihre Fata Morgana.
Zwischen Schwestern gibt es keine Gemeinsamkeit außer dem Schwester-Sein.
Der Kosmos ist die in den Himmel projizierte Unfruchtbarkeit des Mannes. Die Idee des Kosmos ist männlich.
Solange es einen männlichen Schöpfer gibt, ist jeder weibliche Kampf sinnlos.
Der männlichen Freiheit fehlt die Sorge.
Erobert die Kunst! Hängt Topflappen in die Museen! Macht jeden zur Unperson, der das lächerlich findet und nicht bereit ist, die Museen in Stätten öffentlicher Armenspeisung umzufunktionieren (solange es Armut als Produkt männlichen Wirtschaftens gibt).
Angst ist die Waffe der Frau, Sorge das Prinzip ihrer Herrschaft. So und nicht anders funktioniert Matriarchat.
Gleiche unter Gleichen zu sein, ist das natürliche Ziel der Frau.
Am Geschlechtergraben: Übe dich in Spiegelverhalten! Handle, wann immer es geht, nach dem Grundsatz »Das hast du jetzt davon.« Jedes Du ist auf Zeit.
Denke bei jeder Position, die in der Gesellschaft vergeben wird, dass sie dir zusteht. Was immer du noch dabei denkst, behalte es für dich.
Das Geschlecht des Mannes, den du lieben kannst (wenn es denn sein muss), ist polymorph, deine Liebe zu ihm politisch.
Der Geschlechtergraben lässt kein reelles Du zu.
Sehr geehrter Herr
Sehr geehrter Herr
Sehr geehrter Herr
Sehr geehrter Herr
Sehr geehrter Herr
So wird das nichts. Friedenwanger ist kein Herr. Weder ist er der Leichenbestatter noch ›eine distinguierte, über Personen und Dingen stehende männliche Person von untadeligen Manieren‹. Friedenwanger ist… Ausdrücke laufen über ihn um, die du dir bloß aus Selbstachtung nicht zu eigen machst. Und sie schwirren nun einmal im Raum. Warum schreibst du diesen Brief überhaupt? Um das Blatt zu wenden? Zu retten, was zu retten ist? Ach Gottchen. Du willst mit Friedenwanger die Klinge kreuzen. Also doch ›Herr‹? Nein. Neinneinnein.
DU WILLST DIESEN MENSCHEN OHRFEIGEN
Das ist das ganze Geheimnis. Gesteh es nur – du möchtest nicht einmal wissen, wie er darauf reagiert. Die bloße Vorstellung würde dir genügen.
Wie redet man einen solchen Menschen an? Wie redet man einen Menschen an, der sich einbildet, die Fakultät am Laufen zu halten? (Er zieht ein paar Leute mit.) Es gibt keine Anrede für den Verräter außer: Verräter! Und gerade diese ist durchgestrichen, sie ist lächerlich und verbietet sich von selbst. Herr Verräter! – das wäre noch etwas, Hohn vom Feinsten, aber: Perlen vor die Säue geworfen, genauer, eine Offenlegung von Schwäche, von gekränkter Hochachtung, die du dir verkneifen solltest. Dieser Mann verdient es weder Herr noch Verräter genannt zu werden. Man müsste ihn ›Unherr‹ nennen, um auf gleicher Höhe zu reden, das klingt wie ›Unrat‹ und träfe den Nagel auf den Kopf. ›Unherr gibt Unrat:‹ eine Seifenblase, die aufsteigt und zerplatzt, sobald sie die schönsten Erwartungen weckt. Nein, es ist nicht ratsam, schlafende Hunde zu wecken. Wer von den Kollegen mag den Einflüsterungen des ›Herrn‹ bereits erlegen sein?
Keine Ahnung.
Wie viele denken wie er und müssen bloß angetippt werden, damit auch sie Unrat absondern?
Keine Ahnung.
Nein, du weißt entschieden zu wenig, um dich auf solche Weise zu exponieren. Das Befremden der anderen wäre auf seiner Seite. Dieser Sardoniker würde dein Schreiben herumzeigen und grinsend den Gewinn des … Ehrlosen aus der Sache ziehen. Er würde… Er würde…
Tatsache ist: eine Ohrfeige macht ihm nichts aus.
