LA LINEA
FEUER UND WASSER
ASCHENPUTTEL / BLIND DATE
MIT DIR GEHT EIN TEIL MEINER SEELE
DER BLEICHE MOND
GEFESSELT
INCUBUS
KOPFÜBERKOPFUNTER
DIE BÜHNE IST FREI
REIGEN, DIE ALTE LEIER
KALTE FUSION
LA STRADA
Tausend Jahre sind kein Pappenstiel. Andererseits auch nichts Besonderes, also jetzt kein besonderes Zeitmaß, wenn es um die Scham geht. Es geht doch um die Scham? War das eine Frage oder eine – flüchtige – Vergewisserung? Die Zeit der Scham misst nach Jahrtausenden, sie steht mit der Trägheit im Bunde, das ist oft gesagt worden, aber allzu oft ist das oft Gesagte das Gedankenlose, das lose Gedachte, das sich nicht zuordnen lässt und zwischen den Zeiten vagabundiert. Zwischen den Zeiten. Die Scham, deine Scham spielt in den Ritzen der Zeit, nicht wirklich, ihre Spiele sind Schattenspiele, das Rascheln von Kleidungsstücken, das Aufblitzen und Verschwinden einer Hand … und noch einer…
Blitzen Hände auf?
›Allzu oft‹ –
In dieser Formel nistet die Scham. Allzu oft hast du versagt, allzu oft die Höhe verfehlt, die Höhe eines Gedankens, einer Entscheidung, die Höhe deiner selbst. Wann warst du das: auf der Höhe deiner selbst? Anders gefragt (denn du hast Höhepunkte erlebt): warst das dort, auf jener Höhe, die dich von weitem anstrahlt, du? Jedenfalls nestelt sie sich aus den Nebeln der Vergangenheit, streift etwas ab, streift etwas über, streift etwas in dir, schwebt mit trägem Flügelschlag an dir vorbei, Ebenen zu, die dir ewig … denn alle Scham will Ewigkeit…
Wer sagt so etwas? Wer hat so etwas gesagt? Alle Scham will, dass du vergehst, vor ihr, vor dir, vor allem und jedem, und sie will dich ewig in diesem Zustand, der doch nicht bestehen kann, nicht auf Dauer, nicht in dir, es sei denn, du gibst dich besiegt, du gibst dich auf, eine Brieftaube mit unbekanntem Empfänger, ein anderes All mit der Seele suchend, mit was denn sonst?
Du musst sie besiegen und du kannst es nicht.
An diesem Kunststück, lass dir das gesagt sein, kommt keiner vorbei. Ginge sie nicht von selbst, ließe sie nicht von dir ab wie der Hauch einer dir sehr nah stehenden Person, in jener winzigen Abwesenheit, die du dir leistest, die sich dich leistet, der du auf keine Weise entgehst, du wärest auf ewig geliefert, du kämest nicht los von der Scham, es hängt alles von ihr ab, der wahren Königin deines Herzens, der immer verleugneten, die darüber nur lacht. Hast du sie lachen sehen? Hast du sie einmal lachen sehen? Deine lachende Scham! (Warum das Ausrufezeichen? Was hat es hier zu suchen? Streich’s weg.)
Scham und Charme – wie weit liegt das auseinander. Und dennoch, wie nah kommen die beiden einander, sobald es zur Sache geht. Wer beiden erlegen ist – also jeder –, der weiß, dass sie auf einem Holz wachsen, dass eines den Preis des anderen zahlt, wechselweise, rückstandslos. Nur das Individuum dazwischen, das arme unterprivilegierte Ichwesen empfindet den Zwiespalt, es empfindet ihn immer wieder, sobald sich eins im anderen einnistet, denn das tun sie, diese absurdeste aller Gebärden beherrschen sie beide aus dem … Grunde, möchtest du sagen, grundlos, völlig grundlos, denn in diesen Gegenden gleitet die Rede über Abgründe, die ewig unausgesprochen bleiben, ewig, soll heißen, wer hier ein Siegel bricht, der bricht ein, ist schon eingebrochen, ein Ertrinkender mehr, die eisige Oberfläche hat sich bereits über ihm geschlossen, ein umnebeltes Gehirn, das einmal ihm gehörte, verfolgt die Schatten von Leuten, die vielleicht ein Schicksal vorbeitrieb, um ihm beizustehen, ihn womöglich zu retten, aber was weiß der Ertrinkende schon von Rettung.
Merkwürdig, angekommen zu sein, obwohl man nie fort war, allenfalls befangen in einem Rausch, dem Rausch der Freiheit, wie die Menschen sagen, aber das ist Quatsch, denn um Freiheit ging es nie, es ging um Befreiung, und das ist etwas völlig anderes. Es war der Rausch, der vorgab, die Scham zu überwinden, diese verlässliche Größe, die in jedem von uns allen steckt und nicht daran denkt, herauszukommen und sich zu trennen … warum sollte sie sich trennen? Sie ist die Scham.
Die Welt, als Teufelei betrachtet, hat zwei Eigenschaften: Sie ist amoralisch und sie ist pansexuell. Eine Welt, die zwickt und zwackt, kann gar nicht anders sein. Und doch muss sie anders sein, weil die Teufelei sonst unentdeckt bliebe. Sie wäre, so betrachtet, die allermoralischste, da sie ausschließlich unter dem Aspekt der Moral betrachtet würde – die Moral wäre sozusagen die einzige Überlebende auf diesem Schlachtfeld. Sie wäre auch nicht die Moral, deren es bedürfte, um die Welt ins Lot zu bringen, denn die Welt, durch ihr Visier betrachtet, ist definitiv aus dem Lot. Recht gut beschreibt der Ausdruck ›Hypermoral‹ die Zwickmühle: die hyperventilierende Moral hat die Schlacht verlassen und beklagt aus dem konfortablen Jenseits, in das sie sich geflüchtet hat, den Zustand der Welt. Nein, eigentlich beklagt sie nicht ihn, sondern ihr eigenes Los. Die teuflische Welt ist gänzlich losgelassen. Sie ergibt, unter dem Moral-Gesichtspunkt betrachtet, keinen Sinn. Sie ist das sinnentblößte Gegenüber. Warum dann pansexuell? Lauert nicht hier der Sinn? Nun, er mag lauern bis ans Ende der Zeiten. Doch heraus kommt er nicht.
Nein, es hat wirklich nichts mit dir zu tun und jetzt geht es dahin. Geht dahin. Wohin es geht? Ist das wichtig? Es interessiert nicht. Es geht seinen Gang … in die Finsternis, wohin sonst. Unterm Aufmerksamkeitskegel hellt sich die Welt auf, das ist ganz natürlich, der Mensch strebt zum Licht. Das Licht strebt voraus. Das hören Blinde nicht gern, aber Blindheit ist eine Menschheitsmetapher und physische Blindheit ist nicht gemeint. Obwohl –! Sexuelle Blindheit schon eher. Die Welt, als asexuell betrachtet, ist allseitig ausgeleuchtet und dennoch dunkel, tief dunkel, eingetaucht in ein umfassendes Unverständnis dessen, was ist. Was ist denn? Die Frage erinnert an etwas, sie regt den Trieb und er regt sich in ihr. Etwas ist. Soviel Trieblehre muss sein. Kein Trieb – kein Scherz. Kein Scherz – kein Gesang. Der umfassende Scherz über die Welt: ein Klagegesang. In der Klage vergeht die Welt, sie vergeht noch einmal, sie vergeht schneller, sie ist Das-was-vergeht, sie steht Kopf im Bewusstsein, dem eigentlichen Organ des Vergehens. Und doch vergeht, was vergeht. Das muss doch einmal gesagt werden. Im Zeichen des Triebes vergeht die Welt. Kommt er nicht frei, so vergeht sie draußen.
Es berührt mich nicht, es kommt nicht in mich hinein … – Mit gewissen Sätzen beginnt, sagen wir, alles neu, während mit anderen alles beim Alten bleibt. Sätze, die mich berühren, erschaffen mich just in diesem Moment neu. Das klingt komisch, aber so ist es. Sätze, die eine fast physische Ausstrahlung haben, sie tragen die Information dieser Physis und ein bisschen mehr … ein bisschen mehr… Jedenfalls verlangt es die Konvention, die immer mehr will als Körperwelten und dieses Mehr durch Verhüllung erzeugt. Wir wissen nicht, inwieweit wir Körper sind. Andersherum gesagt: Die Körper wissen nicht, inwieweit sie alles sind. Das Wort ›Körpersprache‹ –: welch ein Unsinn. Alles ›Unkörperliche‹ ist Teil des Körpers, der sich erklärt. Kein Körper weiß, wodurch er Körper ist. Kein Körper weiß, wodurch er ›Geist‹ ist. Dafür springt das Wesen ein, der zu wissen glaubt: der Mensch. Die Macht der Abstraktion schwebt über allem, taubengleich.
Sinnlos ist, was ich nicht einsehe.
Nein, so war das nicht gemeint.
Sinnlos ist dasjenige, dessen Sinn ich nicht einsehe.
›Das mag für andere sinnvoll sein‹ – eine Redensart.
Mit der ich mich salviere.
Nichts weiter.
Weiter nichts.
Sehen Sie: Ich bestimme, was Sinn hat.
Ich lasse mir da nichts vorschreiben. Allein,
interessant wäre der Gedanke schon.
Lässt sich Sinn vorschreiben? In welchem Sinn?
Er hat ja, wie man sagt, eine allgemeine Komponente.
Was nur für mich Sinn hat, welchen Sinn hätte mir das?
Nicht viel, würde ich sagen, nicht viel.
Aber was beweist das?
Es beweist, dass es sinnlos ist, sich aus der Welt
herauszuschneiden.
Welchen Sinn sollte ein solcher Wunsch haben?
Sinnlos ist, was ich nicht einsehe.
Nein, so war das nicht gemeint.
Sinnlos ist dasjenige, dessen Sinn ich nicht einsehe.
›Das mag für andere sinnvoll sein‹ – eine Redensart.
Mit der ich mich salviere.
Nichts weiter.
Weiter nichts.
Sehen Sie: Ich bestimme, was Sinn hat.
Ich lasse mir da nichts vorschreiben. Allein,
interessant wäre der Gedanke schon.
Lässt sich Sinn vorschreiben? In welchem Sinn?
Er hat ja, wie man sagt, eine allgemeine Komponente.
Was nur für mich Sinn hat, welchen Sinn hätte mir das?
Nicht viel, würde ich sagen, nicht viel.
Aber was beweist das?
Es beweist, dass es sinnlos ist, sich aus der Welt
herauszuschneiden.
Welchen Sinn sollte ein solcher Wunsch haben?
Der Kern aller Abstraktion ist hohl. Das ist kein gesichertes Wissen, wie auch? Aber denken kannst du es dir. Versuche nur, ihn zu knacken! Nichts, gar nichts kommt dabei heraus. Versuche nicht, ihr zu widerstehen. Alles, was dich nötigt, von etwas abzusehen, es nötigt dich mit einer Gewalt, die du nicht verstehst. Von Zeit zu Zeit nennst du sie ›Vernunft‹. Aber auch dazu wirst du genötigt. Welche Macht in dir nötigt dir deine Zustimmung ab? Die Logik? Einspruch! Gerade sie nicht! Sie fügt eine Prise Etwas hinzu, ohne die Nötigung nicht funktioniert. Die Vernünftigen nennen es den Zwang der Vernunft. Wie oft sind nicht gerade sie die Hüter der Unvernunft! Vernunft, Unvernunft, Worte. Wer soll sie unterscheiden? Die Vernünftigen sitzen auf einem Ast, die Unvernünftigen auf einem anderen. Wieder falsch! Keiner erklärt sich aus freien Stücken für unvernünftig, es sei denn, er will unterstreichen, dass er ›bei alldem‹ der Vernünftigere ist. »Wie unvernünftig!« entscheidet der Vernünftige, also du und ich. Daran ist nichts Vernünftiges. »Sei vernünftig!« schreit die Kohorte und marschiert weiter in Richtung Abgrund. »Seid vernünftig!« schreit der Abweichler und fürchtet den Abgrund. Also entscheidet der Abgrund über Vernunft und Unvernunft. Also der Körper, der Furcht ausströmt. Wer entscheidet im Körper? Dumme Frage. Wer entscheidet über den Körper? Das Gericht.
Solange es Trieb gibt, wird es auch Trieb-Lehren geben. Man nennt sie die Lehren vom richtigen Leben, einer ergänzte: »im falschen« und wurde dafür getadelt, nicht, weil er das Falsche so hervorhob, sondern weil er die Akten schließen wollte: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Das ist natürlich Unsinn, weil es kein falsches Leben gibt. Leben ist Leben. ›Leben im Leben‹ … das wäre die Sprache des Parasitismus, die Sprache mit falschem Zungenschlag. Doch handelt es sich um das Leben der Gemeinschaft, beginnt flugs die Ausnahme. Kann Gemeinschaft falsch sein? Aber sicher. Wie lebt es sich in Gemeinschaft? Gemeinschaftlich? Wie sonst! Ist das schlecht, ist das gut? Eine Frage von unten und oben, links und rechts, dankbar und undankbar. Doch, sicher, die beste aller Gemeinschaften hat sehr undankbare Posten zu vergeben, aus denen sich jeder heraus wünscht, der etwas auf sich hält. Sie ist und bleibt Gesellschaft und lebt von der Teilung durch Arbeit. Gemeinschaft erzeugt Glanz mittels Destillation: Wer glänzen möchte im Leben, der muss sich, durch welche geeigneten Maßnahmen auch immer, nach oben durchreichen lassen oder sich seinen eigenen Glanz erschaffen. Wie erschafft man sich seinen eigenen Glanz? Durch virtuelle Gemeinschaft. Pflege Gemeinschaft mit Heiligen und du fühlst dich heiliger. Pflege Gemeinschaft mit Künstlern, Stars, Sportlern, Helden der Forschung und du fühlst dich künstlerischer, starmäßiger, sportlicher, forschender. Pflege Gemeinschaft mit Bettlern und du fühlst dich … Achtung: hier gabelt sich der Weg und du musst dich entscheiden. Wofür entscheidest du dich? Bist du mehr das eine oder das andere? Und jetzt die Frage der Fragen: Hast du die Wahl? Oder schämst du dich schon?
Im Grunde reicht ein Wort, um die Dinge zu klären: Welt.
Ich sage »Welt« und das alles bekommt einen Sinn.
Ich kenne ihn noch nicht, aber ich werde ihn erkunden.
Ich sage »alle Welt« und ich weiß Bescheid.
Ich sage »meine Welt« und ich verteidige, was ich habe.
Ich sage «diese Welt« und schon ahne ich eine andere.
Ich sage »Weltuntergang« und drohe allem, was ist, mit dem Ende.
Das ist überhaupt der Sinn von allem: die Drohung.
Es droht und ich drohe zurück.
Ich sage: »Welt, kusch!« und ich bin.
Ich sage »Kusch!« und bin der Größte.
Eben noch war ich nichts. Nicht einmal vorhanden war ich.
Und jetzt das.
Im Grunde reicht ein Wort, um die Dinge zu klären: Welt.
Ich sage »Welt« und das alles bekommt einen Sinn.
Ich kenne ihn noch nicht, aber ich werde ihn erkunden.
Ich sage »alle Welt« und ich weiß Bescheid.
Ich sage »meine Welt« und ich verteidige, was ich habe.
Ich sage «diese Welt« und schon ahne ich eine andere.
Ich sage »Weltuntergang« und drohe allem, was ist, mit dem Ende.
Das ist überhaupt der Sinn von allem: die Drohung.
Es droht und ich drohe zurück.
Ich sage: »Welt, kusch!« und ich bin.
Ich sage »Kusch!« und bin der Größte.
Eben noch war ich nichts. Nicht einmal vorhanden war ich.
Und jetzt das.
Angenommen, du identifiziertest dich mit den Gescheiterten,
denen, die ihr Leben hinwarfen, weil es sinnlos geworden war (sinnlos
in ihrem Sinn, denn ein anderer stand ihnen nicht zur Verfügung):
Welchen Sinn sollte das haben? Alle Gescheiterten sind zu viele
für dich, das hältst du im Kopf nicht aus, geschweige denn in der Zeit.
Mit wie vielen Gescheiterten willst du es aufnehmen? Einem? Zweien?
Hundert? Hunderttausend? Einem Kontinent? Dem Kontinent der
Gescheiterten? (Das wäre, immerhin, eine Klammer, welche die
Gescheiterten auf eigene Faust ausschlösse, gleichsam ein
zweites Mal scheitern ließe.) Jeder Gescheiterte versichert dir: Du
bist nicht gescheitert. Jeder Gescheiterte versichert dir: Du bist
gescheitert. Jeder Gescheiterte versichert dir: Du hast keine Wahl,
also fühle dich erwählt. Erwählt wozu? Zum Aufseher? Der Gedanke
erschreckt dich, er ist geschmacklos. Und schon … beginnst du sie zu
taxieren: Was ist dran an ihnen? Ließen sich nicht auch aus diesem
Material … Hierarchien bauen? Eine Hierarchie aus Gescheiterten, das
wäre doch etwas. Und wenn sie selbst nicht wüssten, dass sie
Gescheiterte sind? Das gäbe dir noch ein bisschen mehr Macht, ein
bisschen mehr Deutungsmacht über sie. Wer sie auch sein mögen, sie
müssen alle unter dein Joch. Du brauchst nur den Punkt ausfindig zu
machen, an dem sie gescheitert sind, wie klein, unauffällig, verborgen
er auch sei. Identifiziere dich beizeiten und du findest ihn
heraus.
Das bist du deinem und ihrem Leben schuldig.
Auch
diese Schuld will, wie jede, abgetragen sein.
Ein größeres Unglück ist das Zusammentreffen vieler kleiner.
―No, she doesn’t like her. (Simon)
Sie mag sie wirklich nicht, das hat Simon ganz richtig gesehen, kluger Junge, das muss man ihm lassen. Er hat’s begriffen, da muss sich ein Leckebusch fragen, woher, bei soviel Jugend, soviel Einsicht kommt, die schon an Innensicht grenzt. Elisabeth, die niemals Eifersüchtige, die frei, damit Leben sei, unter den Lebenden Wandelnde, zeigt deutliche Merkmale einer eifersüchtigen Zicke –
NEIN, so weit möchte er, ein paar seelische Kratzspuren abgerechnet, die ihm das tägliche Pensum am Schreibtisch nicht gerade erleichtern, noch nicht gehen, aber zweifellos muss etwas geschehen, und sei es nur, um das wohltemperierte Betriebsklima wieder herzustellen, dessen er bedarf, will er den Abgabetermin beim Verlag nicht platzen lassen. Man bringt, eiserne Regel, keine Studentin nach Hause, auch diese nicht. Auch diese nicht.
NEIN, er gibt jetzt nicht den Professor Unrat, die junge Frau wird ihn nicht in die Lage bringen und Elisabeth auch nicht: sie schon gar nicht, es sei denn, er räumt ihr soviel seelische Macht über sich ein, dass er sich irgendwie schuldig fühlt, schuldig im weiteren Sinn, denn wo kein Delikt vorliegt, da hat Schuld schlechte Karten. Hat sie das? Wirklich? Darum geht’s nicht, würde Elisabeth antworten, würde er sie, in einem Anfall von geistiger Umnachtung, danach fragen, darum geht’s wirklich nicht, worum dann?
Eine Frau wie Elisabeth, ›strong‹, wie tall boy Simon sie bei jeder Gelegenheit gönnerhaft nennt, übermannt Eifersucht nicht ›einfach so‹, überhaupt lässt sie sich ungern ›übermannen‹, das unter uns und auf die Faust gesprochen. Andere Männer mögen andere Erfahrungen machen, sie könnten sich da aber auch täuschen. Umso erstaunlicher die Affektlage, in die sie beide, quasi über Nacht, geraten sind, seit dieses zugeflogene Spatzenwesen ihre Wohnung als Bauer benützt, ohne Anstalten zu machen, ihr so bald zu entfleuchen. Ein Spatz im Bauer? Nun ja, Metaphern sind Glückssache, das Glück des Suchens und das Glück des Findens gehen nicht immer synchron, gelegentlich gehen sie ganz und gar unterschiedliche Wege.
Simon, erneut:
―This is my paradise.
Augenscheinlich erhebt auch Simon Ansprüche. Sieh an, wer hat sich da denn, quasi
als Staatsgast, eingenistet, jedenfalls für die Sommermonate? Im Winter ruft die
Promenade von Haifa, auch Liz wird nicht ewig im Haus tirilieren. Das Haus,
immerhin, wäre für alle groß genug. Das Töchterchen profitiert vom Umgang mit beiden.
Man sollte auch diesen Aspekt nicht ganz außer Acht lassen. Ein wenig
großbürgerliches Benehmen und wahrlich: allen wäre gedient. Nicht einmal den Arbeiter-
und Bauernstaat hätte er verlassen wollen ohne dieses grundierende
bürgerliche Gefühl, das über Peinlichkeiten, die das Geschlecht nun einmal
bietet, hinwegsieht und Formen für alles bereitstellt, für alles, no doubt,
young man, keep calm, young man, keep calm.
Hat Simon Elisabeth
aufgestachelt?
Wir haben den Mechanismus der Schuld analysiert und nichts gefunden außer ein paar Brocken Mondgestein, herausgebrochen aus dem Universum der Wünsche, funktionslose Überbleibsel eines kosmischen Dramas, jedenfalls unter Zugrundelegung der griechischen Mythologie, gegen die, im Vergleich zu anderen, sich immer noch wenig einwenden lässt. Es sei denn… Radikale Aufklärung, von Grund auf betrieben aus dem Gefühl heraus, nicht anders existieren zu können, dürfte zu anderen Ergebnissen kommen, Krafft-Ebing dort im Regal spricht eine solche Sprache, nach ihm traten andere ans Licht, ganz andere, sie haben die Welt verändert, aber die Welt hat auch sie…
Auf den Kopf gefallen ist Leckebusch nicht.
So jedenfalls kann es nicht weitergehen. Leckebusch ächzt. Es ist schon ein besonderes Ächzen, das ihm entfährt, er selbst erkennt es nicht gleich in der Verkleidung, auch besitzt er wenig Erfahrung im Umgang mit dieser unterbelichteten Kommunikationsform und hat sie in Gedanken für Unfallopfer und dergleichen reserviert – nun entfährt es ihm selbst. Gut, dass die Sekretärin schon fort ist – es wäre ihm unangenehm, sich in dieser Weise Gehör zu verschaffen. Ein Kaffee wäre jetzt recht, ungeachtet der vorgerückten Stunde, zum Glück gibt es Automaten. Draußen dunkelt es, da fängt der Tag erst an.
Von Homer bis Goethe ein Wimpernschlag: Als sei die Zeit dazwischen stehengeblieben und spucke peu à peu dieses Bild aus: Kitty im Türrahmen, Kitty der geölte Blitz, Kitty, jäh in der Bewegung innehaltend, während ein feiner Dunst um sie aufsteigt und ihre Person umschließt. Nein, so hoch ragt die Pyramide auch wieder nicht, dass Wolken das Intimacy Chamber fluten würden. Die menschliche Wolke, mit Kitty in den Raum getreten, heißt Sibla. Sibla wie si, signora – du musst dir ins Gedächtnis kneifen, um nicht ›blabla‹ zu murmeln.
Was will der Kerl? Zweifellos will er etwas von dir. Er will, dass du ihm zuhörst. Er will zu Wort kommen. Nein, das geht in ihrer Anwesenheit nicht. Er zieht dich aus Kittys Gegenwart heraus, als stecktest du schon zu tief drin. Jedenfalls versucht er es, es ist an dir, die Versuche zu steuern, so dass sie ins Leere laufen. Du hast die Protokolle gelesen, du hast mehr als einmal mit den beiden gesprochen und dir ein Bild gemacht, du weißt also, was du von ihnen zu halten hast und möchtest das nicht vertiefen.
Sibla, Si-ba-la, Siblabla, Sublaba, Herr Ichwillwasvondir zieht die Tür zu, Schulter- an Türblatt, in alle Richtungen sichernd, wir nehmen den Aufzug, Cafeteria, ping, er rauscht in die Tiefe, ping. Ping. Ping. Ping. Wovon redet der Mann? Ping. Ping. Ping. Will er seinen Urlaubsbericht vor dir auskotzen? Er will. Er will nicht. Langsam, klebrig kriecht es aus ihm heraus.
Die Cafeteria steht offen. Die Reinigungskräfte, zwei an der Zahl, die blauen Eimer an der Seite, schieben ihre triefenden Lappen über das blaue Parkett. Wohin des Wegs? Da nicht. Da auch nicht. Ein schmaler Streifen: vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Künstler hat das Aussichts-los gezogen und zieht es durch.
Was er meint: Wofür hältst du mich? Für einen Drückeberger?
Wie kommt er dazu…?
Peinlich berührt, bleibst du die Antwort schuldig.
Zögerl-ich, schaudernd, vor Augen den tiefen Fall –
überrollt von Siblablas ablassheischender Rede, Gehirnforschung habe die Entstehungsregion des Kunstschaffens
unwiderruflich fixiert, die chemischen Prozesse, sie seien bekannt, ja-jawohl, es
gebe den Formzwang, insbesondere auf dem Sektor der Musik, darüber wolle er reden. Er, Sibla, habe, unter
dem eisernen Griff eines uneinsichtigen Vaters ein Ingenieursstudium
absolvierend, seine Berufung oder sagen wir, den Vorschein seiner
Berufung erfahren, im ersten Stadium sie als soziale missverstehend, das lag
in der Zeit. Eine Weile habe die Arbeit mit Kindern ihn
glücklich gemacht. Unter reinen Triebwesen könne es nichts Böses
geben. Mit Kitty sei er dann zu den Kommunarden gestoßen,
eine andere Kitty als heute sei das gewesen, doch habe die
Landarbeit sich schließlich als Irrweg erwiesen, so dass, den
Schnitt wagend, sie beide sich schließlich, wie so viele zu
jener Zeit, in Mumbai wiedergefunden hätten…
Sibla, Sibla, warum verfolgst du mich?
Immerhin, wir haben verstanden.
Natürlich willst du behilflich
sein.
Kitty, von der Tarantel gestochen:
Das ging wohl ins Auge. Da sitzt es nun.
Wohin, wenn nicht auf die Sporaden, sollte einer wie Sibla, seinen allzu sporadischen musikalischen Einfällen nachgehend, sich wohl flüchten? Wobei von Flucht eher nicht die Rede sein kann (es sei denn, man stellt die Misslichkeit seines Zusammenlebens mit Kitty ins Zentrum seiner Entscheidungen), sondern von Zielstrebigkeit – wo das Leben am elementarsten pocht, da muss wohl auch die Kunst sich einstellen, reife Frucht am Baum der sich erfüllenden Triebe, doch in diesem Fall… Ein hoffnungsloser Fall, dieser Sibla, übrigens war das bereits dein erster Eindruck, du hast ihn nur professionell verwischt, um besser arbeiten zu können, der Umgang mit Studenten hat dich gelehrt, die elementaren Eindrücke zurückzudrängen, sie sind, wie immer man es betrachtet, im beruflichen Leben ein Störfaktor.
Flucht, Flucht, Flucht: vor der Unfähigkeit zu komponieren in die leere Inspiration des Südens, davor, von Kitty der Unfähigkeit geziehen zu werden (wobei sie sicher klug genug war, den direkten Vorwurf zu meiden und sich stattdessen auf allerlei unangenehme Andeutungen zu beschränken, vielleicht auch nur auf die große Sorge um sein ungenutzt bleibendes Talent), vor Kitty selbst und ihrem praktischen Sinn, der darauf bestand, er möge sich, wenn schon die Inspiration pausiere, dann doch wenigstens im Haushalt nützlich machen – vielleicht dachte sie auch, dass sich männliche Kunst und männlicher Haushalt ideal ergänzen, jedenfalls für sie, die berufstätige, gern in ihrem Beruf ›aufgehende‹ Frau. Kitty das Biest – vielleicht handelt es sich um ein bloßes eheliches Konstrukt, hervorgetrieben aus dem alltäglichsten aller Stoffe, der als Gerümpel überall herumliegt und zu jedem Schindluder taugt, der Harmlosigkeit.
Flucht schließlich – und hier bekommt die Sache dann doch einen ernsten Anstrich – vor Kittys Depression … aber nein, den Weg auf die Insel der schönen Frau scheint sie ihm verbaut zu haben, vermutlich mit Hilfe eines finanziellen Manövers. An dieser Stelle kommst du ins Spiel – als möglicher Verbündeter, jedenfalls als Kommunikator oder doch eher als naiver Außenstehender, dem man schon einmal einen Bären aufbinden kann, einen gewaltigen Bären, auf dass der Außenstehende sich in Bewegung setze, um Druck auf die Dame auszuüben… Was für ein Streich! Und fast wäre er, ungeachtet Kittys Sperrfeuer, gelungen; allen Einwänden zum Trotz regt sich so etwas wie ein tiefes Mitgefühl für die im Mief des Alltags vegetierende künstlerische Seele, als habest du gerade ein Gespräch mit dem in der Gosse gelandeten Spross eines vom revolutionären Pöbel zum Teufel gejagten Königshauses geführt. So stark also ist der Zauber der Kunst, dass sogar ihre Abwesenheit die allgegenwärtige Lüge überglänzt.
Am Eingang zur Menschenwelt steht das Wort SCHAM. Vergeblich suchst du nach dem Portal, das es zu durchschreiten gilt, kein steinerner Sturz trägt die Zeichen, deren Gewicht dich erdrücken müsste, durch die Jahrtausende. ›Nicht fündig‹ lautet die Inschrift am Ende der langen Allee, die langsam in Sicht kommt, zu langsam, um deiner Suche einen abschließenden Triumph zu gewähren. Scham verbirgt sich, Scham zeigt sich im Verbergen. Verbirgst du etwas? Verbirgst du dir etwas? Was könnte das sein? Es verbirgt sich in dir, es verbirgt sich vor dir, aber nicht ganz. Es ist da, geborgen in dir, verborgen vor aller Welt.
Der Baukran ruhte zusammengefaltet in seinem Winkel wie ein riesiges erstarrtes Insekt, das Bild mag abgegriffen wirken, aber es trifft doch das, worauf es mir hier ankommt. In gewisser Weise verleiht das Klettern auf einem solchen Objekt Flügel, man erhebt sich in die Lüfte und lässt die offenen Münder der Spielgefährten unter sich. Man könnte in sie hineinspucken, wenn man sicher wäre, dass man auch treffen würde. So kann es natürlich nicht ausbleiben, dass sich der erste schon aufmacht, um einem nachzukommen. Man reizt ihn mit höhnischen, vielleicht auch nur aufmunternden Worten, dem eigenen Weg zu folgen, man zeigt ihm, wo er sich festhalten kann, welche Richtung er einschlagen muss. Alles Dinge, die er selbst ausknobeln könnte, aber man ist ihm ja vorausgegangen und besitzt einen Vorsprung an Wissen, Schläue, Entscheidungsfreude, dem er sich unterzuordnen hat. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig.
Währenddessen weiss man aus alter Erfahrung: er ist nicht so behende wie man selbst, vielleicht auch nicht so helle, nein, nicht so helle, gerade darauf beruht ja die unverbrüchliche Freundschaft, die man für ihn empfindet. Diese Freundschaft ist ein starkes Band, besonders jetzt, wo auch die anderen, unten Gebliebenen an ihm zerren. Sie sehen seine Unsicherheit, seine Angst, und verstärken sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Auch sie höhnen also, raten ihm, wieder herunter zu kommen, scheinheilig oder unter Gelächter, unter listig absichtslosen Reden mutiert der Kran zum Inbegriff des Verbotenen, ein gewaltiges Tabu lastet auf ihm, bereit, jeden in den Abgrund zu schleudern, der sich ihm widersetzt. Man selbst, in komfortabler Stellung oben auf dem Gestänge hockend, begreift nicht ganz, was sich da abspielt, spielend überblickt man die wenigen, leicht zu meisternden Griffe, die den Kletterer von einem selbst trennen, der Sog, der von den Mündern da unten ausgeht, erfasst den Angekommenen, schon zerrinnt alle Leichtigkeit, nein, nicht alle, ein Teil bleibt, ein guter Teil, leichtschwer fühlt sich der Körper, mehr noch die Aufgabe an, die einen erwartet und wächst und wächst.
Nein, nicht darum geht es, wieder Boden unter die Füße zu bekommen: nichts leichter als das. Aber dieser angststarrende, an den Rücken des Insekts angeklebte, in alle Richtungen blockierte Körper muss mit in die Tiefe, darum geht es jetzt, um nichts anderes, und so macht sich die Tiefe schwer. Ein Klotz, hängt sie an den Beinen, man muss ihr Widerstand leisten, die schwere Aufgabe erfordert den ganzen Mut, ich könnte schwören, dass ich sie noch heute empfinde, schwerer als damals, denn der Kran ist verschwunden und damit die Möglichkeit, mit der Kraft des Erwachsenen die Situation ein für allemal zu klären. Diesen Kran werde ich nicht mehr los. Ich muss den Boden gewinnen, soviel ist sicher, sicher auch, dass mir gerade das verwehrt bleibt, gerade das.
Geh dieser verlotterten, armseligen, hochtrabenden, nichts- und allessagenden, anmaßlichen, verwirrten und zu überraschenden Klarheiten fähigen Existenz nach und du läufst Gefahr, einen Zipfel der alten Ordinarienuniversität zu erhaschen, Symbol eines kraftstrotzenden Wissenschaftsstandortes samt doppeltem Höllensturz und abschließender Schattenexistenz.
Inzwischen weißt du (es herauszubekommen war nicht schwer: Achte auf seine Gesten!), dass nichts Drängenderes den jungen Leckebusch in den Westen trieb als die Aussicht, vis à vis dem Weltgeist eine dieser anekdotenumwobenen Existenzen zu führen, denen einst der preußische Staatsphilosoph den Ideenmantel geschneidert hatte, um auf der Höhe der Zeit und ihrer ›Ereignisse‹ Befehle zu geben, Befehle des Geistes selbstredend, aber diese in großer Zahl und mit hinreichender, Nostalgiker würden sagen: hinreißender Bestimmtheit. Angekommen am Ziel seiner Wünsche, muss der Pfau Federn lassen. Schwer auszuloten, welche Blütenträume nicht reiften, während andere…
… Elisabeth zum Beispiel. Welche Rolle mag die junge Dame aus gutem Hause mit dem sicheren Pelzgeschmack für seine akademische Karriere gespielt haben? Ob sie diskret vor Ort den einen Kontakt herstellte, der sich in den Berufungsverhandlungen zum richtigen Zeitpunkt als Joker erwies? Du weißt es nicht und du willst es nicht wissen. Auch ohne eine solche Zutat war der aufstrebende Jungphilosoph ›von drüben‹, der seine Leipziger Geschichten mit leisem, aber unüberhörbarem Tremolo zu vermarkten wusste, ein spannenderer Kandidat als seine ohne nennenswerte Vita antretenden Konkurrenten aus Ulm oder Wanne-Eickel.
Aus der Distanz kaum zu erahnen: die Anziehungskräfte, die zwischen Elisabeth und dem akademischen Löwen in spe mit der Attraktivität eines Buchhalters in jenen längst vergangenen Tagen spielten. (Aber vermutlich nicht entfernt so rätselhaft wie ihr heutiges Schachtelverhältnis, in dem sich die verschiedensten Verhältnisse wechselweise Kopf über Zahl durchdringen.)
Zielstrebig hat sich Leckebusch in einem Winkel des akademischen Milieus eingehaust, in dem persönliche Gefolgschaft noch etwas gilt. Wer ein Philosoph ist und wer ein Scharlatan, entscheidet nicht der wachsende Stapel von Produktionen, sondern die Anhängerschaft. Schüler verbreiten die Lehre des Meisters über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus und wirken auf sie zurück.
Meister wird, wer die Chuzpe besitzt, eine autoritative Klassiker-Lesart zu verbreiten, abwegig genug, um heftige Gegenreaktionen hervorzurufen, hinreichend holzschnittartig, um auf den Wogen der Entrüstung bis in die entlegenste Rezeptionskammer geschwemmt zu werden. Dann aber – Betonung auf ›aber‹, denn darum handelt es sich letzten Endes – muss er den Mut oder die Hartleibigkeit oder die Phantasielosigkeit oder die sokratische Hässlichkeit aufbieten, den einmal eingeschlagenen Weg mit äußerster Sturheit weiter zu verfolgen, bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus.
Wer sich seiner Herkunft schämt, wird vernichtet. Leckebusch schämt sich seiner Herkunft nicht, er spricht von ihr in leisen Tönen, das bewusste Tremolo inbegriffen, er kann seine Lehrer aufzählen, einen nach dem anderen, ohne rot zu werden: jeder einzelne, bekannt oder unbekannt, verkannt, verrufen, beschrieen, hat ihm seine spezielle Überlegenheit eingeflößt, ihre Gesamtheit ihn mit diesem Lehr-Leib ausgestattet, mysteriös und fruchtbar, Ost/West – eine gekonnte Abbreviatur alles dessen, wofür er steht (niemand weiß das genau).
Du hast ihn taxiert, bewundert, verachtet, aber hineingekommen in ihn bist du nicht. Du hast dich Elisabeth genähert, erst berufsmäßig, dann berufungsmäßig, alles im Rahmen des Projekts, versteht sich, aber auch dadurch bist du Leckebusch keinen Schritt näher gekommen – dem Zahnarzt nicht, dem Verwaltungsbeamten nicht, und dem Buchhalter … schon gar nicht, geschweige denn dem Philosophendarsteller, in dem vielleicht wirklich ein kleiner Philosoph steckt. Musst du denn in ihn hineinkommen? Irgendwie schon. In diesem Spiel ist er Patriarch ohne Auftrag. Vielleicht ist ›Auftrag‹ auch nicht das richtige Wort. Wenn Patriarchsein eine Art Ausstrahlung bedeutet, dann ist Leckebusch eine Fehlbesetzung, eine wirkliche Pleite –
Erstens vielleicht: das hier ist kein Spiel. Ein Leckebusch spielt nicht. Alles, was er darstellt, ist er mit dem gesammelten Ernst dessen, der all das sein will, was … auf ihn zukommt. Er ist der gewichtige Mann. Leider hat die Natur ihm, rein physisch, das nötige Gewicht versagt, so dass sein Anspruch ins Leere geht – nicht ganz, nein, nicht ganz, denn ganz ins Leere geht nichts. Es antwortet ihm nur niemand. Nein, er ist nicht der Einzige, dem das geschieht. Im Grunde teilen sie alle sein Los, die Friedenwanger, Dürrobst, Blowasser, Ruffmann, Agosch, Lobbock und wie sie heißen, die Kämpfer wider die Natur ihrer Profession, hinter der sie eine andere freizulegen versuchen, die wahre Dimension der Berufung, das ›Überhaupt‹ inmitten der akademischen Selbstbehauptungsmaschine, in deren Bauch man sich gegenseitig Bedeutung attestiert, um sie sich im gleichen Akt wieder zu nehmen, denn sie ist nichts Besonderes, sie ist das, in dem alle gleich dastehen, ohne es sich eingestehen zu wollen.
Wenn Leckebusch über die Moderne redet, dann nicht, weil er sie entdeckt oder erfunden hätte, sondern weil er als Spezialist für Modernefragen gefragt ist.
So entsteht Einladungszwang. Ein Moderne-Symposion, auf dem gerade er fehlte, wäre unvollständig, es fehlte ihm an Kompetenz, es wäre … sag’ wie es ist: unerheblich. Zum Glück fehlt Leckebusch, sofern eingeladen, nur selten. Er müsste schon im Fieberdelirium liegen, um einmal abzusagen.
Auf seinen Terminkalender ist Verlass.
VERJÄHRTE REPUBLIKFLUCHT ERREGT /
DIE GEMÜTER WEST UND FÜHRT /
ZUR REFLEXION AUF DEN /
EIGENEN STANDORT
Der ›Akephalos‹, der kopflose Dämon, der als Wiedergänger der Zauberliteratur und der Märchen die Menschen schreckt, erinnert an die Herrschaft des ›Kopfes‹, des Verstandes und der Vernunft, also an das, was den Menschen ausmacht und am Ende an die Natur verrät. In der Scheu, im Zurückscheuen, im scheuen Beiseitesehen und -stehen bekundet sich eine Verschränkung beider Bereiche, die auf die Selbstdeutung der Gattung zurückwirkt. Ein Mensch, der vor einer Tat zurückscheut, ist etwas anderes als ein Tier, das scheut, vielleicht sogar, wenn man die Begriffe genauer untersucht, etwas grundlegend anderes. Aber das Verhalten, in dem seine Scheu zum Ausdruck kommt und an dem es ablesbar wird, unterscheidet sich nicht fundamental von dem des Tieres, es weist eine Ähnlichkeit auf, die bedacht sein will. Ein Mensch, der Scham zeigt, zeigt ein Stück Natur – ›seine‹ Natur wie ›Natur überhaupt‹.
DIXIT LECKEBUSCH
Seit die Welt besteht, hat es Denunzianten gegeben. Nichts kann
einen Menschen daran hindern, hinzugehen und seinen Nachbarn
›anzuschwärzen‹, wie das fatale Wort lautet, vor allem
nicht, wenn er sich dabei einen persönlichen Vorteil verspricht,
außer dem Gewissen, einem außerordentlich delikaten Gebilde, das
sich menschheitsgeschichtlich gesehen relativ spät und zaghaft zu
Wort meldet.
Nichts?
Oh doch.
Nichts liegt dem zu Unrecht Angegriffenen näher, als sich zu rächen, sich rächen zu wollen, selbst wenn der Zeitpunkt der Ausführung in weiter Ferne zu liegen scheint. Rache kann warten, sie verliert nichts dadurch, dass sie sich Zeit lässt, im Gegenteil: sie gerät furchterregender durch die Zeit, die sie sich lässt, und gräbt sich unwiderruflich in die Lebensgeschichte dessen ein, der sie zu fürchten hat, sie schließlich vielleicht sogar herausfordert, um die Sache kurz zu machen.
Eifersucht und Rache sind durch eine Reihe von Indikatoren miteinander verbunden, die aus ihnen ein Paar machen, fast wie ein Liebespaar, das sich durch einen Ehekontrakt aneinander gebunden hat und neben den Annehmlichkeiten dieses Status auch seine lästigen Seiten kennenlernt.
Elisabeth zum Beispiel: warum sollte sie sich rächen wollen? An wem? Wofür? An Liz, der etwas instabil wirkenden, dem Ehrgeiz ergebenen Studentin, dass sie den Stachel der Wollust in ihren etwas dröge geratenen Gatten eingesenkt hat? An Leckebusch, dessen Liebespraxis sie in- und auswendig gelernt hat, und die sie längst nicht mehr interessiert? Das wäre, wie sie sich selbst sagen kann, zu viel der Ehre … ja sicher, der Ehre, denn eine Ehre wäre es, von einer Person wie ihr verfolgt zu werden, die es immer abgelehnt hat, sich durch Klein- und Nickligkeiten vom vollen Genuss des Lebens, vor allem des sexuellen, abhalten zu lassen.
Eine Ehre und eine Inkonsequenz … gerade darin liegt, wie Frau Leckebusch in diesen Tagen feststellen muss, ein gewisser Reiz, ein fast neuer Reiz, an Zeiten in ihrem Dasein erinnernd, die vor der vollen Entfaltung der Rose liegen. Denn als Rose empfindet sie sich, daran besteht kein Zweifel, sie weiß dieser Selbstempfindung unauffällig durch die Wahl ihrer Garderobe Ausdruck zu verleihen, und die Männer … die Männer haben den Wink stets verstanden und auf ihre nicht immer formsichere Weise erwidert.
Eifersucht, der tückische Feuermelder, der heimlich den Brand legt, den er melden soll: man darf in ihr einen inneren Denunzianten sehen, der sein Werk ungefragt verrichtet, ohne nach den Folgen zu fragen. Ein Unheilstifter, kein Zweifel. Neid will besitzen, Eifersucht will zerstören – im Zweifelsfall, um sich Besitz zu verschaffen, aber es reicht auch die Zerstörung an sich, die Zerstörung um ihrer selbst willen. Von Eifersucht überwältigt, beginnt der Mensch sich selbst zu zerstören. Die ersten Trippelschritte auf dem einmal eingeschlagenen Weg kümmern ihn nicht. Er bemerkt sie kaum. Lange Zeit glaubt er sich zurückpfeifen zu können, wenn die Situation außer Kontrolle zu geraten droht. Das ist ein Irrtum. Der Kontrollverlust tritt sofort ein, aber er bleibt unbemerkt. Auch darauf lassen sich Karrieren bauen.
der eine offen, der andere hinterrücks: wo steckt die Eifersucht? Besitzen sie Gründe, das Fu-Projekt zu erdrosseln? Eher nicht, wenigstens keine persönlichen… Fachliche sowieso nicht, da es sie in ihren Fächern nichts angeht. Allenthalben spürst du den Widerstand, den sie dir eingebrockt haben. Längst ist er zum Selbstläufer geworden und bedarf ihrer Anschubkünste nicht mehr. Befriedigt sie das? Haben sie ihre Schuldigkeit getan? Aber wem waren sie etwas schuldig – und was? Offenkundig sich selbst: ihrem Ego. Was hat es verletzt, das zarte Pflänzlein, was konnte es so verletzen, dass daraufhin dieser Angriff erfolgen musste – ja, musste, denn irgendein Müssen muss doch im Spiel sein, wenn aus Spiel unversehens Ernst wird.
Aber guter Freund: Ist das nicht fast schon eine Definition der Eifersucht? (Stimme des Inneren)
Man kann Fu nicht verstehen, wenn man den Sex aus dem Projektmittelpunkt verbannt, gesitteter gesprochen, die Lustmaschine, die aller menschlichen Tätigkeit innewohnt und den Einzelnen zu Höchstleistungen treibt, von deren Möglichkeit er ohne sie keine Kenntnis besäße … aber es sind nicht die Höchstleistungen allein, welche die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich ziehen, es ist die asoziale Sozialität, die sich in ihr zur Schau stellt, und damit … damit … ja was denn? … der Motor, der in den sozialen Analysen der braven Kollegen fehlt, in denen es von Strukturen wimmelt, von denen keine, für sich genommen, auch nur den kleinsten Finger in Bewegung setzen würde… Und dabei stecken sie bis über beide Ohren im rüden Sexismus ihrer Generation fest, no sex no choice, ihre Tagträume wimmeln von better sex, bloß das Fach, die fachlichen Zwänge drücken ihnen die Maske aufs Gesicht, die Maske des roten Todes, den sie repräsentieren, jeder für sich und alle gemeinsam, die alles Greifbare auflösende Maske der begrifflichen Korrektheit, der Ein-Aus-Schalter, der herrschaftsfreien Diskurse und der strukturellen Hermeneutik. Nein, es ist nicht Neid, der sie bewegt, schließlich könnten sie sich jederzeit an denselben Themen bedienen, es ist Eifersucht, wirkliche blinde Eifersucht, denn du hast etwas getan … etwas getan … wovon ihnen des Teufels Großmutter beizeiten abgeraten hat: du hast den Stier bei den Hörnern gepackt und dazu fehlte ihnen der Mut, vielleicht auch noch etwas anderes, etwas Unaussprechliches, jedenfalls wenn man gestrickt ist wie sie – Statur.
Das ganz normale Übelwollen grundiert den Umgang zwischen den
Menschen.
Man muss ihm nur auf die Schliche kommen.
Die perfekte Maske des
Zivilisationsmenschen ist, wie jeder weiß, die zur Schau getragene
Gleichgültigkeit, ein raffiniertes Kunstprodukt, nicht zu
verwechseln mit dem Anblick des selbstbezogenen Mitmenschen, der sich
unbeobachtet wähnt und deshalb die Maske lüftet.
›Dieses Gesicht glüht vor Lust.‹ Aha. Es ist nicht Ausdruck von Lust, es stellt sie nicht dar, es bildet sie auch nicht ab, es wird von ihr durchglüht, als habe es zufällig auf einer heißen Herdplatte gelegen, jedenfalls verarmt seine Beweglichkeit unter dem Ansturm dessen, was hinter ihm vorgeht. Lust hat kein Gesicht.
›Dieses Gesicht glüht vor Lust.‹ Aha. Es ist nicht Ausdruck von Lust, es stellt sie nicht dar, es bildet sie auch nicht ab, es wird von ihr durchglüht, als habe es zufällig auf einer heißen Herdplatte gelegen, jedenfalls verarmt seine Beweglichkeit unter dem Ansturm dessen, was hinter ihm vorgeht. Lust hat kein Gesicht.
Das lautlose Wabern, so sagt es Fu, ist die versagte Lust.
Was aber ist die Versagung? Sie ist eins mit der Maske. Es ist falsch
zu sagen, die Maske sei ins Gesicht eingelassen (oder ruhe ihm auf).
Die Maske ist das Gesicht, das menschliche Gesicht, um genau
zu sein, oder das, was am Gesicht menschlich ist (wobei die Grenze
zum Tier vielleicht nicht besonders scharf gezogen ist): ein
Steuergerät zur Manipulation fremder Wahrnehmung. Warum Versagung?
Weil es den Lustbezirk abgrenzt. Die Maske, schreibt Hanbüchl, der es wissen muss, in seinem neuesten Aufsatz, ist die
vom Menschen gezogene Außengrenze der Person. Ob einer dick aufträgt
oder den natürlichen Gesichtsausdruck vorzieht (eine Simulation, wie
wir wissen), ist eine Frage des Geschmacks, vielleicht der
Persönlichkeit, vermutlich eher der Mode oder der ›Kultur‹, auf
jeden Fall aber Ausdruck einer Binnendifferenz ohne grundsätzliche
Bedeutung. Entscheidend ist die Differenz zwischen Last und Lust,
zwischen äußerer und innerer Beziehungsdynamik (schreibt Hanbüchl).
Das wäre natürlich reiner Fu.
Okay, es ist Eifersucht. Eifersucht versteckt sich … versteckt sich … unter tausenderlei Masken … das ist so nicht richtig … sie produziert Masken am laufenden Band … sie ist nichts anderes … nichts anderes als … Gebrabbel … Lebendigkeit auf dem Grund … organische Substanz, aus der hin und wieder … Fontänen aufschießen … Geysire … dann tanzen die Masken…
Frage nicht nach dem Anlass, frage nach dem Vorwand.
Betrachte die Pyramide als anhaltenden Maskenball, als Ständige Vertretung der Masken im Raum der Wissenschaft. Nicht als ob es hier anders zuginge als anderswo, sie ist nur da.
Missmut. Gebrochener Mut. Woran gebrochen?
An der Grenze zwischen
Innen und Außen.
Missmut / Missgunst: beachte die Vorsilbe.
Es sind bloß zwei unter vielen. Vergiss das nie. Sie sind die Ausnahme, die anderen die Regel. Es sind aber zufällig diese zwei. Genauso könnten es zwei andere sein (oder drei oder vier). Es hat nichts zu bedeuten, dass es just diese beiden sind. Andererseits bedeutet es alles: schließlich hast du’s mit ihnen zu tun bekommen. Der neutrale Rest geht dich nichts an.
Was schwatzt du da?