Betrachten wir die Dinge eingehender. (Du und ich: ein Dream Team!) Unter Herren: wie stünde Friedenwanger da? Ach, da kommt sie bereits, seine sonore Stimme, ein Vöglein, setzt sich nieder in mein Ohr:
Ein bisschen pathologisch…
Natürlich wäre der denunzierte Kollege, sofern er sich wehrt, ein pathologischer Fall – keine Frage, es kommt nur darauf an, das herauszuarbeiten, langsam, kontinuierlich, feierlich, denn dabei handelt es sich um ein Ritual unter Abhängigen: Unabhängige wissen, woran sie leiden, und stellen ihre Pathologien freiwillig aus. Unter Forschern hingegen ist gerade das eine Frage maximaler Scham: Ich ein pathologischer Fall? Das entwertet meine Forschungen bis auf den Grund. Und wer spricht von Forschungen? Es entwertet meinen Ruf, meine Stellung, mein erweitertes Ich: Gerade darauf ist diese Falle angelegt und dein erster Impuls, falls du ihm nachgeben solltest, stürzt dich hinein. –
›Das ist doch schon pathologisch!‹ – Warum zirkuliert gerade dieser Satz so gern in Kollegenkreisen? Er besitzt keinen greifbaren Urheber, kein Mensch zeichnet dafür verantwortlich, er liegt gebrauchsfertig in der Luft, bereit, abgegriffen zu werden, sobald ein Bedarf sich abzeichnet. Ein fester Bestandteil der Kollegenwelt, wo immer sie aufblüht (jedenfalls nährt er diesen Verdacht), immer verfügbar, die Grund-Formel des Hintenherum: Achtung! Diese Person könnte gefährlich werden, falls sie es nicht längst ist. Wie lange geht das schon, ohne dass einer von uns etwas gemerkt hat? Und es beginnt ein Wettlauf im Gemerkt-Haben, jeder wusste früher Bescheid als der andere, viel früher, am besten von Anfang an: Ich habe schon damals zu Protokoll gegeben… (die vornehmere Form des Hab-ich’s-nicht-immer-gesagt?) Jetzt, da die Gefahr vor aller Augen liegt, lautet die Frage, wie wir damit umgehen – wir, die Gemeinschaft derer, die Bescheid wissen (eine Gemeinschaft mehr), denn der angemessene Umgang mit der Gefahr ist jetzt das Gebotene.
Ein kleines verschobenes ›Herr‹ … und alles ordnet sich neu.
Kein Herr ohne Dame (sollte man meinen). Wo Friedenwanger auftaucht, verdunsten, eine nach der anderen, die Damen. Zum Vorschein kommen … Frauen, attraktive und weniger attraktive, vor allem letztere, nachdem die attraktiven, aufgrund geheimer Vorverständigung, offenbar das Feld geräumt haben. Auf tritt ein Typus, dessen entschlossene Kämpfernatur unter der Maske der Biederkeit lodert – vorsichtshalber, denn eine gewisse Grundängstlichkeit erlaubt ihr keine ungehemmte Entfaltung, solange die Superiorität nicht gesichert ist. Ebner-Asperger zum Beispiel, das Mauerblümchen der Fakultät, Unternehmergattin mit großem wissenschaftlichem Ehrgeiz und von Rollenproblemen geplagt, schlägt sich auf Friedenwangers Seite, wann immer er das Machtspiel spielt … aber doch nicht ganz.
So behält sie, aus Sparsamkeitsgründen, wie es scheint, stets ein Stück ihres
werten Ich in der Hinterhand. Ihr ›Ich denke, das sollte genügen‹ ist bereits
legendär und ruft die Reihe der Sekretärinnen auf den Plan, die sich von ihr
kujoniert fühlen und sich wegbewerben, sobald sich eine Gelegenheit einstellt –
nicht ohne Grund, nicht ohne … Anlass, möchtest du schreiben, doch der Anlass
ist allzu oft Friedenwanger, in dessen Gegenwart sie in eine gewisse
Befangenheit stolpert … gewiss, sie stolpert hinein wie in ein vorbereitetes
Loch, dessen Vorhandensein sie immer aufs Neue überrascht. Dabei fühlt sie seine
Schwäche, sie fühlt sie ganz stark, fast schmerzhaft, gerade deshalb hält
sie sich an ihn, ein verkappter Schildknappe, wenn du so willst, sie deckt ihm
die Seite. Was soll ihr schon passieren, solange nur Friedenwanger nichts
passiert – so etwa könnte das zugrundeliegende Kalkül lauten. Aber, um die
Wahrheit zu sagen, da ist kein Kalkül, das sie beseelte. Die Befangenheit selbst
legt ihr die Worte in den Mund und sie hasst sich dafür, denn alle können es
sehen.