Wie jetzt durchsickert, hat Friedenwangers Frau ihn hinausgeworfen (wegen Untreue, vermutlich im Dienst!). Seither teilt er sich mit seiner Geliebten, angeblich institutsnah, eine Ein-Zimmer-Wohnung, aus der er sich ›im tiefsten Grunde seines Herzens‹ hinauswünscht. Er hat, wie er seiner engen Umgebung, sprich Teuschner, gegenüber andeutet und Dowil munter weitertratscht, ein ›Männlein im Ohr‹. Ein Tinnitus erklärt vieles. Friedenwanger, der erklärte Libertäre, seiner eigenen Rede nach ›Libertinist‹ Freudscher Schule, wird der Skrupel nicht Herr, vielleicht auch nur des zehrenden Gefühls, von seiner Frau, bald ›Ex‹, gedemütigt worden zu sein, ja sicher gedemütigt, zu einem langen, sehr langen Spießrutenlauf verdammt, dessen Ende gegenwärtig nicht in Sicht ist.
Fragt sich nur, bei wem? Die Pyramide jedenfalls nimmt die Nachricht mit Gleichmut auf. Den männlichen Kollegen zaubert sie ein wissendes Lächeln ins Gesicht, dem einen oder anderen gedrückten Mitarbeiter ein schadenfrohes Grinsen, das prompt erlischt. Nie sollst du mich zitieren. An dieser Front, das zeigt sich bei der Gelegenheit, sind alle Leidende. Mehr oder weniger. Die Kolleginnen gehen darüber hinweg, als ginge sie das alles nichts an. Was, alles in allem, auf alle zutrifft. Häusliche Querelen lassen die Pyramide kalt. So kalt, dass man wie eh und je Friedenwangers andeutungsreichen Reden lauscht und darüber nachdenkt, welche Aufschlüsse man dem ungewöhnlich informierten (und daher allseits als Gesprächspartner geschätzten) Kollegen zum eigenen Vorteil entlocken könnte.
Fragt sich nur, bei wem? Die Pyramide jedenfalls nimmt die Nachricht mit Gleichmut auf. Den männlichen Kollegen zaubert sie ein wissendes Lächeln ins Gesicht, dem einen oder anderen gedrückten Mitarbeiter ein schadenfrohes Grinsen, das prompt erlischt. Nie sollst du mich zitieren. An dieser Front, das zeigt sich bei der Gelegenheit, sind alle Leidende. Mehr oder weniger. Die Kolleginnen gehen darüber hinweg, als ginge sie das alles nichts an. Was, alles in allem, auf alle zutrifft. Häusliche Querelen lassen die Pyramide kalt. So kalt, dass man wie eh und je Friedenwangers andeutungsreichen Reden lauscht und darüber nachdenkt, welche Aufschlüsse man dem ungewöhnlich informierten (und daher allseits als Gesprächspartner geschätzten) Kollegen zum eigenen Vorteil entlocken könnte.
Iris weiß Bescheid: Friedenwanger ist sakrosankt. Keiner kann ihm das Wasser reichen. Seit seinem gescheiterten Versuch, den Rektor zu stürzen, hat er sich zur Klatsch-, Missgünstige sagen: Desinformationszentrale der Fakultät gemausert. Dabei liegt ihm die eigentliche üble Nachrede fern. Sein Revier ist das Feld der Andeutungen, der sinistren Redensarten, der erstaunlichen Verknüpfungen gemäß dem Motto: Wer hätte das gedacht? Friedenwanger, so Iris, gibt Vermutungen Nahrung – nicht mehr, nicht weniger. Das lässt seinen Anteil an den umherschwirrenden Gerüchten im Unscheinbaren verschwimmen. Seriös, seriöser, Friedenwanger. Noch Fragen? Das hindert nicht, sagt Iris, dass er jetzt unten durch ist. Er weiß es noch nicht und das ist gut so. Er braucht das nicht zu erfahren.
Friedenwanger weiß nicht, dass er jetzt peinlich ist. Er weiß nichts, sieht nichts, merkt nichts, erfährt nichts, es sei denn, er würde die Bereitwilligkeit, mit der ihm neuerdings, wo immer er auftaucht, Platz gemacht wird, zu den Warnzeichen rechnen. Nicht dass das Flurvolk mehr Raum als sonst um ihn ließe, es fügt sich nur so, dass der Schließmechanismus der Zufallsballung mit einem Male entfällt. Da ist keine menschliche Schwelle, die Ankunft signalisiert. Er ist eben da, weil er da ist, was sonst? Er ist doch da oder etwa nicht? Das beruhigt ihn und verunsichert ihn ein wenig, weil … weil es ihn um seinen Einsatz bringt. Wir wissen, was du sagen willst, aber sag’s ruhig, wer weiß, vielleicht sind wir doch nicht so ganz im Bilde und du sollst alles sagen können, was dich augenblicklich beschäftigt.
Das ist beleidigend.
Schrecklichstes aller Gefühle – hinter den Erwartungen zurückbleiben. Wessen Erwartungen? Der Eltern, der Schule, der ›Ausbilder‹, der Dozenten, der Frau, der Kinder … der Vorgesetzten: ja sicher, warum sonst säßen sie da vorn, wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit umdrehten, um Rechenschaft zu verlangen: abrupt, überraschend, im falschen Moment, mit tödlicher Sicherheit in ein Vakuum stoßend, denn auf diesen Punkt vorbereitet ist keiner.
War Friedenwanger vorbereitet auf das, was geschehen würde, als er seine Frau auf das Terrain der Eifersucht lockte? Natürlich nicht. Genauso wenig wie sie, die eheliche Treue von Beginn ihrer Beziehung an ablehnte – als männliche Repression selbstverständlich, als Hohn auf ihr frauliches Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Arglos waren sie beide. Und doch brach der Vulkan just an dieser Stelle aus, ganz ohne Abstimmung. Er hatte immer schon da gelegen und seismische Messungen hätten die beiden von langer Hand warnen müssen.
Waren sie ungewarnt? Natürlich nicht. Sie waren, wenn man so will, mehr als gewarnt. Sie hatten ihre Beziehung darauf gebaut, die Warnungen in den Wind zu schlagen: die erste Generation ohne Liebesfurcht, ohne Maske, ohne Geheimnisse… Sie sind in das Geheimnis geraten wie Kinder, die von Überraschung zu Überraschung eilen und vor Entzücken in die Hände klatschen, während drei Schritte weiter der Abgrund klafft. Das Geheimnis hat sie empfangen, wie es jeden empfängt: scheinbar zurückweichend, mit offenen Armen, mit Selbstverständlichkeiten, die sich gut und vertraut anfühlen, von langer Hand vorbereitet und nunmehr abrufbar, Regalmeter voller Selbstverständlichkeiten, plötzlich abgeräumt…
Wessen Erwartungen also? Friedenwanger weiß es nicht, wird es nie wissen, so angestrengt er sich auch den Kopf zermartert. Er kennt diese Frau nicht, seine Frau, bald Ex, das fremde Wesen, das wie selbstverständlich den Platz der vertrauten eingenommen hat. Er weiß nur, dass er in ihren Augen versagt hat, Versager auf ganzer Linie, auf alle Zeit, für alle Gelegenheit. Er liest es in ihren Augen. Ach wären es nur die Augen! Die Seele liest mit, er liest es sich aus der Seele, die Botschaft, so da denn eine wäre, ist doppelt: er selbst hat sich verurteilt, doppelt verurteilt, das Urteil der Frau ist das Urteil der Welt, die gnadenlos zusieht, wie sein selbstbestimmtes Leben Schiffbruch erleidet, und ihre Schlüsse zieht.
Von ihm, dem Friedenwanger, hätte man anderes erwartet.
Ganz anderes.
Das Männlein im Ohr … was bläst es ihm ein?
Wovon spricht so ein Stimmlein den lieben langen Tag und vielleicht
darüber hinaus?
Pssst. Du lebst in Sünde. Gehe hin und tue Buße.
Nein, das ist es nicht.
Oder halb, auch diese Glocke schlägt in ihm an.
Er kennt sie wohl, die Stimme des ideologischen Feindes,
er gerät in Kampflaune, sobald sie sich in ihm meldet, darin ist er
geübt. Die Predigt des Männleins hingegen, diese physiologische
Verirrung, klingt anders.
Du bist ein Versager, sirrt es im Ohr, unwürdig der Lehren des erhabenen Fu. Niemals wirst du ins Paradies der Lüste eingehen. Geh hin und krepiere in der Hölle des schlechten Gewissens!
So lautet die dechiffrierte Botschaft des Körpers.
Bei dem Wort Fu richtet der alte Adam sich auf und deutet mit Fingern, schwer wie
Blei, auf den Nächsten.
Wer ist der Nächste?
Der? Oder der? Kann nicht sein.
Wessen Weib?
Dieses … Weib müsste ihm erst vorgestellt werden.
Du? Wer du?
Das wäre dann wohl … der andere.
Friedenwanger muss bloß den Finger ausstrecken.
Schon spritzt es heraus:
Wir haben den Menschenverderber im Haus.
Fasst ihn!
Schlachtet ihn ab!
(Aber lautlos, es
schickt sich nicht, dass die Hände der Wissenschaft sich mit Blut
röten.)
Du bist erkannt. Dein kleiner gemeiner Wahnsinn konzentriert sich in dieser Botschaft, die keine ist, die keine sein will, nur eine Spritze voll Gift, weitergereicht an die Kollegen, auf dass einer von ihnen die Tat vollende, aber erst, wenn die Spur, die zu dir führt, verblichen ist. Denn schuldig schuldlos, das bist du, und deine Schuldlosigkeit erweist sich am Schicksal des anderen, des wahrhaft Schuldigen, dafür wirst du sorgen. So wenig es Schuld im aseptischen Treiben der Wissenschaft geben kann, so wenig kann ein Friedenwanger Schuld tragen. Er kann sie nur deponieren.
Wenn das ausgesperrte Sündenbewusstsein wiederkehrt, wird es nicht sagen: Ich bin das Sündenbewusstseins. Was du tust, ist Sünde. Vielmehr wird es sagen: Ich bin dein Seismograph. Vertraue dich mir an, ich werde dir alle ideologischen Verräter verraten, denn im Aufspüren des inneren Feindes bin ich groß. Im Grunde bin ich nichts weiter als eine kleine physische Unpässlichkeit, ein lästiger, aber treuer Begleiter, der anschlägt, sobald ein unsicherer Kantonist sich blicken lässt. Warte, das muss ich dir erklären. Was ist ein unsicherer Kantonist? Ein unsicherer Kantonist ist einer, der unser aller Überzeugung auf den Prüfstand stellt. Ein Selbstdenker, ganz recht, ein ›Selbsthenker‹, wie Nietzsche zu Recht bemerkt, ein Siegfried meinethalben, je argloser seinem momentanen Geschäft in der Gruppe ergeben, umso schlimmer für ihn, umso schlimmer für die Gemeinschaft.
So wird es reden, das weiterhin ausgesperrte Sündenbewusstsein, das längst seine Fesseln gelöst hat und kommt und geht, wie es ihm passt, denn ihm ist jede Maske recht.
Wäre Friedenwanger nicht Friedenwanger, das heißt ein zutiefst blamabler Mensch, dann könnte er um sich blicken und feststellen: Wir sind viele. Wir sind – um die Sprache der Bibel zu bemühen, die ihm so liegt, dass er sie scheut ›wie der Teufel das Weihwasser‹ (er hat nebenher ein Bibelprojekt laufen, das sie umschreiben soll) – Legion.
Wäre Friedenwanger nicht Friedenwanger, das heißt ein zutiefst blamabler Mensch, dann könnte er um sich blicken und feststellen: Wir sind viele. Wir sind – um die Sprache der Bibel zu bemühen, die ihm so liegt, dass er sie scheut ›wie der Teufel das Weihwasser‹ (er hat nebenher ein Bibelprojekt laufen, das sie umschreiben soll) – Legion.
Friedenwanger, das ist der sündige Mensch, der sich täglich die Unschuldsbescheinigung ausstellt und dafür den Mitmenschen madig macht. Der Krieg gegen die Sünde, in den er, so gläubig wie blind, als tapferer Soldat einer besseren Welt hineinmarschierte, hat sich für ihn als eine Nummer zu groß erwiesen. Beim erstbesten Treffen hat er seine Kräfte zerstört und eine zuckende Kreatur hinterlassen, mit der er sich identifizieren darf oder nicht – es macht keinen Unterschied. Für die Kollegen – und nicht nur für sie – ist Friedenwanger, unser allseits geschätzter Friedenwanger, der mit dem Männlein im Ohr, er muss nichts weiter erläutern, denn sie wissen gerade so schon Bescheid. Sie sind verständigt.
Wäre Friedenwanger, so träumt er sich fort, nicht ein geachteter Wissenschaftler, dann wäre er Guerillero irgendwo im südamerikanischen Urwald, durchglüht vom Hass auf ugly America, das Halstuch dramatisch geknüpft, mit der Waffe im Anschlag: fern jedem inneren Konflikt und durchdrungen vom Recht auf den weiblichen Körper, das die Kalaschnikow, das Instrument revolutionärer Liebe, nun einmal verleiht, weil es ihn, ganz ohne Vergewaltigungsphantasie, schmelzen lässt.
Für eine Überraschung ist Teuschner immer gut.
Da müsstest du schon durch die Finger sehen, bloß um etwas
zu sehen.
Frage: Warum solltest du?
Warum eigentlich?
Liz, das ist: die junge Frau in Bewegung. Kein ganz neues Thema,
zugegeben, ein Beitrag zum Thema Banalität des Banalen. (Dass
dir das jetzt einfallen muss!)
Nein, keine Schönheit trat da auf dich zu. Hübsch herb, so ließe
sich der erste Eindruck sortieren, dem bislang kein anderer folgte.
Warum eigentlich nicht?
Das liegt an der Bewegtheit.
Ein bewegter Körper zieht die Aufmerksamkeit des Jägers auf sich, das ist so. Dafür gibt es gute Gründe, die außerhalb des akademischen Universums liegen, aber innerhalb seiner Möglichkeiten relativ gründlich erforscht wurden.
Kann sein, muss nicht sein. Dieser hier zieht den Blick nicht auf,
sondern an sich.
Liegt da ein Unterschied?
Aber sicher. Ein gewaltiger.
Dein Blick, jeder Blick sucht den Körper im Raum. Ist dieser
Körper schön, explodiert der Blick. Er flutet gleichsam in dich
zurück.
Ist das so? Ja, so kann man es sagen.
Was, wenn der Blick, von der Bewegung des Körpers angelockt, vorzeitig abgelenkt würde? Wenn er, hineingezogen in diese Allzeit-Bewegtheit, ins Trudeln geriete? Vielleicht ist Trudeln nicht das richtige Wort, vielleicht liegt darin eine Schärfe des Urteils, die revidiert werden muss. Aber Flattern, Taumeln, Irrlichtern, das sind so Wörter, bei denen der Zeiger ausschlägt und meldet: Getroffen!
Ist dieser Körper, nüchtern betrachtet, stämmig?
Ja, er ist stämmig.
Ist dieser Körper, abschätzend betrachtet, grazil?
Ja, er ist grazil.
Liegt da nicht ein gewisser Widerspruch vor?
Aber sicher. Das Geheimnis der banalen Hübschheit liegt in diesem Widerspruch.
Aber es kompliziert die Dinge unnötig, hier einem Geheimnis das Wort zu
reden. Spar dir den Ausdruck für Wichtigeres auf.
Was willst du von diesem Körper?
Nichts.
Warum musterst du ihn dann so genau?
Ich? Mustern? Wie kommst du denn darauf?
Weil du ihn musterst. Jedenfalls in Gedanken.
Gut, dann mustere ich ihn in Gedanken. Eigentlich fahnde ich
gerade nach ihm. Was ist da zu finden? Ich finde nur einen Wirbel.
Die Frage ist doch, ob du dich mitreißen lässt. Lässt du?
Wenn du mich so fragst: nein. Ich lasse mich nicht mitreißen. Ich
finde sie auch nicht hinreißend. Ehrlich gesagt: ich finde sie gar
nicht.
Das musst du erläutern.
Ich fahnde nach ihr und ich finde ein Mundwerk.
Ein Mundwerk? Warum ein Mundwerk? Was ist mit dem Rest?
Nun, es gibt Augenblicke … Manchmal sehe ich wie durch einen Spalt. Dann stoße ich auf
ihren Körper und pralle zurück (so wie jemand vor der Nacktheit
eines anderen zurückprallt). Versteh mich jetzt nicht falsch. Ich
›erblicke‹ sie nicht ›nackt vor mir‹ oder dergleichen. Es ist nur
… dieser Körper, als Körper ins Auge gefasst, wirkt auf dich so,
wie ein nackter Körper – ein nackter, zufällig durch die Büsche
erspähter Frauenkörper, wir verstehen uns wohl – auf dich wirken
würde, würde wohlgemerkt, denn hier ist von keinerlei
physischer Nacktheit die Rede, im Gegenteil, sie wirkt sehr
angezogen, nicht in diesem mondänen Sinn, sondern im Alltagssinn, so
als mache sie nicht viel von sich her. Andererseits –
Ja?
… liegt dem vielleicht eine Fehlwahrnehmung zu Grunde. Denn
dieser alltägliche Aufzug – Jeans, Männerhemd,
Camouflage-Jäckchen – wirkt auch wieder wie mit viel Bedacht
ausgewählt, so als sei die Trägerin, nach dem Durchgang durch den
Kleiderschrank, erneut auf ihn zurückgekommen, aber hastig, als habe
ihr ein Termin das letzte Quäntchen Sorgfalt abgenommen und nun
erscheine sie so, wie sie nun einmal sei und man müsse ihr das jetzt
halt abnehmen.
Nimmst du es dir ab?
Dumme Frage. Würdest du…?
Stell sie, bloß in Gedanken, neben Elisabeth. Was siehst du da?
Einen Kobold neben einer Frau.
So streng?
Ist das streng? Ist das gerecht? Ist das … sexistisch? Das sind
so Wörter.
Jedenfalls scheint ihr Charme zu wirken. Hast du gesehen, wie
fahrig Leckebusch wirkte?
Fahrig und doch entspannt. Als ob er in der Kulisse
säße und ihrer beider Spiel kontrollierte: Sind wir auch gut? Ja sicher,
wir sind gut. Aber sehen das auch die anderen?
Zum Teufel mit den anderen. Du hast gesehen, was du nicht sehen solltest.
Du?
In diesem Fall: Jedermann.
Wer sonst? Elisabeths ›Liebhaber‹?
Seltsame Frage. Sehr seltsame Frage. Noch verbindet uns das Projekt. Diese Liz? Undenkbar, sie einzubinden. Jedenfalls scheint es undenkbar, jetzt, in diesem Moment, der vielleicht rascher vorbeigeht, als dir lieb ist.
Ist Elisabeth Teil des Projekts? Ja und nein. Wir spielen es einander vor. Sie Regisseurin, du Arrangeur. Wo liegt der Unterschied? Vielleicht darin: du weißt, was du tust, sie weiß, was du tust. Darin liegt eine gewisse Asymmetrie. Du überwindest sie durch Beschreibung. Du versuchst, sie durch Beschreibung zu überwinden. Aber Elisabeth ist nicht die Frau, die sich beschreiben lässt.
Was lässt dich jetzt an Elisabeth denken?
Zweifellos Leckebusch.
Diese Liz wird ihren Weg machen, dessen bist du dir sicher.
Welchen Weg?
Wessen bist du dir sicher?
(Das abgegriffene Ausdrucksfeld, plötzlich reaktiviert, flößt dir Unbehagen ein, nein, es verdeutlicht ein Unbehagen diesseits der Barriere, der berühmten Fu-Barriere, an der die Bewerber sich drängeln.)
Asymmetrie ist der Schlüssel zur Symmetrie.
Warum Symmetrie? Weil du sie voraussetzt.
Immer und überall.
Darin liegt der Fehler des Projekts.
Wieso Fehler? Darin besteht das Projekt.
Darüber musst du nachdenken.
Na dann –!
Ein Projekt ist ein Projekt.
Nenne es mit dem hausbackensten aller Namen: ein Vorhaben.
Du hast etwas vor und lässt andere daran teilhaben.
Klingt trivial. Worauf willst du hinaus?
Auf Trivialitäten. Fürs erste: unterscheide passive von aktiver Teilhabe. Es ist ein Unterschied, ob jemand an der Planung eines Projekts teilhat oder an seiner Ausführung.
Planung = aktive Teilhabe.
Ausführung = passive Teilhabe.
Doch damit überblendest du etwas.
Du kannst ein Projekt auf zweierlei Weise planen.
Erstens: Plane das Ziel.
Zweitens: Plane die Ausführung.
Plane beides zugleich und du wirst scheitern.
Der Mensch als Stoff und Ziel (= das Experiment).
Experimentiere mit Menschen und das Scheitern ist programmiert.
Der Körper dieser Frau verströmt Ehrgeiz (wie ein falsches Parfüm).
Der Ehrgeiz zerstört das Ziel (Die Einzige und ihr Eigen-tum).
Projekt, das, – etwas, das
Was ist dein Fu-Projekt?
Herstellung von Symmetrie zwischen den Geschlechtern.
Das war das Ziel von Anbeginn. Es war das ›Leit-Ziel‹.
Hast du das in deinen Anträgen je so deutlich formuliert?
Natürlich nicht.
(Solche Dinge laufen unter dem Motto: Wer will, weiß Bescheid.)
Darin ist wenig Fu.
Das Fu-Ziel lautet (wie jeder weiß):
Freisetzung des produktiven Einzelnen durch kontrollierte Promiskuität. Das Leit-Ziel hat also, kaum in der Welt, einen Zwilling bekommen: Produktivitätssteigerung.
Dieser Zwilling stammt nicht von dir.
Du bist der, der’s probiert.
Also c.
Wie das?
Es ist dein Projekt und du wärest Teilhaber erst auf der dritten Stufe?
Selbstverständlich hast du’s gewusst.
Aber du hast es verdrängt.
Verdrängt? Warum verdrängt?
Dein Ehrgeiz reichte nicht höher.
Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Das hieße doch, dass über diese Dinge nach Ehrgeiz entschieden würde. Aber so laufen die Dinge nicht. Was sie zum Laufen bringt, was sie wirklich zum Laufen bringt, darüber zu befinden … steht dir nicht zu.
Warum das denn?
Ist das eine philosophische Frage oder ist es eine Machtfrage?
Und wenn es eine Machtfrage wäre, wäre es dann keine philosophische?
Und wenn es eine philosophische wäre, wäre es dann keine politische?
Keine, die alle angeht?
Was ging dich, als du dein Projekt formuliertest, die Frage der allgemeinen Produktivität an? (Nicht deiner, die steht auf einem anderen Blatt.)
Nichts zweifellos. Sie gab dir die Möglichkeit, dich einzuklinken.
Also stand sie im Raum. Greifbar? Ungreifbar? Unsichtbar? Ein weißer Elefant?
Natürlich nicht. Sie stand für die Überlegenheit des ›Systems‹.
Du bist ein Soldat des Systems.
Einer aus der Schar derer, die sich ihre Mission selbsttätig suchen.
In Maßen. In bescheidenen Maßen.
Alles.
Diese Aussage ist brutal.
Aber korrekt.
Du bist so unterwegs.
Es ist ›gesetzt‹ (anders als die Frage der Produktivität!).
Du hast die Klassiker studiert und du fandest ihre Aussagen über das ›andere Geschlecht‹ anstößig.
Fu: der Ausnahme-Klassiker (aber vielleicht täuschst du dich da).
Natürlich kannst du dich hinstellen, dir an die Brust klopfen und behaupten, du selbst seist Fu – das würde dich auf die zweite Teilhabe-Stufe befördern –, aber diese Selbstbeförderung wirst du hübsch bleiben lassen. Erstens machtest du dich lächerlich und zweitens … warum muss es immer ein ›zweitens‹ geben? Reicht es nicht, dass einer sich lächerlich macht? Aber natürlich, es gibt auch den zweiten Grund, du siehst ihn und er sieht dich –
Wenn Elisabeth jetzt die Nerven verliert und Leckebusch … sich verliebt (sagt man das so?) – was passiert dann?
Sie werden zu Teilhabern der Stufe a.
Bist du dir sicher?
Wie kann sich einer da sicher sein?
Und doch sieht es so aus.
Elisabeth, das ist: die Freiheit der sexuellen Entfaltung.
Leckebusch, das ist: die a-sexuelle Freiheit im Sexuellen.
Liz, das ist: Sexus als An-Eignung.
Eine kluge Studentin, das ist diese Liz, jedenfalls fändest du keinen Mann im Raum, der nicht so dächte, mancher vielleicht auch mehr, du willst keinem zu nahe treten, jeder hat seine Präferenzen, jede Präferenz hat ihr Personal fest im Griff.
Wirklich? Und wenn schon. Es wäre falsch, hier ein Fragezeichen zu setzen. Es gilt das gesprochene Wort. Das ist zwar eine Politiker-Phrase, unbrauchbar unter den Bedingungen der Akademia, wo so vieles ins Unreine gesprochen wird und nur die ausgereifte, schriftlich fixierte Rede den erhofften Verlässlichkeitsgrad birgt, aber in diesem Fall … in diesem Fall…
Er wird doch nicht zu weinen anfangen, der Gute? Nein, es war eine nervöse Irritation.
Du bist also Leckebuschs Vertrauter. Die Erkenntnis will
verdaut sein. Alles, was im Rahmen des Projekts besprochen wird, unterliegt der
Verschwiegenheitspflicht, demnach auch der Gegenstand seines Vertrauens.
Dergleichen gilt – selbst für den Fall, dass sie missbraucht wird. Es steht, im
Vertrauen, nicht gut um Leckebuschs Ehe und er ist gewillt, wie er sagt, die
Dinge zu sehen, wie sie nun einmal liegen. Nicht dass er sich etwas vorzuwerfen
hätte – er, der gereifte Mann und dieses … dieses … Mädchen, hätte er
beinahe gesagt, sagt es im Beinahe-Modus, ein Lächeln huscht über seine
Züge, hier geht es überhaupt nicht um Schuld.
Worum dann?
Leckebusch ist noch nicht so sehr ›Fu‹, dass er Elisabeths Eskapaden mit blankem Unverständnis begegnete. Sie hinzunehmen fällt schwer, aber: ›Wat mutt dat mutt‹. Elisabeth hat recht, es muss etwas geschehen. So kommt er, scheu aber unerbittlich, auf seinen Haupt-Punkt zu sprechen. Nein, er braucht dich nicht als Vertrauten. Er möchte den Spatz in deine Obhut geben, von Mann zu Mann, gewissermaßen im Rahmen des Projekts, aber dann doch wieder…
Welcher Mann hätte kein Verständnis für seine Lage? Wie Leckebusch sich allerdings den Vorgang, pardon: die Übergabe vorstellt, das steht auf einem anderen Blatt. Ehrlich gesagt, hältst du ihn nicht für besonders findig in solchen Dingen. Ehrlich gesagt, hältst du dich nicht für besonders findig in solchen Dingen.
Worin besteht es überhaupt, das Betreuungsverhältnis? Wer betreut hier wen? Das ist … nicht völlig ersichtlich. Mag sein, sie hat sich irgendwann an seine Fersen geheftet (»nach einem Heulkrampf im Seminar«, wie er sagt), die ›junge Frau‹ an die des Professors, mag sein, er hat sie ursprünglich ›aus Mitleid‹ nach Hause gebracht, wo Elisabeth sie erst einmal unter ihre Fittiche nahm (sie hat diese zupackende Art), mag sein, das ›Vertrauen‹ zu ihm war anschließend da (wo sonst?), mag sein, daraus ›entwickelte sich‹ eine Vertrautheit ohne sexuelle Komponente (»nichts Erotisches, eher ein Vater-Tochter-Verhältnis, aber nicht wirklich«), mag sein, sie feierten wahre Orgien der Bravheit in Elisabeths Abwesenheit (aber warum?), mag sein, dass Elisabeth übergangslos ›giftig‹ wurde (»rastete ganz schön aus«), ›grundlos‹, versteht sich, das heißt ohne einen der vorgeschriebenen Gründe, mag sein, dass seither der Haussegen schief hängt (das sagt er nicht, aber es ist der Sinn seiner Worte), mag sein, dass seine Wahrnehmung da nicht trügt, mag alles sein –:
… wenn alles so ist, wie er sagt, das heißt, wenn er dir nichts vorflunkert (auch sich, aber das ist im Augenblick nicht so wichtig), dann erhebt sich die Frage – sie erhebt sich riesengroß, ein Berg, der euch beide als veritable Zwerge dastehen lässt –, warum er damit zu dir kommt, als seist gerade du der Meister aller Probleme, gerade du. Das ist nichts Persönliches (es gibt nichts Persönliches zwischen euch), es ist klar und eindeutig ein Verstoß gegen die Regeln.
Regel eins lautet:
Leckebusch steht am Fenster, dir zugewandt, er hat seine Spannkraft wieder gefunden und hat dich verplant. Er hat dem Regal ein Buch entnommen, er blättert darin, du kannst dir keineswegs sicher sein, dass er nicht gerade in diesem Augenblick eine Fußnote formuliert, so vollständig steht er im Raum, mit forschendem Blick, gehbereit – ihr solltet zum Abschluss kommen, das von ihm eingeplante Zeitkontingent scheint bereits aufgebraucht. Aufgebracht bist du: wenigstens aufgewühlt, denn was dir hier in aller Freundschaft begegnet, das ist der Versucher, gewillt, das Minimum an Regeln zu durchbrechen, das notwendig ist, um das Projekt am Laufen zu halten, und er verlangt von dir mit der größten Selbstverständlichkeit: ein Gleiches. Nichts fiele dir leichter, als der beiläufig angetragenen Freundschaft mit ebenso angelegentlicher Feindschaft zu begegnen. Sie ist vergiftet. Nichts weißt du genauer in diesem Augenblick, der unter dem Druck eines fremden Terminkalenders vehement vergeht.
Elisabeth hält sich einen Cicisbeo. Das mag ihr gutes Recht sein, aber auch das ist gegen die Regel. Das Projekt ist kein Nebenauslauf, es verlangt, dass du eins bist mit deinen Schritten. Das steht zwar nirgendwo explizit geschrieben, aber es versteht sich, sobald man es ernst nimmt, von selbst. Was Elisabeth ernst nimmt, du hast es nie ergründet, du hast dir die Frage nie vorgelegt, jetzt holt sie dich ein. Dass sie vehement auf sexueller Selbstbestimmung besteht – Promiskuität als Lebensinhalt –, hindert sie, wie es scheint, nicht daran, mit Zähnen und Klauen, den willigen Helfer immer an ihrer Seite, ihr Revier von potentiell gefährlichen Einflüssen freizuhalten. ›Mit Zähnen und Klauen‹, ganz recht. Davon legt der geschundene Ehemann Zeugnis ab (der vielleicht nicht so unschuldig an der Entwicklung ist, und sei es nur dadurch, dass er bei alledem sich der Sonderbehandlung als williges Opfer angedient hat – mag sein, nicht gerade willig, aber, um es in ein Wort zusammenzufassen, rollenfromm.)
Troll dich, Leckebusch: was du verlangst, ist unanständig. Es vertraut auf den allgegenwärtigen Mechanismus der Korruption und zielt damit, als wäre nichts selbstverständlicher als das, auf die Projektleitung selbst. Diese Sicherheit, diese unerhörte Sicherheit verschlägt dir den Atem. Er hätte dir Elisabeth anbieten dürfen und du könntest erstaunter – und befremdeter – nicht sein. Immerhin ließe sich in diesem rein hypothetischen Fall damit argumentieren, hier wolle einer das verhasste Ehejoch abschütteln, um sich ganz dem Fu-gewollten Binden & Lösen zu widmen. Das wäre zwar ein Fauxpas – sag’s derb: eine Peinlichkeit sondergleichen –, aber immerhin, auf dem projektierten Weg läge es schon. In diesem Sinne markierte es ein, wenngleich perverses, Fortschrittsstadium. Wer weiß schon, welche Talsohlen an Hilfsbedürftigkeit durchschritten werden müssen, ehe der entfesselte Trieb seine Rechte mit aller Selbstverständlichkeit geltend zu machen imstande sein wird? Dagegen ist das, was Leckebusch hier bietet, eine Manifestation des Versagens auf ganzer Linie.
Es gehört sich nicht und es ist unerhört.
Elisabeths tall boy, ein strammer Lockenkopf mediterraner Prägung – »die zarteste Versuchung, die es je gab«, wie sie dir einmal, in Anlehnung an einen zum Sprichwort mutierten Werbespruch, mit verschmitztem Lächeln mitteilte –, fehlt in Leckebuschs Rechnung: eine klaffende Asymmetrie, denn nichts wäre einfacher gewesen als gleiche Rechte zu fordern. Versuchte er’s am Ende? Wirkt er deshalb seelisch so zerschrammt?
Generationen von Frauen haben sich das Recht auf den Hausfreund erkämpft – das steht so zwar nicht in den Geschichtsbüchern, aber es anzunehmen liegt nahe –, es gab Zeiten, da lief er als fester Bestandteil des Ehekontrakts mit und die Dame des Hauses hätte sehr erstaunt reagiert, wäre jemand, die obligaten Betschwestern ausgenommen, auf die Idee verfallen, Anstoß an ihm zu nehmen. Nun, jene Zeiten setzten mehr oder weniger stillschweigend voraus, dass der Ehemann seine Bedürfnisse außerhalb des Hauses zu befriedigen wusste. Sie stellten also eine Konzession an den Umstand dar, dass der ›Kontrakt‹ die Frau ans Haus band und ihr damit aushäusige Liebschaften erschwerte. Besser der Rivale im Haus als die Frau im Haus des Rivalen – so muss wohl die ursprüngliche Regel gelautet haben, der sich ein Leckebusch in der gleichen resignativen Unschuld beugt wie einer seiner Vorgänger im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Ein System der checks and balances, kein Zweifel: es gehört wenig Phantasie dazu, sich Elisabeth mit hochgezogenen Augenbrauen vorzustellen, sollte Leckebusch es gewagt haben, tall boy ins Gespräch zu flechten – das sei nun wirklich etwas ganz anderes und stehe hier nicht zur Diskussion. Andererseits verkörpert Elisabeth, wenn irgendwer, den Typus der ›aushäusigen Frau‹. Ihr Erstaunen würde den höchstmöglichen Gipfel erklimmen, sollte Leckebusch auf den Gedanken verfallen, sie, und sei es nur für ein paar Stunden, um ihre häusliche Anwesenheit zu ersuchen:
Und damit hätte sie recht.
Natürlich weiß Leckebusch, rein historisch, was ein Cicisbeo ist und worum es sich dabei handelt. Ob er ihn im eigenen Hause erkennt? Eher nicht … aber er respektiert das eingetretene ungleiche Verhältnis, er akzeptiert es sogar, wenngleich nicht völlig. Irgendwie scheint es Elisabeths Persönlichkeit auf eine von ihm nicht ganz durchschaute, vielleicht undurchschaubare Weise abzurunden – gewissermaßen zu vervollständigen. Gewiss, auch der soziale und selbst der geistige Mensch besitzt einen Körper und bedarf der Gliedmaßen, das ist … das ist doch … keine Frage. Allerdings überfällt ihn, bei allem Verständnis, von Zeit zu Zeit dieses unerklärliche (und vielleicht unerklärbare) Bedürfnis nach Selbstvervollständigung, ein toller Drang, jemanden einzuschleppen, der die Symmetrie wieder herstellen könnte, weniger, um Elisabeth Paroli zu bieten – das wäre gefährlich und führte zu nichts –, sondern um ihnen beiden zu helfen, wieder Ordnung in ihre Angelegenheiten zu bringen, gewissermaßen durch Steigerung der Unordnung… So etwas soll gelegentlich funktionieren.
Mit Liz hat es eher nicht funktioniert, überhaupt nicht – eine furchtbare Sache, die sich da eingeschlichen hat. Aber die Sache mit Liz ist ohnehin eine andere. Mit den Ausschlägen auf der Küchenwaage hat sie rein gar nichts zu tun. Nie hätte er diese schutzlose Person benützt. Er hat sie in Elisabeths Obhut gegeben wie einen … Sperling mit gebrochenem Flügel, aufgelesen am Wegrand, um von Zeit zu Zeit nachzusehen, wie es ihr geht, sich sozusagen des fortschreitenden Heilungsprozesses zu vergewissern.
Doch was sagt man nicht alles so.
Offenbar lässt sich in einer Ehe alles auch anders sagen. Da liegen Vokabeln auf Abruf bereit, die er seit der Pubertät nicht mehr benützt und kaum mehr vernommen hat. Er hätte nicht angenommen, dass Gassenwörter zu Elisabeths Wortschatz gehören. Er hätte auch nicht erwartet, es würde sich so lebendig anfühlen, sollten sie dereinst zwischen ihren schwungvoll gebogenen Lippen hervorsprudeln. Leider muss er feststellen, dass diese Art drangvoller … ach was, peitschender Lebendigkeit ihn heillos überfordert. Mehr noch überfordert ihn die eingetretene, von der Herrin aller häuslichen Klassen nüchtern dosierte Kühle.
Druck und Sog –
kaum hat Leckebusch die Wohnung erreicht, fühlt er sich, als sei er zwischen die Backen einer Luftpumpe geraten. Theoretisch könnte er im Büro bleiben, könnte, bei wohltuend entspannter Atmosphäre, dort weiter an seinem Buch arbeiten, er hat sich schon überlegt, eine Luftmatratze hineinzuschaffen. Allein der Blick der Sekretärin, Frau Gardan (furchtbarer Name!), … Wie peinlich wäre das wohl? Zu peinlich jedenfalls, um in Betracht gezogen zu werden.
Arroganter Affe.
Arroganter Affe.
Ungebremst geht von hier oben der Blick in die Weite, trifft sich am Horizont mit einem feinen, sehr feinen Dunst, in dem die Häuser der Stadt ohne Ende … nein, nicht verschwimmen, sich verwandeln, ihre harte Körperlichkeit ablegen und wie porös erscheinen, nein, irgendwie schuppig oder flockig, als trieben sie auf einem flachen Grund, bevor sie sich in ihn auflösen, einem fernen Nieselregen vielleicht, einem lichtgrauen Vorhang, der die Grenze zwischen Himmel und Erde, die feine, aber scharfe Kontur, die immer da ist, einfach verbirgt.
Tronka lacht.
Für Tronka ist der Künstler der wertvolle Mensch. Sibla ein wertvoller Mensch? Da muss er erst einmal herzhaft lachen.
Du liebst die Pyramide. Hast du das schon notiert? Wo sonst wären diese Gespräche möglich? Überall. Ganz recht. Überall und nirgends.
Der Vulvenmaler Fabrizio Rombo hat eine Ausstellung. Nicht im Museum der Scham, wie man annehmen könnte, sondern im einen Steinwurf entfernen Museo Kalasnikov: unverkennbar der futuristische Bau, errichtet in einem Jahrzehnt, in dem man, sofern der Auftraggeber finanziell gut gepolstert war, gern in Formen baute, von denen man vorwitzigerweise annahm, sie erfüllten die ästhetischen Ansprüche kommender Epochen. Die kommenden Epochen sind ausgeblieben und der Bau ragt als Zeugnis einer Zeitlosigkeit in den Himmel der Metropolen, die einerseits nie, andererseits gerade deshalb einmal an der Zeit war: ein Wagnis, zu dem sich niemals ein Geschmack bekannte, es sei denn, man missversteht die Lust, ein wenig Zukunft zu kosten, als Geschmack an der Zukunft, obzwar der Geschmack damit wenig zu schaffen hat. Dieselbe Lust herrscht im Inneren des Gebäudes, das keine ebenen Flächen kennt, sondern wie die Spirale des Guggenheim auf jedem Quadratmeter ansteigt, einem unbekannten, jedenfalls außerhalb der gebauten, irgendwann abbrechenden Linie liegenden Ziel entgegen, so dass, wer den höchsten Punkt des Innenraumes erklommen hat und sich abwärts trollt, die Empfindung mitnimmt, er habe auf dem Scheitelpunkt etwas, womöglich das Beste, unwiderruflich versäumt. Das mag stimmen oder auch nicht, es ändert nichts daran, dass ihn keine Sekunde lang das Bewusstsein verlässt, sich an einem vorgeschobenen Menschheitsposten aufzuhalten: hinter sich die Formen und Stile der auch die Gegenwart mit umfassenden Vergangenheit, vor sich eine vergangene Zukunft, eine Zeit, die niemals war und vermutlich niemals sein wird, also eine ungelebte Art Ewigkeit, falls man von irgendeiner Ewigkeit sagen könnte, sie werde gelebt. So muss einst das Grabmal des Theoderich in Ravenna auf einen antiken Menschen gewirkt haben.
Dass der Kunstmaler Rombo einmal an diesem Ort ausstellen musste, lag gewissermaßen von Ewigkeit her fest. Kein Neid, eher Verwunderung! Du schlenderst die Galerie der Bilder empor und stellst fest: Vulven, wohin das Auge blickt. Beim ersten und zweiten Bild waren Zweifel möglich, fast hättest du’s nicht gemerkt, der Ermessensspielraum des Kunstbetrachters ist groß. Aber nach dem zwanzigsten und dreißigsten hat sich die Möglichkeit des Zweifels verflüchtigt wie Rauch in der Sonne. Das Lebenswerk dieses Mannes besteht, um es höflich zu sagen, aus aneinandergereihten Vulven, genauer gesagt, aus endlos mit spitzem Pinsel umspielten Varianten der Raute – stehend, liegend, sitzend, ja gewiss, hin und wieder auch sitzend, jedenfalls der Anmutung nach, um das Maximum an Gewagtheit festzuhalten, die sich auf diesen Leinwänden äußert: ›Sitzende Vulva‹. Beim Titel ist der Betrachter gefragt. Die Bilder selbst tragen Nummern, die sie bloß den Fachleuten vertrauten Serien zuweisen. Immerhin … auch du bist jetzt einer von denen, die wissen, worauf der Weltruhm dieses Mannes sich gründet, ein Auserwählter, wenn du so willst, du weißt Bescheid und das ist momentan bereits die halbe Miete. Es dürfte nicht viele Künstler geben, deren Wirken so bündig in einen Satz zusammengefasst werden könnte, einen auf allen Märkten dieser Welt verständlichen Satz, der dennoch in seiner Direktheit auf gekräuselte Stirnen trifft:
Was wohl? Auch du, Brutus, musstest diese Reihe erst abgeschritten haben, um das Unübersehbare zu begreifen. Und darauf kommt es an. Gesehen zu werden in der alltäglichen Bilderflut:
Sexidole gibt es in der Kunstwelt zuhauf, da muss schon ein Rombo des Weges kommen, um die Menschen an dieser Front sehen zu lehren, zweifellos ein bedeutender Lehrer der Menschheit, vor dem die Pforten der Kunsttempel sich öffnen, ja geradezu auseinanderspritzen, um es fachgerecht auszudrücken. Er hat’s gerafft!
Sibla hat einen Zwilling. Soweit er zurückdenken kann, hat er das gewollt: einen Zwilling. Nicht irgendeinen, sondern den Künstler-Zwilling, einen, mit dem er die Weltsicht teilt – der eine malend, der andere musizierend –: hier ist er. Der Kunstmaler Fabrizio Rombo, laut Katalogauskunft auf den Tag so alt wie er, kam in dem Bergdorf zur Welt, in dem alle bedeutenden Maler Italiens das Licht der Welt erblicken. Als Kind kannte er bereits die bedeutendsten Künstler des Stiefels und selbstredend kannten sie ihn. Studien in Florenz, später in Rom konnten ihn nicht befriedigen: nur Mittelmaß können Studien befriedigen. Es zieht ihn, nein, er beschließt … welche Ungeheuerlichkeit mag nun kommen? – er beschließt, nach Indien zu gehen – andere fliegen oder fahren zu jener Zeit dorthin, der bedeutende Künstler in spe geht –, um die innere Weite des mystischen Subkontinents zu erfahren. Sind sie einander begegnet? Wer weiß. Wie viele musisch begabte Beamtensöhne resp. Unternehmertöchter machten sich auf den Weg, um die Abgründe der Weisheit körperlich auszuloten und kamen ernüchtert an Leib und Seele zurück in die Landschaften, aus denen sie ausgebrochen waren, um so zu leben wie alle anderen? Wie viele kamen an Leib und Seele zerrüttet aus ihren Abenteuern zurück, um den Mantel des Schweigens darüber auszubreiten? Dieser hier kam zurück und die Erfahrung, die ihm die Sinne für die bewusstseinserweiternde Welt des Sexus öffnete, verwandelte sich in ein schmückendes Accessoire seiner Vita, vielleicht sogar in ein Sesam-öffne-dich jener Kunstwelt, in der mit hohen Summen jongliert wird: ausschließen lässt sich so etwas nicht.
An dieser Stelle klafft das Loch.
Fabrizio Vulvo
Il Magnifico
Ein Mensch, der es durch ausschließliche Befassung mit einem Geschlechtsteil zu Ruhm bringt, muss in mehrfacher Hinsicht robust sein. Was hat er getan, was du nicht getan hättest?
Dasselbe, lautet die unzweideutige Antwort.
Immerfort
dasselbe.
Das führt unausweichlich zur Frage: Was ist dasselbe? Warum konntest (und wolltest) du es in deinem Leben nicht festhalten: dasselbe? Weil du es nie gefunden hast? Weil es dich nie gefunden hat? Weil es dich gefunden und für zu leicht befunden hat, um sich mit dir ein Leben lang abzugeben? Sei kein Narr. Du hättest ein Leben im Bann desselben nicht führen mögen. Du findest es, rein im Anschauen, boring. Der Mensch liebt Vielfalt – in Gedanken, Worten und Werken: Vielfalt.
Du liebst die reine Vielfalt.
Genannt Fülle.
Andererseits, hier hast du Fülle: Fülle desselben. Ein Paradox, schwer aufzulösen. Angenommen, dein Zwilling hätte Schuhe gemalt, immerfort Schuhe, nein, nicht die Bauernschuhe van Goghs, sagen wir, Schuhe mit spitzen Absätzen, weibliches Schuhwerk, der sex appeal wäre weit höher: langweilig, langweilig, langweilig … und darüber hinaus: beliebig. Dasselbe und das Beliebige sind nicht dasselbe. Sie fallen nur – mit steigender Tendenz – zusammen. Immer dasselbe ist fast schon beliebig. Warum? Es könnte auch etwas anderes sein, eine Fixierung, eine fixe Idee, ein Wahn.
Alles Beliebige, auf immerdar festgehalten, führt in den Wahn.
Siblas Zwilling, du vermagst es nicht anders auszudrücken, ist wahnsinnig (wie Sibla vermutlich auch). Mag sein, er ist wie du, mag sein, er ist … du noch einmal. Das könnte durchaus sein. Aber: er ist wahnsinnig. Nein, er schreit und tobt nicht, er äußert keine kruden Gedanken, er wirft sich keiner Zoo-Bestie zum Fraß vor. Er sitzt still und behaglich in seinem Atelier und malt … nichts Besonderes. Nicht dies und das, nichts, was Eingebung oder Zeitungslektüre herbeizaubern könnten, sondern das Eine. Er hat zum Einen gefunden und es lässt ihn nicht mehr los. Er ist zum Künder des Einen geworden.
Er hat genug. Und wie man sieht: es genügt. Aber, so sagt die Stimme: Dieses Eine ist nicht beliebig. Es ist anders.
Dass in deiner, dass in jeder Wahrnehmung ein Loch klafft, ein Spalt oder eine Lücke, die niemals weggeht, so heftig du auch bemüht bist, sie zu schließen, stößt sich mit der Erfahrung, dass die Welt dicht ist, dass sie, um vollständig zu sein, deiner an keiner Stelle bedarf. Du darfst die Augen schließen. Aber diese Einsicht befriedigt dich nicht, im Gegenteil: es ist, als stachle sie sich an, immerfort Abhängigkeiten herzustellen, die just deinen Einsatz notwendig erscheinen lassen. In der Welt der Nöte bist du und kein anderer der Not-Wender.
Das ist Werktagsprosa. Das geschlossene Auge weiß es besser. Unter dem Lid entspringt die Welt der religiösen Symbole, der Lückenfüller, in denen die Differenz von Sein und Nichtsein verschwimmt. Das ist möglich, weil auch diese Differenz abstrakt ist, die Mutter aller Abstraktionen – wie du rasch bemerkst, sobald du dich über sie beugst: sie zu denken löst kein Rätsel, kein einziges. Sie schafft auch keines. Die Lücke bleibt, es scheint, als lächle sie über den Versuch, sie zu schließen, wie über die Aktivitäten eines unzufriedenen Kindes.
Ist Rombo, den sie absichtsvoll ›il clemente‹ nennen, auf ein Symbol gestoßen, das sein Bedürfnis – und das seiner Kunst-Klienten – so vollständig ausfüllt, dass es keines weiteren bedarf? Dieser Frage solltest du nachgehen, bevor sie dir nachschleicht und die Eifersucht ihren verderblichen Zyklus beginnt. Um keinen Preis darfst du den Eindruck stehenlassen, hier könnte einer gefunden haben, wo, deiner Auffassung nach, bloß Suche sein kann, vergebliche Suche wohlgemerkt, also eine leere Suchbewegung, vergleichbar der Fehlübersetzung eines Textes, die aber funktioniert, weil das Original sich nur verhüllt mitteilt.
Dieser hier hat, wie es scheint, gefunden – und zwar in jungen Jahren, was den Unterschied macht –, er hat etwas gefunden und wird nicht müde, der Welt seinen Fund vorzuweisen. Er hat gefunden, was der Welt die Sprache verschlägt, das Symbol, das jede Rede verstummen lässt, weil es die Anwesenden an etwas erinnert, worüber man (sofern man kein überdrehter Literat ist, der damit seine Brötchen verdient) nicht weiter spricht, es sei denn, es geht um ärztlichen Rat und es erscheint unumgänglich, zu diesem Behuf für kurze Zeit das kalte Oberlicht anzuschalten.
Dixit Tronka. Un filosofo vero.
oder so beiläufig abgetan, dass es auf dasselbe hinausläuft: das göttliche Spiel mit der Scham. Wenn du eine Galerie emporschreitest und allmählich begreifst, welche Reihe du im Blick hast und was dich oben, ganz oben erwartet, dann kannst du es dir nicht leisten, dem inneren Erstarren und dem darauf folgenden Widerwillen nachzugeben … erstens bist du nicht allein, es herrscht ein reges Gehen und die Blicke der Kunstfreunde sind nur scheinbar unverrückbar auf die Objekte ihres Entzückens gerichtet, in Wirklichkeit nehmen sie jede, selbst die feinste Bewegung in ihrer Umgebung auf und weben sie ein in das vielgliedrige kommunikative Gespinst, ästhetisches Erlebnis genannt, dem zuliebe sie die ausgetretenen Bahnen ihres beruflichen Alltags verlassen haben, zweitens zwingt die Scham selbst dich zur Gesichtswahrung, gleichgültig, wieviel oder wie wenig du dir aus dem Urteil deiner Mitbetrachter machst, das so seltsam zwischen dem Anblick der Objekte und dem am Orte herrschenden Kollektivzwang emporwächst, dass du reihum das Knistern in den Köpfen empfindest. Und drittens – warum taucht auch hier wieder ein Drittens auf? –, drittens lockt dich ein perverses Empfinden der Schadenfreude auf dem Grund der Scham, die volle Strecke zu absolvieren, um die Schande, ganz recht, die Schande auszukosten, die darin liegt, dass diese Scharade von allen ohne Unterschied gespielt wird, so dass der Verdacht nach und nach zur Gewissheit reift, dass das, was hier gerade geschieht, in allen Museen der Welt, die sich am Wunder der Kanonbildung – der Heiligenkür, um es etwas spitzer zu formulieren – beteiligen, ganz genauso abläuft, immer und immer wieder … denn das und nichts anderes bedeutet es, oben anzukommen, dort, wo nichts mehr dazukommt, was deinem Urteil – natürlich begreifst auch du die Wichtigkeit dieses Künstlers im Weitersteigen – eine finale Rechtfertigung liefern könnte. Kein Wunder also, dass auf diesem Wandelgang Schweigen herrscht, das Schweigen der Ertappten, die gewillt sind, ihre Schande tief unten mit sich selbst auszumachen und niemals, niemals dem Impuls des Kindes aus dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern nachzugeben:
Es würde ja auch nichts nützen, wo doch jedermann bereits verständigt ist.
Das Halbe lieben – das Halbfertige, Halbgare, Halbernste, Halbwerte, es zu lieben und nicht zu lieben, halb eben, weil die Bereitschaft zu lieben – zum Beispiel die Kunst, die Musik, das Theater – auf keine Objekte trifft, welche die Bereitschaft rechtfertigen könnten, heißt, die Simulation zu akzeptieren und das Simulierte für bare Münze zu nehmen. Man muss die Simulation nicht mögen, es genügt, sie hinzunehmen und an der allgemeinen Lüge teilzuhaben.
Warum so heftig? Seit wann ist Simulation Lüge? Wenn irgendwo ein Krieg ausbricht und die Meinungszunft deines Landes simuliert Entrüstung über einen der gerade noch gehätschelten Gegner, um Waffenlieferungen (und mehr) an die andere Seite zu legitimieren, ist das dann Lüge? Ist es nicht simple Interessenwahrung? Was garantiert mir, solange ich nicht mit eigenen Augen das Schlachtfeld kognosziere, dass dieser Krieg wirklich stattfindet und wirkliche Menschenleben kostet? Die Simulation. Was verrät mir, dass die Simulation Lüge sei? Die Simulation. Was sagt mir, dass die Simulation Simulation sei? Die Simulation?
So leicht gerät der theoretische Mensch ins Absurde. Und was trägt Schuld daran? Die defizitäre Struktur des Gehirns? Ist das wahr? Wohl eher nicht. Das Gehirn ist das Gehirn und die Defizite, die wirklichen Defizite liegen in der realen Welt. Die halbierte – geviertelte, geachtelte etc. – Information lässt ein sicheres Wissen nicht zu, gleichgültig, ob du es für möglich hältst oder nicht. Die Verdoppelung, Vervierfachung, Verzwanzigfachung immer desselben, sprich der halbierten Information, dient der Verwirrung. Wirklich verwirrt sie den Menschen, weil sie seine Wahrnehmungskapazitäten aufbraucht und damit das Urteil in die Länge zieht … nein, niemand schiebt sein Urteil in einer Sache auf, die ihn angeht. Er zieht es nur in die Länge, es ist ihm nicht völlig ernst damit, es erscheint aufgesetzt, sobald es zum Ausdruck gebracht wird, und nicht weiter wichtig, solange es bloß zum inneren Gleichgewicht beiträgt. Ich bin mir nicht sicher heißt: ich schließe mich der gültigen Auffassung an, vornehmlich deshalb, weil Gültigkeit etwas ist, dem ich mich nicht entziehen kann, aber ich versage ihr die letzte Zustimmung. Und siehe da: niemand braucht deine letzte Zustimmung, sie ist völlig unnötig, wo es darum geht, dass etwas funktioniert. Die wahre Simulation (oder das simulierte Wahre) bist du. Du sollst dich vergessen! lautet der Imperativ der geschlossenen Informationswelt, du musst verstehen, dass dein Vorbehalt, der nicht weggeht, nichts bedeutet. Die Menschen verstehen das und gehen ihrer Wege.
›Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin‹: So lautete eine der Parolen des Aufbruchs, der deinesgleichen noch immer im Blut liegt. Was damals utopisch klang, ist eingetroffen, keiner geht hin, weil Krieg ist, außer Narren und Geschäftemachern natürlich, aber das ist ein anderes Ding. Dafür herrscht allenthalben der totale Informationskrieg – der gezielte Entzug von Informationen einerseits, die Überflutung mit Hilfe des Immergleichen und zuguterletzt die permanente Verletzung des Augenscheins durch etwas, das einmal die Überlegenheit der Wissenschaft über das bloße Zeugnis der Sinne begründete: die Bereitschaft zur Kränkung nicht bloß der individuellen, stets fehlerhaften Wahrnehmung, sondern der Wahrnehmung schlechthin durch gezielte Selektion. Kopernikanische Revolutionen stehen recht selten an. Dort, wo sie auf Immerfortheit gestellt werden, herrscht der Bluff.
›Bluff‹ –: ultimative Formel für das, was dieser Rombo da treibt.
Das schallende Gelächter von einem der hinteren Sitze hat der Referentin die Sprache verschlagen. Nun, oh Unsterblichkeit, bin ich ganz Kampf.
Philosoph Kypras, auffahrend, Hand vorm Mund, halb abgedeckt die Augen. Der Flug hat ihn geschafft, man sieht’s ihm an.
Mein Gott, wo bin ich hier gelandet?
Die Aula, locker bestuhlt, brodelt sanft vor sich hin.
Die Sonne Griechenlands hat
mich gebräunt.
Wie käsig schimmert dieser Saal.
Durchscheinend bis auf den Grund.
Aber was ist der Grund? Irgendwie muss die Zeit ja vergehen.
Vormittag, Professorenzeit.
Da stehen sie, die Vielberedenden, beisammen.
Bildschirme flammen, großformatig, Hausfarbe ›dodger blue‹: linker Flügel, Mittelteil, rechter Flügel, harrend allen Unsinns, der darauf erscheinen mag. Kypras kennt die Künstlerin nicht, weiß weder, wer ihr die Ehre, vor diesem hochkarätigen Gremium zu sprechen, zugeschustert hat, noch, wie sie die Chance nützen wird, ihr Anliegen vorzutragen. Ein Anliegen muss schließlich im Spiel sein.
Das hier ist nicht Athen. Dieses Land wird erst die Sprache und dann die Stimme verlieren.
Sitzriese Tronka, gleich neben Elisabeth mit den Füßen scharrend, die Arme vor der Brust gekreuzt: Aal und Reuse. Tronka schwadroniert. Ach, und da drüben: Dürrobst. Pfeifchen im Mund, wie in alten Zeiten. Raucht aber nicht. Sie haben es ihm, unter Androhung der Zwangsjacke, abgewöhnt. Wirkt kastriert, der Junge. Graues Hähnchen, aller Verantwortung bar. Du kennst ihn noch anders. Aber so geht es auch. Ach, unser Dekan.
Aufgetaucht aus dem Nichts. Aber sicher doch. Dorthin wird er auch zurückkehren, sobald der Job hier seine Anwesenheit nicht mehr erfordert. Worauf du dich verlassen kannst. Elisabeth ist und bleibt ein aparte Erscheinung. Man sähe sie gern häufiger in diesen Räumen. Leckebusch, Leckebusch … nein, er ist nicht da. Hat sie geschickt. Nicht dumm. Was quasselt dieser Tronka da? Merkt er nicht…? Nein, der merkt es nie.
Das Schicksal hat ihn mit Elisabeth
zusammengeführt. Gerade noch, als er sich neben sie setzte, hat er
sie nicht einmal wahrgenommen. Das Malheur ist passiert. Die heiße
Fu-Partnerin, jetzt und hier umgibt sie kühle Distanz. Tronka glüht.
Es ist gegen die Regel. Mische nie Fu-Welt und wirkliches Leben.
Das da spricht aller Absprache Hohn. Es fühlt sich an, als habe er
einer maskierten Nackten das täuschende Tuch vom Gericht gerissen
und darunter die Frau seines Lebens entdeckt oder vielmehr das wahre
Leben der Frau an seiner Seite … der Frau des Chefs an ihrer …
der Frau der Gattin … welch schrecklicher Unsinn! Leckebusch …
wie lange schon ist der eitle Pfau sein Chef nicht mehr? Wie lange er
selbst Pida der Unscheinbaren verfallen? Eine glatte Weile, würde er
sagen, die Welt hat sich seither ziemlich gedreht. Elisabeth, die aus
dem wirklichen Leben: eine alte Bekannte, eine gute Bekannte, eine
ziemlich gute … eine unziemlich … gute, wenn er jetzt noch
glasige Augen bekommt, dann ist alles verloren, mein Gott, mein Gott,
um Himmels willen keine christliche Anwandlung, das hier fühlt sich
plötzlich so … richtig an, unfassbar richtig, dieses
Seite-an-Seite, Idiot. Du musst reden, Tronka, reden reden reden um
jeden Preis. Kämpfe! Um jedes Wort, um jede Silbe … deine
Glaubwürdigkeit hängt daran. Remind your face. Kontrollier’
dich! Was geht da vor? Eine Verwechslung, was sonst. Der sexuelle
Appetit ist nicht auf Identitäten geeicht, die sonderbare
Fu-Anonymität macht sich, jedenfalls der Theorie nach, diese
Eigenschaft zunutze, daher ist das hier … völlig absurd.
Elisabeth, Gegenüber so mancher Party-Gespräche, die Tochter, die
Sèvres-Tässchen: Nicht alle Tassen im Schrank, was? Das hier
also fühlt sich richtig an. Dein Gefühl sagt es und nichts sonst.
Richtig.
Als ob es nur das Gefühl wäre.
Diese Frau gehört in sein Bett.
Nein, sie kommt daher, sie wickelt sich gerade heraus und ihr
Lächeln sagt: Da bin ich. Es ist Wahnsinn, aber so bin ich nun mal.
Komischerweise lächelt es nur in ihm.
Ist Tronka ein Automat? In vielem, ja. Ein Menschautomat. Ein Mensch, gefallen in einen Automaten, der mit ihm verfährt, wie er will (was auch nur eine Redensart ist, da der Automat über keinen Willen verfügt). Das widerspricht seinem Selbstverständnis, es widerspricht ihm eklatant. Ein Tronka kann gar nichts anderes sein als ein Stück geballter Wille, gleichsam die Faust in Aktion. Aber wieviel Denkvermögen steckt in der Faust? Dass du dich da mal nicht täuschst. Die für andere reservierte Redensart erschafft im Handumdrehen den anderen in ihm selbst. Und dieser andere, das Objekt der Beobachtung … nein, Tronka leidet an keiner Papa-Mama-Kind-Neurose, an keinem der üblichen Traumata, er hält sich für keine Borderline-Persönlichkeit, die eine ihrer anfallhaften Krisen erlebt, er schämt sich ganz einfach, er schämt sich rundherum, der Scham-Anfall lässt seine Persönlichkeit schlingern gleich einem alten Lastwagen auf der Landstraße, der gerade durch ein Schlagloch rumpelt.… Aber da war doch etwas? Dies hier ist nicht die Scham der Kindheit, gleichwohl noch immer die Scham des Ertappten, ertappt durch wen? Durch sich selbst, wen sonst. Wobei ertappt? Bei nichts. Bei gar nichts. Dabei, neben Elisabeth zu sitzen und die Hände ruhig zu halten. Gern würde er mit der Hand über ihren Nacken fahren, aber diese Geste, allein diese winzige Geste, ist verboten. Sie verbietet sich von selbst. Das Verbot, das keiner ausspricht, das unsichtbar im Raum steht, schützt die Gesellschaft vor sich selbst. Es wahrt die Trennschärfe. Es ermöglicht das Rollenspiel, auf dem alle Gesellschaft beruht. Nichts einfacher zu begreifen als das Verbot: Respekt ist die Urgestalt des Begreifens. Ihm, Tronka, muss niemand Respekt beibringen. In diesen Dingen ist er der Lehrer. Lektion eins:
Was also will ihn die plötzliche Schamüberflutung lehren? Dass auch er, Tronka, sobald an der Grenze zum Bewusstsein Sexualia ihr Verwirrspiel treiben, bloß ein Automat wäre? Ein Irgendjemand, ein Wicht, ein Nichts? Sicher nicht. Diese Lektion (wenn es denn eine sein sollte) kommt nicht an ihn heran. Es ist ja auch nicht so, dass ihn ein Schwellkörper regierte. Nein, so ist es nicht. Selbst wenn es so wäre: Was hätte er, Tronka, damit zu schaffen? Nein, seines Körpers, der, gut beschützt, keine Blickfläche bietet, schämt er sich nicht. Überhaupt (!) schämt er sich nicht vor seiner Umgebung, die ihm, ehrlich gesagt, im Moment ziemlich schnuppe ist. Er könnte jetzt aufstehen und durch die Tür dort hinaus spazieren, es ginge niemanden etwas an und kein Anwesender, außer der Referentin vielleicht, würde es übel vermerken. Vor Elisabeth? Warum das denn? Schlussendlich sitzen sie beide im gleichen Boot. Sie verlangt ja auch nicht, dass er sich zu ihr bekennt. Eher scheint sie zu fürchten, dass sein Gebaren sie beide verraten könnte. Wie lächerlich das alles!
Eike lässt Tronka nicht aus den Augen. Das ist Teil seines Jobs, aber etwas glitzert in seinem Blick, das nicht in seiner Aufgabe aufgeht. Der Blick des Konkurrenten ist stets erkennbar. Eike mag ein Diener des Projekts sein, aber zuallererst ist er ein Schüler Tronkas. Einer von fünf Getreuen, die, einer nach dem anderen, zu Verrätern wurden. Einer von fünf Verrätern, die an ihrer Treue nicht rütteln lassen. Auch Eike hat seine Nacht mit Elisabeth bekommen, eine, nicht mehr, als habe das Projekt sie verschluckt. Dass er sie hier serviert bekommt, Seit’ an Seit’ mit Tronka, als sei damit die Besitzfrage a priori zwischen ihnen geklärt, erzeugt eine Art kalter Weißglut in ihm, er spürt, er könnte Tronka hier und jetzt töten, die Aufgabe böte ihm, psychologisch gesprochen, keinerlei Schwierigkeit, doch ebenso wenig macht es ihm etwas aus, auf seinem Beobachtungsposten zu verharren und jede Regung Tronkas zu kontrollieren. Es scheint ihm sogar, er brauche gar nicht erst hinzuschauen, um im Bilde zu sein, so scharf hat der andere sich in seine Wahrnehmung eingegraben. Das über diese drei Personen ausgeworfene Spannungsnetz ist so stark, dass sie Funken sprühen müssten, ginge es in diesen Dingen so sinnlich zu, wie die Materialisten alter Schule stets zu wissen meinen. Gibt es auch Materialisten neuer Schule? Oh ja, die gibt es. Sie reden über Spannungen, die sich den üblichen Messungen entziehen, Zellkommunikation über spezielle Wellen, geheimnisvolle Fernwirkungen, ebenso unerforscht wie zuverlässig, das heißt statistisch signifikant messbar, den ganzen Bereich der obscuritas, als hätten sie definitiv den Jackpot des Lebens geknackt und warteten jetzt auf die Auszahlung. Was zum Beispiel nimmt Eike in dieser Minute an Tronka wahr? Was immer es sein mag – es geht in ihn hinein ohne Wiederkehr. Würde er ein Wort dafür finden wollen, es hieße ›Feind‹ und bedeutete … nichts.
Tronka weiß nichts vom Netz der Spannungen, das um ihn geknüpft ist, für ihn ist alles, was ihn berührt, intrinsisch.
She belongs to the project
Ganz sicher, sie gehört zum Projekt, deutlich erinnert er sich, wo hatte er nur die Augen? Wenn sie aber zum Projekt gehört, dann muss er seine Aussage revidieren. Anna Amalia, sagt ihm der Name etwas? Dieses verfluchte Weimar, stets kommt es quer. ›Ama‹ – ja sicher. Er braucht eine neue Brille, ganz unmetaphorisch, ganz handwerklich direkt. Die Routinen verbergen die Wirklichkeit, sie gaukeln Sichtbarkeit vor, jedoch im Entscheidenden … im Entscheidenden … im Ent… Ama, die herrliche Ama, etwas kapriziös, herrlich, ziemlich kapriziös sogar, sie redet frei, frei, wie der Herr … aber lassen wir den Herrn aus dem Spiel, ganz sicher ist es sein Spiel wie alle Schöpfung, doch für den Moment … Moment mal:
Did you ever see such a touching woman, telling you she’s a goddess?
Woher kennt er den Vers?
It’s true, isn’t it? I am Vulva, your bloody mistress, some call me Blasphemia, it’s okay, it’s all okay.
Entschuldige, Elisabeth, aber diese Minute gehört einer anderen. Natürlich kann sie dir nicht das Wasser reichen, welche Frau könnte das, aber im Augenblick, im Augenblick kannst du ihr nicht das Wasser reichen. Tja, so ist das im Leben. Das Leben befiehlt, ich gehorche. Gehorchte ich nicht, wo käme ich da hin? Wo kämen wir da hin? Das würde dein Köpfchen niemals verzeihen. Man wohnt nicht jeden Tag einer Parusie bei. In meinem Beruf kommt das eher selten vor. Im Zwielicht der Gedanken ist vieles möglich. Anderes hingegen bedarf der Erleuchtung. Ama, Ama, woran erinnert mich das?
Es war einmal in einem finsteren finsteren Walde … ein einsames Köhlerpaar dämmerte vor sich hin, die Kröten, sie wollten nicht reichen, nicht für ein elendes Leben zu zweit, und warum … warum setzt man sich schon zusammen, wenn nicht für ein Leben zu zweit? Es wäre wohl besser, wir versuchten unser Glück einzeln, jeder für sich, sagte die Frau, welches Glück, wollte der Köhler wissen, der Meiler muss brennen, er ist weit und breit der einzige hier und wenn ich gehe… Wer spricht davon, dass du gehst, hauchte die Frau im reizendsten Negligé, der Mann, angeweht von der Fülle der Möglichkeiten, neigte sein Ohr, sein einziges Ohr, lang wie das eines Esels… Am nächsten Morgen war der Esel, pardon, der Mann, immer noch da und sie erkundigte sich, während der Kaffee durchlief, wie denn die Nacht gewesen sei und verschiedenes mehr. Der Esel, pardon, der Mann aber saß da und brütete. Drei Tage und drei Nächte lang saß er an seinem Platz und brütete, schließlich befinden wir uns im Märchen und da gelten gewisse Konventionen. Schließlich stand er auf…
Im Fieber der Gedanken durchläuft Tronka, der keinen
Museumsbesuch auslässt, die Galerie der Rhomben, jedem einzelnen
gerade so viel flüchtige Aufmerksamkeit widmend, wie ein
Kurzsichtiger braucht, um das Motiv einwandfrei zu identifizieren,
gern würde er den Finger zur Hilfe nehmen, aber das schickt sich
nicht … schickt sich nicht … da! Das Bild des Esels mit
abgeknicktem Ohr, die phrygische Mütze quer darüber gehängt,
beinahe hätte er es verpasst. Wundersamerweise ist der Künstler
bereits zur Stelle und flötet sein ›Wunderbar! Dieses Bild, äh,
war eigentlich für Sie bestimmt, ein Wunder, dass Sie es überhaupt
gefunden haben. Ich gehe jetzt und entferne…‹
Da lacht Herr Tronka.
Die letzte Potenz ist die ver-letzte.
Iris hingerissen, ganz Ohr:
Sackbrenner hat die Mittel zu einer Studie Male behaviours in open and closed spaces bewilligt bekommen. Sie freut sich schon wahnsinnig auf die Zusammenarbeit mit der britischen Kollegin, die sie gerade rechtzeitig ins Boot holen konnte. Unter der Hand, hört man munkeln, hat sie noch ein weiteres Projekt laufen, über das sie die Fakultät erst später zu unterrichten gedenkt, um den Forschungserfolg nicht zu gefährden: Worin unterscheidet sich männliches Benehmen in Gegenwart weiblicher Konkurrenz von dem in ausschließlich männlicher Umgebung an den Tag gelegten? Exot S, den sie nicht aus den Augen lässt, kommt ihr zur Einstimmung gerade recht. Es juckt sie, den Medienstar an einem Ort nüchterner Brillanz wie diesem ein bisschen … aufzumischen. Ein Seitenblick trifft Iris, die treue Seele, dann strafft sie sich, um dem Dekan, den politischen Gast kalt ignorierend, eine Frage zu stellen:
Da kiekst Kypras laut und vernehmlich.
Welchen Ansatz? S lacht ihr gönnerhaft ins Gesicht, Argloser, das
Wort ›Gender‹ wie einen Zahnstocher von einem Mundwinkel zum
andern befördernd, verwendet den Ausdruck ›psychoanalytische
Grundierung‹, murmelt etwas von ›nicht mein Fach‹, ›Ihr
Ressort‹, aber schließlich richtet er sich, der Not gehorchend, zu
seiner vollen Größe auf.
Sehr groß ist er nicht, der Gute.
Weiter kommt sie nicht, die Ohos und
Nein-so-nicht-Frau-Kollegin, sorgfältig eingefädelt,
prasseln auf ihre Rede nieder, einen kurzen Moment hält sie inne,
streicht sich die Haare aus dem Gesicht und will fortfahren…
… fort … fahren …
… aber nein, S wühlt sich aus dem Stuhl, der fleischige Wauwau schnappt ihre Hand,
reckt sie hoch, noch höher, bis endlich Kollegin Sackbrenner,
ins Mark überrascht, der kaum zu ignorierenden Aufforderung Folge
leistet: da steht sie, freigestellt, leicht gebogen (was ihre
Porzellanfigur dezent unterstreicht), von Angesicht zu Angesicht
dem Herrn mit der kratzigen Donnerstimme gegenüber, die, während er
die gestresste Hand loslässt, sich fistelnd (auch das gehört zu
ihren bekannten Specifica) an ein nicht vorhandenes Volk richtet.
―Nein, im Ernst, Frau Kollegin … – ich habe Ihren Namen vorhin nicht mitgekriegt, aber das holen wir gleich nach –, Sie haben verdient, dass man Ihnen zuhört. Ich jedenfalls höre Ihnen zu, wir sind im allgemeinen bekannt dafür, dass wir Ihnen zuhören … und nicht allein zuhören. Wir bieten Ihnen die passende Plattform, die einzige übrigens im Lande, Sie gehören zu uns, Sie sind unser treibendes Element… Ich will hier nicht Wahlkampf betreiben, aber das musste jetzt heraus. Die Wissenschaft … sehen Sie, wir sind die Partei der Wissenschaft, deshalb habe ich mir heute Zeit genommen, die Wissenschaft wird daran gemessen werden, wie weit es ihr gelingt, die Genderfrage zu lösen. Sie alle haben richtig gehört, ich sagte zu lösen … dazu gehören die richtigen theoretischen Konzepte, mit denen wir draußen in der Praxis auch etwas anfangen können. Nicht jedes Detail von dem, was ich heute hier hörte, hat mich überzeugt. Einiges schon, ich vermute mal, wir haben noch eine lange gemeinsame Wegstrecke zu bewältigen. Professora …, vor Ihnen liegt ein gewaltiges Pensum. Ich bin sicher, Sie werden es mit Bravour erledigen. Sie werden auch nicht die einzige sein, dafür werden wir mit aller Macht sorgen. Mit aller Macht, denn das ganze ist eine Machtfrage. Von allein, da hat Ihr Herr Dekan leider recht, auch wenn er es etwas verklausuliert ausdrückt, von allein bewegt sich gar nichts. Die bewegende Kraft, die hinter allem steckt, das sind wir. Auch die Zukunft braucht eine Partei. Nein, das ist keine Drohung. Wir machen Ihnen ein Angebot. Was Sie draus machen – bitte. Sie werden, jeder für sich und alle gemeinsam, sich das Richtige schon herauspfriemeln.
Spinnt Dürrobst? Bei ihm weiß man das nie.
Teuschner, gern und oft saumselig, schiebt die Schultern nach vorn.
Die Monteursarme hat er, einen nach dem anderen, ausgefahren. Die Hände, rissig, nicht
ganz den Sauberkeitsvorstellungen des erlauchten Zirkels
entsprechend, fahnden nach imaginärem Gerät, einem Schraubenschlüssel
oder einem Zollstock (der Innenausbau des Privatdomizils
kommt voran).
Die soeben erlebte Szene beschäftigt ihn tief.
Es ist nicht recht, den amtierenden Dekan auf diese Weise ins Unrecht zu
setzen. Dies hier ist akademischer Grund.
Die Stimme quietscht, als er sich meldet. Sie
normalisiert sich rasch, doch ein Oberton bleibt vernehmbar, eine
merkliche Warnung an alle, die Grenzen des Diskurses zu
wahren und Politschrott gefälligst dort zu lassen, wo er hingehört,
auf jeden Fall: draußen.
Argloser atmet auf.
Teuschner dankt überschwänglich.
S, wieder sitzend, schnalzt mit der Zunge.
Er ist ein Flegel.
Ob und wann Teuschner kommt, das ist ganz allein seine Sache. Ein schräger Blick auf S und er lehnt sich erschöpft zurück. Er meint ja nur und die Sache geht ihn eigentlich nichts an, aber da er sich nun einmal in das wirklich spannende Gespräch eingemischt hat, kann er auch gleich sagen, was er, die bessere Sachkenntnis der anwesenden Kolleginnen und Kollegen immer vorausgesetzt, von der Sache hält, nämlich: Sex als Triebkraft der Gesellschaft zu bezeichnen, gehe offensichtlich an der Sache vorbei, wie Kollegin Sackbrenner in ihrem ausgezeichneten Redebeitrag überzeugend gezeigt habe. Der Begriff ›Mode‹, dessen Einführung in diesem Zusammenhang er als glänzend empfinde, besage schließlich nichts anderes, als dass hier ein Diktat vorliege, aber ein selbstauferlegtes, und so, als selbstauferlegter, erscheine auch der ganze Geschlechterdiskurs in einem gänzlich anderen Licht –
Was will Teuschner? Gute Frage.
Schlechte Rhetorik. Sehr schlechte Rhetorik. Aber – auf den Punkt.
Zeitschild: Das Bild ist nicht schlecht. Schild, angefertigt, um dem Medusenblick des theoretisch uneinholbaren Wirklichen zu widerstehen, aber auch dem Feuerodem Fafners, des Herrn der Schätze, darunter der offenen, keiner Komplexität weichenden, niemandem dienstbaren Wissenschaft –… ja gewiss, das hätte Dürrobst einfallen können, ihm einfallen müssen, reine Qual, den Einfall aus Teuschners unberufenem Mund zu vernehmen. Ein Gedanke geistert durch den Raum –: niemandes Gedanke, zufällig stammt er aus einem Mund, wer wird ihn fangen? Der, dem es gelingt, das Erstlingsrecht zu eliminieren, ganz recht, zu eliminieren, am besten dadurch, dass er die Stimme des anderen zum Verstummen bringt.
So funktioniert Dürrobst.
Dürrobst und Teuschner: ungleiche Gegnerschaft. Dürrobst hat Teuschner falsch eingeschätzt. Das liegt daran, dass er eine Eigenschaft Teuschners nicht kennt, die dieser vor allem im privaten Umgang pflegt. Teuschner macht es nichts aus, die Gangart zu wechseln, sprich: den Grad der Direktheit. ›Gezielte Schamdurchbrechung‹ könnte man diese Technik nennen, wenn es denn eine Technik wäre und nicht einfach seine Art zu sein. Teuschner, der schamlose Mensch. Das mag, wie alles andere hier im Raum, Fiktion sein, eines jedenfalls nicht: folgenlos.
Teuschner, einfältig lächelnd, schaut sich um, gewahrt die gesenkten Blicke, den Wuschelkopf des Herrn S, der Ungeduld signalisiert, steht auf, geht nach vorn, stellt sich, leicht versetzt, die Demonstrationspose wahrend, vor Dürrobst, der seine Ellbogen anzieht … – gleich wird das Fauchen des angegriffenen Raubtiers den Raum dominieren –.
Teuschner kann auch anders.
Und stiefelt davon.
Still lächelt Sackbrenner in sich hinein.
Allzu lange hast du an diesem Punkt geknabbert: dem Umschlag der frei eingegangenen, um nicht zu sagen: gewählten Beziehung in ein unfreies, um nicht zu sagen heuchlerisches Verhältnis, in dem beide Seiten einander belauern, um, gib’s zu, Punkte zu sammeln fürs Auseinandergehen, das vorderhand auf sich warten lässt. Das entspricht zwar den Erfahrungen langer Generationen mit der nicht mehr so christlichen, nicht mehr so unauflöslichen Einehe, genauer, der berühmten Liebesheirat. Doch vom Standpunkt der vollendeten Beziehung aus ist die Liebesheirat ein Zwitter, genauer: ein Täuschungsverhältnis von Anfang an, in dem Selbst- und Fremdtäuschung einander vertrauensvoll die Hand geben. Denn die Ehe, zumal die christliche, ist die Ehe, wie rechtlich durchlöchert sie auch sein mag, und ihr Ende ist immer teils Segen, teils Fluch, niemals ein einfaches Auseinandergehen.
Die Ehe zwischen Leckebusch und Elisabeth: nichts würdest du von ihr verstehen, bemerktest du nicht den gusseisernen konventionellen Kern in alledem. Er erlaubt, was in der Beziehung die Todsünde schlechthin darstellt (denn auch sie besitzt ein christliches Innenleben): den selbstverständlichen Alltag zweier Menschen, die irgendwann eine soziale Zelle gegründet haben und wissen, dass sie die daraus erwachsene Gemeinsamkeit nicht strapazieren, aber auch nicht aufgeben dürfen, wollen sie nicht Unheil auf ihre Häupter herabbeschwören. Das Unheil mag, lebensstrategisch gesprochen, verflacht sein, aber es liegt, eine träge Schlange, leise züngelnd im Hintergrund und niemand kann es, seelisch gesprochen, daraus entfernen.
Tronka hingegen, Tronka und Pida: der Kern ihrer Ehe ist die Beziehung. Nichts kettet stärker aneinander als das Unheil, sie ausreizen zu müssen, als gäbe es nichts anderes unter der Sonne zu durchleben als gerade sie. Christlich gesprochen schweißt ein Höllenbund die beiden unerlaubterweise zusammen (so weiß es Tronkas Schwiegervater, ein Christenmensch alter Schule): Sie kommen nicht zusammen und sie kommen nicht voneinander los. Das Erlaubte ist das Unerlaubte. Das wirft die Frage auf, was ›erlaubt‹, was ›unerlaubt‹ in Beziehungsdingen bedeutet. Im Prinzip gilt die einfache Regel: unerlaubt ist das Eheartige. Was ist das Eheartige? Es ist frei interpretierbar. Das Eheartige ist der faulende Rest der bürgerlichen Ehe – seelisch gesprochen. Rechtlich gesprochen hingegen … entfaltet sich die Beziehung unter dem Schutz der bürgerlichen Ehe.
Wer aus äußeren Schrecken kommt, achtet die inneren gering. Er glaubt bereits, sie verstanden zu haben. Da liegt der Fehler. Schon die äußeren Schrecken entspringen dem Wahn. Es gibt kein empfundenes Außen diesseits oder jenseits der fiebrigen Kurve, die wir Bewusstsein nennen: QaS – Quell allen Schmerzes. Vom Wahn heilen: am Angebot erkennt man den Scharlatan.
Das Totem regiert den Schmerz. Ein ferner Schrecken spiegelt den allzu nahen und lässt ihn objektivierbar erscheinen. Auch erscheint er ja bereits im Ursprung gebändigt, ein Gott in der Maske. Die Maske richtet den Gott: zu, ab, auf, hin und aus. Es sind Regungen des Schmerzes, der niemals nachlässt. Manche Kulturen räumen ihm einen erhöhten Platz ein, andere nicht. Die eine oder andere macht ihn zum Aschenputtel. Als Sargträger gebrauchen ihn alle – als Wesen ohne Identität.
Die Wut dieses Gottes ist unbeschreibbar. Nur das Lächeln der Maske lässt sie erahnen. Wer nach ihr greift, dem verdorre der Arm. Armer Arm! Erbärmliches Los dessen, der sich vergreift: ein Teil des Ganzen zu sein, das sich von ihm abwendet. Aber es ist nur das halbe. Auch er wendet sich ab. Im Vergehen geht er hinaus. Hinausgehend aber ist er der, der bleibt.
Das Bleiben, nicht greif-, nicht fassbar, wird gern materiell gedeutet, Plunder, der sich in den Museen breitmacht, perverses System der Archive und Bibliotheken, Lockstätten für Brandstifter, schmutziger Rest, an dem sich Moder und verjährter Gebrauch ein Stelldichein geben. Das Zu-Leibe-Rücken ist eine Kulturtätigkeit wie andere auch – soviel zur Kultur.
Das wäre also das Böse? Aber nein, es ist nur sein gemütlicher Anblick. Das radikal Böse befasst sich nicht mit dem ordinären Totschlag. Es ist radikal unterbeschäftigt und lauert auf seine Stunde. Derweil sorgt das gemütliche Böse dafür, dass es weitergeht. ›Müll‹ ist eine metaphysische Kategorie. Im Hinter-sich-Lassen die Salzsäule erahnen, das Erstarren, das nicht ausbleibt, die Entsorgung des Ich: Religion auf Distanz.
Was liegt am Christentum, was an Religion? Die Frage stellen heißt sie verlassen. Wo Religion anliegt, erscheint sie: vom Bedürfnis überwältigt, von der Gewalt verhöhnt und vom Wissen erschlagen. Am Lager seines toten Gottes Flüche murmelnd – so stellt sich mancher Neuling der ortsfremden Obrigkeit, die leider keine Zeit findet, sich mit ihm zu befassen. Warum auch? Die Gretchenfrage, sie stellt sich nicht, weil Religion niemals aufgibt, weil ihr jede Pfütze genügt, um sich aufs Neue darin zu sammeln. Selbst der Himmel, der sich drin spiegelt, ist nur Zugabe, sie kommt, wenn’s sein muss, ohne ihn aus.
Dass jede kommende Religion sich an einer vorhandenen mästet, besitzt eine selten erwähnte Pointe. Die gegenwärtige Religion ist die Gegenwart der Religion, die unsichtbare Summe ihrer Verhältnisse in dieser Welt. Die kommende Religion schlingt diese Verhältnisse in sich ein, sie ist die Aktualität, betrachtet als Religion, das heißt als ein vom Schmutz der Gegenwart gereinigtes Herkommen, das sich erst in Ansätzen zeigt. Die kommende Religion ist die vergangene im Futur, bereichert um all die Kompromisse und Weiterungen, die ihr das Überleben im Heute sichern, als liege darin ihre lange Zeit vernachlässigte Pointe.
Kein Denken lässt sich beschränken. Doch seine Unbeschränktheit lässt sich nur beschränkt ertragen. Deshalb bleibt sie virtuell. In diesem Sinne sind alle Kulturleistungen nicht nur beschränkt, sondern Ausdruck von Beschränktheit. Es ist die Beschränktheit, die zur Darstellung drängt. Die Verächter der Religion sind Menschen, die für den Ausdruck ihrer Beschränktheit einen Sündenbock brauchen: Sie drücken ihn heraus aus dem Ensemble der ›anstehenden Aufgaben‹ und finden sich darin schön.
Keine Sorge: das wird schon. Darum sollte man sich nicht allzu sehr kümmern. Der Schmerz, der erlöst werden möchte, nimmt den nächsten Flug. Wer wollte daran zweifeln? Woher also das Beharrungsvermögen? Woher das Nicht-weggehen-Wollen? Die Unsicherheit mit der Unsicherheit erklären zu wollen ist lächerlich. Der Zweifel, ob es besser wäre zu gehen, und die Gewissheit, dass es besser wäre zu gehen, sind ein und dasselbe. Ein Zweifel, der es nur zur Gewissheit, und eine Gewissheit, die es nur zum Zweifel bringt, sind Ausdruck des beschränkten – und bedrängten – Ich: Kopf oder Zahl.
Sich aufgeben – wohin? Sich stückweise aufgeben – warum? Um durchzukommen, vermutlich. Das aber bedeutet, dass jedes stückweise Sich-Aufgeben ein Zurücklassen ist, während der Sinn des Sich-Aufgebens vor ihm liegt. Sogar der Selbstmörder, der sich in einem Stück aufgibt, bleibt dem Stückwerk verhaftet. Er begrenzt sich von außen: er umrundet sich, er umschnürt sich, er nimmt einen Anlauf und stößt sich in die Vergangenheit. Das bedeutet es, Zukunft zu reklamieren – für sich, für wen denn sonst. Tote auf Urlaub sind Menschen, die an die Zukunft glauben wie an ihr eigenes Leben. Das Wie enthält das Problem.
Selbsttötung ist Ahnenkult, also Nachfolge. Jemand schließt die Tür, um zu folgen. Ins absolute Dunkel hinein gibt es weder Folge noch Nachfolge. Ein Zeichen ist schon vonnöten. Im Zeichen des Menschen schließt einer die Tür. Wir sehen die flächiger werdende Erwartung auf seinem Gesicht, wir hören das leise Knarren der Angeln, wir sehen den Spalt, der sich schließt, mehr nicht. Wir wissen, wir sind noch nicht Einzelne genug, um zu folgen, wir bleiben zurück. Was wir gesehen haben, ist das Zeichen eines Zeichens. Wir drehen uns um und die Substitute stehen schon bereit. Fast gerührt gehen wir an ihnen vorbei.
Die Frage nach dem Mittler endet dort, wo die Vermittlung in Frage steht. Was soll vermittelt werden, wodurch und zu welchem Ende? Zum richtigen? Ist es also das Ende, um das sich alles dreht? Ist das richtige Ende das Ende? Ist das, was jeder erreicht, das zu Erreichende? Was heißt es, auf diesem Weg verloren zu gehen? Was verliert der, der verloren geht? Auf all diese Fragen gibt es Antworten, verloren gegangene und unerreichbare. Wir kennen die Bilderbücher und ahnen ihren Sinn. Vielleicht ahnen sie etwas von uns, aber das, gerade das, ist unentscheidbar. Wir suchen den Zusammenschluss in der Differenz. Wer sie aufgibt, gibt sich auf und eilt – vorbei.
Liz geht es gut, sie hat einen Mann. Man könnte annehmen, sie habe viele Männer, für jeden Betreuungszweck einen, aber darum geht’s nicht. Wie sie das sagt, mit rauchiger Stimme, die Kulleraugen strahlend geweitet:
Sie wird ihn heiraten, mit allem Pi-Pa-Po, wie sie sagt, Brautjungfern links und rechts, selbstverständlich kirchlich:
Sie muss ihn haben, denn:
Meint sie das ernst? Meint sie das wirklich ernst? Du könntest ihren Kopf
zwischen beide Hände nehmen und doch würdest du nichts erfahren. Am Ende
wüsstest du nicht, was du hättest erfahren wollen. Liz geht’s gut, Liz geht’s
schlecht. Zwischen beiden Zuständen pendelt das Leben. Hin und her,
her und hin –
Ist das gut? Ist das schlecht? Es ist, wie es ist.
Alle wissen: Liz die Sanfte, Liz die Aufgekratzte ist bipolar gestört. Nur: wenn das eine Störung ist, wer möchte dann ungestört leben?
Liz’ Beruf: Gensammlerin. Wie weit wird sie es darin bringen? Vom Pirschverhalten her eine
Artemis, hundertbrüstige Keuschheit, sie ruht und rastet nicht, bis
zwischen ihr und dem Wild nur mehr ein Nichts steht, hinter dem sie
instinktiv Schutz sucht, während sie näher kommt… Eines ist
gewiss: sie wird kinderlos bleiben, kinderfreie Zone, das schuldet
sie ihrer Freiheit, der Freiheit zu kommen und zu gehen, wie es ihr
beliebt. Also werden all die eifrig und mit Geschick gesammelten Gene
nutzlos verschwendet sein.
Das erinnert an eine bekannte Definition des
Schönen:
Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck
und ihren von kundiger Hand verfertigten Zusatz:
Auch das Schöne muss sterben
Gerade das Schöne, was sonst? Das Unschöne stirbt beim ersten Kontakt: es erleidet (›augenblicklich‹) den Augentod. Niemand hält sich mit Unschönheit auf. Wer mag das ›Sterben‹ nennen? Nein, nur das Schöne stirbt wirklich, mit allem Jammer der Seele, der nun einmal dazugehört.
Die Schönheit der Gene, vor allem wenn sie in keiner Kindersaat aufgeht, vollendet sich fern den indiskreten Blicken der anderen. Liz’ Jagd nach dem besonderen Mann, dem intelligenten Professor, dem berühmten Schriftsteller, dem sportlichen Typ, der die Zukunft auf seinen muskulösen Schultern balanciert, dem Mann ihrer Träume (im Chor der anderen) geht niemanden etwas an –
… und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an!
Die Jagd, das ist wahr, geht allem anderen vor – doch nur, weil es Liz’ Naturell entspricht. Weil sie der Göttin so nah kommt. Wie nah? Stelle sie und Elisabeth Seite an Seite, dann lächelt dich der Unterschied an.
Aber das wirst du schön bleiben lassen. Liz, auch dessen bist du dir sicher, wird keine Kinderlosigkeit daran hindern, die Große Mutter zu geben, wenn erst die Zeit dafür reif ist. Alles zu seiner Zeit.
―Ich hab’ euern Großen Denunziator getroffen.
Unseren Großen Denunziator? Wer soll das sein?
Heuchlerische Replik –. Schon klar, wer da gemeint ist.
Wo
hat sie ihn getroffen? Auf der Straße? Im Bett? Im Stundenhotel? Am
Rande einer Tagung? Am Strand von Warnemünde?
So funktioniert Liz.
Der große Denunziator ist der Große Denunziator. Das hat sie gut gesehen.
Seine Schwester, so Guido, sei mit den Mormonen gegangen. Er, Guido, sei damals noch Schüler gewesen, ein halbes Kind, die Schwester hingegen bereits volljährig, auf dem Sprung, im fernen New York zu studieren. Sei auch schon vor Ort gewesen und habe sich ausgekannt. Natürlich habe er, Guido, die Schwester mit halbgaren Fragen bombardiert. Martin Luther King sei das Idol der Stunde gewesen, auch seines, dementsprechend habe er, Guido, den Status der schwarzen Minderheit angesprochen. Die Auskunft der jungen Dame habe ihn, obgleich nicht zu sehr, verblüfft: Ach, die bemerkt man nach einiger Zeit gar nicht mehr. Gerade so habe es kurz zuvor auch im Interview einer südafrikanischen Apartheids-Schriftstellerin gestanden.
Ohnehin sei das Land ihrer Herkunft in den Augen der etwas aufgedrehten jungen Dame verflucht gewesen. Jeder, der hierblieb, verstrickt ohne Ende. Sie hätte, so ihre lebhaft bekundete Auffassung, die Schere genommen und anders als er, Guido, den Schnitt gewagt. Das habe zu Konsequenzen ohne Ende geführt, bis sie Jahre später beschlossen habe, sich ihrer familiären Herkunft restlos zu entledigen, end-gült-ig –: ab diesem Zeitpunkt wisse er, Guido, nichts mehr über sie, null, zero – sie könnte auf Wolken thronen, fünf Kinder großgezogen oder das Zeitliche gesegnet haben, er besitze davon keinerlei Kenntnis. Er wolle sich auch gar nicht darüber beschweren, es gebe schlimmere, viel schlimmere Schicksale als den Verlust des siamesischen Zwillings, der sie für ihn einmal gewesen sein müsse, jedenfalls in seelischer Hinsicht. Schwamm drüber. Den Zwilling müsse er sich wohl eingebildet haben. Ja, es sei möglich, sich über Jahre hinweg bitter täuschen, vor allem in puncto seelischer Nähe. Seine Schwester habe, bei aller schwärmerischen Herzensausschütterei, auch immer etwas … Robustes in ihrem Wesen gehabt, das ihn verblüfft und gekränkt habe. Inzwischen sei die ganze Person auf einen Anekdotenvorrat zusammengeschmolzen – lauter Geschichten, die mit ›Meine Schwester…‹ beginnen und im erzählerischen Niemandsland enden. Irgendwie wolle ihm die Pointe nicht richtig gelingen, vielleicht, weil jede eine kleine oder auch größere Kränkung enthalte. Offenbar empfinde das nicht nur er so, der Effekt sei nun einmal nicht zu leugnen.
Das Argument sei ihm kurios, um nicht zu sagen lachhaft vorgekommen. Aber der heilige Ernst ihrer Rede habe alles Lästern verboten. Lichterloh habe sie gebrannt. Das Land der Menschenrechte und des Glaub-doch-was-du-willst-aber-glaub hatte eine Dependance in ihr eröffnet und sie habe geglaubt, wie nur je ein Mensch an eine Sache glauben kann, die ihm gestern noch lächerlich vorkam, nun aber, in der Phase der Einstimmung, in den Gründungstagen einer Zwerggemeinde, bestehend aus zwei jungen Männern, die fern vom Auftraggeber endlich Erfolge vorweisen wollten, und einer frustrierten jungen Frau, tritt die immer vorhandene innere Glut aus ihm heraus und lässt ihn feurig erscheinen, so dass er einerseits fast dem Erzengel gleicht, andererseits in seiner Verstocktheit geradezu Züge eines Verworfenen annimmt, folgt man der sich plötzlich verzerrenden Wahrnehmung seiner säkular befriedeten Umwelt… Gerade so habe es sich zugetragen, ein Vorspiel, bizarr, zu dem, was sich kurze Zeit später, ganz ohne mystische Lichterscheinungen und göttliche Erlösungstaten, als neu aufgelegtes Heilsgeschehen im Lande der Heil!-Brüller an den Küchentischen abspielen sollte.
Hätte sie doch nur ein bisschen gewartet, seine ungeduldige Schwester, vielleicht fände sich ihr Porträt heute in der anschwellenden Memoirenliteratur jener Epoche … sei’s drum, stattdessen sei sie seine, Guidos, persönliche Ikone geworden, das Abziehbild einer Entrückten, vermisst habe er sie, und ehrlich gesagt, er vermisse sie noch. Was er sagen wolle: in ihrem Fall habe sich die so hinderliche Scham über ihre Herkunft aus dem ruinierten Land als Brücke erwiesen, über die sie hinüberschritt oder -ritt oder -glitt in die andere Existenz, natürlich musste bei der Gelegenheit auch der Name dran glauben und jene robuste Jenseitswelt aus Geld und Glitzer bekam ein Engelchen mehr … geschenkt, ein verspätetes ›Fräulein‹, was solle die Welt davon halten.
Wäre seine Schwester zehn Jahre später … er sage mal angetreten, hier in diesem Land, dann … aber jetzt wage er sich weit vor, eigentlich falle ihm nur eine Kleinigkeit ein wie meistens, wenn er auf seine Schwester zu sprechen komme. Es sei, wenn er sich recht erinnere, ein ganz normaler Sommertag gewesen, nicht wirklich sonnig, die Wolkenschieberei gehöre rückblickend mit zur Atmosphäre. Seine Schwester und er hätten sich im Garten aufgehalten, genauer gesagt, auf einem rabattenumgrenzten Kiesstück, dessen Mitte ein Tisch einnahm, er, Guido, glaube sich zu erinnern, dass er an diesem Tag eine Plane trug, weil man mit Regen rechnete. Die beiden stehen dort, vielleicht angelehnt an den Tisch, jedenfalls ins Gespräch vertieft, als seine Schwester, der er diese Gelenkigkeit nicht zugetraut hätte, mit einem Satz auf den Tisch springt, vielleicht stützt sie sich auf seine Schulter, vielleicht ergreift sie sogar seine Hand … jedenfalls steht sie unversehens auf dem Tisch und ist durch keine Zurede zu bewegen, wieder herunterzukommen, weil … weil gerade eine Maus vorbeilief, ein Gartenmäuslein, das längst wieder verschwunden ist… Wie gesagt, zehn Jahre später wäre seine Schwester, ihr hypersensibles, auf Widerständigkeit geeichtes und dabei robustes Wesen vorausgesetzt, im Feminismus vielleicht eine große Nummer geworden, eine Führungsfigur (eitel, wie er als Bruder nun einmal sei, könne er sich nicht vorstellen, dass sie es bloß in den Tross geschafft hätte), und er müsste seine Worte auf die Goldwaage legen, um ihr nicht in der Öffentlichkeit zu schaden oder auch bloß ihren leicht erregbaren Unwillen hervorzurufen. Sie habe sehr unwillig werden können, seine Schwester. Schon als er klein gewesen sei, habe sie eine Art gehabt, ihm den Daumen umzudrehen, um ihn gefügig zu machen, die er wahrscheinlich atemberaubend genannt hätte, wäre ihm die Vokabel in jenem zarten Alter bereits zur Verfügung gestanden.
Sie sei auch noch einmal zurückgekehrt, ihren ganz persönlichen Sieger im Schlepptau, Historiker, leider unpromoviert, er, Guido, wisse nicht, ob dem späteren Schwager irgendwann der Abschluss gelang oder sie letztlich nicht doch wieder auf der Verliererseite gelandet sei. Noch heute sehe er die zwei von einem Spaziergang in der Nachbarschaft zurückkehren … eher zierlich von Gestalt die Schwester, dem Mann kaum über die Hüfte reichend, beide leicht erschöpft und erfüllt von namenlosem Entsetzen über das gerade Gesehene: offenbar wären sie, unwissentlich natürlich, an der landschaftlich eingehegten Müllkippe, dem Stolz der öko-bewegten Gemeinde, entlanggewandert, hätten den weiträumig um das Gelände gezogenen, mit Totenkopf–Schildern behängten Zaun abgeschritten und keine Einrede dieser Welt habe sie mehr von dem Gedanken abbringen können, sie hätten soeben, praktisch um die Ecke, ein von gesichtslosen Nazi-Bürokraten betriebenes Konzentrationslager entdeckt: Also doch! Wir wussten es immer! Nur fort!
Er kenne die Wirklichkeit nicht, in der seine Schwester ihn mittlerweile verorte. Er vermute mal, sie nehme ihre Prise Grauen, falls sie gelegentlich vor dem Einschlafen an die alte Familie denkt, bevor sie sich auf die andere Seite wälzt. Als Kriegskind habe sie sich ihrer Herkunft immer geschämt. Er nehme an, sie gehöre zu den durch die Rückkehr des Vaters nachhaltig Traumatisierten. Davon solle es, wie man gelegentlich liest, eine ganze Menge geben, auch das erkläre manches.
Also drehen wir uns im Kreis.
Also drehen wir uns im Kreis.
Der sich im Kreise drehende Mensch erscheint seiner Mitwelt kopflos. »Wohin willst du?«, möchte sie ihm zurufen. »Entscheide dich! Gebrauche deinen Kopf!« Gut getroffen! Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Der kopflose Mensch, der Mensch von Sinnen ist das erste Objekt der Scham: Nicht dass ihm etwas fehlt, ist der Punkt, sondern dass er Vollständigkeit beansprucht. Je länger er sich im Kreise dreht, desto wahnsinniger kommt er den anderen vor, desto übergriffiger erscheint er in seinem Wahnsinn. Nicht seinetwegen erscheint die Forderung aufzuhören zwingend, sondern der anderen wegen, die sich von seinem Anblick nicht lösen können. Dieser Wahnsinn ist, um das Mindeste zu sagen, ansteckend. Er ist eine Gefahr für seine Umgebung. Kopflosigkeit, im Steigen begriffen: man schämt sich ihrer, man müsste sich ihrer erwehren, aber man kann es nicht. Man kann es nicht, weil physische Mimesis, stärker als jede rationale Entscheidung, daran beteiligt ist und sich durchsetzt, es sei denn, jemand kommt hinzu und bricht den Bann.