Davon ist sie überzeugt.
Friedenwanger, der (im eigenen Machtbereich) zum Jähzorn neigt,
hat keine Sekretärin. Er hat einen Sekretär. Stattdessen mag er es, von
weiblichen Schildknappen umgeben zu sein. Ein wenig Verhuschtheit
kann da nicht schaden.
Resultat (1): Friedenwanger ist kein Herr.
Wo Herr ist, da ist Knecht nicht weit. Die unsichtbare Distanz – so lässt sie sich nennen, obgleich sie in den meisten Fällen sehr sichtbar zu Buche schlägt – umgibt den Herrn wie eine Aura, geschaffen von dienstbaren Geistern, die ihn zwar nicht auf Händen tragen, aber seine Potenz, wie auch immer, zur Entfaltung bringen. Potenz … das klingt nach Sex Power und meint doch bloß … und meint doch bloß die Inanspruchnahme fremder Arbeitskraft, ablesbar an Friedenwangers Marotte, sich vom Sekretär den Füllfederhalter reichen zu lassen, wann immer es ein Formular auszufüllen oder eine Notiz zu Papier zu bringen gilt.
Herr sein, herrisch sein –: oberflächlich betrachtet, erfüllt Friedenwanger das Kriterium mit Leichtigkeit. Es liegt ihm geradezu. Friedenwanger legt allergrößten Wert auf Zahl und Auswahl der dienstbaren Geister, die ihn umgeben, im akademischen Zirkus Nachwuchs genannt. Er vervielfacht ihre Zahl sogar künstlich dadurch, dass er die von der Bürokratie vorbestimmten Verträge halbiert oder, sofern erlaubt, drittelt, und rechtfertigt sich dafür mit der originellen Begründung, so stünde ihm (und damit der Pyramide) die zwei- oder dreifache Leistung zur Verfügung, da die Arbeitskraft des Einzelnen ja stets dieselbe bleibe.
Wo Friedenwanger auftritt, zieht er die bekannte Professorenschleppe hinter sich her. Die Mitarbeiter sollen im Bilde sein, wie er sich ausdrückt, und sein Gegenüber auch. Dennoch, zum Pfau taugt er nicht, der Herr Friedenwanger. Er legt Wert auf gleiche Augenhöhe, wenn er mit ›seinen Leuten‹ spricht, er minimiert, darin ganz feiner Herr, die Differenz von Mensch zu Mensch, von Gegenüber zu Gegenüber: nur widersprechen sollten sie ihm nicht, denn er wird schnell laut und das schadet der Augenhöhe, um die es bei allem Sachbezug doch vorrangig geht. An erster Stelle steht der Mensch.
Zugegeben: der kalt-heiße Blick des Düpierten sieht manches anders. Nein, effizient arbeitet die Friedenwanger-Maschine nicht. Wenn Wissenschaft aus Staffage erwächst, dann erhält der Schwarm seiner Mitarbeiter eine ausgezeichnete Ausbildung: kühl ausgebremst, wann immer einem von ihnen eine Forschungsidee in den Sinn kommt, der nachzugehen sich lohnte, mit ›mechanischen‹, sprich: sinnlosen Arbeiten überhäuft, wenn Abgabe- und Prüfungstermine sich nähern, willkürlich abkommandiert zur Über-Nacht-Erstellung von Präsentationen (weil der Chef zu faul ist, sich die Herrschaft über ein simples Darstellungs-Tool anzueignen – vielleicht auch unfähig, denn telefoniersüchtig, wie Friedenwanger nun einmal agiert, ist nicht zu erkennen, wann er das letzte Mal einer geregelten geistigen Tätigkeit nachging), am Ende der Dienstzeit vernichtet wie Seidenschnur, sein ewiger Kofferträger, dessen Habilitationsschrift, das Produkt unendlichen nächtlichen Fleißes, im Augenblick vor der Abgabe, niemand weiß warum, mit dem Prädikat ›nicht vorzeigbar‹ erst kürzlich zum dritten Mal in den Orkus der vergeblichen Produktionen geschleudert wurde:
Resultat (2): Friedenwanger ist ein Herr. Ein schäbiger.