Eine Gesellschaft, sich kopflos im Kreise drehend: Wie peinlich ist das denn? Und doch, gewiss –: es gibt sie. Die närrische Gesellschaft, dem Taumel verfallen, sie flüstert dir zu: Wart’s ab! In dreißig Jahren wird sich an meiner Statt eine andere drehen. Wird sie dir gefallen? Wer weiß das schon. Vielleicht werde dann ich dir gefallen? Unmöglich scheint mir das nicht, eher als das Gegebene. Gib’s zu, die Vorstellung könnte dir gefallen. Schon lässt du sie dir gefallen. Dreißig Jahre… Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, die viele Café-Besuche erlaubt. Schon ruhst Du im Leder-Fauteuil, rückst das Stühlchen, greifst nach der Zeitung (noch liegt sie aus), kontrollierst dein Handy (vornehm ausgedrückt, denn in Wirklichkeit kontrolliert es dich und du weißt es), sparst deine Rede (mit wem sollst du reden, da du dich doch herausreden möchtest?) und die Zeit vergeht wie im Flug. Wie im Flug? Der ist nie geflogen, der diesen Spruch erfand, jedenfalls nicht zu zivilen Zeiten. Dreißig Jahre sind wie ein Tag. Du verlässt die Zeitmaschine, gebräunt, wohl gelaunt, es ist eine andere Welt. Eine neue Welt, wohl wahr. Die Proportionen haben sich verschoben, die Macht, soweit sie sich zeigt, ist in andere Hände hinübergeglitten. Dann die Probe aufs Exempel und nichts hat sich verändert:
Eine Gesellschaft, sich kopflos im Kreise drehend: Wie peinlich mag das wohl sein? Und doch, es gibt sie. Die närrische Gesellschaft, sie flüstert dir zu: Wart’s ab! In dreißig Jahren wirst du an meiner statt eine andere sehen. Wird sie dir gefallen? Werde ich dir dann gefallen? Siehst du, die Vorstellung lässt du dir doch gefallen. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, die viele Café-Besuche erlaubt. Schon ruhst Du im Leder-Fauteuil, rückst das Stühlchen, greifst nach der Zeitung (noch liegt sie aus), kontrollierst dein Handy (vornehm ausgedrückt, denn es kontrolliert dich), sparst deine Rede (mit wem solltest du reden, da du dich doch herausreden willst) und die Zeit vergeht wie im Flug. Wie im Flug? Der ist nie geflogen, der diesen Spruch erfand, jedenfalls nicht zu zivilen Zeiten. Dreißig Jahre sind wie ein Tag. Du verlässt die Zeitmaschine, gebräunt, wohl gelaunt, es ist eine andere Welt. Eine andere Welt, wohl wahr. Dann die Probe aufs Exempel: Peinlich.
Merken die Menschen nichts? Wollen sie nichts merken? Sind sie unfähig, etwas zu merken? Haben sie in ihrer Unfähigkeit Wurzeln geschlagen? Aber es sind doch andere, immerzu andere, durch die Schule der Unfähigen, Unfertigen, Unbeweglichen gegangen: Müssten sie nicht irgendwann die Beweglichkeit selbst sein? Nun ja, das sind sie vermutlich. Sie kreisen einfach um sich selbst, die Einzelnen wie die Gesellschaft, da existiert kein Unterschied. Oh doch, ein winziger. Das Ich schlägt Falten, Gesellschaft Wunden.
(1/3)
Und wenn ich mich im Kreise drehte: Was geht’s dich an?
Vorerst nichts. Gar nichts. Woher willst gerade du wissen, ob ich mich
im Kreise drehe? Siehst du in mich hinein? Siehst du nicht, dass ich
schon weiter bin? Weiter als ihr alle? Dass meine Pirouetten das
Ziel verfolgen, euch zu verwirren? Dass ich nicht will, dass mir
einer folgt? Dass, wer mich in meine Hintergedanken hinein verfolgt,
mein Feind ist? Nicht, dass ich Feinde bräuchte. Gesellschaft braucht Feinde, das
ist wahr. Das wenigstens habe ich gelernt. Eure Gesellschaft braucht den
Feind, auch das habe ich gelernt. Einen Feind, den sie in allen
Verkleidungen aufzustöbern gedenkt. Er ist nicht der Klassenfeind,
er ist nicht der Rassenfeind, er ist der Menschenfeind. Der Mensch
des Abstands, der Mensch, der seine Verletzungen nicht zu Markte
trägt, der Mensch, der lieber vor sich selbst ausspuckt, als dass er
sich als Opfer bezeichnen würde. Der Mensch, der sein Brandmal nicht
sieht, obwohl es ihn fast verbrennt, der Misanthrop, der den Menschen
zu sehr liebt, als dass er ihm unser aller Zukunft aufbürden
würde, er ist euer Feind. Warum das so ist? Ich habe es nicht verstanden. Ich werde meine
Verwunderung mit ins Grab nehmen. Vielleicht auch nicht. Ein
anhaltendes Wunder ist schließlich keines. Was ist es dann?
Ein anhaltendes Wunder ist ein Ärgernis.
(2/3)
Kein Wunder also, dass ihr wähnt, ich drehte mich im Kreise. Nur das Motiv bleibt, einem wie dem anderen, dunkel. Da müsste schon einer kommen und meine Gedanken lesen. Keiner kann die Gedanken des anderen lesen. Dabei sollte es doch von allem das Leichteste sein: Ich weiß, was du denkst. Wenn du wüsstest, dass ich in dir lesen kann wie in einem Buch! Und es ist nie ganz falsch. Mit diesem Paradox geht ein Mensch durchs Leben. Geschlagen mit einem Wissen, das keines ist, das vielleicht ein Wissen ist, vielleicht ein Wissen oder etwas anderes, eine notwendige Selbsttäuschung, ohne die sich ihm hoffnungslos verwirren würde, was doch als offenes Buch vor ihm liegt: seine Welt, bevölkert von jenen anderen, die er verstehen können muss, will er nicht auf der Stelle treten und sich … hoffnungslos im Kreise drehen, was das Furchtbarste wäre, womit er geschlagen sein könnte, solange er noch – wie heißt das Wort? – einsatzbereit ist.
(3/3)
Das Motiv, das mich im Kreis treibt, das mich immer und immer
wieder in meinen Kreis zurücktreibt, gleichgültig um die Lockung,
die im Fortgehen um seiner selbst liegt, ist mein Eigentum. Ich halte
es von euch fern, ich halte es mit Absicht im Dunkeln, ich will
nicht, dass ein anderer sich an ihm zu schaffen macht. Wenn ein
anderer glaubt, in mir lesen zu können, dann vergisst er das
Allerheiligste. Der eine muss es befingern, der andere es betreten,
der dritte es scheu umschleichen oder umstreunen: das sind bereits
drei Arten des Heiligen, die wenig miteinander gemein haben und
deshalb dazu taugen, alle Arten von Missverständnissen zwischen den
Menschen zu provozieren. Ich weiß, was dir heilig ist heißt,
übersetzt: Ich weiß, woran du
dich ausrichtest, du kannst mir nichts vormachen.
›Ich weiß, wie du tickst.‹
Da liegt der Fehler und er ist hoffnungslos.
Sibla und Duro, an der Außenfassade stehend, ins Gespräch vertieft. Warum nur fiel dir die Gleichheit ihrer Statur nie auf? Weil sie in verschiedenen Welten leben. Du kannst dir nicht vorstellen, worüber sie sprechen. Auffällig: Duros Mundwinkeln fehlt die ironische Spannung. Der Bock hat frei. Sibla, Sibla … er führt das große Wort.
Duro meets Sibla?
Nimmermehr. Auf welchem Planeten? Venus? Mars? Eine entfernte Möglichkeit böte Saturn: denkbar, dass sich unter der Schirmherrschaft Assons, des steinernen, notorisch von einem Anbeter-Ring umgebenen Gastes im Sonnensystem der Pyramide so etwas vielleicht arrangieren ließe. Auch dann stünde immer noch die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Konjunktion zweier Hörigkeiten im Raum. Weniger höflich ausgedrückt: der schicksalhaften Begegnung von Schwanz und … Exomanie.
The in-no-va-tion
of pe-ne-tra-tion
that’s my sen-sa-tion
Siblas Programm: die Reinigung der Seele von den Schlacken kolonialer Überfremdung. Europas christlich geprägter Kultur steht es nicht zu, den Kontinent der Lust zu begreifen. Alles Begreifenwollen erneuert den kolonialen Impuls und damit das verfluchte Herrenmenschentum, das ihm oft genug auf seiner Reise ins Innere des Mondes aus unberufenem Munde entgegenschlug. Kolonialismus ist ein Gewächs mit tiefen Wurzeln.
Reiße ihn aus und er wächst ungerührt nach. Drei Takte Beethoven und du weißt Bescheid: hier tummelt sich der klanggewordene Hochmut einer Kaste von Besserverdienern, die ›Menschheit‹ sagt und den eigenen Reichtum meint – Musik des
Unreinen, Bösen, Verdammenswürdigen. Doch so weit will er, Sibla, persönlich nicht gehen. Es ist nicht der Reichtum, der ihn stört. Es ist die Lustfeindschaft.
Er schämt sich ihrer.
Exo-… was? Es handelt sich um eine Form der Beziehung, welche die vorangegangene Trennung voraussetzt, wie zum Beispiel Duros Verhältnis zu seiner geschiedenen Frau, das an Hörigkeit grenzt. Er vertraut ihr, fast willenlos, in allen Dingen, auch denen des Alltags, man fände einen kindischen Zug darin, ginge man der Sache nur weit genug nach. Dem gleichen Muster folgen die Postcolonial Studies, als deren Vertreter er sich neuerdings profiliert. No sex just fun. Soll heißen: in Duros wissenschaftlicher Welt besitzen die Wortführer der einst unterjochten Völker Unfehlbarkeitsstatus, vorausgesetzt … nun, vorausgesetzt, sie spielen folgsam ihre Rolle als Garanten der immerwährenden Schuld der einstigen Unterdrücker, vor allem aber ihrer Nachfahren, die sich im falschen Bewusstsein der Unschuld wiegen. Die Schuld der Schuldlosen besteht in der Abwehr der Schuld. An dieser Stelle also trifft sich Duro mit Sibla, wenngleich er (Kultur muss sein) kein Beethoven-Konzert ablehnen würde. Ungleich kultivierter als der Kulturschaffende Sibla lebt er Kultur, getränkt mit dem Bewusstsein unaufhebbarer Schuld, nicht als ein sich Schämender, sondern als Gestalter der Kollektivscham, in die er sich einschließt, um sich auszuschließen: Kultur stärkt Status.
Ein Analytiker, der genügend Scharfsinn und Zeit aufbrächte, würde begreifen: Sibla komponiert Zeit. Zwar ist alle Musik Zeit (oder kostet sie, je nach Genuss), aber sein Modell funktioniert anders: Sibla gestaltet die Zeit selbst, Tempus purus, die fugitive Zeit, die man im Deutschen den Zeitfluss nennt, ohne Bett und Ufer zu kennen. Kein Wunder also, dass er große Mengen davon verbraucht. Zeit ist der wahre Stoff seiner Träume. Tief in seinem Inneren weiß er, dass er genug davon hat und schwärmt davon, sie auszugeben, während sie unerbittlich verrinnt. Gäbe es ein System der Ehrungen, das auch den stillsten Schreibtisch einschließt, Sibla wäre Held der Zeit – in Bronze, vielleicht auch in Gold, mit einem schicken kleinen Bändchen daran, dessen Sinngehalt der Erläuterung harrte. Aber während Sibla schwärmt und ihm die Zeit durch die Finger rinnt, gibt er ihr eine Form, durch die sein singuläres Leben sich im nicht weniger singulären Universum abdrückt, gewissermaßen als Hohlform seiner selbst, ein Hohl, um das herum gelebt wird, auch wenn der Anrainerkreis klein ist und keine größere Rezeption in Sicht. Sibla, seine Frau ahnt es nicht oder kaum (denn ein Spalt auf die wesentlichen Dinge des Lebens bleibt immer offen), ist der Meister des Hohls. Wie viele von seiner Sorte mag es geben? Das Geheimnis solcher Existenzen bleibt dicht, sie tragen es auf der Haut und achten streng darauf, dass es keine Löcher bekommt. Diese Achtsamkeit ist ihr Wesen, sie können und wollen nicht aus ihm heraus, denn das wäre der Untergang.
Dreams für die Kundschaft erbrütend: gleich wird er sich auf Zehenspitzen erheben, um den Kabelsalat zur Raison zu bringen. Ein Wetzen: das Große Gehör, auf Empfang geschaltet, verschiebt Lautsprecher – große und kleine, kreuz und quer, her und hin. Merkposten Klirrfaktor! Never forget! Etwas mehr Bass! Justierung ist alles. Das Programm, einmal eingestellt, schreibt, aber Sibla ist nicht zufrieden. Er wiegt das Haupt, kratzt sich am Kopf, lässt die Tonfolge wieder und wieder passieren: So nicht. Wie dann? Das Programm, so geduldig wie unerschöpflich, spult Varianten ab, die es gleichgültig lassen. Besäße es Bewusstsein, empfände es eine gewisse Leere. Vielleicht gähnte es dem Herrn der Töne ins Gesicht, was eine Unehrerbietigkeit darstellte und streng geahndet würde. Gut, dass Programme über kein Bewusstsein verfügen. Schon Menschen sind damit überfordert und alles in allem hat sich die Einrichtung nicht bewährt.
Was z.B treibt Siblas Bewusstsein den lieben langen Tag? Es ist produktiv. Kitty, die ihren Beruf gern an den Nagel hängen würde, schleicht auf Zehenspitzen umher. Manchmal lässt sie etwas fallen, sie will den Plumps hören, er hebt ihr Lebensgefühl. Ein produktives Bewusstsein, auf Wochen und Monate hinaus damit beschäftigt zu verwerfen, was ihm vorgelegt wird, ist ein Tyrann. Siblas Bewusstsein ist ein Tyrann. Wäre Sibla Tyrann, Kitty wäre es maulend zufrieden und ließe sich schikanieren. Ein Komponist, der sich durchsetzt, muss stark sein. Sibla ein Tyrann? Er hat bloß zu viel Bewusstsein, und das geht seine eigenen Wege. Welche das sind, ist ihr ein Rätsel, das sie nicht länger ergründen möchte. Der Rätsel sind genug geraten, wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen.
Kitty stellt sich vor, wie es ihr erginge, wenn sie Bewusstsein hätte. ›Das ist mir schon bewusst‹ gehört zu ihren stehenden Redensarten. Sibla fragt sich, während das Programm generiert, was wohl von ihrem Unterbewusstsein geblieben sein mag, dem weiblichen Chaosraum, das so paradiesische Ausflüge erlaubte. Vielleicht wurde ein Keller draus, ein Verlies für verstockte Gefühle. Der Gedanke widert ihn an. Er schaltet ihn ab, doch das Maschinchen, es rattert weiter.
Leckebusch legt eine Publikation vor. Das ist nichts Besonderes, es geschieht bei ihm alle Tage. Nun, vielleicht nicht alle Tage, aber, sagen wir: der Halbjahresrhythmus gibt das Geleit. Leckebusch schwitzt seine Bücher nicht aus, wie dies andere tun. Bei ihm ist das Bücherschreiben ein geordneter Nebenaspekt der Lehrtätigkeit wie das Verfassen von Gutachten oder das Konzipieren von Vorlesungstexten. Leckebuschs Gutachten, in all ihrer kristallinen Kühle, sind berühmt: es sind Mikro-Traktate, aus denen eine moralische Weltordnung spricht, gegen die gehalten das Begutachtete schnell wie der gern zitierte struppige Straßenköter erscheint. Leckebusch, so ließe sich der Vorgang zusammenfassen, bringt den Gedanken Manieren bei. Wie immer, geht dabei einiges an Substanz verloren. Anderes, zum Beispiel die Relevanz, wird auf diesem Wege erst sichtbar. Leckebuschs Gutachten sind Konverter. Man steckt einen erarbeiteten Gedanken hinein und man bekommt einen relevanten Gedanken heraus.
Was ist ein relevanter Gedanke?
Liebhaber des informationstheoretischen Vokabulars könnten geneigt sein, ihn als redundant zu bezeichnen: vollgepackt mit Signalen, die an Bekanntes anknüpfen, ein kleines, die eigene Standortbestimmung erleichterndes Verweissystem, ein Who is who bedeutsam gefundener Vorstellungen, die einander auf frappierend selbstverständliche Weise die Klinke in die Hand drücken oder – im Gegen-Fall – sich wechselseitig die Tür aufhalten, um Zugang mit Zugang zu vergelten.
Ein relevanter Gedanke verwandelt Bezüge in Beziehungen, Sachliches in Soziales, er lässt die Kraftlinien der Community aufleuchten und katapultiert seinen Urheber ins Feld mehr oder minder ertragreicher Interaktionen. Jedenfalls sollte er das, denn da sich relevante Gedanken in beliebiger Zahl erzeugen lassen, steigt die Zahl der Relevanz-Anwärter und ihrer Bedürfnisse exponentiell an, sobald ein entsprechender Markt sich erst einmal etabliert hat.
Ein Könner wie Leckebusch kommt da gerade recht: seine aparte Fähigkeit, Wein in Wasser zu verwandeln, ist so gefragt, weil sie Vermittlerdienste verspricht, die gern in Anspruch genommen werden, wenn es darum geht, eigene Denkprodukte in den Markt einzuspeisen. Auch wissenschaftliche Ergebnisse sind darauf angewiesen, auf Märkten zu zirkulieren – auf Meinungs-, Überzeugungs-, Forschungs- und Zitatmärkten, auf denen gilt, was kursiert.
Wenn Leckebusch ein Buch schreibt, treten die Sorgen des Alltags von ihm zurück. Mit weit geschlossenen Augen sammelt er die Geräusche der Zunft, ordnet sie, prüft sie auf ihre Tauglichkeit und bereitet sie in einer Menge kleiner Notizen auf, bis sie widerstandslos dem Dreier- oder Fünferschritt folgen, in den sich über kurz oder lang jede Gedankenmasse ergeben muss, will sie vor seinem inneren Ohr Bestand haben. Dieses innere Ohr, ein Selektionsorgan erster Güte, hört sich heraus, was... nein, nicht, was es hören will, sondern was ihm hörbar dünkt, fast wie das die Fassungskraft seines Publikums mithörende Ohr eines gewieften Komponisten, der weiß, für welche Art von Kost sein Name steht, und der darüber zu einer Art Vorkoster in eigener Sache geworden ist, ohne diesen Vorgang im mindesten zu bedauern, da er ihm im Wesen der Sache begründet zu liegen scheint.
Das Pedal-Bild will, da auch anderweitig konnotiert, weiter bedacht sein. Alles, was Leckebusch denkt (oder als Denkmasse weiterreicht), ›hat Pedal‹, es klingt bedeutend, ohne in gleichem Umfang bedeutend zu sein. Oder, da sich so etwas nicht ganz einfach behaupten lässt: neben dem, was es besagt, bedeutet es stets auch etwas, das es besagen soll, ohne die Dimension erkennen zu lassen, in der letzteres durch einfache Worte mitteilbar wäre. Dabei besteht an einfachen Worten in Leckebuschs Werken kein Mangel. Er pflegt einen guten, nicht willkürlich mit Fachausdrücken überladenen Stil, man könnte ihn unter die verständlichen Autoren rechnen, würde man nicht genötigt, immer zugleich zu viel und zu wenig heraushören, zu viel Bedeutung und zu wenig, sagen wir, Bedeutetes, so als wohne man der Eröffnung einer endlosen Folge von Fragen bei, deren identischer Kern lautet: ›Und was bedeutet das?‹
Leckebuschs Bücher, eine Reihe ausgedehnter Gutachten über die Klassiker der philosophischen Literatur, gelten als Kassenschlager. Entsprechend gern werden sie zitiert. Ohrwürmer für Kunden, die ein offenes Organ für dergleichen besitzen, füllen sie den Gehörgang aus, statt, wie es doch sein sollte, die Gedanken durchzuleiten, mit denen sie sich beschäftigen. Kein Wunder also, dass Leckebusch einmal dem Wesen des Sinnes nachspüren musste, der ihm so unerhörte Einnahmen beschert. Denn davon handelt sein neuer Titel: vom Nach- oder Überhören des Gehörten, in dem das Gehörte ›allererst‹ preisgibt, was als das zu Gehör Kommende bereits im ursprünglichen Akt des Hörens anwesend ist, ja ihn ›gewissermaßen‹ erst ermöglicht. Das klingt schwieriger als gedacht, schließlich sind wir alle daran gewöhnt, auch im Weghören weiterzuhören, ein guter Zuhörer weiß, dass er manches überhören muss, um seinem Gesprächspartner folgen zu können: das mag in vielen Fällen moralisch gemeint sein, aber im Allgemeinen beschreibt es doch die unentwegt filternde Tätigkeit des Gehörs, sein Passieren-Lassen der Fülle des Gehörten, seine wechselnde Aufmerksamkeit auf Geräusche, die den, der da hört, angehen könnten, während die Welt, als akustische Kulisse, unentwegt im Hintergrund weiterplätschert. Das Bindewort ›sein‹, davon gibt sich Leckebusch überzeugt, entsteht an dieser flüchtigen Grenze zwischen dem Mitgehörten und dem Gehörten, also dem vom Gehör ins Dasein gehobenen Geräusch.
Etwas ist – was war das? – es ist ›anders‹, etwas Bestimmtes, etwas ganz Bestimmtes, dem ich nur nachgehen muss, um es zu finden, ein guter Hirte, der sich nachts aufmacht, um ein verirrtes Schaf im Gelände zu finden, nachdem er ›etwas‹ gehört hat. Der gute Hirte kennt das Gelände trotz offener Grenzen und in alle Himmelsrichtungen verschwimmender Bezüge. Das hier ist seine Welt und er findet sich blind in ihr zurecht. Genauso würde er nächtens vor den unbekannten Geräuschen einer Stadt zurückzucken, denn dort ist er: in der Fremde.
Diese Eigenschaft teilen Leckebuschs Texte mit denen vieler anderer Philosophen. Sie gilt gewissermaßen als Markenzeichen der akademischen Philosophie. Aber es gibt da einen Unterschied: während andere Texte einen ins Denken hineinlocken – oder es zumindest versuchen –, sperren diese ihre Leser aus, sie schneiden die Bereitschaft zum Mitdenken gewissermaßen von den Quellen ab, aus denen es sich bedienen müsste, um weiter zu kommen, so wie Leckebusch sich schreibend aus ihnen zu bedienen weiß, und wäre es nur, um die nächste Seite zu füllen.
Darauf gibt es nur eine Antwort: sie handeln von Verbotenem.
Mag sein. ›Verbot‹ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, niemand hindert einen Leser daran, das Umfeld eines Wortes, einer Redewendung, eines so und nicht anders vorgetragenen Gedankengangs zu recherchieren und seinem Verständnis auf diese Weise nachträglich einzuverleiben. Gehört er zur Zunft, dann versteht er ganz gut, warum Leckebusch die eine oder andere Anspielung meidet. Doch in der Regel hütet er sich, den Zusammenhang auszuplaudern. Denn das hieße, bei Strafe der Lächerlichkeit, einen Kollegen bloßstellen – ohne Not und, vor allem, ohne Beweise.
Darauf gibt es nur eine Antwort: sie handeln von Verbotenem.
Mag sein. ›Verbot‹ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, niemand hindert einen Leser daran, das Umfeld eines Wortes, einer Redewendung, eines so und nicht anders vorgetragenen Gedankengangs zu recherchieren und seinem Verständnis auf diese Weise nachträglich einzuverleiben. Gehört er zur Zunft, dann versteht er ganz gut, warum Leckebusch die eine oder andere Anspielung meidet. Doch in der Regel hütet er sich, den Zusammenhang auszuplaudern. Denn das hieße, bei Strafe der Lächerlichkeit, einen Kollegen bloßstellen – ohne Not und, vor allem, ohne Beweise.
Leckebusch steht damit nicht allein. Eine ganze Literatur hat sich darauf spezialisiert, all jene Wortprägungen zu stigmatisieren, in denen Hirte und Sein, Not und Sorge, die Existenz und das Offene sich am sorglich geschaufelten Grab der ›abendländischen Metaphysik‹ zur danse macabre versammeln. Nicht um von der Metaphysik zu retten, was zu retten wäre, das ganz und gar nicht, sondern um den Prozess der Aufklärung weiter zu treiben, genauer gesagt: den unvollendeten Prozess der Moderne, einen klassischen Prozess gegen Andersdenkende, ohne Richter, ohne Verteidiger, dafür mit einer voll besetzten Anklagebank und einer stattlichen Zahl von Beisitzern, trainierten Merkern, die jeden Verfahrens-Zug registrieren und dafür Sorge tragen, dass kein Ende des Verfahrens in Sicht kommt.
Leckebusch, als Denker der Moderne, ist also gut beraten, die Vorratskammern ostentativ verschlossen zu halten, aus denen er sich heimlich bedient. Warum tut er’s dann? Leckebusch ist keiner der notorischen Ankläger, eher gehört er zu den stillen Merkern im Lande, deren Hintergedanken sich auf wundersame Weise mit ihren Vordergedanken zu mischen pflegen, so dass jeder Versuch, sie wirksam auseinander zu halten, zwangsläufig in die Irre geht. Um seine Sätze spielt ein diskreter Zug, als wüssten sie etwas, das sie verschweigen, in aller Offenheit, versteht sich, denn sie haben nichts zu verbergen: sie haben nichts zu verbergen, ganz recht, sie leiten nur durch.
Wenn Leckebusch denkt, gleicht sein Bewusstsein einem Rangierbahnhof – was hereinkommt, muss auch wieder hinaus, aber in sinnfällig veränderter Zusammenstellung, so dass der eine Gedanke verkürzt, der andere halbiert, ein dritter wundersam ergänzt den Weg in die Ferne antritt. Mit bloß kurrenten Gedanken ließe sich das schwerlich erreichen, und wenn, dann nur um den Preis der Bizarrerie, als fehle dem Verfasser die Gabe der angemessenen Wiedergabe und er kompensiere diesen Mangel durch Willkür. Dadurch, dass er Versatzstücke eines anderen, allen geläufigen, jedoch mit einem Lächerlichkeits- beziehungsweise Schrecklichkeits-Index versehenen Denkens hineinmischt, aber unterhalb der Deutlichkeitsschwelle, spannt er die Aufmerksamkeit seiner Leser, versetzt sie in eine Aufbruchstimmung, die beim Weiterlesen zu gleichen Teilen verpufft und sich beständig erneuert.
Leckebusch, als Denker betrachtet, handelt nicht von Verbotenem, er handelt mit Verbotenem – unter steter Beteuerung, ein solches Verbot existiere gar nicht und alle Positionen lägen, einer fairen Auseinandersetzung jederzeit zugänglich, ›auf dem Tisch‹.
Was, nebenbei bemerkt, stimmt. Die Fraktion des stigmatisierten Vordenkers ist während all der Jahre, in denen Leckebusch umsichtig die eigene Reputation mehrt, rührig, und mehr als das: da sie die Schwachstellen ihres Meisters besser als andere kennt, hat sie stetig und umsichtig einen Großteil der Löcher gestopft, aus denen der Zeitgeist einer in Schande vergangenen Epoche tropft (manchmal auch nur das Drüsensekret des Autors).
Alles, was ›aus dieser Ecke‹ kommt, ist allgemeiner Aufmerksamkeit gewiss. Die Publikationsorte sind seriös, Pöbeleien kommen nur selten vor, die Karrieren sind ungebrochen. Dennoch... Es sind die anderen, die sich dort tummeln und durch einen gewissen Mangel an Berührungsängsten auf sich aufmerksam machen.
Dieser Mangel zeichnet sie ebenso aus wie die Stromlinie einen Leckebusch, für den sie zu den Unberührbaren zählen: während er ihre Dienste in Anspruch nimmt, möchte er am liebsten vergessen machen, dass es sie gibt. Doch das ist leichter gesagt als getan. Als redlicher Fußnotenschreiber trägt er sie dem eigenen Haupttext hinterher wie ... wie ... ein apportierendes Hündchen, das mit dem fortgeworfenen Stock im Maul seinem Herrchen nachtrottet.
… ein unverächtliches Motto für all jene Denker der Moderne, die vorurteilslos das Vorurteil pflegen, sie, das heißt ›die Moderne‹ sei uns aufgetragen wie die Pflege eines Automobils, der man sich am besten anhand eines Lastenheftes widmet, in dem penibel verzeichnet ist, was ›geht‹ und was ›nicht geht‹, also vor allem Denken als Durchgestrichenes existiert, als Nicht-Gedanke... Solche Nicht-Gedanken existieren vermutlich in jeder Gesellschaft. Sie sind unausrottbar und dauernd in Bewegung. Für jeden, der auf die Seite der frei verfügbaren Gedanken wechselt, verschwindet ein anderer im Hexenturm. Nur vereinzelt dringen Schreie oder leise Seufzer heraus.
Welche Szenen spielen sich im Inneren ab?
Besteht Folter-Verdacht?
Schließlich werden dort keine unbedarften Gedanken zusammengezogen, sondern Kämpfer, Überzeugungstäter, Rattenfänger, Kindesentführer: gefährliches Zeug, nicht leicht zu bändigen.
Der Ausschluss vollzieht sich geräuschlos. Doch das sagt wenig darüber aus, wie es drinnen zugeht. Man weiß es nicht, denn man will es nicht wissen. Dabei wäre es ein Leichtes, sich Zutritt und Wissen zu verschaffen. Wärter gibt es, aber sie ähneln kläffenden Hunden, kein ernsthafter Mensch lässt sich von so etwas abhalten, der Richtschnur seines Wollens zu folgen.
Die Wahrheit ist: es bedarf keiner Wärter. Die Wahrheit ist: was dort geschieht, dient der Reproduktion von Gesellschaft. Auf eine scharfe, wenngleich verborgene Weise sorgt der Ausschluss dafür, dass die feinen und groben Unterschiede, deren Gesamtwirkung als Gesellschaft bezeichnet wird, nicht von der Bildfläche verschwinden. Im Einzelnen ist die Gesellschaft übermächtig. Die einfache Neugier, das lockere Interesse, schließlich das erbitterte Ringen um Anerkennung: auf all diesen Wegen stößt sie ins Innere vor und krallt sich darin fest. Leckebusch zum Beispiel ist den modischen Gepflogenheiten, an denen sich die Philosophengemeinde erkennt, bis in die letzte Faser verpflichtet.
Dagegen verstoßen, eventuell sogar aufbegehren? Nie im Leben!
Aber natürlich entgeht ihm ebenso wenig wie den klügeren Kollegen, dass, angesichts der Knappheit der ›Ressource‹ Erfindung, die Nicht-Gedanken einen unverächtlichen Vorrat an Ideen enthalten, geeignet, dem, der sich ihrer geräuschlos zu bedienen weiß, Vorteile vor der Konkurrenz zu verschaffen.
Nie würde Leckebusch, ein Meister der Geräuschlosigkeit, es bis zum Äußersten kommen lassen. Es muss schon zu ihm kommen, das Äußerste. Anders geht es nicht.
In den Beeten der Republik wächst das Gemüse der Scham. Es wächst langsam und stetig, es reift und verspricht eine reiche Ernte. Der gemeine Kohlkopf weiß nichts von seinem Los, er kennt die mechanischen Greifer noch nicht, die sich seiner annehmen und ihn in eine höhere Form der Existenz überführen werden, fern den Feldern, auf denen die anspruchsvolleren Sorten gedeihen, die dort diffizileren Verwendungsarten zugeführt werden, nicht ohne ihm durch eine heimliche Gleichheit verbunden zu bleiben. Nicht dass diese kapriziösen Geschöpfe wüssten (wann wüsste Gemüse?), aber eine gewisse Ahnung regt sich doch in ihrem Blattwerk, wenn es sich aus krauser Richtungslosigkeit löst, um in Rätselformen aufzuschießen, deren Geheimnis sich erst bei Tisch lichtet.
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Das klingt schon wieder trivial. Lacht ruhig, ich muss ja selbst lachen, hört mir doch mal zu. Ich weiß nicht, was daran komisch sein soll. Pw, lass die Faxen, ich finde das albern.
Also –
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Der Rektor blättert.
Vor und zurück. Zurück und vor.
Etwas dick geraten, das Ding. Ein Wälzer.
Er muss auch gleich ins Büro.
Bücher sind von gestern, orakelt Agosch. Da ist was dran.
Wer liest so ein Zeug überhaupt?
Wer kann sich das heute noch leisten?
Warum kommen diese Schriftsteller nicht auf den Punkt?
Zum Glück schreibt Leckebusch keine Romane. Obschon –
Er wäre der letzte, den er jetzt sehen wollte.
Ein Leckebusch würde das K-Wort nicht über die Lippen bringen.
Geschweige denn am Frühstückstisch danach fahnden.
Kommschon, kommschon, kommschon. Wo bleibt die Stelle? Jetzt eine kleine Suchfunktion drüberlaufen lassen und sie wäre da. ›Atavistisch‹ nennt Dürrobst das. Recht hat er. Warum wildert ein Schöngeist in den Naturwissenschaften? Fällt ihm nichts Eigenes ein? Dieser Titel! Wie viele arglose Zeitgenossen fallen auf so einen Titel herein? Viele, wenn er der Bestsellerliste trauen darf. Appropriation unter falscher Flagge. Man sollte Feuilleton-Rezensenten auf exakte Stellenangaben verpflichten. Verlotterte Existenzen… Wer liest schon hauptberuflich Romane? Muss ein ziemlich verzweifelter Job sein. In meiner Stellung muss ich mir sowas versagen. Kühe, Kühe, Kühe … kommschon … Kühe, Kühe, kommkomm, meine Zeit ist um, da wird das verfluchte Wort doch wohl … da. Nein, doch nicht. Wieder von vorn! Nein, doch eher hinten. Komische Tätigkeit, dieses Blättern. Lange kein Buch in Händen gehabt. Muss spannend sein, all das Zeug zu lesen. Hélène, Marie, Chloé. Robeeer. Und wieder Hélène. Kommt zur Sache, Kinder! Gleich … gleich…
Kühe. Da steht es. Unterstreichen, Zettel rein. Muss los.
An diesem Morgen ist der Rektor einer von Tausenden.
Die Macht des Feuilletons bewirkt gelegentlich Wunder.
Das hier ist so ein Fall.
(Wunder der Intonation gibt es, an die kein Gedächtnis heranreicht. Flatus, das gesprochene Wort, ist immer auf und davon. Nur in den Gehirnen steht es: unverbrüchlich für ein paar Stunden. Dann kommt ein anderes daher und ersetzt es.)
Die Sensation des Feuilletons ist das Feuilleton.
Für den kontrollierten Tabubruch der Literatur hat sich die Tradition des Dazukaufens bewährt. Was kein heimischer Romancier zu schreiben wagt, das besorgen Schriftsteller anderer Zonen. Es gilt die Faustregel: Westlich des Rheins ist die Luft klarer. So müssen Übersetzer, abgesichert durch das Original, den Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln des literarischen Verkehrs vollbringen, auf den der rebellische heimische Schriftsteller mit der Muttermilch abonniert ist. Und wenn sie Glück haben und wenn sie Spaß haben und wenn sie gut sind und wenn das Feuilleton mitspielt, dann … genießt ein Zampano aus Paris oder Brooklyn oder Buenos Aires den Überraschungserfolg in jenem anderen, von ihm leise verachteten, wenngleich auch ein wenig bewunderten Land, das seine zweifelhaften Überzeugungen ebenso hochhält wie einst die Röcke der Anna Bronski.
Der Dichter hat einen ledernen Gaumen.
Der Schriftsteller hat sich umgeschaut. Mammon dem Zöllner sei es gedankt: er hat die touristische Zitadelle im Sprung erobert, er ist in die Küche vorgedrungen und hat die Deckel der Töpfe gelüpft, unter denen das wahre Leben der anderen brodelt, als bereite ein Supervulkan seinen lange angekündigten Ausbruch vor. Er hat, zu Recherchezwecken, versteht sich, auch ein wenig vom Fleische der allzeit Bereiten genascht, der allzu Willigen, wie ihm scheint, gerade genug, um zu einem fundierten Urteil zu gelangen, das ist wahr. Wie anders sollte Monsieur Éclaireur, der Klausner in eigener Sache, erschmecken, was sich im kulturellen Umfeld zusammenbraut? Den wahren Appetit muss einer schon mitbringen, wenn hoch über dem Ferienparadies die Landeklappen ausfahren und die menschliche Fracht von Bord geht. Die Rolle des Kundschafters besitzt viele Vorzüge. Insbesondere dann, wenn einer gewillt ist, als Beobachter zweiter Ordnung an den gewohnten Schreibtisch zurückzukehren.
Führt hier ein klitzekleines Neidgefühl die
Zunge spazieren?
Apropos Zunge … die spitzeste aller
professionellen Zungen hat sich des ›Plots‹, wie sie ihn nennt,
angenommen und findet ihn … sahnig, Sie haben richtig
gelesen, sahnig, sie wünscht, eingedenk machtvoller Verlagstentakeln,
die bis in die Redaktion reichen, allen ihren Leserinnen einen
Intimspaß mit Kühen, braunen und gefleckten, soviel
Entspannung muss sein. Da schmunzeln die zeitunglesenden Herren an
ihren Frühstückstischen, schlagen ein Ei auf und freuen sich auf
das Gelbe. Der Kerl hat’s geschafft. Ein Alpha-Typ, keine Frage,
den Trick muss man sich merken.
Die Frau des Rektors ist etwas genervt. Sie schnappt sich das Buch, verschwindet unter die noch warme Bettdecke und beginnt zu lesen.
Die Augen gingen ihr über.
Scheißkerl.
Es macht einen Unterschied…
Es macht schon einen Unterschied…
Es macht den Unterschied, wie man ins Leben der anderen
vordringt.
… Ob mit den Mitteln des Geistes, der Beobachtung aller Fäden, die sich von dir zu diesen da spinnen und zusammen ein sympathetisches Band erzeugen, oder mit dem entschlossenen Grimm des Sammlers, der einer ersten, zweiten, dritten Enttäuschung folgt, als sei sie das Schlüsselelement aller Erkenntnis, sorgsam das verfügbare Zeitquantum überwachend, weil sich sonst die Sache nicht auszahlt … auch hier also die Sache, aber eine radikal andere: die Sache des schnellen Geldes, das sich zwischen ihn und die Menschen drängt und nur einen Effekt gelten lässt:
Die Große Allgemeine Leserschaft besitzt nur geringe Neigung zu belletristischen Werken. Was im beginnenden Kybrium vom alten Lesefieber übriggeblieben ist, starrt gebannt auf die unverhofft ergrünende Wüste Information. Auch sorgsam gepflegte langjährige Autor-Leser-Beziehungen wandern da leise seufzend in den säkularen Orkus. Nüchtern betrachtet stellt allein das diffuse, durch keinerlei Kirchen-Aktivitäten abzudeckende religiöse Bedürfnis der Epoche die psychischen Rest-Energien zur Verfügung, die es braucht, um sich von einem Buchdeckel zum anderen vorzuarbeiten, bei der Stange gehalten praktisch nur durch den ermüdenden Rhythmus opulenter, das Alltagsvolumen sprengender Beobachtungssätze. Das Gros der rapide schrumpfenden Käuferschaft hingegen benötigt, als klassische Dreingabe, ein stilvoll verpacktes Geschenk.
Wer im informationellen Überfluss lebt, erwartet vom guten Buch nichts. Voilà, da haben wir das religiöse Bedürfnis. Wie jede Gemeinde verlangt auch die des Berufsschriftstellers nach Erleuchtung: K (oder A, B, D) verstört. Wie sehr er verstört, erklärt sich aus dem Charakter des Rituals: nicht zu knapp, nicht zu sehr, nicht zu ungewohnt, das Gewohnte soll überwiegen, denn es garantiert den Lesespaß pur. Wie schön, sich einmal pro Jahr an der Hand nehmen zu lassen:
Da steht es im Regal und wartet auf ruhigere Zeiten.
Der Rektor weiß von keiner Lesergemeinde. Sein Gemüt ist, was diese Dinge angeht, a blank sheet of paper. Den Ausdruck kennt er und lachend entblößt er das Gebiss.
Das mit den Kühen ist etwas anderes.
Iris, den Kopf am Hörer, notiert. Was sie notiert, geht nur sie und die Inhaberin der Frauenstimme am anderen Ende der Leitung etwas an, einer Stimme, die durch und durch geht –: nicht schreiend, aber erhitzt, ja, so kann man es ausdrücken. Die Frau des Rektors ist echauffiert. Ihre Tochter hat sie bereits rebellisch gemacht, nun scheint sie die Pyramide in Wallung bringen zu wollen. Was sie sonst noch planen mag, wissen die olympischen Götter. Etwas Junonisches haftet ihrem Auftritt an, als habe sie IHN bei seinem neuesten Seitensprung in flagranti erwischt. Doch die Sache geht tiefer, sehr viel tiefer, sie geht an die Wurzel aller Seitensprünge. Der bekannte französische Schriftsteller (›Phrasebecque‹?) hat Feuer an den Kónsens gelegt und da geht er dahin. Welchen Kónsens? (Die Betonung hat sie nach längerem Sträuben – sie stammt aus bildungsbürgerlichem Haus – von ihrem im Niederwalzen kleinlicher Bedenken geübten Gatten übernommen.) Natürlich den Kónsens der Geschlechter, der darin besteht … worin eigentlich?
Dass Lust ist und weibliche Lust Lust Lust keinen Deut weniger … wertvoll als männliche: ein bewegtes Leben lang hat sie für diese Auffassung gekämpft und fest daran geglaubt, in IHM, dem Genossen bewegter Jahre, einen Glaubenspartner gefunden zu haben, der auch zu kämpfen weiß, wenn einmal die Zeit gekommen ist und die Reaktion marschiert.
Die viehische Entdeckung gibt Irene zu denken.
›Vernuttung eines Geschlechts‹?
Kühe…?
Vision einer von Kühen bestampften (denn von ›beherrschen‹ kann da ja wohl
nicht die Rede sein) Welt?
Der … Froschbeck und seine liebedienerischen Rezensentinnen sollen sich ihren Kuhmist sonstwo hinstecken.
In ihrer Welt…
Wie durchseucht ist die Pyramide eigentlich schon…?
An dieser Stelle unterbricht Iris sanft:
Irene ist wach. Überwach. Und kein Friedensengel.
Nein, das ist sie nicht.
Der Kónsens ist zerbrochen.
Seit den Tagen Voltaires ist DAS NEUE NON! die Weise, sich als Autor der Menschheit (soweit sie des Lesens mächtig und willens ist, diese Fähigkeit zu betätigen) zur Kenntnis zu bringen –: sich ins Menschheitsgedächtnis einzuschreiben (Duro). Schriftsteller, mit exakt der Portion Unverschämtheit ausgestattet, die es braucht, um die Hallen des Ruhms zu betreten, haben die neue Lust ausgerufen (Non! zur Triebrepression), die neue Unlust, den alten und neuen Adam, hinter- und durcheinander DIE FRAU (Non! zum Weibe), das androgyne Zeitalter (Non! zum ›fixen‹ Geschlecht), das Veralten der Heterosexualität (Non! zum Homme à femmes) und die irreduzible Pluralität neuer, noch weitgehend unbekannter Geschlechtsidentitäten.
Keiner hatte es bisher geschafft, die Sanftheit des neuen Geschlechterideals so unverschämt zu denunzieren, dass er dem Idealbild vollkommener Verblödung damit neue Gläubige erschlossen hätte, während der Rest der Leserschaft sich feixend die Hand vor den Mund hält.Das geht natürlich nur, weil jedes Exemplar seines Buches das androgyne Konterfei seines Autors auf dem Einband trägt.
Das Medium ist der Autor
Der Autor ist die Botschaft
Was bedeutet die Unruhe, die sich des Rektors an diesem Morgen bemächtigt? Ein Aufbruchsrumoren hat ihn gepackt, als falle der unscheinbare Niederschlag vieler Jahre urplötzlich von ihm ab und die alten stürmischen Zeiten seines Lebens sollten noch einmal anbrechen –: doch wenn er darüber nachdenkt, dann handelt es sich um keinen privater Rumor, vielmehr um einen, der sich gegen den Zustand der Welt richtet, an deren Schaffung ›an vorderster Front‹ mitzuwirken er sich allzeit verpflichtet fühlte.
Something is rotten in the state of Denmark.
Dänemark? Wieso Dänemark? Sein Verhältnis zu Frauen war und ist chevaleresk. Im Laufe seines Lebens hat er so vielen von ihnen so viele Türen aufgehalten, dass ihm dabei vielleicht aus dem Blick geriet, wohin diese Türen in letzter Instanz führten. Zeigt sich da Schuld? Zeigt sich da seine Schuld? Was auf seine Wenigkeit zutrifft, das trifft vielleicht auch auf manche der Frauen zu, die einen Tick zu eilfertig den plötzlich im Raum stehenden Einladungen Folge leisteten, verführt durch die Animationskünste der Medien, das Dauergezänk über Machos Machos Machos, über den Neuen Mann und das unverhoffte Leitbild des brutalen Machers, des Alphatiers. Der menschliche Zirkus ist groß und unübersichtlich und die Künste der Beleuchter übertreffen alles jemals Dagewesene.
Dass der Fortschritt, kostbarstes Gut ihrer Lebensjahrzehnte, sich wie ein
welkes Blatt vom Zweig lösen und langsam zu Boden trudeln könne, das, gerade das
hätte Irene sich niemals träumen lassen. Der Gedanke, sich aufbauschend, dass
ein solcher Prozess just im Gehirnkasten ihres Gatten stattfindet, lässt die
Lebensgeister schäumen. Iris, die Freundin, hat ihr viel über Fu erzählt,
Starkes und weniger Starkes. Doch alles in allem schien die Bilanz noch vergangene Woche positiv. Die
Emanzipation des Geschlechts kommt voran.
Hier nun, am Straßen-Ende: der
Müllcontainer.
Das ist eine Provokation ohnegleichen und bedarf energischer
Gegenmaßnahmen. Sie hat schon in der Buchhandlung angerufen und eine
Plakataktion angekündigt, falls nicht stante pede – an dieser Stelle legt
die Buchhändlerin eine kleine Hörpause ein – das Buch aus dem Schaufenster
verschwindet. Jetzt trommelt sie den Direktor des Kulturzentrums heraus
– denn die Sache geht ins Volk – und lässt sich für einen Vortrag im laufenden
Trimester buchen:
Er hat richtig gehört. Die Sache duldet keinen Aufschub.
Man kann nicht sagen, die Ehe zwischen Irene und dem Rektor sei ein Kompromiss.
Man kann alles sagen.
Kompromiss bedeutet Verzicht.
Die Ehe zwischen Irene und dem Rektor ist eine Zugewinngemeinschaft.
Für den (seinerzeit noch aufstrebenden) Rektor war Irene ein Reingewinn. Mit eiserner Disziplin deckt sie seit Jahrzehnten den Bereich Kultur ab, für den er ›von Haus aus‹ nicht unbedingt zuständig ist. Ein Langzeit-Investment. Und siehe, es hat sich ausgezahlt.
Ohne Kultur kein Aufstieg, ohne Aufstieg keine Kultur, jedenfalls keine, über die zu reden sich lohnte.
Irenes durch allerlei kleine Zuwendungen geschaffenes Imperium, das sich kreuz und quer durch die Ruhrstadt schlängelt, bleibt für den Rektor, der nie begriffen hat, auf welcher Woge gönnerhafter Zustimmung er seit Jahren daherschwimmt, undurchschaubar. Vom Typus her ist er selbst zu spontan Gönner, als dass er sich vorstellen könnte, sein von Selbstzufriedenheit strotzendes Ego-System ruhe, wie Venedig auf seinem Unterwasser-Pfahlreich, auf der unermüdlichen Freundschaftspflege seiner Frau auf. Dreimal am Tag könnte ein falscher Freund ihm reinen Wein einschenken und die befremdliche Botschaft würde ihm auf der Stelle wieder entfallen. Am richtigen Fleck ist Vergesslichkeit ein innerer Wert.
Der Rektor hat den Wert am richtigen Fleck. Auf diesen Wert hat Irene gesetzt.
Er ist feist geworden, der Gute. Irene hingegen, die charmante Blondine, ist noch immer sehenswert, auch wenn die tägliche Verweildauer vor dem Spiegel mittlerweile episch genannt werden darf. In ihrer Ehe ist Verzicht ein Fremdwort. Selbst auf die einzige Tochter haben sie seinerzeit nicht verzichten wollen.
Und es ward ihnen aufgetan.
Du musst durchs Sündenbewusstsein durch, um aufgenommen zu
werden.
Sei die Charmante unter den Kämpferinnen.
Wenn ich es richtig mache, was geht’s die anderen an.
Wer durch diese Tür geht, ist bereit zum Verrat.
Was rechtfertigt den Schritt? Verrat.
Rechtfertigt Verrat Verrat?
Gleiches mit Gleichem.
Irene drückt die Tür zum Paradiesgärtlein auf. Eine
Filmgebärde.
Die Blicke der Freundinnen leuchten auf.
An der Tür, gleich unterhalb des Spions, steht unbeachtet, mit einem Kugelschreiber ins Holz geritzt:
Lust Konni Niemand zu sein
unter soviel / Koniferen
Es ist nicht das einzige Gekritzel. Darunter steht:
Rette das Problem!
Auch eine dankbare Künstlerhand findet sich.
Vic lässt die Zunge über das künstlich geschaffene Hindernis hüpfen.
Der Drei-Meter-Ast zu ihren Füßen.
Schnüffelnd schlüpft Willi aus Victorias Bluse.
Im älteren Sprachgebrauch bedeutet ›Liaison‹ eine Liebschaft, von deren kurzer Dauer alle Welt überzeugt ist, die Liebenden in der Regel eingeschlossen. In der modernen Liaison ist die kurze Dauer, auch ›Dauer überhaupt‹ genannt, dem verlängerten Heute gewichen, der Phase des verdeckten Grolls, der sich von Zeit zu Zeit explosionsartig Luft verschafft.
Konni auf Beobachtungsposten.
Irene, findet sie, begeht den Fehler ihres Lebens. Doch dieser Fehler, das spürt sie, muss sein.
Irene braucht das innere Biest nicht zu entfesseln.
Ihre Wut … irgendwie wirkt sie ansteckend.
Vic weiß nicht, wo sie ansetzen soll. Keine leichte Situation für eine Wissende. Gern ließe sie, für einen Moment nur, die Maske fallen, die MASKE (sie hat sich angewöhnt, in ihren Schriften alle Wörter, auf denen ›ihre‹ Botschaft ruht, in VERSALIEN auszuführen) der Führerin der Verwirrten Frauen (VF), unter deren Blick sich die verworrensten Verhältnisse glätten, bis nichts weiter an sie erinnert als ein vertrockneter Tropfen Herzblut, aus dem sie den Sud immerwährender Rachsucht gewinnt: nadelkopfgroß, aber hochwirksam.
Wie dann? Auf ihrem häuslichen Spiegel steht, schwungvoll hingemalt: KUHDOKTRIXX (mit Doppel-X, um den genetischen Fakten Rechnung zu tragen). Davon weiß Irene nichts. Neben der Garderobe, aufgeschlagen, Vics Bestseller:
Die FÜLLE der VERSALIEN weist DEN WEG. Geh ihnen nach und DU findest DICH. Bist DU dein DU, BIST du das Biest.
Vic, die Harte, nennt Konni DIE MARSCHALLIN. Das Ding mit Duro imponiert ihr wider Willen. Sie schreibt darüber ein Buch.
Davon weiß Konni nichts.
Was Konni verschweigt:
Sie hat bereits versucht, den berühmten
Autor zu buchen.
Vic bereitet einen Lichtbildervortrag vor:
DIE WUNDERBAREN KÜHE
Eintritt frei. Spenden sind erwünscht.
Vic hasst Tropen. Die Entfesselung des Biests kann nur gelingen, wenn die Bilder schweigen. Eine Kuh ist eine Kuh ist eine Kuh und keine Metapher. Der MA:NN stiehlt das Kuhsein: das warme ruhige, beständige Beisichsein des sich selbst genügenden KO:ERPERS. Eine Kuh ist mächtiger als jeder Reiz. Das KONZEPT ›Landschaft mit lila Kühen‹ nimmt dem Kuhsein die RADIKALE WU:ERDE. LANDSCHAFT ist MA:ENNLICH. SPRENGE das Bild. SETZ DICH in die MITTE des Bildes und lass es PLATZEN.
Unauffällig mustert Irene ihre Figur.
Ein Rektor ist auch bloß ein Verwaltungsbeamter.
Um den bekennenden Spinozisten Kärich, endlich Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls, ist es einsam geworden, seit der Ruf, ›rechts‹ zu sein, ihn umzittert … er selbst weiß nichts davon, doch die Ausläufer erreichen auch ihn, vornehmlich in Gestalt ausbleibender Einladungen zu den begehrten Symposien, auf denen seinesgleichen sich tummelt. Man möchte meinen, auf diese Weise bliebe ihm mehr kostbare Zeit für seine Forschungen und das Abfassen der Werke, welche die Welt des Geistes erschüttern, fernab aller verachteten Doxa und allem politmoralischen Gerede, an dem er sich seines Wissens niemals beteiligt hat. Mag sein, dass ihm sein phänomenales Gedächtnis in diesem besonderen Falle ein Schnippchen schlägt – wahrscheinlich ist es nicht, plausibler wäre es da, dass eine gewisse, schon halb und halb vergessene Szene im Hause Leckebusch… Aber wohin führt eine solche Erinnerung? Dozent Kärich leidet, er leidet unter der Isolation, deren Ursache ihm verborgen bleibt, er leidet unter dem Ausbleiben des Lebens, das er für sich erhofft hat, seit der Betrieb ihn formte, er leidet, weil die Kette halb zutage liegender, halb verborgener Kausalitäten, der er sein Leben verdankt, dieselbe ist, die täglich sein Leiden erneuert, seltsame Blüte eines der Gelehrsamkeit gewidmeten Daseins ohne äußere Katastrophen. »1656« notiert er in sein Tagebuch, er umrandet den Eintrag mit rotem Filz, ihn so einer neugierigen Nachwelt ausliefernd, die stets für Rätsel zu haben ist, vor allem, wenn sie sich ebenso leicht lösen lassen wie dieses kaum der Rede werte, dessen wirkliche Bedeutung darin zu suchen ist, dass es ebenso vernehmlich redet wie schweigt.
Des Dozenten Gesichtsmuskeln, durch die Frage gespannt, eine Projektionsfläche erster Güte: was wäre, wenn er jetzt ein wenig in Wallung geriete ... oder ins Stottern ... oder ins Vordenken... Man kommt, als Student, nicht oft in die Pyramide, da will man Schauspiel, am besten pur. Der Dozent pflegt die mäandernde Rede, das wissen sie schon.
Nach der Pause reden wir weiter.
»――«
»――«
»Um Kopf und Kragen.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Wovon redet ihr?«
»Lasst uns weitergehen.«
>»Um auf dieses Bild zurückzukommen –«
»Ja?«
»Es entstand nach einem Schlaganfall des Künsters.«
»Ist das wichtig?«
»Steht im Katalog.«
»Ich mag solche Darstellungen nicht.«
»Ich frage mich, was es darstellt.«
»Egal. Es ist grausam.«
»Das Bild oder die Sache?«
»Was ist die Sache, wenn es doch ein Bild ist?«
»Frag mich nicht. Irgendwas mit Sklaverei.«
»Ich verstehe Bahnhof.«
»Ich denke, er hat sein persönliches Trauma gemalt.«
»Das sieht man.«
»Wirklich?«
»In der Regel tritt Verlustangst ein, ist der Verlust erst einmal unumstößlich geworden.«
»Sie wollen sagen…«
»Ja, das wollte ich.«
»Versteh ich nicht. Wo ist Kansas?«
»Kansas ist überall.«
»Auf dem Bild…?«
»Wo sonst.«
»Und der Verlust?«
»Unumstößlich.«
»Wann?«
»The Civil War never ends.«
»Noch so ein Paradox.«
Aus Träumen herauftauchend, eine Aufgabe festhaltend, die sich zum Gedanken einerseits, zum Bild andererseits verfestigt, ohne schon zu verfestigt zu erscheinen. Auch bleibt es ungewiss, ob das, was da als Aufgabe heraufdämmert, als deine Aufgabe begriffen werden soll oder als eine, deren Ausführung, durch wen auch immer, in den Raum gestellt wurde – was ihre Dringlichkeit keineswegs geringer, nur eben anonym werden ließe: diese Aufgabe knüpft sich auf unbegriffene Weise an die Zahl vierundzwanzig, genauer, an das Bild oder die vage bildhafte Vorstellung, an der das Meiste assoziiertes Gefühl bleibt, von ebenso vielen, vorerst leer blickenden Rahmen, die den Halb-, Viertel- und Nicht-mehr-Schläfer durchgeistert. Was die Aufgabe angeht, so lässt sie sich leicht formulieren, obwohl du das immer wieder hinausschiebst, vielleicht, weil es dir vorkommt, als gerate das Formulieren hier leicht auf Abwege oder decke mit kräftigen Lettern gerade das zu, was gesagt werden müsste, um dem Erträumten gerecht zu werden. Doch in Wahrheit bleibt es wie alles begründungslos.
Vierundzwanzig Bilder, lautet die Aufgabe, hätten das wechselnde Antlitz einer – dir übrigens unbekannten – Person vorzustellen, die, aus ihrem Alltagsleben herausgeholt, auf eine kurze, lange Reise in den verordneten Tod geschickt wird
der ›sie erwartet‹, wie man so sagt, mit einem jener rätselhaften Ausdrücke, die sich um diese grausigen Prozeduren gebildet haben, während es doch so ist, dass sie ihn erwartet, aber so, wie ihn Menschen erwarten, wenn sie genötigt werden, die Spanne zwischen zwei Ungewissheiten auszufüllen, ohne dass es etwas zu tun gäbe, in dem sie Vergessen fänden oder auch nur die Art von Ungewissheit, die dem Leben, dem einfachen, wirklichen Leben gemäß wäre, weil es nun einmal ist, wie es ist, selbst dann, wenn jemand unter die Räuber und Vergewaltiger fällt.
Vierundzwanzigmal also das Schweißtuch der Veronika, abgenommen einem jungen, seiner Auslöschung entgegenreisenden Mädchen, dessen Traumnamen du vergessen hast, was seltsam ist, weil der Traum ihn eigens herbeischaffte, als sei da noch etwas ausgespart geblieben, das um keinen Preis ausgespart werden durfte, während das Gesicht –
Ganz einfach, könntest du dir sagen: 6 x 4, das Problem des Würfels, der in die Ebene drängt. Doch so einfach lässt das Problem sich nicht aus der Welt schaffen. Warum auch. Ein Problem hat ein Recht zu existieren, etwa wie ein Mensch, ein Baum, ein Vogel, ein Rosinenhügel oder, deinethalben, ein Rosmarinstrauch. Das Problem des vierundzwanzigmal leeren Rahmens lässt sich schwer formulieren, die Frage, warum es existieren sollte, nimmt daher ungebührlichen Raum ein, eine Zeitlang kommt es dem Viertel- oder Achtelträumer so vor, als bestehe Deckungsgleichheit zwischen Problem und Frage, doch schon schiebt das Problem sich wieder nach vorn, leer, wuchtig, wenn er nicht aufpasst, erschlägt es ihn vor dem Aufwachen. Du versuchst dir die Reihe der Passionsrahmen vorzustellen, das geht wohl nicht anders als dadurch, dass du sie mit Inhalten füllst
diese junge Frau, zweidimensional auch sie, die sich sachte ablöst von ihrem Grund und vorbeischwebt, wirkt nicht verzweifelt, eher jenseits der Verzweiflung, besäße sie Augen, so sähe man gleich, wie es um sie steht, nun gut, sie besitzt welche und man sieht, wie es um sie steht, aber nur für den Augenblick dieses gedanklichen Zugriffs, lockert er sich, so verschwinden sie und man sieht nichts oder, besser vielleicht, seltsam wenig, denn nichts zu sehen ist nicht so einfach, das gilt für jeden Zustand, gleichgültig ob Wach- oder Schlaf- oder Traum-. Ob es etwas zu sehen gibt oder nicht, bestimmt nicht der Träumer. Er bestimmt nur die Auswahl. Bestimmt er sie? Nun, nicht wirklich, er fährt mit dem Stift hin und her, unterstreicht dies, lässt jenes dahingestellt sein, er träumt ja nicht bewusst, er gleitet.
nein, das geht nicht, es geht wirklich nicht, der Weltknoten, der dich hervorgebracht hat, ist nicht auf bestimmte Gehirne beschränkt, er ist nicht randscharf, denkst du, nun ganz du selbst, aufrecht, ein wenig schläfrig noch, das ist der entscheidende Punkt: er sitzt in den Übergängen und jeder Versuch, ihn von außen zu fassen, lässt ihn herein. Lässt ihn herein. Vermutlich ist das der Grund für Gedankenphobien. Die Leute fürchten die Ansteckung und lassen sich allerhand einfallen, um ihr zu entgehen. Ob’s hilft, weiß nur die Zukunft. Das Wissen der Zukunft ist unbegrenzt, jedenfalls liegen seine Grenzen nicht dort, wo man sie gerade vermutet. Dennoch: du weiß schon, dass du niemals mehr wissen wirst als jetzt. Du weißt überhaupt mancherlei.
Man kann sich einem Gedanken verweigern. Einem bestimmten? Ohne ihn bestimmt zu haben? Wie gründlich muss man einen Gedanken kennen, um ihn verweigern zu können? Ist ein Gedanke, den man in- und auswendig kennt, noch zu verweigern? An welcher Schwelle?
Man kann den Ort unkenntlich machen, an dem er, erst einmal in der Welt, sich unweigerlich einstellen würde. Doch das gelingt nur unvollkommen. Der Gedanke wird diesen Ort weiterhin umkreisen, eine einsame Dohle, die Menschen durch ihr Gekrächze erschreckt. Die Einsamkeit der Gedanken... worin besteht sie? In der Einsamkeit, mit der bezahlt, wer sie denkt? Das wäre unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, die Menschen lieben an ihresgleichen die Einsamkeit und werden, Zaungäste, die sie sind, davon angezogen, sie bewundern die Posen und ahmen sie nach, wo sie können. Nur die Einsamen gebärden sich, als seien sie Mittelpunkt eines Pulks. Tronka zum Beispiel … Gibt es Gedankenträger? Gibt es Menschen, die man nur totschlagen müsste, um einen Gedanken … oder zerschlagen, um ihn herauszulassen? Geheimdienste etwa sind Maschinen zum Herauslassen von Gedanken, vor allem solcher, die ihr Träger ungern herauslässt. Jedenfalls muss man nachhelfen, damit die Quelle sprudelt, den Zapfen hineintreiben, irgendeinen, aber es gibt schon spezielle. Geheimdienste, heißt es, sind zynisch in ihren Methoden, die Ergebnisse sind es vermutlich auch: da liegt der Fund und er lebt, jedenfalls atmet er noch. An einem toten Gedanken ist niemandem gelegen. Sein Nutzen ist, vorsichtig gesprochen, ›begrenzt‹.
Dieser dicht vor einem Menschen aufgerissene Tod... wie soll das gehen? Kann einer, aus der Ruhe eines vorsichtig angebrochenen Nachmittags kommend, in gewisser Weise sicher in ihr navigierend, kann so einer die, sagen wir, schreckgeweitete Muße aufbringen, sich in das Mysterium zu versenken? Offenbar nicht. Allein die Rede vom Mysterium wird, sagen wir, dem Gegenstand nicht gerecht, sagen wir, sie verfehlt ihn drastisch. Doch der Rede vom Gegenstand geht es nicht besser, sagen wir, sie objektiviert zynischerweise, was nicht objektiviert werden kann, weil die Objektivierung zweifellos selbst eine Art Hinrichtung, eine verweigerte Anteilnahme... sagen wir also, auch dieses Wort, wie die ganze Kette, ist falsch. Denn Anteilnahme, das wäre doch, als könne eine solche Erfahrung sich mitteilen, als sei sie nicht die streng verschlossene Frucht eines Lebens, das vor allem zurückweicht, was weiter lebt, als sei
Eine Zahl hilft, sie ist ein Erzeuger. Was sie erzeugt, steht in den Sternen. Was in den Sternen steht, lächelt dich an. Was dich anlächelt, nun, das bringt dich in Fahrt. Beweise dich! Nicht jede Zahl lächelt, eine lächelnde Zahl unter so vielen gleichgültigen ist, als Fund, unwahrscheinlich genug, um zu bedeuten, ganz ohne Bedeutung, ohne weiteres. Nimm sie hin! Nimm sie! Besseres wirst du nicht finden. Andere Zahlen liegen starr und verbogen im Gelände, ausgeglüht, könnte man sagen, gekrümmt von Bränden, die deine Vorstellungskraft überfordern
als sei, wer dabei war, auch irgendwie beteiligt gewesen, ein Teil des Brandes, ein Stück niedergebrannten Feuers, das man umschleicht, als bräche es hinterrücks wieder aus, unfähig, Rede und Antwort zu stehen, unfähig, Fragen hervorzulocken, die nicht schon die Antwort
der Gedanke, der langsam zu brennen beginnt
der Archipel
Nackt, lehrt Duro seine Studenten, können nur Körper sein, die Wahrheit geht züchtig gewandet, man kommt nicht an sie heran.
Auf diese Formel ist er stolz.
Er findet sie verletzend.
Seine Wahrheit heißt Konni. Zu ihr
schlich Duro, den Dolch im Gewande,
in stockdunkler Nacht,
worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind
darunter der junge Künstler, der, den Kopf voller eingeschlafener Energie, in einer Ecke sitzt und nicht weggehen will. Duro bemerkt ihn wohl. Allerdings betrachtet er den Mann im Stuhl als Teil des Mobiliars und steigt, ihn nicht weiter beachtend, über die ausgestreckten Beine hinweg. Ein Fehler. Er bleibt nicht der einzige in dieser Nacht der Nächte.
Und fiel kein einziges Wort.
Warum auch? Konni begreift, dass es im gegebenen Fall triebhafter Unzucht besser ist, die Klappe zu halten, und ahnt verschwommen den Grund.
In jener Nacht –
jener einzigen Nacht –
jener Nacht aus Geräusch
ist ihr ein Florilegium furens ins Bett gekrochen, ein wahrhaftiger Alien mit allzu menschlichen Armen und Beinen und einem am Überfluss gebauten, zugegeben handzahmen Glied, ein finsteres Gewimmel aus halb unterdrückten Klassikerzitaten, in denen die Wahrheit gegen die Nacktheit ankämpft – er könnte weder ausdrücken, auf welcher Seite er sich gerade befindet, noch, welche der beiden ihn peinlicher berührte. Dennoch hat er sich gründlich ausgedrückt in jener überaus kurzen Nacht der Nächte. So gründlich, dass Konni, den Kopf oben behaltend, ihn spontan in die Riege ihrer ersten Liebhaber stopft (es existieren noch eine zweite und dritte, doch weder die eine noch die andere kommt ihr für diesen Fall professoraler Fäulnis passend vor und sie entsorgt den Gedanken an sie ebenso rasch, so wie er aufkam).
Aufgabe:
Beschreibe Duros private Gänge im Umkreis der Pyramide!
Lösung:
Sie folgen einem Muster, das traumgesteuert genannt zu werden verdient: voll überraschender Devianzen, doch im großen und ganzen auf eine bemerkenswert geringe Zahl von Straßenzügen beschränkt.
Erklärung:
Der Mann mit den zwei Gesichtern lebt in zwei Welten: ein Schlafwandler mit weit geöffneten Augen, gerichtet auf imaginäre Gegenstände, unterwegs zu den immergleichen Verrichtungen.
Ausnahme:
das eigene Konterfei. Was der geringste unter den Spiegeln an ihm verrichtet (oder verbricht), der Mann des gepflegten Äußeren registriert es mit vollendeter Schärfe. Im Spiegel ist Duro sich unendlich ähnlich. Mit einer Besonderheit: der in Konnis Augen gespiegelte Mann ist ihm unendlich zuwider.
Aus so einer Daseinsspannung erwachsen die größten Fehlleistungen.
Duro, der Mann, der kommen und gehen will, wie es ihm passt: das lässt sich, nach Lage der Dinge, nur bei Nacht arrangieren. So bleibt er, getreu der gelegentlich durch seinen Kopf geisternden Haarmann-Rolle, der letzte Gast.
Tagsüber stehen Konni und er sich fern. Zwei aufeinander gerichtete Scheinwerfer ohne Strom.
Dass das Duo liiert sei, ist ein Gerücht.
Das Gerücht springt ihn an und er spricht ihm ruhig ins Gesicht: ›Ich kenne dich nicht.‹
Gern wäre Duro Dompteur geworden, damals, vor aller Zeit, als er
von einem Leben beim Zirkus träumte.
Das Leben der Galeristin gleicht dem Zirkus.
Duro ist der ideale Besucher.
In der Nacht gehört dieser Zirkus ihm.
Fällige Abbuchungen von seinem Konto stellt er unter die
Rubrik
Bürger Duro fühlt sich in der Verantwortung für das kulturelle Leben der
Stadt. Konni, das empfindet er con brio, ist darin ein winziges, aber
unersetzliches Rad. Dazu, dass es sich dreht, möchte er das Seine beitragen.
Was ist das Seine? Konni, das sagt ihm ein feiner weißer Strahl, dreht sich nur um
sich selbst.
Bestürzt wäre er, drehte diese kleine Welt sich um ihn.
Duro träumt, sein Kopf, eine trockene, begehbare 360-Grad-Maske, sei eine Zuflucht für jedermann. Er träumt, er selbst wäre jedermann in diesem Kopf, dem alle erschreckenden Züge des Totenkopfs fehlen, obwohl Duro fühlt, dass das hier mit dem Tod zu tun hat, seinem vielleicht, aber nur auf ganz nebensächliche Weise, da der Tod so Vieler im Raum steht, so dass er nur einen der hinteren Ränge ergattern kann. Doch eigentlich verschwindet er spurlos in der Bewegung, die durch die Anwesenheit der Vielen erzeugt wird. Duro, gebannt, wie nur der Traum einen bannt, bemerkt die Ausgänge links und rechts, doch sie haben nichts zu bedeuten und führen nirgendwo hin. Dieser begehbare Kopf … offenkundig der seine, erfüllt von Jedermannsgedanken, hineingestellt in eine Jedermannswelt, es schmerzt nicht, er merkt, dass er keine Eigentumsrechte geltend zu machen wünscht und wundert sich, Traumwesen, das er ist, ein klein wenig über sich selbst. Diese Verwunderung … sie reicht nicht aus, um als Handlung durchzugehen, der Traum besitzt keine Handlung, nur Zonen größerer und geringerer Intensität, er schillert sozusagen in allen Farben des anonymen Ich, gleich wird Duro erwachen und dankbar, mit einem schmerzhaften Stich, sein Eigentum in Empfang nehmen, um es zu verschwenden, ja, zu verschwenden: da liegt es, ein halb zerbrochnes Gefäß, aus dem eine gelbliche Flüssigkeit sich ergießt, halb auf den Boden, halb auf…
Noch ist es nicht so weit. Was eben noch Bühne war, ist jetzt Erscheinung. Projektion, in kahler Landschaft Hof haltend könnte der Titel des Gemäldes lauten, ein unregistrierter Dalí, von keinem Auguren erkannt, von ihm, Duro aus dem schmutzigsten Winkel der Galerie ans Licht gezogen. Wer ist Konni, dass sie den Dalí vor den Leuten versteckt und ihnen das Gewische unbekannter Leute zum Kauf anbietet? Beruhigend, dass sein überaus geräumiger Kopf Eingang in die Welt des Meisters gefunden hat, nur ein Banause würde da Ich, Ich! rufen. Stattdessen fehlen die Worte. Doch kaum gedacht, löst sich eines, der weißen Taube vergleichbar, er vernimmt das Rauschen der Schwingen:
Unsympathisch, verschlagen, im Grunde ein grüner Junge mit
Vaterkomplex –: Schriftstellerin Barsch weiß Bescheid. Aufmerksam notiert Konni Vics Signale an Duro, die er ausschlägt, seit sie einander auf kleiner Bühne umrunden.
Nichts Neues unter der Sonne.
In Vics HASSBÜCHERN,
(durchnummeriert von 1 bis – aktuell – 10) läuft Duro als
Mittler des Unheils durch, einer, an dessen Händen Verrat klebt:
Verrat aller Art, unspezifiziert im Grunde, bereit, alles zugrunde zu
richten, was sie anfassen.
Hellseherin Vic oder: Wie man sich angefasst fühlt, ohne angefasst worden zu sein.
Duro ist süchtig nach Projekten, die, kaum beschlossen, zu lahmen beginnen. Die neue Galerie ist so ein Projekt. Weibliche Ökonomie ist ihm fremd. Konni, die nicht versteht, was an ihrem Low-Budget-Konzept falsch war, zappelt im Netz seiner Pläne. Die neu bezogene Galerie, günstig gelegen und überaus stilvoll, ist sündhaft teuer und Konnis Geldmangel wie immer chronisch.
Konni regelt ihre Welt über Liebhaber. Der aktuelle Favorit liebt die Kunst. Geläufig redet er, wenn die Lichter angehen und die Besucher strömen, über die großformatigen Bilder des unbekannten Künstlers, der bislang nicht aufgekreuzt ist, Lot I bis XIII, ganz ohne Honorar, doch dafür mit Innensicht, wie Duro, der sich auffällig im Hintergrund hält, maliziös seiner Nachbarin Vic gegenüber anmerkt. Tagsüber sitzt der Neue in der Bibliothek der Pyramide und arbeitet emsig, solange das Fach ihn noch zu schneiden beliebt, an dem internationalen Bestseller, der ihn bald in die erste Reihe der Ethnologen katapultieren wird. Auch der Titel der deutschen Ausgabe steht bereits fest: Welten der Scham.
Gegenüber Konni wäre da noch ein Wunsch.
Das war einmal. Duro, beidseitig untergefasst wie in Hauffs Märchen, weiß
nicht, wie ihm geschieht. Der BMW müsste zum TÜV, aber wo zum
Teufel steckt er dort draußen im Trubel der Ruhrstadt? Der Bibliotheksplatz ist seit Tagen verwaist.
Eine Studentin, mit der Frage nach den Grimm-Brüdern konfrontiert, notiert
in der Prüfung:
Warum jetzt? Gerade jetzt?
Es ist immer gerade. Dieser krumme Hund…
Kaputt steht der BMW in einer der vielen Kreuz- und Querstraßen, die den Reiz dieser Stadt bedeuten. Duro, halb geheilt, zuckt mit den Achseln. Scheiße. Pjotr Antonowitsch besucht seine Ex. Eine offene Rechnung, die bezahlt werden will. Wiederkehr unbestimmt.
Es ist diese Rechnung, die das Fass explodieren lässt.
Zur Phänomenologie dieser Rechnung ist viel geschrieben worden.
Konni rauscht durch die Pyramide.
Iris’ Blick leuchtet auf.
Und trollt sich.
Was zum Beispiel macht den Studenten B angenehm? Er kommt gelegentlich in die Pyramide, er ›interessiert sich‹. Die Universität der Zukunft gibt ihm Bemerkungen ein, die andere als Zynismen abtun würden. Tronka, der ihn seit langem kennt, bemerkt etwas darin, was er nicht zu benennen wüsste, verspürte er das Bedürfnis, es zu benennen, was nicht der Fall ist. Auf seine unauffällige Art findet B sich an den Schaltern, dort, wo es ein kleines Extrapensum zu bewältigen gilt, wo eine Hilfstätigkeit winkt, eine Sonderbeziehung sich auftut. Nein, er strotzt nicht von Leistungsbereitschaft, das fiele anders auf. Er ist der Typ, der gern dabeisteht oder ‑sitzt, wenn ›etwas Vernünftiges‹ geschieht. Also wirkt er – im Gegensatz zu den Kommilitonen, die, alles in allem, nicht unvernünftig wirken – ebenso vernünftig wie unvernünftig: da liegt die Differenz. B wirkt, bei aller Vernünftigkeit, unvernünftig, als treibe ihn ein geheimer Mechanismus der Selbstzerstörung oder, vorsichtiger ausgedrückt, der Selbstverhinderung an.
Tronka, in der Position des Älteren-und-Erfahreneren, möchte ihn gern fragen, warum er sich mit Lust selbst im Weg steht. Seltsamerweise überkommt ihn der Impuls immer dann, wenn der andere schon gegangen ist. In dessen Gegenwart scheinen sich solche Reden zu verbieten, sie wirken ungehörig, unpassend, vielleicht sogar unerhört. Studienplanung ist Bs Stärke, er hätte drei unterschiedliche Studiengänge an verschiedenen Universitäten belegen können, ohne sich zu verausgaben. Die Pyramide erfüllt ihn mit Scheu, vermischt mit Abscheu, vergleichbar dem Affekt, den Parteigänger eines vergangenen Regimes gegenüber dem neuen Machtinhaber empfinden mögen, der ihnen wider Willen imponiert und dem sie sich, vom Machtbezirk magisch angezogen, auch bereits andienen. Gut möglich, dass er selbst nichts davon bemerkt, vielleicht ist er bloß auf der Hut vor sich selbst und dem harschen Urteil, das er von seinem inneren Richter zu erwarten hätte.
Macht und Verrat: in Bs Wortschatz liegen beide obenauf, als empfange er verschlüsselte Nachrichten von einem offiziell verschollenen U-Boot, das in fernen Meeren kreuzt und von Zeit zu Zeit zwar nur Weniges, aber immer Bedeutsames zu berichten weiß. B, ein junger Mann, auf den Tag fast so alt wie der Staat, dessen Bürger er ist, überspringt die Hürde zur Vergangenheit spielend. Wo andere stranden, weil die Erinnerung sie einholt oder sie kompensieren müssen, dass es für sie nichts zu erinnern gibt, stößt er fast nach Belieben vor und zurück: meistens, so scheint es, mit Gewinn.
Erstens: es ist undenkbar für ihn, nicht zu studieren, das Elternhaus lässt es nicht zu. Zweitens: es ist undenkbar für ihn, zielstrebig zu studieren, denn das hieße den Willen des Vaters zu erfüllen. Drittens: es ist gut denkbar, nicht zu studieren, sehr gut denkbar sogar, man muss darüber nachdenken. Viertens: es ist gut denkbar, zu studieren und danach etwas anderes zu machen, etwas ganz anderes. Das, immerhin, brächte Sinn ins Leben. Fünftens: es ist denkbar, zu studieren und nicht zu studieren, die erwartete Leistung zu verweigern und damit aufzufallen. Sechstens: es ist denkbar, aber nicht auszudenken, dass einer wie er sich der gängigen Lehre auf Gedeih und Verderb ausliefert.
Der letzte Punkt vor allem gibt zu denken. Sollte es sein, dass dieser junge Mann etwas weiß, was seine Dozenten, weil sie’s verdrängt, vielleicht auch verschlafen haben oder aus lauter Konformismus zu lehren vergessen, nicht oder nicht mehr wissen? Vielleicht, weil es sich mit ihrer Spiegel-Lektüre nicht verträgt oder weil sie sich vor den Attacken rabiater K-Gruppen fürchten oder weil sie einst von der revolutionären Studentenschaft auf ihre Stellen gespült wurden und sich seither in Gesinnungsgewahrsam befinden? Klar und gerade kann sich das Gegen-Wissen, mit dem B punktet, nicht aussprechen. Das wäre vielleicht auch zuviel verlangt. Da es nicht gelehrt wird, nimmt es nirgends die Form des Gelehrten und Geklärten an. Abgerissen, unkoordiniert, assoziativ steigt es in seine Rede, die ansonsten sanft bleibt, mit einem leisen Krähen darin, einem gedämpften Hahnschrei, der herauswill und nicht weiß wohin.
Nur: worin besteht dieses Gegenwissen? Worin kann es bestehen? Beharrt es trotzig auf älteren Wissenschaftslagen? Woher diese Informiertheit? Es kann doch nicht sein, dass ein Student etwas weiß, was seine Professoren vergessen haben. Nein, das kann nicht sein, so zu denken führt in die Sackgasse. Andererseits: B ist eine Leseratte, immer unterwegs im verzweigten Abwassersystem der Bibliotheken, dort, wo das Rauschen vergangener Wissensstände ans Ohr schlägt und sich auf Grund des allgemeinen Dunkels die Wahrnehmung schärft. Nicht zu vergessen das Stöbern in Antiquariaten, als exzessiver Sport betrieben: hier lagern, neben älterem Stoff, in dichten Reihen die vierziger und fünfziger Jahre, schon die frühen Sechziger mit ihren helleren und bunteren Einbänden wirken in dieser Umgebung unseriös, da zeitnah.
Kein Zweifel: Bs so altklug wirkender Kopf beherbergt einen Antiquariatsnarren, den die Mentalität seiner Mitmenschen langweilt und der auf dem Stand zu sein sich konsequent weigert.
Durch zu sein mit dem Vergangenen – wie stellt man das an?
B erzählt nicht, wenn erzählen berichten heißt. Er deutet an, setzt voraus, bezieht sich. Er ist die Nachricht im Augenblick des Überbrachtwerdens. Das ist alles andere als amüsant. Dennoch spricht er lang und gern, als spreche er über Amüsantes. Vielleicht amüsiert er sich, zu Tode vielleicht, weil alles so langweilig ist, vielleicht, weil der innere Reichtum ihm nichts anderes eingibt, vielleicht, weil er den Epochenblick nicht ablegen kann, wissend, dass er in einer Ära der billigen Vergnügungen lebt und seine Zeit versäumen würde, wenn er es darauf anlegte, dem Vergnügen auszuweichen. Andererseits –
Das Vergnügen der anderen zieht ihn zu sehr an, als dass er Spaß haben könnte, wirklichen Spaß, der nicht nach links oder rechts blickt, weil er sich unaufhaltsam entrollt. B ist ein Mann des mageren Spaßes, der wendig nach links und rechts blickt, um den der anderen nicht zu versäumen. Dennoch erstaunt, aus seinem Mund einen Satz zu hören, den man eher von Bierfahrern oder Auto-Testern erwartet hätte:
Geht sie denn ab? Wirklich? Und wenn ja, wohin? Stürzt sie wie eine Lawine zu Tal, hierhin und dahin, den einen oder anderen Einzelgänger erschlagend, begrabend, mit sich fortreißend, bis sie am Dorfrand zu stehen kommt, in sinnloser Höflichkeit, da die Bewohner alle geflohen sind und nun mit einer gewissen Enttäuschung in ihre Häuser zurückkehren, wo alles an seinem Platz steht und geringschätzig auf die Eigentümer herunterblickt, die es wegen einer solchen Lappalie, aus reiner Furcht, im Stich gelassen haben?
B sagt solche Sätze, ohne sich innerlich von der Stelle zu rühren, er wartet still ab, was geschieht, wenn die Dynamik schwillt, als vergnüge er sich am Blick in die rasenden Speichen, wenn andere aufdrehen. Er bittet sie förmlich aufzudrehen, nein, er schafft ihrem Wunsch aufzudrehen ein Ambiente, in dem er sich künstlich entfalten kann, so klein oder unvorhanden er auch gewesen sein mag. Als betrete mit ihm die Devise den Raum: Lasst zwei, vier, hundert Titanen um mich sein. Und sie schafft es im Handumdrehen. Wo eben noch Entspannung herrschte, ›Entspannung pur‹, wie die Werbesprache das nennt, trägt jeder erbittert an seinem Los und an dem der anderen, der Zeit und des Universums und nicht zuletzt, denn auch das muss gesagt werden, am Los der Mutter, dem schwersten von allen.
Nur B geht es gut, er ist mit sich im Reinen und lächelt. Leichtsein ist alles.
Eike missbraucht das Projekt, das ist dir seit langem klar. Er benützt es, um an Frauen heranzukommen. Konzentrierter als andere hält er sich an die Tagesregel, weil, wie er unumwunden bekennt, sie maximale Ausbeute verspricht. Keine Pflicht könnte stark genug sein, ihn vom Hereinschauen abzuhalten. Nur bei Unpässlichkeit verdrückt er sich.
Eike missbraucht das Projekt, das ist dir seit langem klar. Er
benützt es, um an Frauen heranzukommen. Konzentrierter als andere
hält er sich an die Tagesregel, weil, wie er unumwunden bekennt, sie
maximale Ausbeute verspricht. Keine Pflicht könnte stark genug sein,
ihn vom Hereinschauen abzuhalten. Nur bei Unpässlichkeit
verdrückt er sich.
Ist das verwerflich?
Besteht nicht – irgendwie
– darin der Sinn des Projekts?
Männer an Frauen, Frauen an Männer,
Frauen an Frauen, Männer an Männer.
Somit wäre Fu, wäre das Fu-Projekt nichts weiter als eine Kontaktbörse? Dürrobst hat es früh geahnt. Nein, nichts hat er geahnt: er hat es einfach vorausgesetzt. Vorausgesetzt, er habe richtig vorausgesetzt: was wäre er, Dürrobst, weiter als ein windiger Denunziant? Und weiter. Was wäre der dem Projekt gewogene Rektor anderes als ein spezieller … Investor? (Der Gedanke würde ihn, wie du ihn kennst, nicht weiter stören, aber er stört dich.) Und was bitte, wäre die Pyramide, was wäre die Gesellschaft, speziell unter diesem Gesichtspunkt betrachtet? Eine Kontaktbörse, nichts weiter als eine Kontaktbörse.
Ein schöner Sinn ist das.
Es untergräbt das Projekt.
Wodurch? Durch Gesinnung.
Eikes Gesinnung ist niedrig.
Könnte es sein, dass du dem Projekt nicht gewachsen bist?
(Diese Frage klingt unergiebig.)
Noch hat sich niemand beschwert. Außer vielsagenden Blicken, einem Schulterzucken hier und da hast du nichts notiert. Warum solltest du Wert auf nonverbale Signale legen, wenn doch die Sprache frei hat? Ist das angemessen? Weshalb bist du beunruhigt, wenn das, was dich beunruhigt, niemandem über die Lippen geht? Wenn es doch…
Wenn es der Rede nicht wert ist?
Nun das ist … das wäre … warum fragst du dich das? Verfügst du über keine? Vermisst du an der Stelle etwas? Wie fühlt diese Stelle sich an? Feucht? Trocken? Weich? Sehr weich? Oder eher hart? Eher undurchlässig? Vermisst du nichts? Fragst du dich ratlos, woher sie kommt, die berühmte Gesinnung? Welche Gesinnung hegst du gegenüber diesem … Eike? Warum der Vorname? Was hat dir dieser Mensch angetan, dass er in deiner Vorstellung ganz und gar Vorname geworden ist?
Er sammelt Frauen. Er sammelt Geschlechtsakte. Er nummeriert seine Erfolge, penibel dokumentiert er sie in einem kleinen schwarzen Heft, du selbst hast es zu Gesicht bekommen. Die schwarzen Hefte… Eike ist süchtig. Süchtig danach, Liebe zu machen? Wer wollte das messen, solange einer sich an die Regeln hält? Nein, Eikes Sucht gilt der Beute. Er ist ein Jäger, sein Spezialgebiet ist die nächtliche Pirsch. Der Fuchs hat sich in den Supermarkt eingeschlichen und plündert die Fleischtheke. Die aufgerissene Ware streut um ihn her, Blut rinnt ihm von den Lefzen und an geht das Licht: verblüfft stehen sie einander gegenüber, der Räuber und der Verwalter, der Dieb und der … Haltet den Dieb! Bist du der Haltet-den-Dieb? Wann hättest du dir diesen Job ausgesucht? Einen Scheiß-Job, würde Teuschner grinsen, einen Scheiß-Job hast du dir da ausgesucht, schau, dass du ihn loswirst. Recht hätte er.
Eike sieht die Welt, wie er sie sieht. Er hat einen Vertrag, in dem
steht, wie sie sich anfühlt, welcher Umgang mit ihr sich empfiehlt und
welchen Platz die Frauen in ihr einnehmen. Willst du seine Handlungen
verstehen, musst du dich in seinen Vertrag einlesen. Er ist, anders als
andere, kein offenes Skript für dich, kein Buch in deiner Sprache, schon
die Zeichen kommen dir fremdartig vor, du musst dich erinnern … woran?
Woran erinnert dich diese Schrift? Lag sie auch dir einmal vor? Wann
lag sie dir vor? Hast du die Unterschrift verweigert? Oder ruht dieser
Vertrag in den Kellern deines Bewusstseins und die Begegnung mit Eike
holt ihn heraus? Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Was immer du anfasst, der Satz prangt über deinen Handlungen (jedenfalls
bist du dir dessen ungefähr sicher). Er steht für: hohe Gesinnung. Sollte Eike
ihn nicht –? Gerade Eike? Schon der Gedanke ist absurd. Andererseits: Wie
behandelt man den Anderen als Subjekt? In diesen Dingen? Kant sagt: Man schließt
mit ihm einen Vertrag. Den Vertrag haben alle Projektteilnehmer unterschrieben,
Eike eingeschlossen. Pacta sunt servanda. Dieser Pakt aber, er stellt
schon etwas Besonderes dar, er stellt etwas Besonderes her, er
präpariert den Grund … wofür? Nenne es … den Ritt über den Bodensee, den jeder
antritt, der sich auf seine Mitmenschen einlässt. Wo die hohe Gesinnung den Ton
angibt, da lässt die niedrige nicht auf sich warten. Schließlich handelt es sich
um die animalische Seele des Spiels. Auch du, einmal aufmerksam geworden,
findest keinerlei Mühe dabei, in deinem Weltraster die untere Linie zu
aktivieren. Nein, großartig einfühlen musst du dich nicht. Alles ist zur Hand,
was du brauchst, um zu verstehen, du musst nur … umschalten. Die umschaltende
Instanz nennst du Befremden. Eikes Gesinnung befremdet dich, sie befremdet
andere, sie befremdet allgemein. Nur einmal angenommen, bei den Teilnehmern des Fu-Projekts handle es sich um
einen Kreis Feingesonnener, um einen Club der edlen Gesinnungen,
zusammengeströmt, um einmal mehr den befreiten Menschen aus seiner
Mitte heraus zu gebären – wobei vom Gebären gerade nicht die Rede ist, da doch
alles in der eigenen Generation spielt und unbedingt spielen soll –, dann, ja
dann dann dann handelt es sich vielleicht – mit diesem einen
Eike als Augenöffner – bei dem überaus komplexen Versuch um einen …
Hokuspokus (und nichts weiter)? Nichts weiter … so dass Eike der
einzige im Kreis wäre, der sich einen realistischen Blick auf das Treiben
bewahrt hätte, wie die Formel in so einem Fall lauten müsste? Und diese überaus
überschaubare Welt stünde ihm aus diesem und keinem anderen Grund zur
unbegrenzten Verfügung? Anders ausgedrückt: sie wäre sein Eigentum? Moment mal … Moment! Unter
lauter Bemühten wäre er der Eine, der herzhaft zugreift? An diesem Punkt
beginnen die Zweifel … Zweifel am eigenen Urteil, Zweifel an der in Gang
gesetzten Maschinerie, Zweifel daran, ob tatsächlich die anderen so lauter sind,
wie sie daherkommen, solange man den Protokollen der VeränderBar traut. Keiner
ist als unbeschriebenes Blatt in das Experiment gegangen. Im
Gegenteil, sie alle sind, genau betrachtet, vom Leben in der Beziehung Enttäuschte, Artisten des zweiten Anlaufs: Die Wissenschaft muss es richten, die Wissenschaft wird es
richten. Sie kommen auch nicht, wie die einstige Fu-Klientel, aus der
bürgerlichen Ehehölle mit ihrer scheinintakten Fassade und all dem Unrat
dahinter: diese Welt hatten sie und ihre Vorbilder schon lange hinter sich
gelassen. Eigentlich kennen sie sie nur vom Hörensagen, als mit
Erinnerungsbrocken unterlegtes Schreckbild, dazu auserkoren, den Einzelnen bei
der Stange zu halten, sobald das eigene Elend ihn übermannt. Sie alle sind auf
der Suche nach dem verlorenen Geschlecht, dem eigenen und dem anderen, da wäre
es schon erstaunlich, wenn sich nicht Gier einmischte, um bei sich bietender
Gelegenheit überhand zu nehmen. Für die Dinge, die du da in vornehmer Sprache notierst, gibt es rüdere
Ausdrücke, weit rüdere Ausdrücke, man kann nicht sagen, sie wären
ungebräuchlich, ganz und gar nicht. In Wirklichkeit sind sie die gebräuchlichen –
gebräuchlicher jedenfalls als die Suada, welche die sterile Welt
wissenschaftlicher Projekte dafür bereitstellt. Du bräuchtest nur das Fenster zu
öffnen und schon flögen sie herein. Du müsstest sie bloß zulassen und ihr Summen
und Brummen erfüllte die Luft. Die Welt ist rüde – und Eike, nun ja, er ist ein
Rüde in des Wortes mehrfacher Bedeutung. So etwas stößt überall auf Interesse.
Dumm wäre es anzunehmen, in ihm hättest du den einzigen Tabubrecher an Bord,
klug hingegen, die Tatsache des Tabubruchs zu notieren, sie bezeugt das Tabu,
von dem in diesem Kreis bisher nicht die Rede war, von dem einfach nicht die Rede sein darf,
wenn… Für die Dinge, die du da in vornehmer Sprache notierst, gibt es rüdere
Ausdrücke, weit rüdere Ausdrücke, man kann nicht sagen, sie wären
ungebräuchlich, ganz und gar nicht. In Wirklichkeit sind sie die gebräuchlichen –
gebräuchlicher jedenfalls als die Suada, welche die sterile Welt
wissenschaftlicher Projekte dafür bereitstellt. Du bräuchtest nur das Fenster zu
öffnen und schon flögen sie herein. Du müsstest sie bloß zulassen und ihr Summen
und Brummen erfüllte die Luft. Die Welt ist rüde – und Eike, nun ja, er ist ein
Rüde in des Wortes mehrfacher Bedeutung. So etwas stößt überall auf Interesse.
Dumm wäre es anzunehmen, in ihm hättest du den einzigen Tabubrecher an Bord,
klug hingegen, die Tatsache des Tabubruchs zu notieren, sie bezeugt das Tabu,
von dem in diesem Kreis bisher nicht die Rede war, von dem einfach nicht die Rede sein darf,
wenn… Ist er ein Wurm? Der Wurm in der Parade edler Menschen, die nur
das eine wollen: alles richtig zu machen? Das also wäre seine
Aufgabe: dafür zu sorgen, dass auch diese Bäume nicht in den Himmel
wachsen? Dass alles so bleibt, wie es ist? Ist das überhaupt eine
Aufgabe? Dem Wurm kann das egal sein, er weiß von keiner Aufgabe, er
lebt sein Leben, seines gegen das der anderen. Halten sie es etwa
anders? Gewiss nicht. Ganz gewiss nicht. All diese Frauen, die, es lebhaft abstreitend, auf den Besamer
schielen, schließlich warten sie nicht, sie sind selbst auf der
Pirsch, sie sind, wie Eike, undercover unterwegs, Agentinnen
eines Unterbewusstseins, das es so, wie die Freudianer es
konstruierten, mit Sicherheit gar nicht gibt, was seine
Wirkungsmacht, wie die eines Zaubertranks, wunderbarerweise nicht im
geringsten unterminiert, ein Gaukelspiel verdrängter Gedanken, aber
was besagt schon ein Kusch! Nicht viel und doch wieder alles:
Es ist klug, diese Gedanken zu denken, es ist unklug, sie
auszusprechen, es ist klug, zu zeigen, dass es sie gibt, es ist
unklug zu zeigen, dass man sie denkt, es ist klug, sie im Modus des
›Es könnte sein‹ zu halten, es ist unklug, den Modus zu
wechseln, es sei denn, die Situation überwältigt alle Beteiligten,
und so weiter, und so fort… Es ist klug, das Unterbewusstsein,
nein, es ist klug, eines zu besitzen, es ist Frauenklugheit, die auf
den Rüden wartet, um ihm zu antworten: So nicht! Und mit dir schon
gar nicht. Es sei denn… Es sei denn, du lernst es, dich zu
benehmen. Dann allerdings… Was soll schon werden? Etwas Wirkliches?
Etwas, das zählt? Ein Köter bist du und kommst nicht in Betracht.
Zähle du nur weiter. – ist eine Aufgabe, eine unter anderen…
… aber doch etwas Spezielles, etwas ganz Spezielles, wie die
Scheidungsraten diskret andeuten, hinter denen die Beziehungsdramen
lagern. Sie geht leicht schief. Wie die Gemeinsprache in ihrer allumfassenden
Gemeinheit auszudrücken nicht unterlässt, ist das Schiefe bereits im Gang
angelegt, soll heißen: in der allgemein praktizierten Gangart. Alle Erziehung
zur Aufrichtigkeit enthält die fundamentale Unaufrichtigkeit, dass sie dem zu
Erziehenden die Aufrichtigkeit verwehren will, die seinem Typus eignet, und zu
diesem Behufe rigoros den Zugang zu den eigenen Hintergedanken samt zugehörigen
Empfindungen versperrt. Was soll schon herauskommen, wenn der Engel den Teufel
erzieht? Ein Engel-Teufel-Spiel, was sonst. Die Verwandlung des ›Partners‹ in
eine Handpuppe, ein Spielzeug, achtlos fortzuwerfen, sobald das Spiel langweilig
wurde, das heißt, wenn die Umwandlung vollzogen ist, küsst alle Teufel wach,
innerhalb und außerhalb der eigenen Brust: da tanzen sie ihren Tango, werfen
lüsterne Blicke, Formulare des ewig blitzenden Warum nicht wir? – die Welt
ist offen, lass die Stickluft heraus, lass mich aus. Im Fu-Projekt gibt es keine Erziehung. Stattdessen: ewigen Wechsel. Wie lange?
Bis zu welcher Grenze? Denn eine Grenze … eine Grenze wird es geben, so oder so.
Wo also steckt der Fehler? Der Fehler, falls es denn einer sein sollte, steckt
im Gruppenbewusstsein. All diese Leute, die ihre Unterschrift am Eingang
geleistet haben, teilen ein Geheimnis, sie bilden eine verschworene
Gemeinschaft, noch unwissend, wer und vor allem was da auf sie zukommen wird:
sie erwarten Einweisung, das unumgängliche Gewusst-wie, ohne das alle ratlos
herumstünden und schließlich unverrichteter Dinge wieder nach Hause gingen. Wenn
aber … wenn aber die Regeln in Fleisch und Blut übergingen, wenn sie die
Mitspieler kennengelernt, wenn sie miteinander erst einmal durch sind, wenn die
Vertrautheit wächst, dann, ja dann wachsen die Regeln der Freiheit erneut zum
Prokrustes-Bett zusammen, vor dem sich alle fürchten. Das Projekt, heißt das,
vertauscht den Aufbruch in die Freiheit mit der Freiheit selbst. Siehst du das
jetzt richtig? Siehst du das jetzt endlich richtig? Oder ist auch das nur
eine perspektivische Täuschung? Wen soll sie täuschen? Sei genau. Lehnst du die Person Eike B ab? Wirklich oder gefühlt? Ehrlich gesagt: weder-noch. Du empfindest sogar – in Grenzen – Sympathie für
sie. Würdest du tiefer graben, so würdest du feststellen, dass auf dem Grunde
eures – zugegeben: etwas losen – Umgangs der perverse Wunsch zutage träte, von
diesem Individuum verstanden zu werden. Ein Eike ist schnell erkannt. Nein, es stört ihn nicht. Das meint: nicht
wirklich. Natürlich stört es ihn insofern, als die Tarnung, das Streben nach
Unerkanntsein zum Wesen der Pirsch gehört, so wie es zum großen
Jäger dazugehört, dass man seine Trophäen bewundert. Es stört ihn,
erkannt zu werden, es stört ihn, unerkannt sein Wesen zu treiben.
Darin besteht seine Störung: keineswegs ist er der Typus, der mit
sich im Reinen wäre. Überdies stört er selbst: er stört dich, er
stört dich sehr. Und damit wird er wirklich zur Gefahr. Mutters Groll plus Vaters Schmerz = Eikes Hass. Auf wen?
So kann man es sagen.
Welches Gespräch?
Wohin fallen Worte, wenn keiner sie aufgreift?
Er ist misstrauisch.
Eike hingegen hat kein Problem damit, Hiero
Was spricht gegen einen Roman, der »Muntepan« heißt?
Eike sagt:
Würden alle Bücher schreiben, dann würde sie keiner lesen.
Wer keinen Unterschied macht, gibt es den überhaupt?
Er sagt: Ich bin keiner. Ich bin viele.
(Das sagt er nicht, aber er denkt es.
Er sagt: Ich habe nichts zu lehren.
Ich gebe wieder.
Du bist das bittere Brot der Stunde, das keiner ablehnt.
Du bist der Weinberg des Herrn, in dem ich mich täglich tummle. Du weißt, wer ich bin, du teilst dieses Wissen mit jedem, nur
nicht mit mir, wofür ich dir Dank weiß. Du weist über mich hinaus, großer Zeiger ins Nichts, zu Recht,
denn diese Zukunft, auf die du dich richtest, nicht für mich ist sie
und meinesgleichen, sie ist für alle, die keiner Zukunft bedürftig
sind, die sie zu beziehen wünschen, als handle es sich um eine neue
Wohnung und das Problem bestünde darin, das alte Mobiliar in sie
hinüberzuschaffen.
Du bist der Ursprung und das Ziel meines Ehrgeizes, das mich
zwingt wirklich zu sein. Ohne dich wäre ich weniger wirklich, fast
nichts, träumend würde ich meine Tage verdämmern, ein Ärgernis
und ein Ungeheuer, ein Wesen ohne Kontur. Du verleihst mir Schärfe.
Du hast meine Wenigkeit als Dompteur über diese Wesen gesetzt,
dafür weiß ich dir mit Rührung versetzten Dank, dem der bittere
Beigeschmack auf die Sprünge hilft, denn ein Dank, der den Herrn
nicht spürt, ist nicht mehr als Hohn, den Weiten entgegengeworfen,
als hätten sie dafür Verwendung, was aber nicht der Fall ist.
Nicht Werk, nicht Schicksal, nein, Dasein, von Tag zu Tag und
hinaus über jeden Tag, diesen und jeden, der kommt: darin liegt
deine Kraft und Herrlichkeit, dein einfaches Sosein, Erfahrung
ohnegleichen und ein Mysterium ohne Mitte, das uns verhext. Wie leben in einer Welt, die unentwegt die Bedingungen ihrer
Existenz hervorbringt und vernichtet, gleich einem Taschenspieler,
der seine Tricks durch Vorzeigen unwirksam macht und keine Sekunde
lang aufhört, das Publikum damit hinters Licht zu führen? Du bist
die Frage, die Antwort und das Gegebene, das sich begibt, sobald ich
die Hand ausstrecke, als sei ich einer, der bewirkt.