Friedenwangers Golem heißt Trüffler. Sich selbst hat er ihn erschaffen, aus Dutzenden von abhängigen Gemütern den EINEN, in dem alles zusammenfließt, was den vollständigen Knecht charakterisiert: von der reinen Funktionalität über den Dauer-Attentismus, der wahrscheinlich noch seine Träume durchfeuchtet, bis zu albernen Bezeugungen einer Aufsässigkeit, aus der nichts folgt, es sei denn … man betrachtet das unmerkliche Grinsen des Vorgesetzten als Folge, denn auch ein Friedenwanger ist sich bewusst, dass so viel unter Dampf stehende Loyalität ein Ventil benötigt. Die Faxen des Untergebenen, solange sie stumm bleiben, lassen den Meister aller Klassen der stillen und lauten Demütigung kalt. Keiner kann ermessen, ob er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt. Immerhin, er hat, beinahe aus Nichts, ein Warnzeichen errichtet, einen Leuchtturm für den Mittelbau: dank seiner Ausstrahlung geistert durch die Pyramide das Gespenst der Unterwürfigkeit, zu der niemand steht.
Hegel trifft den Punkt:
Adlati nennt der Universitätsbetrieb die Träger eines solchen Bewusstseins: Beigegebene, die ihren Vorgesetzten nicht von der Seite weichen.
Verdacht: Er will dich nicht fertigmachen. Er will dich unterwerfen.
Hegel sagt … Hegel sagt … was sagt er noch gleich? Niemand macht sich ungestraft zum Herrn über andere. Worin besteht die Strafe nicht gleich? Im unwesentlichen Bewusstsein. Was ist dieses unwesentliche Bewusstsein? Eines, das im Knechtsein des anderen sein Auskommen findet. Unselbständig. Das ist das Wort. Der sich im Dienst seines Herrn verzehrende Golem (der sich weismacht, eine selbständige Existenz zu führen, solange er eine Empfindung für die damit verbundenen Zumutungen bewahrt) ist auf den Herrn übergesprungen, er vollendet sich im Bewusstsein des Herrn, der, solange er Herr sein will, dem Golem gibt, was es braucht, um Golem zu sein, das heißt unselbständig.
Damit einer wie Trüffler bleibt, der er ist, muss er täglich neu erzeugt werden. Darin also besteht das wahre Geschäft des Herrn Friedenwanger – Trüffler zu erzeugen, wo er geht und steht, zumindest nichts unversucht zu lassen, was diesem Ziel dienen könnte. Wirklich gelingt es ihm, wie seine zahlreiche Corona zeigt, in unterschiedlichen Graden. Rate: dort, wo es ihm misslingt, schafft er sich Feinde. Wie viele Feinde mögen sich unter den Kollegen finden, die den merkwürdigen Druck, der von ihm ausgeht, nicht einordnen können, aus dem einfachen Grund, weil ihr Status es ihnen verwehrt? Den meisten dürfte Friedenwangers Süßholzraspelei fremdes Territorium bleiben, gleichgültig, ob der eine oder andere ihn für egoman hält oder für einen etwas übergriffigen Kümmerer (wie es dir erging). Er ist ein Triebtäter. Darauf muss man erst kommen.
Vergiss den Brief. Werde indirekt.
wo Friedenwanger geht, steht und sich kümmert, blüht die Heuchelei. Seit wann du das weißt? Seit eben und immer. Damals, im Anfang, hast du die Aura, die ihn umgibt, stark empfunden, dann vergessen, ja vergessen, solange … dir das zum Vorteil gereichte. Nun, angekommen auf der anderen Seite des Mondes, erscheint sie deinem geschärften Blick kräftig genug, um aus Ahnung Gewissheit zu ziehen. Nun gut, ganz ohne Selbstbetrug geht die Chose nicht. Schließlich war er es, der dich zum Feind erkor – oder zum Objekt seiner Beherrschungsphantasie –: das reicht aus, um sämtliche im Raum stehenden Verdachtsmomente gegen ihn zu mobilisieren. Verdachtsmomente, soso. Du fährst also Momente gegen ihn auf. Ganz recht, schließlich sind es Momente, die sich der Wahrnehmung einprägen. Kommt der richtige Zeitpunkt, so melden sich alle zurück, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur, keine einzige fehlt, und sie legen, jeder einzeln und alle zusammen, ihr Zeugnis ab. Alles spricht gegen Friedenwanger. Was heißt das für dich? Du kannst sein, der du bist: Hammer oder Amboss.