Sei reell! Ich bitte dich, sei reell! Nichts wird von dir erwartet
als das. Brücke bist du, über die ich hinüber ins Land der
Erwartungen wandere, also sei reell! (Nicht um meiner Erwartungen
willen, behüte, sondern um aller anderen willen, beteiligt oder
nicht, denn ihre Erwartungen sind es, die den meinigen Festigkeit und
ein Gesicht verleihen, so dass ich, angesichts der kommenden
Katastrophe, ruhig schlafen kann, ganz als befände ich mich
unterdessen auf einer Siegerstraße und nichts könnte meinen finalen
Einlauf verhindern.) Welche Zukunft zu geben bist du bereit? Du weißt, unter der
Zukunft der Menschheit macht es die Wissenschaft nicht. Was sie
Wahrheit nennt, unter der Vorspiegelung, ihr zu dienen, ist eine
schweigsame Herrin, die mit Versprechungen lockt, welche andere in
sie hineingelegt haben. Welche anderen? Andere eben, nicht diese,
nicht jene, sondern immer andere, jetzt und immerdar andere. Wärest
du bereit, unter ihnen zu wählen? Auf wen fiele deine Wahl?
Prometheus, endlich die Fackel in Händen, fühlt sich an den
Felsen geschmiedet: herbes Los. Ein Bild, leicht aufzulösen, nicht
von mir, nicht jetzt, ich will den Knoten des Daseins nicht lösen,
jetzt nicht, nicht morgen. Übermorgen löst sich vielleicht, was ich
nicht wissen will, ganz von allein, vibrierend in deinem Namen. Das
wäre mein Triumph.
Diese Menschen … du führst sie in Versuchung, so wie du mich in
Versuchung geführt hast. Wie anders könnten sie es auf den Versuch
ankommen lassen? Das Andere versuchend erproben sie, wer sie sind.
Sie erscheinen sich anders, der Schein ist das Reelle, das ihnen
Profil verleiht. Profil vor wem? Vor was? Vor dem Unbekannten, das
sie auch sind, schon in Ermanglung anderer Kandidaten.
Angenommen, du beruhtest auf falschen Prämissen – pfeif auf die
Prämissen! Was wäre das für ein Projekt, das sich nicht seine
eigene Wirklichkeit schüfe? Sobald die Möglichkeit aufscheint,
findet sich auch der Mut, sich ihr anzuvertrauen. Irgendein Mut
findet sich immer. Unter den Bedingungen des Lebens gibt es keine
falschen Prämissen. Wo das Leben nicht hinreicht, existiert kein
Projekt. Es zergeht aus Unfähigkeit zu vergehen, denn um zu
vergehen, bräuchte es selbst ein Leben.
Nein, du bist nicht das Leben, aber du gibst ihm die Richtung auf das
Gericht, das du mit dir führst wie einst die Boten der Großen Revolution die
Guillotine: verhüllt, ein black cube, ruhend auf dem Vordeck des
Schiffes, das sie stampfend und schlingernd den weisheitsdürstenden Gestaden der
Neuen Welt entgegentrug. Wenn alle mit allen ins Bett gehen,
Alle Geschichte ist Geschlechtergeschichte.
Was kommt nach der Geschichte?
Das Experiment überschreibt die Regel.
Worin bestünde demnach meine Erfahrung?
Die Zeit der Duelle ist nicht mehr. Die Geschichte ist die Geschichte.
Wer ist Elisabeth? Ich kann es nicht einmal denken, geschweige denn annehmen.
Heißt das … ja sicher, genau das heißt es. Die Instanz, welche die Trennung
vollzieht, nenne ich Ich. Das Ich trennt die Welt: Alles, was ich begehre, nenne
ich das andere Geschlecht. Ich bin nicht schwul, nun gut, das schränkt
den Radius ein, aber egal. Alles egal. Alles, was ich nicht begehre, ist egal.
Alles, was egal ist, nenne ich: nicht wirklich. Demnach besteht meine Welt aus dem,
Elisabeth ist wirklich. Momentan ist sie meine Wirklichkeit. Soll heißen, wenn ich mich auf sie
konzentriere (was ich muss), dann versinkt, was wirklich sein könnte. Das
heißt natürlich: ich bin für sie maximal attraktiv. Da ist nichts, was
zwischen uns stünde. Wenn sie das nicht realisiert … was dann? Nun, das ist
nicht denkbar, jetzt nicht denkbar (Sex ist Gegenwart, reine Gegenwart),
also auszuschließen. Genau darin liegt die Spannung, die man Erwartung nennt.
Ich nenne das: Gewissheitsspannung.
Jetzt brüllen sie wieder, unisono, chormäßig, von den
öffentlichen Anschreibewänden, scheinbar lautlos. Zum Schein lautlos. Zum Schein
andersherum. Nazis raus! Und die blöden Nazis hocken in ihren Löchern und
kommen und kommen und kommen nicht raus. Patt. Wo sie wohl stecken mögen?
Unglaublich. Ein Volk von Nazis, es duckt sich und tut so, als habe es nichts
gehört. Nicht zucken, Nachbar. Du bist nicht gemeint. Noch nicht… Mit dir
beschäftigen wir uns morgen. Was? Du bist keiner? Was soll das heißen? Nazi! Du
findest das unerhört? Warum die Aufregung? Warum so blass um die Lippen?
Erwischt? Erwischt! – Gezeichnet: die kollektiven Derwische. Guido, sich die Frühstücksbutter aufs Brot streichend, erscheint die Fratze der Politik: Hiero, mühsam beherrscht: (Guido, das Messer ins Marmeladenglas
tauchend, nicht sicher, ob so ein Satz, laut und entschieden
gesprochen, nicht den sofortigen Bruch bedeutet: den will er nicht.
Nein, den will er nicht. Jetzt nicht … und überhaupt. Es wäre
Versagen.) Mensakost, aufgewärmt DÜRROBST NASSEN OPHOFF DÜRROBST OPHOFF NASSEN OPHOFF NASSEN ARGLOSER NASSEN ARGLOSER Schuld + Erwählung Die Verortung einer historischen Schuld beim politischen Gegner dient der Infantilisierung des Dauerkonflikts, in dem der Einzelne steht und den er nicht mit sich austragen möchte. Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß. Niemand wünscht fremde Schuld zu tragen, auch dann nicht, wenn sie per Verwandtschaft, per Zugehörigkeit an ihn herangetragen wird. Frei von Makel –: das will er sein, so zumindest will er erscheinen. Deshalb geht der Makel ihm nach, ein eingebildeter Makel erstens, weil die Einbildung ihn hegt und pflegt, bis er sie beherrscht, zweitens, weil er eingebildet macht: kein Makel wie dieser, der mich beherrscht, er hebt mich heraus aus der Menge der Erscheinungen, er macht mich sichtbar. Und sichtbar, das will ich sein, das war mein Begehr seit jeher. Jetzt bin ich’s und es soll falsch sein? Was kann daran falsch sein? Bin ich nicht singulär? Bin ich nicht zutiefst davon überzeugt, dass keiner mir das Wasser reichen kann? Zeugt nicht auch eine verruchte Verwandtschaft von Erwählung? Der Träger der Scham Der Träger der Scham ist männlich. Die Freundin krault ihn: Doch praktisch findet sie seine Scham schon. Das Vergangene ist furchtbar, aber es hat seine Strafe bekommen: es ist vergangen. Ist es nicht furchtbar, immer davon reden zu müssen? Nun, wenn das so ist: da hat er ein Unrecht, das er wieder gut machen kann. So also redet Kitty (oder Ama oder Mona oder Eva-Maria), die Freundin der Scham. Und siehe, es geschehen Zeichen und Wunder. Die Bankenwelt kracht ein und funkelt wie nie zuvor, das Privateigentum sammelt sich in den Taschen des Staates und fließt in Projekte diesseits und jenseits des Traums, jenseits der Menschheit, wie die Frommen zu tuscheln und die Progressiven ihnen bald nachzuplappern beginnen, die Welt wird ärmer und reicher, ärmer an Geist und reicher an Gelegenheiten, die Armut wächst und mit ihr die Gewissheit, ihr entrinnen zu können, die Geldsumme wächst und mit ihr die Schulden, der Reichtum wächst und mit ihm das Bewusstsein, besser zu sein als die vorausgegangene Menschheit, ausgenommen die Opfer. Nur die Quote, die einsame Quote am Horizont, sie bleibt ewig unerfüllt wie die Liebe, wie der Hass, wie die Gerechtigkeit, wie der lange Zorn, wie die Angst vor dem angekündigten Untergang, wie der Traum vom besseren Leben, wieviele ihn auch zu leben sich tagtäglich anschicken.
Not my way, Johnny – Wie ein erwachsener Mensch, sexuell unreif geblieben, bei bestimmten Wörtern oder Gesten ins Zittern gerät, so gerät der Mensch der Scham, auf bestimmte Gegebenheiten angesprochen, unweigerlich in Bedrängnis: Schweiß bricht aus seinen Poren, Rost blüht aus seiner Stimme, er fühlt den Zwang, Dinge zu übergehen, die eigentlich gesagt werden müssten, und herauszuschreien, was endlich gesagt werden muss, obwohl es unendlich besser wäre, es sich zu verkneifen. Der Mensch der Scham ist verkniffen. So fühlt er sich besser, als er ist, soll heißen, schlechter, als er es zugeben würde. Warum überhaupt fühlt er sich? Er sollte fühlen, was alle fühlen, aber er fühlt sich. Scham isoliert. Soll er denn fühlen? Ja, er soll. Darin besteht das Gesetz der Scham: Fühle! Fühle dich! Du sollst wissen, wie es sich anfühlt. Du sollst wissen, wie es ist, wenn man sich schuldig fühlt. Wie, du bist dir keiner Schuld bewusst? Was soll das heißen? Gerade darin liegt deine Schuld, deine unermessliche Schuld, deine Schuld ohne Ende: dass du ihr den Anfang verweigerst. Allein der Anfang gibt Hoffnung aufs Ende. Nimm ihn an! Nimm ihn auf dich! Du musst sie fühlen lernen, tief in dir, dann erst wirst du ohne Schuld sein. Warum weigerst du dich? Welche Instanz in dir weigert sich? Da ist etwas Dunkles, Unaufgelöstes in dir, das dir eingibt, dir geschehe irgendein Unrecht. Ist es nicht so? Ist dir ein Unrecht geschehen? Willst du das Unrecht, das anderen widerfuhr, so einfach aus deinem Bewusstsein verbannen? Nein, das nicht? Das verstehen wir nicht. Wer A sagt und B verweigert, ist ein Lügner. Sage nicht, du hättest es nicht gewusst. Lüge! Was, du hast es gewusst? Lüge! Nichts hast du gewusst, nichts nichts nichts, sonst würdest du dich jetzt nicht so sträuben. Was willst du schon gewusst haben? Warst du dabei? Ganz recht: Das alles lag außerhalb deiner Erfahrung. Daraus also ziehst du Entlastung? Wer Entlastung braucht, wie tief steckt der in der Scheiße? Du steckst ganz schön in der Scheiße. Doch eigentlich steckt die Scheiße in dir. Hol’ sie heraus! Entledige dich ihrer. Schrei es heraus: »Scheiße!« Brüll endlich: »Raus!« Du bist der Mensch der Scham, gestern wart ihr wenige, du und deinesgleichen, heute seid ihr viele und morgen gehört euch… Siehst du: Geht doch!
B: Du weißt –
A ist schuld.
A ist sich keiner Schuld bewusst.
A: Ich habe da einen Vorschlag.
B (zu A): Schämst du dich nicht?
A, B und C empfinden keine Scham.
Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Elisabeth, halb belustigt: Hiero träumt (nicht einmal, zweimal, sondern einen langen Sommer hindurch), er habe, durch Zufälle, ihm selbst nicht durchsichtig, ein Stück virtueller Hollywood-Leinwand erworben, ein Rechteck, auf dem eine ihm unklar bleibende Reihe von Filmen – oder Filmsequenzen – gelöscht – oder besser – überschrieben – wurden, so dass nur die Schwärze des Bildschirms übriggeblieben ist, oder besser: irgendeine Schwärze, denn vom Bildschirm findet sich im Traum keine Spur. Diese mysteriöse Schwärze, unter der sich Filmgeschichte verbirgt, beschäftigt ihn auch am Tage. Gern würde er den Schleier des Verbotenen lüften und hervorkramen, was es da zu sehen gäbe: zensierte Sequenzen, ganze Filme sogar, Verstöße gegen Sitte und Anstand, gegen den Zeitgeist oder das, was die Kontrolleure davon zu halten und durchzusetzen beliebten, Feindmaterial, Filmbeute, eingelagert seit Jahrzehnten, den ganz großen Giftschrank, über dessen Inhalt nur gemunkelt werden darf, und natürlich die Opfer ökonomischer Spekulationen, die jedes Genie irgendwann zu Fall bringen. In Momenten geistiger Abwesenheit kramt Hiero in diesen Funden, doch die Sperre ist wirksam und in seinem Kopf flirrt ein großes Durcheinander von Farben und Formsplittern, die sich nirgends zu erkennbaren Bilder verfestigen. Darf er darüber sprechen? Er darf, aber er kann nicht. Genauso gut könnte er sich gleich ans Hirn tippen, es liefe auf dasselbe hinaus. Die Sache ist klar (denkt Hiero): Wenn es Be-wusstsein gibt, dann muss es auch A-wusstsein geben. Der Gedanke ist tronkamäßig nicht abgesichert, aber in diesen Dingen ist Tronka nun einmal nicht das Maß aller Dinge. Das Bewusstsein ist immer nur das Zweite, das kann gar nicht anders ein, wenn sein Ursprung, wie anzunehmen, in den Verboten liegt. Verbote werden verfügt, also muss es eine verfügende Instanz geben, die dem Bewusstsein vorausliegt, eine wissende Instanz obendrein, denn Gebote müssen doch irgendeinen realen Inhalt haben und der muss gedacht vorliegen, wenn das Gebot denn verfügt werden soll. Andererseits wäre es unsinnig, ein Bewusstsein vor dem Bewusstsein anzunehmen, denn um irgendeine Art von Bewusstsein müsste es sich schließlich auch beim A-wusstsein handeln, da kann man sich Götter ausdenken, wie man will. Du siehst das Dilemma, alter Hiero, und kannst es nicht lösen, so wie du dir ein Geheimarchiv denken kannst, aber nicht wirklich, denn sonst wäre es schließlich nicht mehr geheim. Und genauso steht es um die geheimen Dokumente, die darin lagern: sind sie wirklich geheim? Sind sie so geheim? Das zu beurteilen müsstest du sie kennen. Es gibt immer Grade der Geheimhaltung, das ist wahr. Aber trifft das auch auf verbotene Archive zu? Ein verbotenes Archiv ist ein verbotenes Archiv, da beißt die Maus keinen Faden ab. Was verboten ist, das ist allen verboten. Da gibt’s auch keinen gütigen Archivar, der das alles verwahrt. Ein Historiker, der sich aus einem verbotenen Archiv bedient, ist ein Feind. Eine Wissenschaft vom Verbotenen kann es nicht geben. Wer sie fordert, gehört aussortiert. Kann man Menschen verbieten? Offenkundig nicht. Das ist ein Fehler. Ein Riss in der Wirklichkeit. Denkt FuP Hiero (und hütet sich, den Gedanken laut werden zu lassen). (aus dem Leben eines Nachrichtenjunkies) Abend für Abend.
HIERO ÜBERGIBT SEIN MATERIAL AN DEN STAATSANWALT.
Er ist nicht dumm, dieser Hiero. Nein, das ist er nicht. Er ist nur…
»Sieh jene Kraniche in großem Bogen« –
(1) Der tote Fluss Abseits, vorbei / »Hat der Deutsche lange genug ›Arschloch‹ gebrüllt, bebt er vor dem Wort ›Rektum‹ zurück.«
»Was witzig ist, bestimme ich. Klugscheißer. Das mein’ ich ernst.« »Scheiß auf die Prinzipien.«
»Scheißkerle. Scheißweiber. Scheißstudium. Scheißklausur. Scheißhaus. Scheißwindeln. Scheißlektüre. Scheißfilm. Scheißabend. Scheißklamotten. Scheißarbeit. Scheißmanieren. Scheißangst. Scheißegal. Scheißfritten. Scheißfraß. Scheißbude. Scheißvermieter. Scheißbetrieb. Scheißgehalt. Scheißbetroffen. Scheißlangsam. Scheißprogramm. Scheißgeld. Scheißkälte. Scheißverkehr. Scheißsport. Scheißrendite. Scheißzinsen. Scheißhunger. Scheißbedürfnis.«
»Wenn einer Scheiße baut und sich weigert, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dann ist er ein Scheißkerl.«
»Ich fühl mich sooo beschissen.«
»Wie beschissen ist das denn?«
»Frag mich, wer so ’n Scheiß erfindet.«
»Deine Scheißgarantie kannst du dir in deinen beschissenen Scheiß-Hintern schieben. Wenn irgendeine Scheiße passiert, steckst du mit deinem Scheiß-Arsch bis zum Hals in der Scheiße. Soziologe Argloser registriert den Klimawandel in der Gesellschaft und schreibt einen Essay 1 Systemkonformität ist die von Menschen, die nicht anecken
wollen, bevorzugte Weise anzuecken. – Der Satz ist nicht so paradox, wie es
auf den ersten Blick aussehen könnte, da ›anecken‹ eine bloße Metapher und daher
unterschiedlich auslegbar ist. Nun wäre es immer misslich, eine Definition auf
eine Metapher zu gründen, lägen in diesem Fall nicht besondere Gründe vor, die
das Verfahren rechtfertigen könnten. Ich persönlich habe deren drei
gefunden: 2 Vor allem der dritte Punkt ist bedeutsam, weil er die Möglichkeit eröffnet,
dass einer, der sich in allen seinen Handlungen durch das Urteil seiner Umgebung
leiten lässt, sich eben dadurch sowohl als Konformist als auch als Nonkonformist
ausweist, ersteres deshalb, weil er seine unmittelbare Umgebung mit dem System
gleichsetzt, letzteres, weil er in dieser Hinsicht empfindlich irren kann – sei
es, dass er sich in einer Umgebung von Nonkonformisten bewegt, sei es, dass der
Konformismus seiner Umgebung auf falschen Annahmen über das System beruht. Er
dürfte also, von einer höheren Warte aus betrachtet, in jedem Fall anecken,
genauso übrigens wie jemand, der danach strebt, sich dem System als solchem
gegenüber konform zu verhalten, dabei jedoch die Anpassung an die unmittelbare
Umgebung und ihre Überzeugungen vernachlässigt. Denn letztere ist doch stets
auch Teil des Systems und daher keineswegs zu vernachlässigen. 3 Gesetzt den Fall, er bewegt sich in einer Umgebung, die, wie er selbst,
bestrebt ist, sich in allen Punkten dem System als Ganzen gegenüber konform zu
verhalten, also etwa so, wie Börsenzocker sich in vorauseilendem Gehorsam
gegenüber den Bewegungen des Marktes üben, dann bleibt doch der Umstand, dass er
sich als Mensch in demselben Ausmaße gezwungen sieht, Abstriche an seinen in der
Form von Überzeugungen eine gewisse Mitgegenwart erwirkenden persönlichen
Prägungen vorzunehmen. Denn kein Mensch gleicht doch derjenigen Person, die er vor
einer Handvoll Jahren darstellte. Ebenso gleicht kein System in einem späteren
Stadium aufs Haar demjenigen, das es einmal war. In dieser Hinsicht führt der
Satz ›Das System hat sich nicht geändert‹ stets mit einiger Sicherheit in die
Irre. 4 Bekanntlich besitzt jedes System eine Umwelt. Es unterliegt also, sofern es
auf Selbsterhaltung angelegt ist, den Gesetzen der Anpassung. Individuelle
Prägungen wiederum dienen, indem sie das Selbst repräsentieren, der
Selbsterhaltung, gleichsam den Markenkern der Person. Daher können sie nicht
nach Belieben ausgetauscht werden. Dennoch gibt es auch hier subkutane
Entwicklungen, also Anpassungsvorgänge, die allerdings ein eigenes Zentrum und
einen eigenen Entwicklungsmodus ihr eigen nennen. Man stelle sich im
Gedankenexperiment vor, ein Individuum X erreiche zum Zeitpunkt t10 sein
Systemkonformitätsmaximum, also weitestgehende Angepasstheit –: damit ist
klar, dass es sich von diesem Zeitpunkt an, die Persönlichkeitsentwicklung
eingerechnet, nur verschlechtern kann, so dass unweigerlich der Zeitpunkt t35
näherrückt, in dem als Verwendungs- respektive Verhaltensoptimum seine
Ausmusterung ansteht. 5 Allerdings wäre hierbei vorauszusetzen, dass sich sowohl das System als auch
die Persönlichkeit vom Zeitpunkt t10 an einsinnig fortbewegen (wobei es nicht
auf die jeweils besondere Richtung ankommt, die beide einschlagen). Was in träge
dahinplätschernden Zeitläufen durchaus vorkommen kann. Allerdings sollte man
sich einer solchen Entwicklung nicht allzu sicher sein. Das Schicksal der Menschheit im Ganzen wie
das des Einzelnen scheint unter dem Motto zu stehen: Etwas passiert immer. Ob
es, meist im Nachhinein, sich als vorhersehbar ausweist oder zu den absolut
unvorhersehbaren Singularitäten gerechnet werden muss, sollte dabei als nachrangig
gelten. 6 Was bedeuten diese Überlegungen für das Dasein des Systemkonformen? Zunächst
einmal: Das Bewusstsein, systemkonform zu handeln, sofern es im Einzelnen
anzutreffen ist, greift entweder zu früh oder zu spät – zu früh, insofern die
Intention der Existenz stets vorauseilt, das anvisierte Maximum daher stets noch
in der Zukunft liegt, zu spät, insofern eine Sicherheit des Besitzes auf dem
Feld nicht zu erreichen ist und das Vollgefühl der Angepasstheit bereits den
Ansatz der Dekadenz in sich trägt. Wirklich angepasst ist daher im Glücksfall
nur derjenige, der sich für unangepasst hält oder an die Konformität oder
Nonkonformität seines Handelns und seiner Existenz keinerlei Gedanken
verschwendet. 7 An dieser Stelle scheint ein Seitenblick auf die Alltagsprofile von
Politikern angebracht, an deren Karrieren sich vielleicht am unverhülltesten das
Wechselspiel von Anpassung und Erfolg ablesen lässt. Einer, der sein
Politikerdasein als reiner Systemkonformist beginnt (oder auch nur als solcher
wahrgenommen wird), hat wenig Chancen, als erfolgversprechende Person in
Erscheinung zu treten und damit eine der Bedingungen für den Aufstieg in höhere
Positionen zu erfüllen. Der Grund liegt auf der Hand: Er würde, nach Jahren des
Aufstiegs, sein Angepasstheitsmaximum bereits weit hinter sich gelassen haben.
Im schlimmsten anzunehmenden Fall wäre er damit genau zu dem Zeitpunkt
›ausgebrannt‹, zu dem er in eine verantwortliche Stellung einrücken könnte. Eine
Politikerkarriere auf dieser Basis dürfte also stets dem Zufall einer speziellen
Konstellation geschuldet sein. Solche Zufälle gibt es zuhauf, daher ist der
Anblick toter Politikerseelen in hohen und höchsten Ämtern keine Seltenheit. 8 Wer daraus allerdings den Schluss ziehen wollte, wirklich erfolgreiche
Politiker seien durch die Bank Nonkonformisten oder verfügten zumindest über die
allseits nachgefragten Ecken und Kanten, die sie befähigten, gegen die
Konkurrenz zu bestehen, der hätte den vorgetragenen Sachverhalt nicht wirklich
begriffen. Ein Politiker, der in ein hohes Amt befördert oder gewählt wird, hat
idealiter zu diesem Zeitpunkt auch sein Angepasstheitsmaximum erreicht. Falls
nicht, haben seine Förderer sich eben in ihm getäuscht und jedermann muss mit den
Folgen leben. Nonkonformismus ist der Politikerkarriere nur in zwei Phasen
dienlich: zu Beginn, da er ein unausgeschöpftes Entwicklungspotential verheißt,
gegen Ende, da er gewöhnlich mit einem nachlassenden Willen zur Macht
einhergeht und die Ablösung im Amt beziehungsweise den Übergang ins private
Leben erleichtert. 9 Nur der vollendete Konformist will die volle Macht und nichts als sie.
Dieses häufig unbeachtete Axiom wird dadurch verdunkelt, dass die pathologischen
Fälle der Weltgeschichte es angeblich ebenso widerlegen wie die Beobachtung,
dass der öffentlich bekundete Wille zur totalen Machtablösung sich in der
Mehrheit der Fälle als Wille zum radikalen Systemwechsel geriert. Doch auch in
dieser Hinsicht ist mehr Schein als Sein im Spiel. 10 Was in der Politik ›Systemwechsel‹ heißt, beschränkt sich in der Regel auf
ein, zwei Elemente innerhalb bestimmter Teilsysteme, äußerstenfalls auf deren
Auswechslung in toto. Die Folgen für die Betroffenen, gelegentlich auch
für die Gesamtheit der Regierten, können durchaus beträchtlich sein. Über das
Ausmaß an Systemkonformität derer hingegen, die an den Stellschrauben drehen,
sagt das wenig bis gar nichts aus. Es kann gerade der Wille nicht anzuecken
sein, der sie zu ihrem Tun beflügelt, ganz nach dem Motto: Einer (oder eine)
musste es tun. Dann wird genau diese Weise anzuecken (eine ›anstehende‹
Änderung im System durchzusetzen) zum Markenzeichen der Person, ›deren Zeit
gekommen war‹, deren Handeln ›an der Zeit war‹ etc. Rückblickend, heißt das,
entpuppt sich gerade eine solche Person als Inkarnation des Systems, als eine
seiner Überlebens- oder Selbstheilungsfinten. Was wenig plausibel wäre, bestünde
nicht eine tiefe Übereinstimmung zwischen ihren persönlichen Motiven und dem,
was das System in diesem Moment ausmacht – immer vorausgesetzt, man betrachtet
das System nicht als statisches, sondern als dynamisches, sich entsprechend den
Erfordernissen wandelndes Gebilde. 11 Was die pathologischen Fälle angeht, so können sie der hier exponierten These
eher als Belegstücke dienen. Denn nirgendwo zeigt sich das sogenannte Allgemeine
der Verhältnisse deutlicher als in den sogenannten Pathologien. In ihnen erhebt
sich das furchtbare Antlitz der Systemkonformität ohne Sinn und Verstand,
jedenfalls in der Bedeutung, die letzterem in der zweckmäßigen und ethisch
verträglichen Gestaltung der menschlichen Dinge zukommt. Der Konformist, dem es
an elementarer Urteilskraft gebricht und der sich deshalb phantastischen, aber
sozial abgesicherten Überzeugungen verpflichtet fühlt, ist das politische
Schreckbild schlechthin. Allerdings gibt es eine spezifische Pathologie des
Politischen, die stets in Betracht gezogen werden sollte, sobald sich
Machtfragen in den Vordergrund drängen. Wer Politik gestalten will, dem darf das
Leiden an der Politik nicht fremd sein. Er muss es tief in sich aufgenommen
haben, um damit jonglieren zu können, mehr, er muss es selbst repräsentieren, um
jenen Sog zu erzeugen, der ihn nach und nach mit den nötigen Parteigängern und
Gefolgsleuten versorgt. In diesem Bereich scheint der Satz ›Gleiches wird durch
Gleiches erzeugt‹ tatsächlich eine gewisse Berechtigung zu besitzen. 12 Was in der Politik überlebensgroß in Erscheinung tritt, das
lässt sich im bürgerlichen Leben an allen Ecken und Enden beobachten. Der
optimal Angepasste ist der, der von keiner Anpassung weiß. Wer sich ängstlich um
Anpassung bemüht, hat zumeist das System nicht begriffen und ahmt nur einzelne
Züge desselben, meist an Personen, die er bewundert, nach. Wer sich forsch als
Nonkonformist in Szene setzt, handelt in den allermeisten Fällen aus dem
konformistischsten aller Gründe: er will bewundert werden. Ob es ihm gelingt,
hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem davon, ob dasjenige, was ihn
von den anderen abheben soll, also zum Beispiel eine grelle Frisur oder ein
Benehmen jenseits der bürgerlichen Anstandsgrenzen, einem Erfolgscode folgt und
damit dem Anspruch auf Erkennbarkeit genügt, oder ob es unmittelbar der
Lächerlichkeit anheimfällt, die ihm, aus einiger Distanz betrachtet, in jedem
Fall eignet. In dieser Hinsicht bleibt selbst der bei seinesgleichen
erfolgreiche Schein-Nonkonformist ein armer Tropf. Das hindert, wie man sah,
auch in Gefahr geratene Volksparteien nicht daran, seine Dienste in Anspruch zu
nehmen oder bei Gelegenheit sogar um seine Gnade zu winseln. 13 Das Problem des Schein-Nonkonformismus ist eng mit dem der Werbung
verschwistert. Wer etwas kauft, nicht, weil er es benötigt, sondern um sich von
anderen zu unterscheiden, i.e. weil er es nötig hat, der kauft sich damit
Nonkonformität, das heißt, er verlegt den Nonkonformismus in den Kauf selbst.
Der Kaufakt als Urgeste der Waren- und Konsumgesellschaft taugt an sich weder
als Ausweis von Konformismus noch von Nonkonformismus. Als sinnlose Geste, als
reiner Kaufakt kann er Konformismus zum Ausdruck bringen, muss es aber nicht.
Denn auch das Gegenteil ist denkbar: Kaufen als kritische Geste gibt der
Sinnlosigkeit einen guten Sinn, jedenfalls nach dem Willen der Akteure. Dieser
Sinn übersteigt einerseits den Kauf-Sinn, andererseits bleibt er ihm verhaftet.
Wer kauft, der kauft, er mag sich dabei denken, was er will. 14 Wer das eine tut und das andere dabei denkt, dem attestiert die Gesellschaft
gern ein gespaltenes Bewusstsein. Zu Recht: Wenn du Konsumgegner bist, dann
enthalte dich gefälligst des Konsums. Wie allgemein bekannt, ist das sogar in
Gesellschaften nicht so einfach, in denen es wenig zu konsumieren gibt. Wenn der
Erwerb schwierig wird, sei es auf Grund eines herrschenden Mangels oder
künstlicher, vom Gesetzgeber geschaffener Hindernisse, sei es vermöge eines
Tabusystems, das für Enthaltsamkeit sorgen soll, steigt in der Regel seine
Bedeutung, weil die Begehrlichkeit mit dem Aufwand wächst und mit dem Objekt des
Begehrens auch die Mittel und Wege, an es zu gelangen, ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken. Unvermeidlich gerät daher, wer den Akt des Kaufens mit
zusätzlicher Bedeutung auflädt, in die Falle des Fetischismus. 15 Kritikfetischist und Konsumfetischist sind aus ein und demselben Holz. Um das
zu beobachten genügt es, die erweiterte Szene in Betracht zu ziehen. Beide haben
Vorsorge getroffen, damit ihr Handeln nicht unbemerkt bleibt. Dafür sorgt im
einen Fall die Anwesenheit eines Kamerateams, im anderen die begleitende
Propaganda-Arbeit. Worin die Vorsorge im Einzelnen besteht, ist nicht so
wichtig. Bedeutsam ist nur, dass es sich in allen Fällen um das Aufstellen von
Spiegeln handelt, i.e. von Elementen der Selbstbetrachtung. Wenn zum Beispiel
eine Gemeinschaft von Schönheitsjüngern politische Schönheit dadurch
definiert, dass sie gesellschaftliche Gesten imitiert, um durch eine
übertriebene Art der Zurschaustellung das System ad absurdum zu führen,
dann achtet sie sorgfältig darauf, nicht selbst durch die sogenannte Botschaft
aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verdrängt zu werden. Ein Analytiker sollte
folglich die Aufmerksamkeitsmaschine im Blick haben, um die begleitende Absicht
oder den Zweck der Botschaft zu verstehen. Häufig fällt dabei der Exposition des
eigenen Körpers eine hervorstechende Rolle zu. Gut beobachten lässt sich das
bei den sogenannten ›Femen‹, den Protestiererinnen der entblößten Brust. Wer auf
dem hier gefragten Feld nichts zu bieten hat, bevorzugt eher andere Formen des
Protests. 16 Der Fetischismus verhält sich zum Konformismus wie der Witz zu der in ihm
verborgenen Sachaussage. Er negiert ihn durch Nullität und bestätigt dadurch
seine Unausweichlichkeit. Böte er einen gangbaren Weg, ihm zu entgehen, so
verwandelte er sich auf der Stelle in ein sinn- und ernsthaftes Weltverhältnis.
Fetischisten sind Konformisten. Sie haben vor der Dynamik, die jedem
System eignet, die Waffen gestreckt und zelebrieren es als glorifizierte
Wiederkehr des Gleichen. In ihren Augen hat nicht das System sich ihrer
bemächtigt, vielmehr sie sich seiner, da ja die Form der Aneignung ganz die ihre
ist. In gewisser Weise kreiert jede Systemtheorie einen Fetisch, weil sie den
Tausenden oder Millionen Krabbelbewegungen wirklicher Lebewesen, die das System
realiter ausmachen und weitertragen, ein Schema substituiert, dem sie die
magische Fähigkeit der Selbstbewegung zuschreibt, obwohl es nur in der Theorie
existiert. 17 An dieser Stelle sei eine Unterscheidung versucht: Bloßer (reiner)
Konformismus versus Systemkonformismus (Konformität). Bloßer
Konformismus als die zwanghafte Weise, nicht anecken zu wollen, verhält sich zur
Konformität wie das Tabu zum Katechismus. In beiden Fällen ist das eigentliche
Ziel die Vermeidung des Regelbruchs. Im ersten Fall wird es durch
Unsichtbarmachung des zu Meidenden, im zweiten Fall durch explizite und
moralisierende Zurschaustellung angestrebt. Der wahrhaft konforme Mensch kann
ohne Selbstwiderspruch den obersten Ankläger oder den Revolutionär geben und es
sogar sein. Hauptsache er schleudert die Bannflüche, vor denen der bloße
Konformist sich in eine Art Trance-Leben flüchtet, weil sie ihn schaudern
lassen. Diese Differenz wird im Allgemeinen leicht übersehen. Das liegt daran,
dass Systemkonformität, anders als bloßer Konformismus, keine allgemeine Agenda
besitzt. Der Grund dafür ist eindeutig. Sie will nicht im System überleben,
sondern das System gestalten. Dazu muss sie es benennen, als wäre es ein
anderes. Anders ausgedrückt: Sie muss Mittel und Wege finden, eine Differenz zu
erschaffen, die nur durch dieses konforme Subjekt und seine Mitstreiter beiseite
geschafft werden kann. Um ein Beispiel zu geben: Lenins Oktoberrevolution ist
nicht die Russische Revolution, sondern darin allenfalls eine Episode. In ihr
vollzieht sich die Aneignung der Revolution durch das Subjekt Lenin, das sich
darauf spezialisiert hat, die Differenz offenzuhalten, bis es selbst an die
Spitze des Zuges tritt. Lenins Konformität ist die des Berufsrevolutionärs, der
darauf angewiesen ist, dass es, auf welche Weise auch immer, zur Revolution
kommt. Hat das System diesen Punkt erreicht, dann ist es seins – mit anderen
Worten: dann kennt er sich aus. 18 Es gibt einen (bloßen) Konformismus der Tat und einen des Leidens. Bei
ersterem fällt es hin und wieder schwer, die Grenze zu dem zu bestimmen, was
hier Konformität genannt wird. Wer in einer bestimmten Situation konform handelt
oder aus bloßem Konformismus, bleibt unter den Zeitgenossen häufig strittig und
bietet, privat und öffentlich, Stoff für unendliche Interpretationen. Die
klassische Figur des (bloßen) Konformisten der Tat ist die des Denunzianten, der
aus abstrakter Angst vor Tabuverletzung damit beginnt, selbst engste Mitmenschen
der Überschreitung roter Linien zu bezichtigen und damit das vom Tabu
erschaffene Loch in seiner Wahrnehmung mit mehr oder weniger erfundenen Feinden
zu füllen. Als wirkliche oder eingebildete ›Fehl‹Handlungen des anderen kann er
all jene Handlungsoptionen benennen, die ihm selbst nicht zur Verfügung stehen,
weil er sie sich täglich verbieten muss. Ist das Tabu ein Denktabu, dann dringt
er mehr oder weniger tief in die Gedankenwelt des anderen ein, ohne den fälligen
Tribut an Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und Motivverstehen zu entrichten.
Im Ernstfall genügen zwei, drei hingeworfene Sätze des anderen, und er weiß
Bescheid. Worüber? Über alles. Woher? Aus dem eigenen Inneren, woher sonst! Was
ist dieses Innere? Nichts anderes als der vom Tabu ummantelte Ideenraum, den er
mit seinen Mitmenschen teilt. 19 Wenn ein Politiker, der seine Stunde – sein ›Zeitfenster‹ – gekommen sieht,
den auszuschaltenden Gegner markiert, dann verhält er sich äußerlich betrachtet
ganz analog, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Optionen des anderen
mehr oder weniger sorgfältig für sich selbst erwogen und verworfen hat. Folglich
ist der Gegner für ihn kein Verworfener, sondern ein alter ego – ein
zweites Ich, dessen praktische Bekämpfung sich logischerweise aus der einmal
gefällten Entscheidung ergibt. Natürlich ist es praktisch, ihn den Konformisten,
den eigenen Parteigängern oder der Meute zum Fraß vorzuwerfen, indem man ihn für
verworfen erklärt, aber das ist reine Propaganda und keiner ernsthaften
Betrachtung wert. +++ Der Konformismus des Leidens bedarf einer eigenen Untersuchung. Blowasser im Halbdunkel. Leise plätschert das Blumenwasser. Aus Dunkel zum Licht. Blowassers massige Eleganz, frisch aus Brüssel zurückgekehrt: ein Franko-Germane.
Tronka, der Vertilger des Ursprungs. Die Sache geht ihn an. Die Lauscher des Herrn
Blowasser … sie gleichen Kapillargeflechten, die sich in alle Himmelsrichtungen
öffnen … ihm genügt das Geräusch eines fallenden Tropfens und er weiß Bescheid,
jedenfalls in den Grenzen dessen, was er Bescheidwissen nennt. Es ist ein ewiges
Raunen und Glucksen, Hall und Widerhall in seinem Bewusstsein. Nicht dass er
jemals eine Zeile von Killus gelesen hätte. Er kennt den Namen, er weiß, in
welchen Kreisen er zirkuliert, ihm sind die Zungenschläge vertraut, die dabei
zum Einsatz kommen, und er beherrscht das Spiel der Andeutungen aus dem Effeff.
Eines weiß er genau: Killus ist
fällig. Nun, da auch Tronka es weiß, schwingt das Pendel zurück in die
Gleichgültigkeit, aus der die Eingangsbemerkung hervorschlüpfte, ein
Eidechsenwesen, unversehens in den Kegel einer Aufmerksamkeit geraten, die noch
keineswegs erloschen ist. Im Gegenteil: Tronka, der generell von den
Geisteswissenschaften nichts hält, nimmt plötzlich brennend an ihrem Schicksal
Anteil. Es ist nicht recht, dass der Mensch allein sei. Der Satz gilt
auch für den Philosophen, der im Geisteswissenschaftler sein putziges Zerrbild
zu sehen pflegt. Es wäre schade, sie mehr oder weniger verdeckt zum bloßen
Propagandainstrument verkommen zu sehen. Weiter gedacht: wie nähme sich der
Alltag einer Gesellschaft aus, deren Korrekturinstanzen nach und nach versagen?
Nun, da gibt es Beispiele…! Und mit einem inneren Lachen, von dem Blowasser
nichts ahnt, verabschiedet Tronka sich vom Gehörten. Der Große Denunziator hat beschlossen, der nuova tendenza in der Historikerzunft ein Ende zu setzen, und die Treibjagd beginnt. Sie beginnt (»Nach bewährtem Muster!« nicken ein paar Veteranen des Gewerbes) mit einem Artikel im Wochenblatt für das gehobene Bürgertum, manche sagen, für die gehobene Braue, doch dieser Unterschied bleibt rein theoretischer Natur, solange die Deutschlehrer des Landes aus besagtem, nun ja, Blatt den Stoff für den nächsten Besinnungsaufsatz destillieren und deshalb in Treue fest zum Abonnentenstamm zählen. Es sind aber nicht die Deutschlehrer, die dem Artikel seine Durchschlagskraft verleihen, sondern die professionellen Leser in den anderen Redaktionen, die Sensationswitterer, die Branchenstars des Nachrichtengewerbes und ihre ehrgeizigen Hintersassen, die zum Zuge kommen, sobald das Filetstück verzehrt ist. Natürlich haben sie die diskrete Aufstellung der Treiber bereits registriert und wissen Bescheid: geht es Schlag auf Schlag. Der Meister ist unpässlich. In
seinem mit Büchern vollgestopften Büro fixiert er den Bildschirm, auf dem
Zeichenhaftes erscheint. Die Linke, zur Faust geballt, liegt auf dem
Schreibtisch, lose, wie achtlos hingeworfen, während die Rechte mit bestürzender
Gelenkigkeit Buchstabenreihen hämmert, angesichts derer die Welt aufhorchen
wird, denn einmal mehr künden sie vom Lärm dieser Welt, als werde er hier, an
diesem Gerät, von diesem hageren Körper zu dieser Stunde (denn es gehört zu den
Geheimnissen des Meisters, stets ganz präsent zu sein) erstmals vernommen und
kartographiert. Diesmal allerdings geht es um mehr als Geisterkarten im
ideologischen Gestrüpp der Neuzeit: das weiß die Faust mit ihrem direkten Draht
zur schnupfengeschwächten Entschlusskraft des Magiers. Wer ihm gegenwärtig über
die Schulter blickte, könnte erstaunt ausrufen: Wie Leckebusch Gutachten erstellt, wann immer er in die Tasten greift, so
erstellt der Große Denunziator mit jedem Titel, der sein Fließband verlässt,
Kartenmaterial für Orientierungssüchtige –: jedes neu, jedes ein bisschen
anders, doch insgesamt ähneln sie einander sehr, so dass, wer die Instruktionen
einmal begriffen hat, mit Leichtigkeit sich auch auf den Folgekarten
zurechtfindet: Geheimnis des ungeheuren Erfolgs, der an diesen Fingern klebt,
seit sie sich zum ersten Mal herabgesenkt haben, um Gedanken auf einem Stück
Papier zu fixieren, das heißt echte, patentierte Gedanken in jenen Zustand der
Betäubung zu versetzen, in dem sie spielend, selbst durch unkundige Hände, von
einem Untergrund auf den nächsten übertragen werden können. Wie andere vor und nach ihm
übt der Meister seinen Zauber diskret –: mit jenem winzigen Zusatz an
Ironie, die seinen Schriften völlig zu fehlen scheint, erst recht seinen
öffentlichen Auftritten, bei denen er ein leicht gequältes Pathos bevorzugt. Wer
ihn kennt, wer ihn wirklich kennt, weiß, er ist anders. Die Kunde von seinem
Anderssein erfüllt die Welt, soweit sie mit ihm sympathisiert. Auf
Sympathisantentum, auf kollektive Sym- und Antipathie ist seine Herrschaft
gegründet. Jedes Buch, das von ihm auf den Markt kommt, beliefert Freund wie
Feind: den einen mit wohlfeilen Argumenten, den anderen mit ebenso wohlfeilen
Widerlegungen, die sich aus der Sache selbst ergeben, soll heißen,
offensichtlich im Gedankengang bereits angelegt sind. Nicht das Argument zählt,
sondern der Affekt, der sich seiner bemächtigt. Wer, wie zum Beispiel Argloser,
das nicht versteht, wer die Skala der Erregungen nicht parat zu haben scheint,
der kommt so wenig in Betracht, dass er das Grau der Kanonen, pardon, für ein
Zeichen mangelnder Überzeugungskraft hält und sich vergebens fragt, warum die
Kollegen gerade um diese Bücher soviel Aufhebens machen. Leckebusch allerdings,
der Mann aus dem Osten, kennt seine Pappenheimer und geht den Schützlingen des
Meisters, wann immer es sich einrichten lässt, aus dem Weg. Liebe deine Feinde…! Der Große
Denunziator kennt den Spruch aus alten Messdiener-Zeiten. Er hat großen Eindruck
auf ihn gemacht. Er seinerseits hat ein erfülltes Forscherleben darauf
verwendet, verschiedene Lesarten an sich und anderen zu erproben. Eine Variante,
die er eine Zeitlang bevorzugte, lautet: LIEBE DEINE FEINDE! Er hat sie lange vertreten, aber schließlich doch verworfen, weil die
Einschränkung des Liebesgebots auf eine handverlesene Feindesschar allzu offen
dessen universalen Geltungsanspruch aushebelt. Verworfen wurde auch die
Variante LIEBE DEINE FEINDE! die exklusiv Liebe und Feindschaft miteinander verbindet, als liege in
letzterer ein kostbarer Schatz, den ausschließlich Liebe zu heben imstande sei.
Das mag für ein Nonnenleben taugen, aber nicht für die emanzipierte
Gesellschaft. Erst die kommunikationstheoretische Auflösung war seiner
Auffassung nach geeignet, Ruhe in das schwere Geschäft der Deutung zu bringen
und die ersehnte Diskurshoheit in greifbare Nähe zu rücken: Lass deine Feinde
reden! Nur nicht immer und überall. Bestimme du den Ort der
Auseinandersetzung – einmal räumlich, das versteht sich von selbst, dann medial,
durch sorgsame Scheidung legitimer von illegitimen Austragungsorganen, also
solchen, die ein anständiger Mensch nicht zur Kenntnis zu nehmen braucht,
schließlich ›diskurslogisch‹ – er liebt derlei Wörter, sie sind das Gleitmittel,
das seine Rede zum Fließen bringt wie das für gewöhnlich eingetrocknete
Erlöserblut in der Basilika zu Brügge –, indem du die Sinngebung der
Auseinandersetzung an dich ziehst: Feindschaft darf gewährt werden, sofern sie
dem Ausgang des Gemeinwesens aus der selbstverschuldeten Barbarei dient, der
Verdunkelung des Humanen, die sich nie und nimmer auf die Jahre der
Mordbrennerei beschränken lässt, sondern als ›umgreifender‹ Horizont das Tun und
Lassen der Bürger rahmt. Definiere den Punkt deiner maximalen Verletzlichkeit und dein Feind, dein
wirklicher Feind wird ihn über kurz oder lang ins Visier nehmen. Wer daraus
schließt, es komme darauf an, keine Feinde zu haben, hat die Lektion nur zur
Hälfte begriffen. Die Stelle, auf der das Lindenblatt lag, ist gut für alle
Feindschaft der Welt, keine ›Gegnerschaften‹, bei denen die Klingen gekreuzt und
gewonnene wie verlorene Runden pünktlich, samt Punktzahl, angezeigt werden –
wirkliche Feindschaft bleibt subkutan, sie nähert sich in der Maske der
Freundschaft, des Ausgleichs, selbst der Versöhnung. In der Mehrzahl der Fälle
allerdings bevorzugt sie die Farbe der Gleichgültigkeit, das atlantische Grau,
das Wolfsgrau der U-Boote, hinter dem der nasse Tod auf seine Gelegenheit
wartet, das Stumpfgrau der leichten und schweren Kreuzer, pünktlich am Horizont
erscheinend, sobald die Würfel gefallen sind und die Stunde der finalen
Entscheidung naht, selbst wenn die Zeit der Zerstörung den Akteuren lang werden
sollte. Genau genommen liegen vier Kampfungetüme einander gegenüber, jedes in punkto
Feuerkraft Dritten gegenüber in der Position ungezügelter, sprich: das absolute
Grauen streifender Überlegenheit. Zusammen bilden sie das magische Quadrat
wechselseitiger Vernichtung. Kein anderer Zweck hat sie zusammengeführt, der
eine bannt sie in ihre Positionen und diktiert jede ihrer Bewegungen. In diesem
Geviert macht sich eine Asymmetrie bemerkbar: die 2x2 Einheiten treffen im
rechten Winkel aufeinander, was zur Folge hat, dass auf die erste Breitseite des
Großen Denunziators hin allein die vorderen Geschütztürme des Gegners zum
Einsatz kommen, zu ungenau, zu tentativ, um Schaden anzurichten, wohingegen sich
die verteilte Mannschaft des Großen Steuermanns präzise Salve für Salve an die
andere Seite heranarbeitet, um nach kurzem Einschießen Treffer auf Treffer zu
setzen – eine einseitige Demonstration, wie der Maat zum Kellner bemerkt,
der Schweigen bewahrt, das rituelle Schweigen der Mituntergehenden, die nicht
gemeint sind, aber bis ans Ende gebraucht werden – steht in großen Lettern quer aufs Pflaster gesprüht, über das der so Apostrophierte seit Jahr und Tag dem Treppchen zum
Kollegienhaus entgegenschreitet, um in seinen Vorlesungen den neuesten Stand der
Faschismusforschung an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben … von Jahr
zu Jahr stärker verstrickt und verwoben in ein Nachdenklichkeitsmuster, das sich
anfänglich kaum, mit der Zeit immer deutlicher vom Schreiben und Reden der
Zeitgenossen entfernt. Hölzchen, der nach einer Vortragsreise vor einem
gemischten Kollegenkreis darüber Bericht erstattet, befindet, die studentische
Pflastermalerei habe in diesem Fall die Grenze des Tunlichen überschritten,
aber: Dixit Hölzchen. Der Wendige. Wie weit muss einer sich vorwagen, um als Freiwild zu enden? Wie funktioniert sie dann? Wenn er kein Philosoph und kein Historiker ist, was ist er
dann? Aber es ist ihr Produkt. Hölzchen bleibt bei seinen Leisten. So wird das nichts mit Tacheles. Dass sich ihre Wege noch nicht gekreuzt haben, liegt
daran, dass bislang einer den anderen zu buchen versäumt hat. Warum? Aus Scheu,
aus falschem Respekt, aus Klugheit: Leckebusch ahnt, dass aus ihrer Begegnung
Abneigung aufzüngeln würde. Das muss nicht sein. Der Archipel ist zwar klein,
aber geräumig. Man kann sich aus dem Weg gehen, solange der Wille dazu vorhanden
ist. Das fällt umso leichter, je weniger er seine Person im Visier des Meisters
vermutet: Wer bin in ich, dass sein Blick auf mir liegen sollte? So
empfinden viele im akademischen Zirkus, die meisten zu Recht, während sie den
ausgewachsenen Gedanken wütend abweisen würden. Leckebusch ahnt nicht, dass der
Meister ihn längst vorgemerkt hat: als vorerst unauffällig, aber nicht harmlos.
Der Hauspatriarch des Philosophen Leckebusch heißt, wie jeder im
Fach halbwegs Bewanderte weiß, Steinschwafel. Er war’s, der Leckebusch an seine
Fakultät geholt und damit alle weiteren Optionen ›verbrannt‹ hat, die damals auf
dem Tisch des Hauses lagen. Zwischen dem an Jahren älteren Steinschwafel (›ein
Glücksfall für das konservative Establishment‹) und dem Großen Denunziator
(›Vordenker der Bürgergesellschaft‹) herrscht ewige Fehde. Sie haben sie, in
Sammelbände abgefüllt, der Welt zur Begutachtung vorgelegt und die akademische
Welt studiert ihre Kontroverse mit derselben Inbrunst wie, sagen wir, die
zwischen Cartesianern und Newtonianern im aufsteigenden achtzehnten Jahrhundert.
Infolgedessen ist ihre Gefolgschaft während all der Jahre sprunghaft gewachsen,
um schließlich ein Ausmaß anzunehmen, das den beiden den Status von Condottieri
verleiht, deren Flotten ständig im Ozean der Ungewissheiten kreuzen und bei
Sichtkontakt die Geschütze zu justieren beginnen. Leckebusch ist nicht der
einzige aus Steinschwafels Lager, dem das üppig wachsende Œuvre des
Großen Denunziators imponiert. Zwar behaupten Spötter, es bestünde zu achtzig
Prozent aus den Gedanken anderer –: keine schlechte Quote angesichts der
sonst üblichen Wiederkäuereien, andererseits schwer vereinbar mit dem Ruf des
Vordenkers, der ihm nun einmal vorauseilt. Und in der Tat besteht es weitgehend
– ob zu achtzig Prozent, sei dahingestellt – aus der Wiedergabe von Wiedergaben
von Gedanken, die andere dankenswerterweise vor dem Meister, gleichsam in
vorauseilendem Gehorsam, angefertigt haben, um sie ihm, willentlich oder nicht,
zu Füßen zu legen. Man könnte ihn daher – und böse Zungen finden nichts dabei,
jedenfalls im Verborgenen, es zu tun – einen Tertiärdenker nennen. Das wäre so
schlüssig wie falsch, denn es verkehrt seine wesentliche Leistung ins glatte
Gegenteil. Die primäre Intuition des Großen Denunziators verwandelt die
Welt der wissenschaftlichen Arbeit in einen Zulieferbetrieb und den eigenen
Verarbeitungspart in permanente Kritik. Jedenfalls lautet so die über allem
schwebende Intention, auch wenn das Resultat ihr nicht immer gerecht wird. Der
Große Denunziator hat das Perpetuum mobile der Kritik zwar nicht erfunden, aber
für seine Zwecke perfektioniert. Seine Gedanken, kaum angedacht, sind kritische
Gedanken, seine Referate sind kritische Referate, die Ausfälle, zu denen er
neigt, sind kritische Ausfälle… Soll heißen, die Suada des Meisters nimmt die
Kritik, die ihm begegnen könnte, kritisch vorweg und unterzieht sie einer
kritischen Revision. Leckebusch, seinerseits darauf trainiert, das ›Genuine‹ im
fremden Text zu erkennen und, wider alle fatalen Tendenzen, seine
Trotz-allem-›Legitimität‹ herauszuarbeiten, steht dem Verfahren ›nicht
unkritisch‹ gegenüber. Hin und wieder stößt es ihm sauer auf. Dennoch: er wäre
der Letzte, der Deutungsmaschine des anderen mangelnde Effizienz zu
bescheinigen. Das wäre alles? Oh nein.
Leckebusch bewundert, zum dritten, den gesellschaftlichen Ruf, den der Große
Denunziator sich im Lauf der Jahrzehnte erworben hat. Ein verlässlicher, so
frag- wie klaglos von der zwischen Wissenschaft und Politik pendelnden Meute
akzeptierter Wegweiser in die Gesellschaft der Zukunft wäre auch er gern
geworden. Es hat sich nicht ergeben. Die Zahl der Häupter lässt sich nicht
beliebig vermehren, es sei denn, jemand wollte eine Hydra züchten. Das wissen
die Journalisten (und wenn sie es nicht wissen sollten, ist stets jemand zu
Stelle, der es ihnen verklickert). Leckebusch und ein paar Dutzend Aspiranten
mehr müssen der Wahrheit ins Auge schauen: der Große Denunziator hat allen, die
nach ihm kamen, eine Nase gedreht, so dass, angesichts seines
unerschütterlichen Beharrungsvermögens, ihnen bloß das lebenslange Nachsehen
bleibt. Frage: Darf man das? Da der ersehnte Posten nun
einmal besetzt ist, muss Leckebusch sich mit der Rolle des gefühlten Zweiten
begnügen. Sie leidet traditionell unter Mehrfachbesetzung und lädt zu
phantastischen Rivalitäten ein. Einer dieser ewigen Zweiten ist Killus, die
wandelnde Ikone der vergleichenden Faschismusforschung. Leckebusch betrachtet
seinen Aufstieg mit einer Mischung aus Herablassung und Argwohn. In ihm wittert
er den verwandten Ehrgeiz, verwandte Energie, überdies eine ähnliche Weise, dem
Leben aus dem Weg zu gehen und sich auf die Vorlage von Zwischenberichten aus
dem Forscherdasein zu konzentrieren. Die des anderen sind ebenso adrett, ebenso
nüchtern respektvoll, ebenso eloquent und ebenso schneidend geschrieben wie die
eigenen. Auch sie dienen dem Zweck öffentlicher Belehrung und lassen damit die
Grenzen des bloßen Fachgesprächs hinter sich. Jedes neu erscheinende Buch, jeder
öffentliche Auftritt, das weiß Leckebusch, könnte den anderen auf der Skala der
allgemeinen Beachtung in unerreichbare Höhen katapultieren. Das wäre nicht gut. Umso erstaunter und ein wenig
verwirrt lässt Leckebusch ein Artikel zurück, den sein Assistent ihm
ausgeschnitten auf den Schreibtisch gelegt hat, direkt neben die von der
Sekretärin vorbereitete Post, mit einem schlanken Ausrufezeichen am Rande
versehen: Dynamit! Kein Zweifel: durch die journalistische Fratze
schimmert etwas hindurch, was ihn an sein früheres Leben erinnert. Falls nur ein
Bruchteil dessen stimmt, was da steht, dann, ja dann scheint Killus mit seiner
jüngsten Publikation eine jener roten Linien überschritten zu haben, jenseits
derer der Große Denunziator, sagen wir, in Tätigkeit zu treten pflegt. Zwar ist
von Killus in dem Artikel nur am Rande die Rede. Aber bereits das kann als
Drohzeichen gelesen werden. Zurück ins Glied! Aber in welches Glied?
Das der Historikerzunft? Seit wann ist dafür der Große Denunziator zuständig?
Zurück ins Glied der Partei? Welcher Partei? Über diese Partei, die da
unversehens ins Spiel kommt, hätte er gern mehr gewusst, er kennt sie nicht,
kennt sie nur zu gut, allerdings hätte er gedacht, ihrem alleinseligmachenden
Walten entronnen zu sein, seit sich die Pforten des libertären Westens für ihn
geöffnet hatten. Kann sich einer so täuschen? Nein, er ist nicht naiv. Auch Leckebusch weiß, innerhalb welcher Grenzen er
sich schreibend bewegt. Es ist nur so… Es ist einfach so, dass er bisher
geglaubt hat, er selbst, zusammen mit seinesgleichen, gehöre der Klasse von
Personen an, welche diese Grenzen bestimmt, autonom, wenngleich nicht ohne
Tuchfühlung mit der Gesellschaft und ihren Lenkungsbedürfnissen, also
verantwortungsvoll und verantwortungsbewusst – bewusst, ja gewiss, wie sonst
ließe das Geschäft der Kritik sich betreiben? Er, Leckebusch, zählt sich zwar
nicht, wie der andere, zu den kritischen Kritikern. Aber auch sein Urteil ist
nicht einfach ›kritisch geschärft‹, wie die von ihm vertretene Disziplin es
selbstverständlich verlangt. Auch sein Urteil dient, nicht anders als das des
Großen Denunziators, der kritischen Schärfung aller Begriffe und damit
dem gesellschaftlichen Guten, dem allgemeinen Zweck, von Kant auch Endzweck
genannt (… den Zusatz ›der Geschichte‹ schenken wir uns, denn er versteht sich
einerseits von selbst, andererseits nicht mehr als selbstverständlicher
Orientierungsrahmen aller Gedanken, ›so sich mit dem vernünftigen – oder doch
wenigstens ›vernunftkonformen‹ – Gang der Menschheit befassen‹). ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Wenn also der Große Denunziator warnend seine Stimme erhebt, dann wäre, bei
Einhaltung aller Regeln, ›allemal‹ – wie der zünftige Ausdruck lautet – davon
auszugehen, dass er als einer von ihnen, gleichsam als ihr Sprachrohr, das
gesellschaftliche Wächteramt versieht, weil die Logik des Gemeinwesens es nun
einmal von ihnen verlangt. Es im Fall der Fälle nicht zu tun wäre schließlich,
das Wort dreimal gewendet und wieder zurückgeholt, passiver, vielleicht sogar,
im Fall klammheimlicher Zustimmung… Da steht das Wort, umringt von allerlei anderen Wörtern,
unfreundlichen und garstigen, mitten im Zeitungstext, und ist nicht mehr
wegzuwischen. REVISIONISMUS Killus ein Revisionist? Aber das ist Irrsinn, liebe Leute, merkt ihr
nicht, was hier gespielt wird? Öffentlich als Mitglied einer Revisionistenbande
entlarvt zu werden, ist ungefähr so prickelnd wie der Genuss von Maschinenöl.
Doch hier genügt es nicht, sich den Magen leer pumpen zu lassen. Die klebrigen
Überreste des Angriffs lassen sich nicht mehr entfernen. Sie sitzen fest und
früher oder später kommt es zu Metastasen der Physis bis hin zum Exitus. Schon immer hat Leckebusch, ost-gewitzt, diese Art des Angriffs
unsäglich gefunden. Drüben, im Osten bedeutet die Formel, dass einer es wagt, die
Errungenschaften der Großen Revolution, in Ost und West, die
Ergebnisse des Großen Krieges in Frage zu stellen, soll heißen, wider
allen Comment an die Offenheit der sogenannten Deutschen Frage, vulgo: Teilung
des Landes zu erinnern, womöglich in den Motiven der von den Siegermächten
verhängten Westverschiebung des östlichen Nachbarn herumzustochern oder –
horribile dictu – ›ansatzweise‹ das Leid der Bombennächte und der Vertriebenen
zu thematisieren, obwohl es sich aus streng kodifizierten Gründen der nationalen
Scham nicht gehört. Da keiner dergleichen wagt – jedenfalls nicht in seinen
Kreisen, nicht in seiner Altersgruppe oder darunter –, handelt es sich – Leckebusch spürt den beginnenden Schweiß auf der Stirn – um
einen … um einen … Passepartout-Vorwurf, erhoben, um gesellschaftliche Schädlinge
auszusondern und auf den Mist zu befördern. Dem Großen Denunziator ist es, zum Entzücken progressiver Kreise, gelungen,
mit einem Griff in die Mottenkiste des Instituts beide Kurven zu einer zu
bündeln: Worin besteht eigentlich dieser ›Prozess der
Zivilisation‹? Gute Frage. Die Auskunft des Großen Denunziators lautet: in der langsamen, stetigen Niederringung des Feindes. Natürlich schreibt er das nirgendwo. Der Theoretiker des herrschaftsfreien Kónsens plaudert durch die Blume. Die Dickleibigkeit seiner Konvolute, angefüllt mit lauter patentierten Niederringungen ›fataler Positionen‹, spricht – na was wohl? – für sich (und lässt keine Wünsche offen):
Eine simple Frage hat der Große Denunziator übersehen: Wie zivilisiert darf eine Zivilisation sich nennen, die ganz und gar auf diese Formel gestellt ist? Leckebusch hegt da einen lebensgeschichtlich unterfütterten Zweifel. Es handelt sich um seine Heimstrecke, überdies – da lächelt der Philosoph, gern würde er unergründlich lächeln, doch diesen physiologischen Zug hat Maskenbildnerin Natur ihm versagt – um eine propagandistisch motivierte Begriffsvertauschung, die aufzulösen zu den simpleren, aber darum nicht minder wirkungsvollen Nebeneffekten seiner beruflichen Tätigkeit gehört. Ginge es, so Leckebusch im kleinen Kreis, bei der Aufklärungsarbeit des Großen Denunziators mit rechten Dingen zu, dann müsste er stante pede die willkürliche Vertauschung von ›Prozess‹ und ›Progress‹ beenden, dem vielfüßigen, unaufhaltsamen, leider immer wieder gewaltsam unterbrochenen und zum Leidwesen ganzer Kulturen zeitweilig richtungslosen Fortwimmeln der Zivilisation auf dem Menschheitsweg der Gesittung und, man müsse es leider wohl hinzufügen, obwohl es sich eigentlich von selbst verstehe, der Technik. Coram publico hätte er Abbitte zu leisten für die ungeheure Aberration vom Pfade begrifflicher Redlichkeit, ohne die in der Philosophie – wie in der Wissenschaft überhaupt – an kein Fortkommen zu denken sei. Es sei Rosstäuscherei, die haltlos zwischen ›Naturvorgang‹ und ›Gerichtsverfahren‹ changierende Vokabel ›Prozess‹ in einer Weise mit programmatischer Bedeutung aufzuladen, allenfalls geeignet, Generationen verantwortungsloser, blind auf das Siegerrecht der Geschichte vertrauender Ankläger heranzuziehen. Denn:
Regelmäßig bittet Leckebusch
seine Studenten, sich diese Formel zu merken – »Da haben Sie die Idee des
Fortschritts in nuce« –, nicht etwa, weil sie ihm an sich besonders
wichtig erschiene, sondern weil sie die einst geliebte Floskel vom ›Sozialismus
mit menschlichem Antlitz‹ ebenso abgestanden erscheinen lässt wie die vom
›Untergang des Abendlandes‹ in der, sagen wir, Konsumgesellschaft, den
nur ein Abendländer beklagen kann, in dessen Gemüt sich unstatthafterweise ein
geographischer Begriff und ein welthistorischer Traum miteinander verquickt
haben, während die Menschen auf der Straße davon unbeeindruckt ihren wirklichen
Geschäften nachgehen. Den Vergleich hebt er sich für das gesellige Zusammensein mit den Studenten auf. Anlässlich eines solchen Abends wurde auch die Formel geboren, mit der er Friedenwanger zum Stirnrunzeln zwingt:
Regelmäßig bittet Leckebusch
seine Studenten, sich diese Formel zu merken – »Da haben Sie die Idee des
Fortschritts in nuce« –, nicht etwa, weil sie ihm an sich besonders
wichtig erschiene, sondern weil sie die einst geliebte Floskel vom ›Sozialismus
mit menschlichem Antlitz‹ ebenso abgestanden erscheinen lässt wie die vom
›Untergang des Abendlandes‹ in der, sagen wir, Konsumgesellschaft, den
nur ein Abendländer beklagen kann, in dessen Gemüt sich unstatthafterweise ein
geographischer Begriff und ein welthistorischer Traum miteinander verquickt
haben, während die Menschen auf der Straße davon unbeeindruckt ihren wirklichen
Geschäften nachgehen. Den Vergleich hebt er sich für das gesellige Zusammensein mit den Studenten auf. Anlässlich eines solchen Abends wurde auch die Formel geboren, mit der er Friedenwanger zum Stirnrunzeln zwingt:
Das klingt, wie Materialisten der linken Hand gern anmerken, entsetzlich
materialistisch, ist aber erfahrungsgesättigte Wahrheit. Am menschlichen
Antlitz delektieren sich mit Vorliebe Apparate, die unten herum foltern und es
nicht ungern sehen, wenn das Antlitz sich ein wenig verzerrt, doch nicht zu
sehr, da die gesellschaftliche Aufgabe des freiheitsliebenden Pöbels nach dem
Willen seiner Oberen darin besteht, sich nichts anmerken zu lassen. Ungeduld zum
Beispiel: Wer für den Erwerb eines automobilen Einheitsmodells, vom Volksmund
liebevoll ›Trabi‹ genannt, zwölf oder fünfzehn Jahre Wartezeit veranschlagt, der
lebt bekanntlich im real existierenden Sozialismus und sollte nicht einmal im
Traum daran denken, ihn zu verlassen (es sei denn, er kalkulierte einen
mehrjährigen Gefängnisaufenthalt mit der Aussicht auf Freikauf durch den
Klassenfeind gleich mit ein). Der Große Denunziator geht in jenen Landen ein und
aus, jedenfalls in Gedanken und Worten, man könnte meinen, er betreibe
einen Gesichtsverleih, weil sein Gesicht auf so vielen Veranstaltungspostern
prangt, auf denen Systemüberschreitung so einfach vonstatten geht wie das
Umfüllen von Wasser aus einem Glas in ein anderes. Leckebusch, unwirsch, verhalten, zweifelnd, nervös, voll ungeklärter Ahnungen, greift nach dem Diktiergerät und spricht in dem verhaltenen, leicht quietschigen Ton, den er selbst für unwürdig hält, wenn er ihn unvermittelt anfällt, weil die Sekretärin den Hörer allzu nahe an seinem Ohr aus der Hand legt, um einen neuen Auftrag entgegen zu nehmen, aufs Band: Selbstverständlich ist Leckebusch sich darüber im klaren, dass diese rein logische Weise, an die bewusste Sache heranzugehen, zum Scheitern verurteilt ist. In seinem Herzen denkt er (und steht damit nicht allein, Killus zum Beispiel, wenn er nicht irrt, dürfte das ganz ähnlich sehen), dass ein toter Feind allenfalls noch als Bettvorleger taugt und dass Manövern, die dazu dienen, ihn künstlich am Leben zu halten, um einen auf Dauer gestellten Kampf gegen ihn zu führen, eine moralische Unsauberkeit anhaftet, ein feiner Staub, der sich, berührt, zu verschmieren beginnt, so dass derjenige, von dem die Berührung ausgeht, sich unwillkürlich zu schämen beginnt. So etwas spricht man nicht aus, die Wahrnehmung als solche ist schambehaftet, man trägt sie mit sich herum, bei manchen scheint sie sich zu verflüchtigen, manche brechen, scheinbar anlasslos, Jahre später in Schmähungen gegen die Personen aus, denen sie diese Erfahrung verdanken. Doch natürlich gibt es, neben
dem reinen Machtaspekt, einen zweiten, vielleicht entscheidenden – Leckebusch
lässt das Diktiergerät sinken, er weiß, hier kommt das Erfolgsmodell des Großen
Denunziators in Sicht –, den der öffentlichen Moral, die ebenfalls mit
Schambesetzungen arbeitet, vorgeblich, um zu verhindern, dass die besiegten
Kräfte ein weiteres Mal erstarken (oder sich zu sammeln Gelegenheit finden).
Ohne den Dauerappell an die Moral wäre der Große Denunziator bloß ein Anunziant.
Die Moral aber… – hier überschlägt sich der Prozessgedanke des Meisters –,
sie bedarf des zivilisatorischen Fortschritts nicht (oder nur in homöopatischer
Dosis), weil sie an den einfachen Anstand der Menschen appelliert, der sich
unabdingbar aus konservativen Beständen nährt. Anständig ist, wer weiß, was sich
gehört, und danach verfährt. Anstand, das ist das fleischgewordene Regelwerk der
Zivilisation, ihr eisener Bestand sozusagen, der anschlägt, wenn irgendwo ein
Unrecht geschieht und eine Spur davon ins eigene Wohn- oder auch nur
Hinterzimmer führt: Damit will ich nichts zu tun haben. Es sind die
einfachen Menschen, die dem wüsten Unrecht standgehalten haben, und sie tun es,
irgendwo auf der Welt, noch immer. Nun ja, einzelne. Und wenn das Unrecht in die eigene Hütte kriecht? Dann ist es Zeit zu kämpfen, und sei es nur um den guten eigenen Ruf. Und wenn der gute eigene Ruf durch ein Geschehen unwiderruflich in Mitleidenschaft gezogen wurde? Wenn draußen, wenngleich in abgeschwächter Form, die Formel gilt: mitgefangen, mitgehangen? Dann kann es, religiös gesprochen, selbst für Nachgeborene bloß darum gehen, stellvertretend Buße zu leisten. Wird allerdings der religiöse Ausweg versperrt, etwa dadurch, dass eine progressive Weltsicht die Religion als Miturheberin des Urverbrechens vor den Richterstuhl der Vernunft zieht, dann … sitzt die Vernunft in einer selbstgebastelten Falle, weil die ›herkömmlichen Moralbegriffe‹ aufgehoben und keine anderen in Sicht sind, es sei denn solche der Vor dem Wort fürchtet sich Leckebusch. Er weiß, sein Gebrauch stigmatisiert. Wer sich seiner bedient, darf auf den Beifall ›gewisser Kreise‹ rechnen und damit, dass sich automatisch die Türen der feinen Gesellschaft vor ihm schließen. Die feine Gesellschaft, in der, neben den materiellen, die Glücksgüter der geistigen Welt zur Ausschüttung gelangen – das persönliche Ansehen, das einer genießt, sein Ruf in der akademischen Welt, die Prominenz des ›führenden Intellektuellen‹ –, hegt keine festen Ansichten, aber sie entscheidet darüber, welche Ansichten ›gesetzt‹ sind, ›auf dem Tisch liegen‹ oder wie die Ausdrücke heißen mögen, die den Sachverhalt umreißen, aber nicht wirklich beschreiben. An diesem Tisch sitzt der Große Denunziator und verteilt die Karten. Schwierigkeit: Mögliche Auflösung: Die konsequente Auflösung der Schwierigkeit liegt in der Auflösung des Fu-Projekts. Allwissend ist er nicht, der Herr Tronka. Speziell Elisabeths Eheleben erscheint
ihm seit Jahr und Tag wie ein Buch mit sieben Siegeln – was ihn nicht weiter
kümmert, da Ehe, wie er sagt, für alle und niemand da ist und nichts zu bedeuten
hat, Betonung auf nichts, denn natürlich weiß er um die mythischen
Mächte, die den Menschen heimsuchen, sobald er sich in die Fänge der
Institutionen begibt, die bei Hegel und allen folgenden reaktionären Geistern,
den unermüdlich ›seinen‹ Hegel zitierenden Philosophen Starck eingeschlossen,
die natürlichen heißen. Eher unvermittelt sieht Tronka sich in diesen Tagen
zwischen Tür und Angel, der eine kommend, der andere gehend, in einen
Schlagabtausch mit ihm verwickelt: ―Was an der Ehe natürlich sein soll, das müssen Sie mir schon
erklären. Nein, Naturphilosoph Starck kann es nicht. Überdies will er es nicht. Ein
Buchstabe steht ihm im Weg, der allerchristlichste von allen, das hohe C.
Deshalb spricht er, wie jetzt, von naturgegebenen Ordnungen am liebsten dann,
wenn er sicher sein kann, dass keiner der progressiven West-Kollegen ihm zuhört.
In Tronka wittert er, allen Differenzen zum Trotz, den Dissidenten. Mag sein, mag nicht sein. Diese Freigekauften reden merkwürdiges
Zeug. In Tronkas Augen ist die Ehe ein juristischer Hokuspokus, eine Abmachung
ohne Substanz, das Ergebnis eines Schacherns um Zugriffs- und
Erbrechte, eine Art Trickbetrug, um an Geld zu gelangen, das man
nicht selbst verdient hat (»In beiderlei Gestalt!«). Die Kinder?
Welche Kinder? Um sie, davon ist er mehr denn je überzeugt, geht es
bei alledem am allerwenigsten.
Manchmal, wie jetzt, liebt er es krass. Tief im Herzen fühlt Tronka, seit die Affäre Pida ihn quält, in
der es um Treue, Treue, nichts als Treue geht, den Spagat
zwischen seinen – keineswegs zynisch gemeinten – Äußerungen und
dem, was ihm von seiner Beziehung bleibt, etwas, das er in seiner Not
als ›weiblich‹ deklariert, weil er es anders nicht zu fassen
vermag: Pida ist weiblich. Ja was denn sonst? Gute Frage.
Er könnte sie sich stellen oder auch nicht, er könnte sie mit der
Phrase beantworten, die in den stillen Gedanken vieler Männer just
zu seiner Zeit zu reifen beginnt: ›Alles Mögliche, aber im
weiblichen Deutungsraum.‹ Das wäre dann, alles in allem, auch die
Deutung Pidas, die für ihre Handlungsweise ebenso vehement ihre
Weiblichkeit reklamiert, wie sie jeden angedeuteten Versuch, sie
darauf zurückzuführen (zu ›reduzieren‹), als Angriff auf sich
und ihr Geschlecht zurückweist (eine Einstellung, der sie immer
wieder, vor allem in leidenschaftlichen Szenen, wortreich Ausdruck
verleiht). So empfindet Tronka, zurückgeworfen auf psychische
Ressourcen, die ›in der Philosophie nichts zu suchen haben‹,
gerade nicht: Pidas nicht weiter qualifizierbare Weiblichkeit
entgrenzt sich ihm mit derselben mathematischen Konsequenz wie das
auseinanderstrebende Universum, von dem einige Astrophysiker
halsstarrig behaupten, es ziehe sich in Wirklichkeit zusammen. Beide
Vorstellungen hält er für plausibel, jede für sich und beide
gemeinsam als Teil eines unbegriffenen Zusammenhangs, den es schon
aus dem Grunde geben muss, weil es ›da draußen‹ etwas gibt, mit
dem man jederzeit rechnen muss. Elisabeth, davon weiß er sich überzeugt, ist promisk wie ein
Mann, ohne Hintergedanken, dem Vorgang selbst zugetan, sie lacht,
nicht nur im Herzen, über ›gebundene‹, sklavisch dem Geschlecht
ergebene Weiblichkeit, so wie sie Leckebusch verlacht, den schütteren
Fafner, der über seinen eingebildeten Schätzen brütet und
unauffällig die Ausgänge bewacht, als hätte die Bewachte nicht
längst Wege nach draußen gefunden, von denen einer wie er sich
nicht einmal träumen lässt, so leicht und angenehm gleitet es sich
auf ihnen dahin. Leckebusch also wäre der Drache Ehe, der seine
Flügel über die Frau breitet, sie zur Weiblichkeit verdammt und ihr
den Zugang zu den Ressourcen der Lust abschneidet, unfähig zu
begreifen, dass er ein für allemal sich damit in der Beziehung die
Hörner aufsetzt, blind dafür, dass er und kein anderer das
Labyrinth ausrollt, in dem seine Wünsche und sein Anspruch auf
Happiness mit einer gnadenlos zu nennenden Konsequenz verloren
gehen. Leckebuschs Blindheit, davon schwärmt Tronka voll seherischer
Gewissheit, steht unverrückbar wie gewachsener Fels in der
Lebensbrandung. Tronka bleibt sich treu. Eine Skizze (Kraut & Rüben) Die korrekte Beantwortung der Frage: ›Ist Elisabeth promisk?‹
stellt keine rhetorische Aufgabe dar (Rhetor = Schwätzer).
Erste Annäherung an ein altes Thema: Promiskuität setzt eine gewisse
Wahllosigkeit voraus. … eine gewisse Wahllosigkeit = Abwesenheit von
Stabilität bezüglich der einmal getroffenen Wahl Gehört Stabilität zur Wahl? Oder beschränkt sich
der Vorgang der Wahl auf den Wahlakt ohne alle Rücksicht auf das,
was auf ihn folgt? Merke: Bei einer Person, die nach Lust und Laune vögelt, ist
dieser Aspekt ersichtlich nicht gegeben.
Promiscus (lat.) = gewöhnlich, gemischt, alltäglich. Ein Alltagsgeschöpf ist E ganz sicher nicht.
Iris’ Stimme, angeheitert, aus unbestimmer Distanz. Beide DIE AUFHEBUNG DER PROMISKUITÄTSSCHRANKE BEDEUTET DIE AUFHEBUNG
DER PARTNERILLUSION UNTER DEN BEDINGUNGEN REINER, I.E. UNVERMISCHTER
LUST Nein, Freunde sind Tronka und Elisabeth nicht. Wie auch? Aus ihrer
›Beziehung‹ ist Leckebusch nicht zu entfernen: als Gatte,
Ex-Vorgesetzter, Vorbild, Spottbild, Gegeninstanz, Ratgeber,
Beziehungsinhaber, Freund, Gutachtenschreiber, Sesam-öffne-dich der
Beziehungswelt ist er immerfort mit von der Partie, ein Feind für
alle Fälle, der Drache Fafner, der den Schatz bewacht, halb bewusst
und halb bewusstlos, und Tronka … nein, kein Siegfried verkehrt in
dieser Höhle, obwohl…
Von dieser Schöpfung (die er selbst ist) weiß Tronka nichts.
Also weiß er auch nichts von dem Recht, das Elisabeth auf ihn
besitzt. Keiner sagt es ihm, nicht einmal er selbst. Überhaupt sagt
er sich selbst wenig. Er ist froh, dass ihn das Gefühl beruflicher
Befriedigung über die Untiefen der Existenz hinwegträgt.
Man kann es nicht anders sagen, es ist eine Tatsache. Bröckchen für
Bröckchen setzt sich ihr Tronkas Befriedigung in das Gefühl um, abgeschnitten zu
sein: von sich, von ihren Freunden & Freuden, von allem, was Leben
lebenswert macht. Sie hat begonnen, das hereinkommende Geld mit beiden Händen
auszugeben, als wolle sie künstlich den Zustand der Beengtheit wieder
herstellen, in dem die Erwartung einer glanzvollen Zukunft den strahlenden
Mittelpunkt ihrer beider Existenz darstellte. Jedenfalls bildet sie sich das
ein. Es handelt sich um eine Phantasie post eventum, eine nie dagewesene
Vergangenheit, wie Tronka bei sich notiert, der sich hütet, ihr zu
widersprechen, nicht, weil er ihre Gegenrede fürchtet, sondern weil es das
Gebäude ihrer Beziehung augenblicklich zum Einsturz brächte … auch das eine
Phantasie, allerdings eine, die ihre Nahrung aus der Zukunft bezieht, einer sehr
luftigen Zukunft, die in ebendiesen Tagen eine unzerreißbare Substanz ausbildet,
gleichsam aus-sintert, so dass er jetzt, pragmatisch gesprochen, einer
zweifachen Zukunft entgegen lebt: einer ins Immergleiche verlängerten, von
Karriere-Lichtpunkten erhellten Gegenwart und einer radikalen Disruption, einem
Höllensturz ohnegleichen, an dessen Ausgang sonderbarer- und ersehnterweise
Befreiung winkt. Befreiung wovon? Von Pida?
Aber das ist widersinnig. Jeden Tag kann Tronka diese Befreiung haben, sofern
ihn danach gelüstet. Wozu die Zukunft einschalten? Nun … weil sie die Zukunft
ist, unifarben, groß-strahlend / groß-düster, dies aber, vielfädig, vielmustrig,
allseits verflochten, Gegenwart. Aus keinem anderen Grund. Kann man eine sich
bis an den Horizont und darüber hinaus krümmende Gegenwart verlassen, ohne dass
irgendwo ein anderer Grund, eine andere Lebensformation sichtbar würde?
Offensichtlich nicht. Andererseits wäre zu fragen, woher gerade Pida die Macht
zuwächst, als realissima diese Welt mit einem Heben der Braue zu
dirigieren? Sehr einfach: darin besteht ja gerade das Mysterium der Nähe, das
nicht dadurch außer Kraft gesetzt wird, dass sich die andere Seite der
seelischen Intimität verweigert. Denn offenkundig sind daran zwei Arten der Nähe
beteiligt. Die Verweigerung nimmt eine davon in Anspruch. Währenddessen hält sie
die andere, abgeschnittene, schmerzhaft, sozusagen als Wunde, offen. Es steht in
Pidas Macht (und nur in ihrer), den Schmerz zu stillen, und zwar von einer
Minute zur anderen, in jenem ›Sogleich‹, aus dem die Psyche einen Großteil ihrer
täglichen Energie bezieht. Wie ein wartender Patient, der sich in der Gewissheit
wiegt, ›gleich‹ dranzukommen, während Stunde um Stunde verrinnt, in denen der
Arzt, nur für Momente sichtbar, in unbegreiflicher Abschottung sich seinen
Obliegenheiten widmet, weiß sich auch Tronka, nicht anders als ein misshandelter
Esel, in einer durch alle Abweisung hindurchschimmernden Gegen-Gegenwart
gefangen. Schließlich könnte auch Pida sich jederzeit umwenden und gehen, es
wäre sozusagen das Natürliche, denn letzten Endes hat sie die Leinen gekappt,
doch daran ist, wie es scheint, nicht zu denken. Elisabeths Brocken heißt Leckebusch. Keine Freiheit, die
sie sich nimmt (und sie nimmt sich alle Freiheiten), kann schließlich
darüber hinwegtäuschen, dass er … einfach da ist und damit etwas
in ihr Leben hineinträgt, was ohne ihn nicht da wäre: fast
eine Plattitüde wie das meiste, was Menschen im Leben behelligt,
aber eben nur fast, um eine Haaresbreite daneben und damit, unter
dämonologischem Gesichtspunkt gesehen, eine Monstrosität, ein
Ausfluss des Bösen – soweit geht das nächtliche Bewusstsein
bisweilen –, etwas, das auf lange Sicht in Ordnung gebracht werden
muss, obwohl es selbst zweifellos die Ordnung repräsentiert, eine
über jeden Zweifel erhabene Normalität, in der sie ebenso ein- und
ausgeht wie die gemeinsame Tochter, die zwar instinktiv fühlt, dass
zwischen den Eltern etwas nicht stimmt, es aber – dieses knistrige
Unbestimmte – in ihrem persönlichen Universum auf den Status von
Flausen herabgestuft hat, in denen sie gern der Mutter Beistand
leisten würde, fände sie Elisabeth nicht, zumindest in bestimmten
Momenten, so schrecklich kapriziös, dass an diesem Kap der guten
Hoffnung immer wieder die besten Vorsätze scheiterten: schließlich
ist es das Vorrecht der Jugend, kapriziös zu sein und
Mutter-Tochter-Konkurrenz auf diesem Feld selten erwünscht.
Verbündet… Wer ist verbündet? Förmliche Bündnisse gibt es,
oberflächliche, scheinbare, trügerische, daneben, darunter oder
dahinter versteckte, von deren Existenz im Normalfall die Verbündeten
selbst das Wenigste wissen, ein Hauch muss genügen, gelegentlich
auch ein unguter Anhauch, denn nicht jeder Verbündete ist, als
Person und überhaupt betrachtet, genehm. Pida zum Beispiel, das
verraten die Protokolle, ist Elisabeth ganz und gar nicht angenehm, ein garstig Weib,
es wäre spannend zu sehen, ob sie Pida ins Haus lassen würde,
verfiele Tronka einmal auf den abgründigen Gedanken, sie
mitzubringen, was zum Glück noch niemals der Fall war – … ein garstig Weib…: bloß Frauen dürfen, in einer dem
Frauenaufbruch verpflichteten Gesellschaft, ohne Zögern solche
Urteile fällen. Es ist nicht Elisabeths Art zu zögern, jedenfalls
dann nicht, wenn es um Urteile über Menschen geht, und ihr Urteil
über Pida steht fest, fester als mancher euklidische Satz, an den
sie sich mühsam, wenn die Rede darauf kommt, aus der Schulzeit
erinnert, wie überhaupt die von der Psyche gefällten Urteile
harscher ausfallen als die rationalen Fundamente der gesicherten
Welt, in der es Technikern unbenommen ist, über die Grenzen des
Sonnensystems vorzustoßen, während sie bei der Wahl einer
Parteivorsitzenden kollabiert. Pida, das springt Elisabeth aus der
Erscheinung an, ist ver-rückt in jenem sehr einfachen, sehr
plastischen Sinn, den das Wort schon andeutet: sie ist nymphoman.
Weiß Tronka davon? Gelegentlich huscht ihr der Vorsatz durch den
Kopf, es ihm zu sagen – er ist nun einmal ihr Vertrauter und hätte
ein Recht darauf, gäbe es da nicht das Menschenrecht auf Blindheit,
ein hohes Gut, das, einmal auf die Waage gelegt, alle anderen
aussticht. Das ist die Pida nicht, die ich gekannt.
Tronka im Zweifel: was ist anders an Pida, nun, da sie anders ist? Elisabeth
könnte es ihm mit ein paar Sätzen erklären, sie hat die andere längst
durchschaut und eigentlich könnte Tronka es selbst, wäre er so frei es zu
wollen. Frei ist er in anderer Hinsicht. Da er, auf unauffällige Weise,
Elisabeths Vertrauter geworden ist, ohne jemals von ihr ins Vertrauen gezogen
worden zu sein, blickt er auf Leckebusch, als könnte er ihn, sollte die
Situation es verlangen, jederzeit mit einem Degenstich durchbohren: Verachtung
mischt sich darin mit einem Gefühl der Überlegenheit, das sich nur zum
geringeren Teil aus theoretischen Dispositionen speist und keineswegs den
gewaltigen Respekt mindert, der sich seit seiner Assistentenzeit eher gemehrt
hat, denn erst langsam hat er die aus vielerlei Verbindungen resultierende
Machtfülle des Älteren zu überblicken gelernt, gegen die gehalten er allenfalls
die marginale Existenz eines Buntspechts im philosophischen Blätterwald
vorweisen kann. Manchmal überrascht ihn jetzt der jungenhafte Zug, mit dem
Leckebusch dergleichen Unterschiede zwischen ihnen wegwischt. Unwillentlich
fühlt er sich geehrt durch den unverstellten Zutritt, den ihm der andere zu
seinen Gedankengängen gewährt, und schämt sich seiner Hintergedanken. Elisabeth dagegen sieht den Betrogenen. Nicht, weil Pidas Sex streunt, sondern weil sie um Tronka ein Netz aus Desinformationen gewoben hat, dessen
Doppelzweck darin besteht, ihr schlechtes Gewissen vor ihm zu verbergen und
im Gegenzug ihm eines zu verschaffen. Das sieht man, das fühlt man, dazu muss
Tronka nicht reden, nicht mit ihr, die ohnehin wenig auf die Bekenntnisse
anderer gibt. Ein Tronka hat kein schlechtes Gewissen. Er mag fehlbar sein, aber
nicht ängstlich gegenüber einer Instanz, die mehr von ihm weiß, als er selbst
sich eingestehen möchte. Wenn ihn dennoch Schuldgefühle durchzittern, dann
deshalb, weil Pida einen Feuerring um sich geschaffen hat, der sie ebenso
unzugänglich wie begehrenswert erscheinen lässt. Ist’s
möglich, die Geliebte mit den Augen des Dritten zu sehen, den man irgendwo in
der Kulisse wittert? Ist’s möglich, die Augen des Dritten mit sich herumzutragen
und mit ihnen die umgebende Welt zu mustern, während der eigene Blick gesenkt
bleibt und sich jeden Urteils enthält? Und, falls es möglich wäre: auf welche
Weise wäre es dann wohl möglich, das geschmacklose Doppelspiel zu beenden und die gerupfte Einheit der
Person wieder herzustellen? Elisabeth empfindet den Reiz der Aufgabe. Es kann nicht schlecht sein, dieser Pida eine kleine Lektion zu
erteilen. Starkes Gefühl der Unfähigkeit, ein nächtliches Malheur zu rekonstruieren,
das so sehr auf das Leben zweier dir nahestehender Personen ausstrahlt. Nicht
Resignation bildet die Wurzel dieses Gefühls, sondern Stärke. Du fühlst dich stark,
doch nicht zu stark, deine Stärke bleibt auf der sicheren Seite, sie bleibt auf
der Hut vor dieser … Blutspur, die sich ins Dunkel zieht, in eine Landschaft
mit Tieren, deren Anblick der Künstler dir, gnädig oder nicht, vorenthält.
So weit, so gut. Tronka ist nicht der Mann, sich durch das
Abenteuer einer Nacht verstören zu lassen. Ebensowenig Elisabeth die
Frau, die mit Verstörung rechnet, vor allem dann, wenn sie sie auf
ihre Rechnung nehmen soll. Und dennoch… … gerade das ist geschehen. Vermutung Elisabeths jäh erwachte Neigung, hervorgegangen aus dem langsam, auf
Schleichpfaden des Bewusstseins gestärkten Impuls des Sich-Kümmerns, lief durch
bis zum Äußersten, dem Versuch, Pida auszuschalten, gleich im ersten Anlauf die
Verkrümmung zu beheben, unter der Tronka, ihrer Auffassung nach, schon zu lange
leidet. Aber dieser Versuch musste grandios missglücken, weil er auf ein
Krebsgeflecht traf, weil Tronka in jener Nacht, beglückt, aber weit entfernt
von jeglicher Euphorie, in Fafners Schatten traf, den Schatten des Unbesiegten,
des von den Göttern in naher Zukunft zum Abschuss Freigegebenen, entsprechend
seiner kommenden Aufgabe, die ihn hier als Unwürdigen vorfand und … brandmarkte.
Vorteil dieser Vermutung Sie achtet auf Symmetrie der Motive und
schiebt Tronka alle Schuld dieser Welt zu, die Schuld des Versagers,
die Schuld des Verräters, die Schuld des Defekten, der sich gegen
die Erfüllung seines tiefsten Wunsches sperrt, aus Abhängigkeit, einfach krank.
Elisabeth geht makellos aus der Sache hervor.
Hurtenschwang und Liebermaus, zwei brave Historiker-Kollegen aus der Provinz,
müssen die volle Wucht des ersten Angriffs auf sich nehmen. Auch wenn er mehr
als Gewittergrollen daherkommt –: sie wissen, auf die erste Salve wird die
zweite und dritte folgen; sie sind alarmiert. Vermutlich sind sie sich auch im klaren darüber, dass
die Attacke nicht wirklich ihren Forschungen gilt, obwohl Eitelkeit und
Ängstlichkeit durchaus geeignete Kandidaten sind, so ein Wissen für eine ungewisse Zeit unter der Decke zu
halten, vor allem, wenn auf ihr in bunten, die Farben des Entrüstungsspektrums
in politischer Verkürzung zusammenfassenden Lettern das Wort ›infam‹ gedruckt
steht. Denn es ist, nach ihrer Auffassung, als Infamie zu
bewerten, dass man sie einer Komplizenschaft bezichtigt, die der Sache nach, also aus Forschungssicht, nun
einmal nicht besteht. Und was nicht der Sache nach besteht, wie kann das im
Ernst jemand behaupten, ohne in einen Selbstwiderspruch zu verfallen? Folglich
muss, da jeder weiß, dass der Große Denunziator sich nie wiederspricht, es sich
hier um eine unfassbare Verwechslung handeln, die nicht schnell genug aufgeklärt
werden kann. Das Wort ›Infamie‹ ist eine scharfe Waffe. Ihr Vorteil (oder Nachteil, je
nach Sichtweise) liegt in der grenzenlosen Verfügbarkeit: auch der Schwächste kann sie zücken,
überall, jederzeit, zu beliebigen Zwecken, sei es als rasche Interjektion: oder, elaborierter, als vorgebliche Sachaussage: Soso. Im Ernst jetzt? Das also ist eine Infamie. Aber was genau ist eine Infamie? Zweifellos ein
Vergehen, schlimmer als jedes andere, dessen die menschliche Zunge fähig ist,
ein Vergehen gegen Götter und Menschen, ein Verrat an der Göttlichkeit der
eigenen Stimme, und handle es sich auch bloß um ein Fitzelchen Ehrenhaftigkeit,
einen Rest an Ehrbar- oder Ehrsamkeit: alles dahin, alles vorbei, wenn das
Glöcklein erklingt – infam! Der wissenschaftliche Mensch begrenzt den Gebrauch
des Wortes sorgsam auf das gesprochene oder geschriebene Wort, da er nicht
anders als sein politischer Widerpart darum weiß, wie rasch zweckrationales Handeln
sich in den Abgründen der Ruchlosigkeit verliert und wie wenig es sich ziemt,
davon allzu viel Aufhebens zu machen … das unterscheidet ihn zweifellos vom naiven
Beobachter, dem weniger die Redensarten als vielmehr die Handlungen der Menschen
häufig genug im Verdacht der Infamie stehen. Diese Verschiebung, selten
beachtet, trennt die ehrbare Gesellschaft von der überaus ehrbaren, sprich: ehrenwerten, die bisweilen auch die informierte genannt wird, gleichgültig, an
welcher Stelle man den Schnitt setzt. Hurtenschwang und Liebermaus würden
sich, befragt, zu ersterer zählen. Doch zweifellos wäre das bloß die halbe Wahrheit, denn
nichts beschwören sie zäher mit dem Wort ›infam‹ als ihre Zugehörigkeit zur
ehrenwerten Gesellschaft, zu der, wie sie ganz sicher wissen, auch so zweifelhafte Elemente wie Killus
zählen, dessen Ruf sie gerade deshalb als über jeden Zweifel erhaben
verteidigen. Natürlich kennen sie Killus, haben auf Fachtagungen gelehrte Worte
mit ihm gewechselt, Liebermaus hat sogar – Ach Gott ja, das ist aber lange
her! – eine distanziert wohlwollende Rezension über eins seiner Bücher
geschrieben –: doch in ihrer Seele, dort, wo es ernst wird, lehnen sie ihn ab,
Hölzchen würde sagen, aus Gründen des fehlenden Stallgeruchs, sie selbst würden
andere Wörter dafür benützen, ganz andere, bis ins Christlich-Abendländische
reichende, die simple Wahrheit bliebe da bald auf der Strecke, denn Killus ist
ihnen, ehrlich gesagt, einfach zu schnell. Sein Verstand geht allzu rasch durch
die Decke, genauer durch die ziselierte Käseglocke, unter der sie ihr
Forschergeschäft betreiben. Es stimmt ja
auch: Killus denkt schnell. Sein präziser Verstand wildert bereits unter
Schlussfolgerungen zweiten und dritten Grades, während Hurtenschwang und
Liebermaus, Athleten des Quellenstudiums als einer never ending party,
noch mit elementaren Definitionsschwierigkeiten kämpfen. Das kränkt. Aus
Kränkung erwächst Abneigung, aus Abneigung – nicht von gleich auf
jetzt, aber mit der Zeit – eine Sonderform der Gefolgschaft.
Gefolgschaft wider Willen: so könnte man sie nennen. Irgendwann haben
Hurtenschwang und Liebermaus, jeder für sich, jeder auf seine Weise, Sätze
abzusondern begonnen, die mit seltsamen Floskeln beginnen: ―Killus würde jetzt sagen… ―Ich möchte mich dem nicht anschließen, aber Killus hat gezeigt… ―Wäre ich Killus, würde ich wie folgt argumentieren… ―Hat Killus nicht irgendwo geschrieben… ―Selbst ein Killus wird mich nicht in diese Sackgasse locken… ―Das alles ist zwar fachlich hochgradig anfechtbar, aber wir sollten es diskutieren… ―Lassen wir uns doch mal versuchsweise von Killus herausfordern… Er hat sie
herausgefordert, das ist wahr. Doch wohin? Ins Freie? In die
Freiheit, weiter zu denken, als sie ursprünglich vorhatten? Als es
ihnen durch Herkunft und Naturell gegeben ist? Als es für ihr
geistig-moralisches Auskommen bekömmlich ist? Als es ihnen und ihrer
Hörerschaft nützt?
Das ist nicht so einfach, schon gar nicht zu entscheiden, denn da – liegt ihre große Schwäche. Hurtenschwang und Liebermaus
verwalten ein schweres Erbe. Nicht die Quellenlage macht ihnen zu
schaffen, sondern Entscheidungsschwäche. Zu vertraut sind ihnen die
politisch-kulturellen Abgründe – von den geistig-moralischen Risiken ganz zu
schweigen –, die nur darauf lauern, sie zu verschlingen, gleichgültig, ob
sie sich auf den Feldern der europäischen Kolonialgeschichte oder der
Nationalgeschichte der Deutschen bewegen, als dass sie sich unbekümmert zu einer
expliziten Lesart bekennen könnten. Mit Einsichten dieses Kalibers – grenzwertig, aber erfolgreich – schreibt man
Geschichtschreibungsgeschichte. Die steile These hat auch Eingang in die Schulbücher gefunden,
die Denkfabriken der großen Parteien schleifen sie an den Ohren von Symposium zu Symposium,
das Ausland staunt und der eine oder andere Programmgestalter der BBC fragt sich
angesichts der galoppierenden Selbstabwicklung der krauts, ob in der
hauseigenen WW2-Filmproduktion nicht vielleicht doch etwas schief gelaufen ist –:
Hurtenschwang und Liebermaus allerdings betrachten sich nicht als Genies, eher als
Geschichtsbetroffene, und jenen zu folgen erschiene ihnen, wie vieles andere in
den ihnen vorliegenden Fachpublikationen, zu einfach. Diese Widerständigkeit hat
den beiden in der Gelehrtenwelt eine bescheidene Bekanntheit eingebracht, man
hält sie für seriöse Historiker alter Schule, fast könnte man sagen, für
Überbleibsel einer anderen Zeit, einer Zeit in der Zeit, falls es so
etwas gibt, aber auch dafür finden Historiker Lösungen. Hölzchen hat nichts gegen die
beiden. Für ihn sind sie Leute vom konservativen Gegenufer: Welche Art von Respekt er ›davor‹ empfindet, das allerdings
weiß kein Mensch, es bleibt sein Geheimnis. Du lauscht seiner Stimme nach und
findest sie emsig. ›Als Historiker‹ sieht er sich in der Pflicht, die Menschen
nach Stämmen und Fraktionen zu sortieren, er wäre sehr erstaunt, zöge jemand
diese Tätigkeit ernsthaft in Zweifel, etwa, indem er daran erinnerte, dass von
der Wahrheit, selbst der historischen, ein gewisser Sog ausgeht, vor dem nicht
Haltungen und Fraktionen zählen, sondern die ›vorbehaltlose‹ Bereitschaft zur
Anerkennung: »Das ist banal« würde er hektisch hervorstoßen, »natürlich müssen wir
Fakten anerkennen, sonst wären wir keine Historiker.« Die Flucht hinters Wir erlaubt ihm solche Manöver.
»Sind wir denn Historiker?«, müsste einer zurückfragen, es müsste schon
ein Historiker sein, damit der Anschlag gelänge, denn Leuten wie dir und mir
ziemt es nicht, ins Allerheiligste vorzudringen und Fragen des Wir zu erörtern: An diesem
kompakten Wir prallt alles
ab, was Hölzchens Sicht auf die akademische Welt von innen aufmischen könnte. Hölzchen hat nichts gegen die
beiden. Für ihn sind sie Leute vom konservativen Gegenufer: Welche Art von Respekt er ›davor‹ empfindet, das allerdings
weiß kein Mensch, es bleibt sein Geheimnis. Du lauscht seiner Stimme nach und
findest sie emsig. ›Als Historiker‹ sieht er sich in der Pflicht, die Menschen
nach Stämmen und Fraktionen zu sortieren, er wäre sehr erstaunt, zöge jemand
diese Tätigkeit ernsthaft in Zweifel, etwa, indem er daran erinnerte, dass von
der Wahrheit, selbst der historischen, ein gewisser Sog ausgeht, vor dem nicht
Haltungen und Fraktionen zählen, sondern die ›vorbehaltlose‹ Bereitschaft zur
Anerkennung: »Das ist banal« würde er hektisch hervorstoßen, »natürlich müssen wir
Fakten anerkennen, sonst wären wir keine Historiker.« Die Flucht hinters Wir erlaubt ihm solche Manöver.