Beachte: | Der Erkenntnisprozess vollzieht sich nicht linear, sondern in Sprüngen. Das ist bekannt und die Leute vom Fach glauben auch den Grund zu kennen: erst das Zusammenschießen vieler Erkenntnisglieder (die in mühsamer Arbeit gefunden werden müssen) zu einem – nenne es Ring, nenne es ein ›stabiles Gitter‹ – ergibt das, was alle Welt Erkenntnis nennt, die signifikant neue Einsicht, der bereits ein gewisser Erwartungsraum entspricht, denn sonst bliebe sie unbehaust wie so viele. |
Sollte, was für Erkenntnisse gilt, nicht auch für Handlungen gelten? Denk nach. Das Fu-Projekt fördert Handlungen eines bestimmten Typus, nennen wir sie ›sexuelle Überschreitungen‹ oder, weil die Vor-Silbe nun einmal in Mode ist, ›Mikro-Überschreitungen‹. Alles spielt sich im Rahmen des rechtlich Erlaubten und damit all dessen ab, was sowieso in freier Wildbahn geschieht, nur nicht mit dieser … Einsinnigkeit und, nun ja, Ausschließlichkeit, denn so ziemt es nun einmal dem Experiment. Wenn also viele kleine dieser Überschreitungen, aneinander gekettet, an irgendeinem Punkt des Geschehens einen ›Sinn‹ ergeben, also zu etwas Neuem zusammenschießen, dann sollte dieses Neue … nicht nur auf der Beschreibungsebene existieren, sondern wirklich, ebenso wirklich, wie auch eine neue Erkenntnis wirkliche Erkenntnis ist und nicht nur ein theoretischer Hokuspokus.
Was kann, was könnte das sein? Es wäre, gemäß dem rein sexuellen Charakter der Handlungen, nicht um die Fortpflanzung organisiert wie die Familie, nicht um Prozesse der Produktion und der Profitmaximierung herum wie ein Wirtschaftsunternehmen, nicht um Wohlfahrt oder Krankheit oder Tod herum wie die entsprechenden, in der Gesellschaft wohlbekannten Institutionen, stattdessen…
»Das Orthogeschlecht ist das minimale Personen-Ensemble, dessen geschlechtlich induzierte Interaktion kulturspezifische Reproduktion erlaubt.«
So steht es in Arglosers von Auflage zu Auflage eilendem Klassiker Handbuch der differenziellen Sozialperistaltik. ›Ensemble‹: ein schönes Wort, eine dieser beliebten Theatermetaphern, die sich aus der Kultursoziologie nicht fortdenken lassen. Wirklich erkennt man eine gute Theatertruppe daran, dass mit ihr praktisch alles gespielt werden kann. Praktisch alles… soll heißen, alle Konflikte, die eine Gesellschaft auf die Bühne zu bringen beschließt, weil sie sich in ihnen erkennt – jedenfalls hoffen die Spielplan-Macher inbrünstig in jeder Saison aufs Neue, es möge so sein.
Eine Schwachstelle der Definition liegt im Ausdruck ›geschlechtlich induzierte Interaktion‹. Irgendwo und irgendwie kann schließlich jede menschliche ›Interaktion‹ als geschlechtlich induziert gelten. Wer Argloser kennt, weiß, dass er in dieser Frage (und nicht nur in ihr) zu eher konservativen Ansichten neigt. Im Unterschied zur ›rein geschlechtlichen‹ Interaktion sind bei ihm wohl vor allem familienaffine Interaktionen gemeint: also die Art und Weise, wie Partner miteinander und ihrer jeweiligen Verwandtschaft umgehen, leben, Kinder aufziehen, Alte betreuen etcetera – eingeschlossen die Liste all der Unarten, die eine ›Art zu sein‹ mit sich führt, weil es nun einmal nicht anders sein kann.
Unbrauchbar ist seine Definition nicht. Was der ›geschlechtlich induzierten Interaktion‹ recht ist, ist der ›geschlechtlichen Interaktion‹ billig. Auch sie kann, das ›minimale Personen-Ensemble‹ als gegeben vorausgesetzt, ›kulturspezifische Reproduktion‹ erlauben – das schließt Mord und Totschlag ein, aber eben (»Wenn ich bitten darf!«) kulturspezifisch.
―Vergiss die Norm, dröhnt Tronka. Die meisten ›kulturspezifischen‹ Handlungen sind nun mal Übertretungen, jedenfalls die prägnanteren unter ihnen, denn an sie erinnert sich jeder. Du willst doch, dass man sich an deine Fu-Loge erinnert? Komm schon… Oder etwa nicht –? Dann kannst Du den Schuppen gleich dichtmachen. Du musst dem Pack freien Lauf lassen, dann fällt ihm auch etwas ein und du bekommst deine ›Weisen der Gesellung‹ im Überfluss. Die willst du doch, oder?
Weisen der Gesellung – Tronkas Gaumen arbeitet diesen trockenen Ausdruck hervor, als handle es sich um einen äußersten Genuss, jedenfalls unter Kannibalen; sein Gesichtsausdruck besagt: Ich bin keiner, aber bitte…
Mompti, Elisabeth, Sibla, Ama, Kitty, Pida, Tronka, Auerwald, Leckebusch, R, Hiero: geschlechtsfähig, geschlechtsaktiv, eine Generation, großzügig gerechnet – Gemeinschaft ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, Gegenwart pur (eine Gemeinschaft von Menschenfressern, wie ein Pausen-Fu einmal schrieb, der dreimal vergeblich ans Tor der Pyramide klopfte, bevor das herrische »Herein« ihn zu Fall brachte).
Sei wachsam auf die Symptome.
Achte keines gering.
Ama, sagt Mompti, liebt mich mit der Kraft der Zweiten, die Erste sein will, immer und überall, ihre Liebe zu mir ist vergiftet durch das Bewusstsein, dass ich ein Verlassener bin, sie fürchtet die Rolle der Lückenbüßerin, nein, sie fürchtet sie nicht, sondern bildet sie sich mit einer Leidenschaft ein, die ich fürchte, was bildet er sich ein, sagt Ama, es ist so, dass die Frau, die mir zufällig vorherging, nicht zu ihm passte, sie wollte ihn passend haben und hat sich daran verhoben, da ist kein Platz für ein Mysterium, hingegen habe ich mich passend gemacht, weil es meinem Selbstbild entsprach, sehe ich eine wie Pida, die einem Tronka hinterherläuft, dann läuft es mir kalt über den Rücken, diese Ama, sagt Pida, ist bemitleidenswert, sie besitzt einen Mann und besitzt ihn nicht, er ist ein Fisch, nicht zu greifen, er schwimmt auf den Wogen seiner Kunst, das ist beneidenswert und ich könnte ihm dabei helfen, statt ihn, wie Ama, durch Neid zu zerstören, dabei zieht Tronka es vor sich selbst zu zerstören, besessen von der Angst, in einer Ehe aufzugehen, die ich niemals wollte, ich verstehe ihn und ich verstehe ihn nicht, sagt Ama, er ist der Pflock im Spiel, er kann, wenn er will, dutzende Momptis aus dem Ärmel schütteln, aber er achtet dieser Fähigkeit nicht, er ist ein Büromensch, bedauernswert, ich gehe hin und schüttle ihn, das macht gar keine Schwierigkeit, diese Frau, sagt Tronka, beherrscht mich, sie ist mir ins Blut geschossen, aber nicht darum geht es, sondern um das Problem, das sich daraus ergibt und gelöst werden will, ich jedoch bin nicht befugt, es zu lösen, entweder es löst sich von selbst oder wir treiben hilflos auf eine dieser Klippen zu und was dann geschieht, weiß keiner, Ama jedenfalls weigert sich, den Folgen ihres Tuns ins Auge zu blicken, er fühlt sich bedrängt, sagt Ama, das ist gut, das entbindet mich von der Aufgabe, mich rational zu verhalten, es ist das Irrationale, das ihm abgeht, ich führe ihm den Lebensstoff zu, ohne den er krepierte, sie ist ein Schatten, sagt Tronka, ein Schatten, der auf mir liegt und jede Nacht wächst, eine kluge Frau, sagt Leckebusch, die weiß, was sie will, gern wäre ich ihr in einem früheren Leben begegnet, welch absurde Zeitverschwendung mit diesem Künstler, offenbar weiß diese kostbare Person nicht, dass auch sie nur ein Leben hat, nein, sie will nichts davon wissen, das ist schon ein Unterschied, offenbar hält sie sich für das Leben selbst, aber darin ist diese Pida ihr ein paar Schritte voraus, eine Frau mit dem Hang zum Ordinären, gibt es das überhaupt, einen ordinären Esprit?
THE BATTLE OF NONSENSE
OR
How the DEUTSCHER GEIST became shamy
A
Full and True Account
OF THE
WABERLUTION
Lasting for Decades
Between
Antient and Modern
German spear-Heads
IN
the Pyramid’s
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