»Sind wir denn Historiker?«, müsste einer zurückfragen, es müsste schon
ein Historiker sein, damit der Anschlag gelänge, denn Leuten wie dir und mir
ziemt es nicht, ins Allerheiligste vorzudringen und Fragen des Wir zu erörtern: An diesem
kompakten Wir prallt alles
ab, was Hölzchens Sicht auf die akademische Welt von innen aufmischen könnte. Eine vage erforschte Ethnie, ein ›Völkchen‹, bewohnen Hölzchens
Historiker diese Welt, erkennbar füreinander an ihren Gedanken, Worten,
Einstellungen, Publikationen, zuallererst jedoch an den auf Herkunft,
auf ›Stallgeruch‹ gegründeten Beziehungen, die sie unterhalten und die
darüber entscheiden, wer wirklich dazugehört und in welchem Teil
ihres Sonnensystems der Einzelne die ihm zugewiesenen Kreise dreht. Wie
allerdings der Große Denunziator, erkennbar kein Historiker, sondern
Soziologe mit großphilosophischer Attitüde, in dieses System eindringen
und sich in der Rolle des Gesetzgebers, Richters und Staatsanwalts in
Personalunion einnisten konnte, darüber schweigt sich Hölzchen an
diesem Morgen wie an jedem anderen aus, der noch folgt. Dabei wäre dies
die Frage der Fragen, denn Hölzchens System ist keineswegs, wie seine
Sprache es unterstellt, autonom. Blowasser, unser aller Blowasser, trägt die Sorgen der Fakultät auf der Stirn, seit der Rektor, aufgebracht durch der Aktivitäten seiner Frau (und ein wenig stolz auf das, was sie da auf die Beine stellt), ihn zum Report bestellte. Er hat zwar die erste Salve verpasst, aber die zweite platzte ins heutige Frühstück und sein Gehirn dröhnt. Blowasser, erschrocken, weiß, worauf Seine Magnifizenz anspielt: Blowasser findet den Auftritt geschmacklos. Der Rektor wirkt überfordert. Kaltenegger träumt. Wird
Killus abgeräumt (wie es den Anschein hat), dann wird damit eine Position
vakant, auf die er selbst seit langem spekuliert: die des Flügelmanns der Zunft
ohne feste politische Verortung, aber mit einem Hauch von konservativ-liberaler
Gesinnung und damit einer intellektuellen Minderheit zugehörig, die aber von
einer stetig schrumpfenden Mehrheit der Bevölkerung getragen wird: kurz, der
Unbestechliche, der sich rar macht und dadurch umsichtig seine Publicity
steigert, der Spezialist in einem Rudel von Spezialisten für jene
Vergangenheit, die nicht vergeht und die den anderen sonderbarerweise
jetzt einzuholen scheint. Tronka lacht. Kaltenegger träumt (weiter).
Gleich morgen hat er einen Termin beim Rektor. Vorschlagen wird er ihm ein
Projekt mittlerer Größe: Die Pyramide im Netz neo-revisionistischer
Zirkel, um dieses Geschwür ›auszubrennen‹, wie er das bei sich selber
nennt, noch unschlüssig, ob die Vokabel sich als wissenschaftstauglich erweisen
könnte oder durch einen gepflegten Anglizismus ersetzt werden muss. Mittlerweile
lässt er seine Stiftungsverbindungen spielen. Das Zeitfenster ist winzig. Mit
Sicherheit stehen bereits ein oder zwei dutzend Konkurrenten in den
Startlöchern. Nassen, mit dem er kurz darüber spricht, hebt die Braue, fast
düpiert, weil er selbst nicht auf den Gedanken verfallen ist. Zeit ist
Ruhm. Aber Nassen, pardon, ist nicht der richtige Partner, seine zögerliche
Reaktion zeigt es zur Genüge. Der Mann besitzt keine Klasse. Besser,
man sieht sich auswärts um. Nichts, notiert Lobbock, empört die Verfolger mehr als Hurtenschwangs Vorschlag, versuchsweise die Perspektive des ›einfachen Landsers‹ in den Tagen der zusammenbrechenden Ostfront einzunehmen. Warum? Scheuen sie das ethische Dilemma, in dem diese Leute sich befanden? Aber warum? Die einzige logische Antwort kann lauten: Weil dieses Dilemma in den Augen der Verfolger nicht existieren darf. Worin besteht das Dilemma? Sie haben den Mördern gedient, um Menschen zu retten. Warum darf es nicht existieren? Weil in ihm (und nur in ihm) diese Menschen wirkliche Existenz gewinnen. Wer das Dilemma leugnet, der leugnet die Existenz dieser Menschen. Sein Zauberstab verwandelt sie in den Staub der Geschichte, nicht wert, vor uns und unseren Problemen zu erscheinen. Hurtenschwangs Vorschlag verwandelt den Staub in Menschen aus Fleisch und Blut zurück, in Menschen mit einem funktionierenden Gehirn und einer funktionierenden (sag’ es nur!) Moral: das darf nicht sein. Warum darf es nicht sein? Weil wir, die Verfolger, unser Sein auf ihr Nichtsein gegründet haben. Weil es aus unserer Sicht falsch wäre zu sagen, sie hätten Schuld auf sich geladen. Die Schuld hat sie zermalmt, das ist richtig. Ihr Handeln hat die Verfügung über die Schuld in unsere Hände überliefert und wir verteilen sie nach unserem Gutdünken. Der Rektor, sichtlich bemüht, einen nervösen Schluckauf zu unterbinden, bittet ihn, ›erst einmal‹ Platz zu nehmen. Was selten vorkommt, eher
liegt ihm der geschmeidige Duktus. Doch Insider wissen: Friedenwanger kann
laut werden, vor allem hinter verschlossenen Türen.
Ungebremstes Gelächter hingegen steht normalerweise nicht auf seinem Programm.
Lobbock, den der Zufall vorbeiführt, verspürt ein legitimes Bedürfnis nach Aufklärung. Friedenwanger grinst wie ein Honigkuchenpferd. Unverkennbar: Duros Organ. Lobbock ignoriert ihn. Wie in
Ewigkeit, so auch jetzt. Der Einwurf amüsiert Friedenwanger. Das könnte, findet Friedenwanger, glatt über der Tür seines Dienstzimmers
stehen, unsichtbar für andere, aber auffällig genug, um ihm einen
Teil der Beschwingtheit zu erhalten, die jedesmal entweicht, sobald er morgens
den Türrahmen passiert und den Schreibtisch ansteuert. Da greift es sich leicht
zum Hörer, besonders an einem Tag wie heute, einem Tag ohne besondere
Vorkommnisse, jedenfalls, solange die Nahumgebung den Blick gefangen hält.
Das Besondere findet draußen statt, im Universum des Betriebs, und … irgendwer
muss es schon begehen, damit es geschieht. Auch Duro, der Ränkeschmied ohne Fortune, hat die Neuigkeit bereits gehört und so
schwatzen die beiden, als habe die Göttin des Tratsches sie persönlich
zusammengeführt. Einer des anderen Feind. Doch für den Augenblick… Was weiß Duro? Was weiß er besser? Zu bequem wäre es, ihn mit seinem eigenen
Vokabular zu schlagen. Quatsch. Man muss auf der Hut sein. Was um alles in der
Welt weiß Duro von Streicher – dem göttlichen Lutz C. Streicher (das C.
unterstreicht er diskret, dahinter verbirgt sich, zum Gaudium seiner
Untergebenen, des ›Teams‹, wie er sie gönnerhaft nennt, der zweite Vorname und
nom de guerre Cäsar)? Lobbock, der öfter mit ihm telefoniert, macht sich
gern den aufgeräumten Kopf und die sprudelnde Gedankenproduktion des Unholds
zunutze. Unter dieser Rubrik wird Streicher in den liberalen Medien geführt,
seit er, durch tödliche Langeweile genarrt, von einem ehrbaren Lehrstuhl für
Geschichte der frühen Neuzeit in die Gedankenfabrik einer konservativ genannten
Partei hinüberwechselte … nach reiflicher Überlegung vielleicht – was im
Archipel geschähe nicht nach reiflicher Überlegung –, doch vor allem
zu seinem persönlichen Vergnügen. Alles, nur keine Routine! Sollen sie sehen,
wie sie damit zurechtkommen. Und wie sie damit zurechtkommen! Wenn ein Wicht
wie Duro solche Töne zu spucken wagt, dann ist der Zeitpunkt gekommen … schade
um die schönen Telefonate. Er wird sie vermissen. Friedenwanger, Duro, Lobbock … gerade kommt Argloser vorbei. Blowassers
Schatten, selbst er, kreuzt das Spiel der Vormittagssonne auf der innenliegenden
Wand. Sie wissen nicht, sie repräsentieren ein Wissen. Da ist schon ein Unterschied, würde Tronka anmerken, der sich abseits hält und hier auch nicht gefragt wäre, eben zog er vorbei. Das Wissen fühlt sich bestens aufgehoben in ihrem Kreis, es lächelt ein wenig töricht in sich hinein, wie alle, denen geschmeichelt wird, ohne dass sie den Grund zu erkennen vermögen, aber finden, die schmeichelnde Seite habe doch recht. Das wissende Wissen steht erst am Anfang. Es will hoch hinaus, dafür ist es
schließlich da und beugt sich den Regularien. Auf der Liste des Großen
Denunziators steht Lutz C. Streicher ganz oben. Das hat, neben der politischen
Ortsbestimmung, auch einen privaten Grund. Ältere Flurbewohner glauben sich
dunkel zu erinnern, die anderen machen das bashing mit, ohne lang zu
fragen. Schließlich gehört es sich so. Man fragt nicht, wenn etwas sich so
gehört, nicht im eigenen Club. Warum auch nicht? würde Streicher fragen. Ein leichtes Zucken
angesichts eines Namens kann eine Karriere auslöschen, das ist ganz normal. Er
selbst ist ein Meister in dieser Kunst, sein Fleisch und Blut ist um ihrer
Sünden willen vergossen und ausgeteilt an die Himmelsrichtungen, vier an der
Zahl. Es könnten auch acht oder dreizehn sein, niemand wäre an dieser Stelle
pingelig, denn sie ist windig wie keine und es schickt sich nicht, länger als
nötig an ihr zu verweilen. Warum das Ganze? Er ist der vierte auf der Liste der Angegriffenen. Nihil sine causa fit. Der Einwurf kommt von
Gaggauer, dem netten Gaggauer, der immer auftaucht, wenn keiner ihn
braucht. So auch diesmal, er hat sein Pulver bereits verschossen und trollt
sich. Sie neigen dazu, die Dinge einfach zu sehen. Die Nachricht, dass die Pyramide ihn in einem internen Papier zur
persona non grata erklärt hat, ereilt Streicher auf weichem
Nachmittags-Pfühl. Er hätte noch einen Vortrag ›in Vorbereitung‹: Schade drum. Den kann er sich
dann wohl schenken. Hin und wieder kommt er ganz gern in die Pyramide. Es juckt
ihn, das Häufchen alter Kollegen wiederzusehen und ihre zwischen Vertrautheit
und Bestürzung irrlichternden Gesichter zu studieren. Vor allem aber genießt er
die Scheu der Jüngeren, aus deren Augen ihm das Bild des Großen Satans
entgegenblinkt: So also sieht er aus, der Herr der Tiefe, von dem bekannt ist,
dass er Zugang zu den höchsten Kreisen der Republik genießt. Auch menschlich nimmt Streicher gegen sich ein.
Zartbesaitete vor allem, verführt durch seine Physiognomie, attestieren ihm
einen Hang zum Grobianismus, fälschlicherweise, denn im persönlichen Umgang lässt er
sich, soweit bekannt, in dieser Richtung nichts zu Schulden kommen. ›Soweit bekannt‹ soll heißen:
Nobody is perfect. Er besitzt seine Ecken und Kanten, gelegentlich benutzt er die Feile, um die eine oder andere anzuschärfen. Doch so leicht wie Friedenwanger kommt er damit nicht davon. Was bei anderen
die Unschuldsvermutung, ist bei ihm der Verdacht des Schlimmeren, wenn nicht des
Schlimmsten. … man nicht, wohl aber A bis Z, sie haben damit kein
Problem. Sie würden, falls nötig, es wieder tun, immer wieder, solange noch ein
Rest-Atem in ihnen steckt, und jedes Mal würden sie, sollte einer sie fragen, zu
ihrer Rechtfertigung denselben Satz vorbringen: Man verurteilt einen Menschen
nicht grundlos. Also haben sie doch ihre Gründe, müssen sie haben,
schließlich verurteilen sie diesen Menschen da, und falls, wenn jemand Auskunft begehrt, gerade keine Gründe zur
Hand sind, dann … dann … wiegen die abwesenden umso schwerer
und es genügt ein Wiegen des Hauptes oder ein zuckender Mundwinkel, um
anzudeuten: Frag lieber nicht! Im Alltag aller werden Urteile ohne Richter gesprochen,
in Abwesenheit des Angeklagten und fernab aller Zeugen. Auch bleibt die Anklage,
ebenso wie das Strafmaß, in der Regel diffus. Ein Narr, wer annähme, sie
existierten nicht. Wer den Stab bricht, muss über starke Gründe verfügen
– oder gar keine. So groß ist der Unterschied nicht. Persönlich kennst du Streicher nicht, hast ihn nie gesehen. Neben verstreuten
Zeitungslektüren hat Tilman dir eine Idee dieser Person eingegeben, mit allerlei
Vagheiten behaftet, aber in den Hauptzügen sehr bestimmt konturiert: eine eitle
Figur, die gern Hof hält, gewohnt, ihre Umgebung intellektuell in den Schatten
zu stellen, ohne wirklich mit überragender Intelligenz gesegnet zu sein. Ein
Durchsetzer im schmalen polit-akademischen Rahmen, der keinerlei Urteil darüber
erlaubt, ob derselbe Mensch auch in der weiteren Gesellschaft, zum Beispiel in
der Wirtschaft oder in der Politik der Matadore, erfolgreich bestehen könnte.
Kurz, eine der Zwischenfiguren, bei denen Wissenschaft rasch in ›performance‹
übergeht und oft genug aufhört, Wissenschaft zu sein, bevor eine jener
›überragenden‹ Leistungen vorliegt, die den persönlichen Ruf – und die damit
einhergehenden Allüren – rechtfertigen könnten. Alles in allem… Ginge es nach dem Willen des
Großen Denunziators, dann müsste Streicher zusammen mit seinen Spießgesellen
nicht mehr und nicht weniger als die Zerstörung der geistig-moralischen
Grundlagen dieses Landes geplant haben. Der Ausdruck ›geistig-moralische
Grundlagen‹ ist dem rhetorischen Arsenal des politischen Gegners entwendet, der
jahrelang mit dem Willen zur ›geistig-moralischen Wende‹ an die Macht drängte,
um sich, einmal angekommen, hüppefein im Zeichen geistig-moralischer Demenz auf
ihr niederzulassen. Aber nachdem die Phrasen nun einmal in der Welt sind, gilt:
Drunter läuft nichts. Nicht diesmal, da der Große Denunziator aufs Ganze
geht. Da blickt ihm Duro, aufgeschreckt aus aparten Gesprächen, groß ins Gesicht
und hüllt sich in vornehmes Schweigen. Was geht’s den Menschen an, was der andere von ihm hält und wessen er ihn
verdächtigt? Augenscheinlich nicht viel. Doch darüber weißt du zu wenig, um
Einspruch erheben zu können, gesetzt selbst, es würde dich jucken. Was bedeutet
das? Es bedeutet (im Ernstfall): Meine Person gegen die andere. Du darfst
dich entscheiden, ob du mir glauben willst oder dem anderen. Und da du
weder von mir noch von ihm Gründe erfahren wirst, die meine Einstellung
rechtfertigen, musst du dich zwischen ihm und mir entscheiden. Ich
verfüge über den Vorteil, anwesend zu sein, und zwar gerade jetzt, da du mich
brauchst, weil du etwas von mir willst, und sei es die Bestätigung einer
flüchtigen Sympathie. Also überlege dir deine Wahl gut. Überdies bin ich es –
und nicht der andere –, der den Stab bricht, also werde ich wohl
meine Gründe haben, gute Gründe, ziehst du sie in Zweifel, dann brichst du den
Stab über mich. Welches Recht hättest du, über mich den Stab zu brechen?
Keines, ganz recht. Kein einziges. Also bleibt dir nichts weiter übrig,
als dich auf meine Seite zu schlagen, es sei denn, du hältst dich heraus und
wirst dadurch für mich kenntlich … als einer, der gerade jetzt, da ich ihn ins
Vertrauen gezogen habe, da ich ihn vertrauenswürdig fand, mir sein Vertrauen
entzieht. Das wäre was? Ganz recht: pure Niedertracht. Ich habe dir
vertraut und du … wie erwiderst du mein Vertrauen? Du erweist dich als unwürdig.
Scher dich zum Teufel! Jetzt ehrlich? Selbstredend hat auch Lutz C. als Linker begonnen. Die
Quellenarbeit des Historikers hat ihm, wie er gern und ausufernd zu Protokoll
gibt, die Realität historischer Verläufe betreffend, die Augen geöffnet, doch
eigentlich … eigentlich hat ihn das Rad der öffentlich inszenierten Empörung,
auf das er sich unversehens gehoben fühlte, zurechtgerückt, man kann auch sagen,
seinen wahren Freunden zugeführt und damit in Gehaltsklassen aufrücken lassen,
von denen die beamteten Kollegen bloß träumen. Nichts arbeitet so unablässig an
der herablassenden Attitüde, die ein Mensch sich gibt, wie das Geld auf seinem
Konto, vor allem dann, wenn der monatliche Zufluss gesichert erscheint. Das
Steigen und Sinken der Kontostände setzt sich unmittelbar in Habitus um, da kann
der moralische Mensch sich ausdrücken, wie er will. Aus diesem Grund kommt es
vielen Zeitgenossen so vor, als sei rechte Arroganz die rechte, während ihr
linkes Gegenstück bereits durch ihr bloßes Vorhandensein andeute, dass hier
etwas nicht stimmen kann. Das Geld steht rechts. Die Ergänzung gehört zum
Einmaleins der geistigen Existenz, die ganz gut weiß, was Sache ist, auch
wenn sich immer wieder betuchte Schaulinke, meist aus dem Erbenpool, in die
vorderen Reihen spielen. Ein Erbe ist auch der Große Denunziator, wenngleich auf
der Prestige-Ebene des symbolischen Kapitals. Wie es aussieht, hat er eine
Denkschule geerbt, so wie andere Mitmenschen einen Bauhof oder eine Geflügelfarm
erben: Much Ado about Nothing, aber das, was bleibt, lohnt die Lebensmühe dann
doch. Argloser zwinkert – ein Zug, der dir neu ist. Woher die Vertraulichkeit?
Du machst mich neugierig, Junge. Ein Sonnenstrahl sucht seinen Weg.
Wird er ihn finden? Schon stockt dein Schritt. So betrachtet, zelebriert der Große Denunziator Politik mit alten Hüten. Er fegt sie aus
Regalen, von denen man kaum noch wusste, dass sie existieren. Ein Glucksen. Argloser hat recht. Die Generation Aber-das-wissen-wir-doch kämpft gegen
einen untergegangenen Feind. Er hielt Thingstunde in ihren aufblühenden
Herzchen, bevor er sich mit Blut und Trümmern aus der Geschichte
verabschiedete. Bekanntlich ist das Gemüt des kindlichen Menschen
außerordentlich aufnahmefähig. Vieles geht hinein, das sich später nur schwer
wieder herausklopfen lässt. Auch der Große Denunziator gibt sich zugeknöpft,
kommt die Rede auf kindliche Prägungen. Legendär sein Ausspruch in kleiner
Runde: Hätte es mich so gegeben, gäbe es mich heute so nicht. Das
entfernt sich nicht weit vom weniger brillanten Ich bin mir keiner Schuld
bewusst des stets bewusstlos agierenden Zeitgenossen. Allerdings wahrt es
den Anspruch auf die Integrität der Person durch ein dazwischengeschobenes ›so‹.
Soll heißen, es war so, aber so war ich nicht. Wer sonst?
Streicher vielleicht? Soso. Aber damals lebte Streicher noch gar nicht. Aha! Er
also, er wäre so gewesen, hätte ihn nicht die ominöse Gnade der
späten Geburt vor dem biographischen Webfehler bewahrt. Nein, meine Damen und
Herren, es existiert keine Gnade der späten Geburt, es darf sie nicht geben.
Ergo ist Streicher, unser Streicher, der Feind. Denkt so ein
erwachsener Mensch? Offensichtlich. Psyche will es. Sich ihrem
entschiedenen Willen entgegenzustellen wäre nun wirklich zwecklos. Natürlich
könnte man sie eine tückische kleine Hetzerin nennen. Doch damit täte man ihrem
komplexen Charakter Unrecht. Es wäre auch psychefeindlich und da lugte er schon
heraus, der Feind. Es ist nicht leicht, sich den Sophismen zu entziehen, die das
Leiden an der Vergangenheit zeugt. Manche behaupten, es sei unmöglich. Der
Große Denunziator jedenfalls befindet sich, seit er eine öffentliche Rolle
spielt, auf der unendlichen Suche nach einer Welt von Feinden, Entsprungenen
jenes temps perdu, aus dem es für seinesgleichen nun einmal kein
Entrinnen gibt, und damit Zweimalgeborene – das zweite Mal als
Kopfgeburten –: wo es für ihn kein Entrinnen gibt, da soll auch kein
anderer entrinnen. Alles andere wäre ja … extrem. Geld lockermachen – die vielen versuchen es durch unablässige,
meist verbale Lockerungsarbeit, die wenigen leisten die notwendigen
Unterschriften. Lutz C., das wissen viele und schweigen darüber, verfügt, bedingt
durch seine Stellung, über ›nicht unbeträchtliche‹ Mittel, dazu bestimmt, auf
diskreten Wegen den akademischen Diskurs zu steuern: Tagungsgelder,
Editionsmittel, Exkursionsmittel, Projektmittel, Vortragshonorare, hin und
wieder gehört auch eine Zeitstelle irgendwo dazu. Nicht selten teilt er sich die
Verfügung mit anderen potenten, gern ungenannt bleibenden Gebern. Auch das
fördert Machtgefühl, das ihm jetzt, gerade jetzt, zupass kommt: Wer ist denn
nun draußen, der oder ich? Da muss er herzhaft lachen, während er sich eine
Zigarette anzündet. Phänomenologisch betrachtet handelt es sich um eine Art von
ansteckendem Husten, doch ist gerade niemand im Raum, bei dem er seine
ansteckende Wirkung entfalten könnte. Alles zu seiner Zeit. Am Telefon: die Stimme aus dem Kanzleramt, vertraut, beinahe väterlich, das Mahlwerk erstaunlich genau auf den fernen Gesprächspartner eingestellt:
In diesen Tagen macht Hölzchen eine Wandlung durch … nein, nicht vom Saulus zum Paulus, das wäre in diesem Fall zu christlich gedacht … obwohl … er denkt viel an den Erlöser in diesen Tagen. Dafür braucht er die Rolle des Verfolgers nicht abzulegen, das wäre auch … voreilig. Im Gegenteil: behände schlüpft er in sie hinein wie in ein bereitliegendes Mäntelchen, das höchstens an den Armen ein wenig zupft, aber sonst ganz in Ordnung ist. Lange nicht getragen: so könnte die stumme Kommunikation zwischen beiden lauten. Im Grunde sagt so ein Satz alles. Er müsste nur von allen verstanden werden. Unverstanden fühlt sich Hölzchen seit langem. Vielleicht nicht unverstanden, nicht wirklich jedenfalls, eher unbeachtet, obwohl er das vehement abstreiten würde. Wirklich wird er ja beachtet, das bringt seine Stellung mit sich, schon seine Dauerpräsenz in der Pyramide lässt etwas von der Würde ahnen, die ihm in der akademischen Welt zufließt. ›Würde‹ ist, zumindest in diesem Fall, ein seltsames Wort, vermutlich würde die Welt nicht ärmer, käme jemand auf die Idee, es aus dem Wortschatz zu streichen, ohnehin weiß keiner so genau, was es bedeutet.
… ist unermesslich… Man versteht ihn ja, jedenfalls glaubt man ihn zu verstehen, jedenfalls in der Pyramide, – und in diesem Fall ist die Pyramide die Welt. Wenn Hölzchen den Kasper gibt, dann deshalb, weil er sich, bekleidet mit seinem Amt, für unantastbar hält. Würde strahlt aus, besonders die eines akademischen Lehrers, denn sie kommt nicht von selbst, sie will erarbeitet sein: so denkt er sich das und versucht dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, indem er, hoheitsvoll auf Distanz pochend, sie lärmend unterschreitet. Die Kollegen durchschauen das Spiel, ohne es zu durchschauen. Für sie ist er ein bunter Hund, mit dem man rechnen muss, aber nicht rechnen darf: Urheber einer Ego-Show, die zwar die akademische Würde zum Ausdruck bringt, ihr aber in Wahrheit zuwiderläuft. Ohne Stöckchen kein Hölzchen (so sieht man Hölzchen tagtäglich mit possierlichen Sprüngen oder mit Apportieren beschäftigt):
So recht weiß keiner, warum er das tut. Lobbock, auch in diesem Fall ganz der Nüchterne, mutmaßt im Hintergrund Probleme mit seiner Frau, wahrscheinlich, weil, ganz im Hintergrund natürlich, er selbst an dieser Nuss knabbert. Aber das ist ins Blaue hinein geraten, offenbar schlecht, denn die wenigen Auserwählten, die Hölzchens Frau, einer seltenen Einladung in ihr Eigenheim folgend, zu Gesicht bekommen, schwärmen von einem gütigen und überaus selbständig in einem unklaren Draußen sich bewegenden Wesen, als seien sie einer modernen Heiligen begegnet, mit der sie sich, angesichts ihres begrenzten Zeitkontingents, im noch ausstehenden Jenseits des Geschlechterfortschritts ausgiebig zu unterhalten gedenken. Ein Hölzchen-Problem muss possierlich sein: so denken die Kollegen. Auch deshalb fällt die Frau hinter seinem Rücken als Stichwortgeber fürs erste aus. Jedenfalls ist eine Abhängigkeit vom Ehepartner nichts Ungewöhnliches. Eher das Gegenteil. Im Kreis der Kollegen wird sie natürlich unter der Decke gehalten. (Beachte die Redensart: im ›Kreis der Kollegen‹)
Hetero Hölzchen trägt seine Abhängigkeit vor. Er macht es nicht ostentativ, er trägt nicht dick auf, aber er verhält sich doch so, dass jemand, der in diesen Dingen nicht ganz abgestumpft ist, aufhorchen muss. Genau gesagt, Hölzchen benützt seine Abhängigkeit dezent aber wirksam, um bestimmten Aussagen Weihe zu geben, so als würden sie durch den Verweis sakrosankt. Zum Beispiel sagt er, um die Abschottungspolitik der Europäischen Gemeinschaft zu verdammen:
Natürlich wäre der Nachsatz unter wirklichen Weltbürgern, also unter Kollegen, die allesamt, als Bürger der Gelehrtenrepublik, ein Patent auf Weltbürgerschaft erworben haben, überflüssig.
Gerade deshalb erfüllt er – den anderen fühlbar – gleich mehrere Funktionen. Erstens eine informative: Aha, er hat eine Frau, er spricht, wie das seit einiger Zeit heißt, mit ihr ›auf Augenhöhe‹, er verständigt sich mit ihr über diese politischen Fragen, gemeinsam vertreten sie ein hohes ethisches Ideal (schließlich dient die Wagenburg, falls es sie denn gibt, angesichts argwöhnischer und tendenziell fremdenfeindlicher Wählerschichten bloß der Wiederwahl der Politiker). Zweitens eine performative: aus dem Umstand, dass seine Frau seine Gesinnung teilt, gewinnt Hölzchen eine innere Sicherheit, die, sagen wir, für sich selbst spricht. Genau besehen steht in solchen Gesprächen nicht die Überzeugung als solche auf dem Prüfstand, sondern das wissenschaftstheoretisch verbürgte Recht, ein Argument immer und immer wieder zu bezweifeln, sobald ein neues Argument in der Arena gesichtet wird: im Wissen um die Ansicht der ›integeren Frau‹ im Hintergrund verglüht es, einer Sternschnuppe gleich, bevor seine Kraft sich wirksam entfalten konnte. wachsen, so will es ein Gemeinplatz der Psychologie, auf einem Glied. Hölzchen, der ihn Wort für Wort unterschreibt – er taucht ständig in seinen Vorlesungen auf –, kann sich persönlich nicht daran erinnern, Frauen jemals verachtet zu haben – weder einzeln noch im Rudel, weder subtil noch brutal. Dadurch erhält der Satz das Gewicht einer fernen Gewissheit, unbetastbar durch persönliche Erfahrung und ähnlich erhaben wie der zweite oder dritte Lehrsatz der Thermodynamik. Hölzchen ›weiß‹, dass Frauen auf gefühlte oder auch bloß vermutete Verachtung ihres Geschlechts ›anspringen‹, er ist da ganz auf ihrer Seite, genauer, seine Sensibilität für ›Situationen‹ läuft der seiner Partnerinnen voraus, als müsse sie das Gelände sichern, damit ihr Fuß keinen Schaden nehme. Dasselbe Verfahren, angewandt auf eine banale Überzeugung wie die, Europa dürfe sich nicht gegen die Elendszuwanderung aus dem globalen Süden abschotten, verwandelt die ›Frau an seiner Seite‹ in eine Manifestation der hohen Frau, deren Gesinnung, unendlich kostbar durch das bergende Gefäß, auch diverse Opfer verlangen darf, Opfer an Komfort und Geschmeidigkeit, mit der undeutlichen Aussicht am Ende der Schlange auf das berühmte ›sacrificium intellectus‹, die Preisgabe des Intellekts, vielmehr der Verfahrensweise des Intellekts, gemeinhin ›Kritik‹ genannt, nach dem Motto: Kritisieren Sie meine Frau und Sie wissen schon, mit wem Sie sich schlagen müssen.
Würde Hölzchen sich schlagen? In einer Gesellschaft, die auf feinste Signale zu achten gewöhnt ist, kann eine solche Frage jahrelang unbeachtet in einem Winkel liegen, weil allein die Absicht, sie zu stellen, eine unzumutbare Belastung des Arbeitsklimas bedeuten würde. Es kommt aber der Tag, an dem sie sich zwischen die Schweigenden drängt, aus keinem anderen Grund als dem, dass ihre Zeit gekommen ist und sie sich ganz einfach stellt. Figuren einer Lust sich zu schlagen, der es am rechten Gegenstand fehlt. Angenommen, ein Subjekt will sich auszeichnen, aber ohne ausreichenden sachlichen Grund – sei es, dass in seinem persönlichen Umfeld gerade business as usual angesagt ist, sei es, dass seine geistige Kapazität nicht genügt, um neue Forschungswege zu erschließen –, angenommen, er muss sich auszeichnen, weil sein Verhältnis zur hohen Frau es ihm zwingend gebietet, so drängt es ihn sich zu schlagen, wissend, dass es auf das Wie und Warum nicht ankommt. Den Widerspruch, der sich da anbahnt, aufzulösen ist nicht so einfach, nicht so einfach … will sagen, auf intellektuellem Wege unmöglich. Daher nimmt es die Form von Entladungen an, von täglichen kleinen ›Verpuffungen‹, um es in der Sprache der Chemiker auszudrücken. Nenne sie: Alleinstellungshandlungen zur Gesichtswahrung.
So sieht es aus. Dass einer wie Killus, bedrängt vom radikalen Narrensaum der Studentenschaft,
neben der Zunft lebt (wie sonst sollte man seine zurückhaltende Kontaktpflege
charakterisieren?), beschäftigt Hölzchen schon eine ganze Weile. Umtriebig, wie
er nun einmal ist, fürchtet er das Zum-Fall-Werden mehr als alles andere –: hier also vollzieht sich so ein ›Fall‹ vor großem Publikum und der Geschlagene erweist
sich, beunruhigend genug, als sein stiller Held: ein Mann der Wissenschaft, der sich schlägt,
ohne sich zu schlagen, zusammengeschraubt aus Distanz und Güte, aus Schärfe und
fast heiterer Gelassenheit (wobei es sich verbietet, jene Schärfe ›analytisch‹
zu nennen, eher schon ›synthetisch‹, weil sie aus einer umfassenden Kenntnis des
Gegners hervorgeht und unnachgiebig in seine Richtung drängt). Er hat ihn,
Hölzchen, freundlich in seinem Büro empfangen, ohne Umschweife, als einer,
der zur Sache kommt, ohne den Besuch groß merken zu lassen, wann und wo
im Hintergrund heimlich Türen aufgehen und welche angesichts des Gastes ohnehin
verschlossen bleiben. Killus, das unterliegt keinem Zweifel, zeigt Größe und Hölzchen, der Zappelphilipp der Fakultät, beweist Historiker-Instinkt, indem er ihn – tief im Herzen, wo sonst? – bewundert. Dass einer wie Killus, bedrängt vom radikalen Narrensaum der Studentenschaft,
neben der Zunft lebt (wie sonst sollte man seine zurückhaltende Kontaktpflege
charakterisieren?), beschäftigt Hölzchen schon eine ganze Weile. Umtriebig, wie
er nun einmal ist, fürchtet er das Zum-Fall-Werden mehr als alles andere –: hier also vollzieht sich so ein ›Fall‹ vor großem Publikum und der Geschlagene erweist
sich, beunruhigend genug, als sein stiller Held: ein Mann der Wissenschaft, der sich schlägt,
ohne sich zu schlagen, zusammengeschraubt aus Distanz und Güte, aus Schärfe und
fast heiterer Gelassenheit (wobei es sich verbietet, jene Schärfe ›analytisch‹
zu nennen, eher schon ›synthetisch‹, weil sie aus einer umfassenden Kenntnis des
Gegners hervorgeht und unnachgiebig in seine Richtung drängt). Er hat ihn,
Hölzchen, freundlich in seinem Büro empfangen, ohne Umschweife, als einer,
der zur Sache kommt, ohne den Besuch groß merken zu lassen, wann und wo
im Hintergrund heimlich Türen aufgehen und welche angesichts des Gastes ohnehin
verschlossen bleiben. Killus, das unterliegt keinem Zweifel, zeigt Größe und Hölzchen, der Zappelphilipp der Fakultät, beweist Historiker-Instinkt, indem er ihn – tief im Herzen, wo sonst? – bewundert. Wie unsinnig, in einer solchen Atmosphäre die
Schmierereien vor der Haustür ansprechen zu wollen, ›signa‹ ohne Sinn und
Verstand, die ihre fatale Bedeutung erst wieder draußen, im Freien, nach
vollendeter Audienz entfalten, Im Herzen? Es ist kein Ort so geheim… Spürt Hölzchens Frau die Abhängigkeit, die sich da anbahnt? In ihrem großen Herzen sind alle Herzchen der nahen und fernen Verwandtschaft versammelt, da darf auch dasjenige Hölzchens nicht fehlen. Es wäre widersinnig, wenn ihr die Spur des Verrats an der gemeinsamen Karriere entginge.
Wenn in den Tagen des anhebenden Massakers der Große Denunziator nach vorn geht, dann aktiviert er in den vielen Sancho Pansas, die das Land beherbergt, Hölzchen inbegriffen, ein von langer Hand implantiertes Programm. Geschlossenen Auges lösen sie sich aus ihren Verhaltungen und eilen der Schlacht entgegen, als sei das Gemetzel ihr verborgener, nun offenbar werdender Lebenszweck – eine Entladung, nur entfernt, wenn überhaupt, vergleichbar den alltäglichen Inszenierungen des Psycho-Spiels, in dem zum Teufel geht, wer vom Teufel kommt, soll heißen, in dem die Stellung der Lebenspartner zueinander im Hintergrund über Grad und Art der Auffälligkeit entscheidet, die der Delinquent im Berufsleben an den Tag legt. Dennoch … in den Tiefen der Seele brodeln die Leidenschaften Seite an Seite, durchdringen einander, werden eins und viele, ohne ihre Identität preiszugeben, denn Begriffe wie ›Identität‹ verlieren in diesen Regionen ihren Sinn, sie werden wertlos. das hier ist kein Spiel – Argloser war es, der sich da vorwagte. Was er gehört hat, schmeckt ihm nicht. Doch er schluckt es herunter. Jedenfalls geht er still seiner Wege. Er ist kein Historiker und kennt Hölzchens Suada aus dem Effeff. Aber er liest Killus seit Jahren und, wie er meint, mit Gewinn. Ihm will nicht einleuchten, dass der Matador unter die Romanschreiber gegangen sein soll. Andererseits: was heißt es schon, ›sich hineinzuversetzen‹? Das kann auch eine Versuchsanordnung bedeuten – und nicht die schlechteste, wie ihm scheint. Wie war das mit dem geschichtlichen Horizont, in dem sich alles Handeln vollzieht? Wer zieht diesen Horizont? Ist es neuerdings nicht mehr üblich, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen? Gilt auch das in bestimmten Historikerkreisen bereits als anrüchig? Aber der Große Denunziator ist kein Historiker. Er ist Soziologe wie er und in deren Motiven kennt Argloser sich aus.
Hand aufs Herz: Hast du während deiner Zeit in der Pyramide einen einzigen Wissenschaftler kennengelernt? Einen Wissenschaftler ohne Zusatz, allein der Wahrheit, das heißt seinem Forschungsgegenstand zugewandt und verpflichtet? Sicher, die Frage klingt krass, aber einmal muss sie gestellt werden. Klare Antwort: nein. Sie alle, die Friedenwanger, Leckebusch, Starck, Hölzchen, Tronka, Dürrobst pflegen ihre Obsessionen, soll heißen, ein versteckter Groll, eine geheime Lebensschwierigkeit treibt sie um, lässt sie Botschaften empfangen, die andernorts ungehört verhallen würden, hier jedoch auf einen Hallraum treffen, der sie hundert-, ja tausendfach verstärkt und ihnen, wie verzwickt auch immer, eine gemeinsame Richtung weist. Nacktheit empfindet Streicher als unanständig. Die Gesellschaft,
die auszog sich auszuziehen, hat ihn seit jeher befremdet. In seinen
polemischen Schriften hat er für diesen Komplex das Schmähwort
›Freizeit‹ reserviert, den populären Zwilling der Freiheit – Die Vorstellung überfüllter Strände ist ihm ein Gräuel. Selbst die
ärztliche Aufforderung sich freizumachen stößt, wenngleich
er es nie zugeben würde, auf eine nur schwer zu überwindende
Barriere. Hart bleiben? Nachgeben? Natürlich gibt er nach. Anderes lässt der ständige Begleiter Krebsangst nicht zu. Der tiefe Zusammenhang zwischen Nacktheit und Tod lässt
Streicher nicht ruhen, seit er sich zum ersten Mal vor einer Frau
entblößte, um ›Liebe zu machen‹, voll des wenig prickelnden Empfindens,
›im falschen Film zu sitzen‹, der sich dann doch irgendwie
als der richtige erwies. Jedenfalls galt das, solange er lief, um
irgendwann abrupt zu enden.
macht Sinn, besitzt eine biologische Stimmigkeit, gegen die sich schwer ankommen lässt,
es sei denn, der Übertritt in die nackte Existenz ist mit allen
Zeichen des Todes drapiert und lässt für das, was kommt, nur das Bild der
Höllenfahrt zu. Doch so verklemmt ist Streicher nun wieder
nicht, um den Weg orthodoxen Horrors bis ans Ende zu gehen. Die
Mechanik des Lebens verdient Respekt. Auch das heißt konservativ
sein. Zum Weibe gehen, eine gutsherrliche Formel, kein
Zweifel, dennoch passt sie zu diesem Teil seiner Existenz wie … wie
… zum Teufel mit allen Vergleichen, das hier ist singulär.
Singulär … das erinnert ihn an etwas. Streicher ist klug. Wann, denkt Streicher, wird die Elite begreifen, wie strunzeinfach die
neue Linke einkassiert werden kann? Es lohnt sich, den Gedanken durchzuspielen. Eine vorurteilslos geführte Wirtschaft, die Grenzen der politischen
Geographie sprengend, wäre vielleicht weniger darauf erpicht, die notorischen
Weltverbesserer an den Pranger zu stellen, als sie für sich einzunehmen. Bloß
angenommen, ein Automobilunternehmen würde seinen gewaltigen Werbeetat in
gesellschaftliche Projekte stecken, die sich das Ende des Ölzeitalters, die
Wiederkehr des Lastenfahrrads und freie Geschlechtswahl zum Ziel gesetzt hätten:
was würde geschehen? Die Begeisterung des Publikums fände keine Grenzen.
Rauschhafte Umsatzsteigerung! Rendite ohne Ende! Und eine düpierte Konkurrenz,
behaftet mit dem Makel alten, ganz alten Denkens, hoffnungslos abgeschlagen, als
hätte sie, wie seinerzeit der sozialistische Block, den Übergang zur
selbsttragenden Karosserie verschlafen. Wer zu spät kommt, den bestraft das
Leben. Ein Jahrhundertsatz – …ohne weiteren Zusatz: kurzer Spruch,
apodiktisch, auf jedes einzelne Zigarettenpäckchen gedruckt, garantiert das
Überleben der Tabakbranche für, sagen wir, die nächsten hundert Jahre. Hat
eigentlich je ein Politiker diese Lektion begriffen? Wie es aussieht… Autofahren ist tödlich. Essen
ist tödlich (Hungern auch). Skifahren ist tödlich. Segelfliegen ist tödlich.
Schusswaffengebrauch … halt! Hier nähern wir uns dem Ende des Paradoxons und es
wird ernst. Spaß beiseite! Der Mensch liebt das in allen Dingen schlummernde
Risiko. Man muss es ihm nur bewusst machen. Da liegt es nahe abzugreifen, was
der Markt an Bewusstseinsdrogen enthält, gleichgültig, für wen sie bestimmt sind
und welcher Feind damit nach Absicht ihrer Verkäufer markiert werden soll.
[Muss weiterverfolgt werden.] Altes Denken Suche den Fehler Neues Denken Und wo bleiben wir? Der Dreck der bereinigten Interessen ist ihr Wachpersonal von
gestern. Vorneweg: die scharfen Hunde der Publizistik.
Drecksarbeit braucht Dreck. Und wenn die faule Rechte irgendwann recht bekäme? Wenn der Weg des reinen Profits in den Abgrund führte? Wäre sie dann die neue Linke? Oder bloß eine Weltuntergangspartei mehr? Auf alle Fälle eine Partei zuviel im System, angespien von den Rechtgläubigen aller Fraktionen, man könnte ihr eine neue Staatssicherheit auf den Hals hetzen und die braven Bürger fänden das ganz normal. Eigentlich erschreckend, wie wenig dich der Gedanke erschreckt. Das Spiel, wenn es denn irgendwann gespielt werden sollte, wäre ein Spiel um den Abgrund: den Abgrund in dir, in mir, in allen, im System. Ja sicher, auch das System besitzt seinen Abgrund. Man kennt ihn nicht, noch nicht, er ist verschlossen und versiegelt, aber irgendwann tut er sich auf.
Was passiert eigentlich mit den Richtungen, in welche die
Gesellschaft sich nicht bewegt?
[Rätsel] [Auflösung] Infantility works. East meets west Drück’s aus! Cold War Units Nuke ’em!
In diesen Frühsommertagen hat Blowasser, der Mann ohne Rückgrat, Konjunktur. Zusammen mit Nassen, der endlich erwachsen werden muss, hat er einen Projektantrag zum Laufen gebracht. Auch bei Blowasser setzt sich, wie bei vielen Mitmenschen, Hochgefühl in Geschäftigkeit um. Ein einsamer Mensch, der sich, gebettet, wie er nun einmal ist, nicht beklagen darf. Doch wie er sich auch wendet und dreht, er liegt falsch. Auch mit Nassen liegt er falsch. Sie haben einander erwählt, weil der Zweck die Mittel heiligt und beide sich auf Projektsuche befanden. Da genügt ein Gespräch in der Mensa und der Pakt ist geschlossen. Im gläsernen Gefängnis der Pyramide mutiert Sympathie zum Gefahrgut, sie schwappt leicht über Ränder und kontaminiert die Umgebung. Dir gefällt der Hunger, den beide ausstrahlen, das tragische Bedürfnis nach mehr … allerdings musst du, bei einigem Nachdenken, Iris recht geben, die sich darüber mokiert, dass, rein quantitativ, das Bedürfnis nach mehr Wissen darin nur einen verschwindenden Teil ausmacht, gelöst und genährt vom alles beherrschenden Bedürfnis nach Status, also nach Würde. In diesen Frühsommertagen hat Blowasser, der Mann ohne Rückgrat, Konjunktur. Zusammen mit Nassen, der endlich erwachsen werden muss, hat er einen Projektantrag zum Laufen gebracht. Auch bei Blowasser setzt sich, wie bei vielen Mitmenschen, Hochgefühl in Geschäftigkeit um. Ein einsamer Mensch, der sich, gebettet, wie er nun einmal ist, nicht beklagen darf. Doch wie er sich auch wendet und dreht, er liegt falsch. Auch mit Nassen liegt er falsch. Sie haben einander erwählt, weil der Zweck die Mittel heiligt und beide sich auf Projektsuche befanden. Da genügt ein Gespräch in der Mensa und der Pakt ist geschlossen. Im gläsernen Gefängnis der Pyramide mutiert Sympathie zum Gefahrgut, sie schwappt leicht über Ränder und kontaminiert die Umgebung. Dir gefällt der Hunger, den beide ausstrahlen, das tragische Bedürfnis nach mehr … allerdings musst du, bei einigem Nachdenken, Iris recht geben, die sich darüber mokiert, dass, rein quantitativ, das Bedürfnis nach mehr Wissen darin nur einen verschwindenden Teil ausmacht, gelöst und genährt vom alles beherrschenden Bedürfnis nach Status, also nach Würde. Das Verlangen nach mehr Würde setzt, wie jedes Verlangen, einen Mangel voraus. Wer sich unwürdig fühlt, mag sich darin wohlfühlen, aber wer sich ein bisschen würdig fühlt, den verlangt es, diesen unwürdigen Zustand zu beenden und mit wirklicher Würde aufzutrumpfen. Ist mehr Würde wirkliche Würde? Bläst das Verlangen nach ihr nicht automatisch die Unwürdigkeit auf, die tief gefühlte, den Ausgang des Begehrens? Könnte sein, könnte sein. Vermutlich ist es so.
Blowassers Anwesenheit strafft die Kollegen. Sie müssen zeigen, was in ihnen steckt, peinlich darauf bedacht, seinem prüfenden Auge standzuhalten, das wie durch Zufall gleichzeitig auf der Fensterbank liegt, weil dort ein Staubfaden unter der Einwirkung eines Sonnenstrahls aufglimmt. Auch Tronka erliegt diesem Trick hin und wieder: er gehört zum erotischen Unterfutter der stillen Beziehung, die sie zueinander unterhalten. Soll heißen, Tronka weiß Bescheid und lässt sich doch verführen. Dass Blowasser sich mit Nassen zusammengetan hat, besitzt einen einfachen Grund: Nassen läuft. Im Jüngeren glüht der Wunsch sich zu beweisen. Auf diese simple Weise wirkt er als eine Art Aushängeschild des Projekts, ohne dass Blowasser Druck aufbauen oder die Außendarstellung selbst in die Hand nehmen müsste. Nassen macht seine Sache gut. Binnen kurzem ist ihr Projekt in aller Munde, fast als hinge das Prestige der Institution davon ab, dass es gelingt. Blowasser braucht den Herold. (In jedem Vorrücker steckt ein Nachrücker. Raupe und Schmetterling. Beide wissen nichts übereinander und alles. Wie er steckt, der Heros zwanghafter Nachfolge, zwanghafter Verweigerung, zwanghaft verweigerter, zwanghaft zelebrierter Übereinstimmung, das verrät mancherlei über die kommende Wissenschaft.) (In jedem Vorrücker steckt ein Nachrücker. Raupe und Schmetterling. Beide wissen nichts übereinander und alles. Wie er steckt, der Heros zwanghafter Nachfolge, zwanghafter Verweigerung, zwanghaft verweigerter, zwanghaft zelebrierter Übereinstimmung, das verrät mancherlei über die kommende Wissenschaft.) Der Philosoph Steinschwafel, der große Steinschwafel, nach dem Geheimnis einer Karriere gefragt, die ihn so hoch hinaufgetragen hat, dass ihn die Zeitungen am Ende seines langen Wirkens als einen der großen Denker des Jahrhunderts feiern, soll irgendwann kurz und kryptisch geantwortet haben: »Nur die Besten.« Offenbar wollte er damit, den Greisenvorteil nutzend, andeuten, er habe sich von Anfang an nur mit den besten Denkern seiner Zeit abgegeben. Was voraussetzt, dass einer bereits in frühen Jahren weiß, wer diese Besten sind, wo sie sich gerade aufhalten und wie man sie ansprechen muss. Nicht jeder, seufzt Blowasser, ist so beschlagen. Anders als Friedenwanger verfügt Blowasser in der Fakultät über keinerlei ›Standing‹. Der Grund ist vermutlich darin zu suchen, dass er ein paar Jahre jünger ist und ihm kein 68er Ruf vorausgeht. Fast alle Bälleverteiler im akademischen Ränkespiel stammen aus dieser Personengruppe. Sie steht in engem Kontakt zur Politik und wird von den Medien mit gesellschaftlicher Sichtbarkeit versorgt. Positiv gesprochen bedeutet das: Kaum jemand ist mit Blowasser ›durch‹. Er gilt als charmanter Kollege – ›reizend‹, ›angenehm‹ –, seine Zukunft steht himmelweit offen und jedermann wünscht ihm, der offenen Zukunft sei Dank, nur das Beste.
Wer das Beste will, braucht den Kontakt zu den Besten, gesetzt, man weiß, wer sie sind. Blowasser weiß es definitiv nicht. Aus diesem und keinem anderen Grund vertraut er auf die soziale Auslese und pirscht sich an jeden heran, der es einmal (aus seiner Sicht: für immer) in die Medien geschafft hat, nicht in irgendwelche, sondern in die sogenannten Leitmedien, denen die Aufgabe obliegt, der abgeschlagenen Konkurrenz Maßstäbe und Sprachregelungen an die Hand zu geben. So gründlich geht er dabei zu Werke, dass man in diesen Kreisen bereits anfängt, ihn hinter vorgehaltener Hand den ›Pirscher‹ zu nennen. Davon weiß die Pyramide, ein paar Eingeweihte ausgenommen, vorerst nichts. Auch Tronka, der ihn zu kennen glaubt, wäre sehr erstaunt, würde man ihm über diese Seite des Freundes ein Licht aufsetzen. Die Regel vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, erlaubt auch einmal die Umkehrung – hier genießt einer zuhause den Respekt, den er sich draußen zu erarbeiten wünscht, und wieder liegt die Kollegenschaft daneben. Von solchen Verkennungen und Verkehrungen lebt die Gelehrtenrepublik. Kein Zweifel, sie lebt gut davon, solange ihr die Talente nicht ausgehen und die Kommunikationshürden nach innen und außen ein anmutiges Kletterarsenal abgeben, an dem jeder auf eigene Rechnung erproben kann, was an ihm ist. Die Republik der Geister ist eine Fiktion, die der Gelehrten eine gelehrte Fiktion. Das zu behaupten verlangt nicht viel Humor. Es liegt, wie sollte es anders sein, in der Sache begründet. Gedanken benötigen, um sich zu entfalten, freien Verkehr. Verkehr hingegen braucht Regeln, um frei zu fließen. Der menschliche Alltag ist durchsetzt von Paradoxien, die durch Training zwar nicht aus der Welt geschafft, aber praktisch aufgelöst werden können. Je nach Denkart werden sie als groß oder klein empfunden, als lästig oder befreiend. Freiheit in der Bewegung ist keine natürliche Mitgift, sondern das Ergebnis unablässiger Übung. Wer, aus Unkenntnis oder Trotz oder anarchischem Übermut, die Regeln in Frage stellt, behindert, bis auf weiteres, den Verkehr. Wer sie nicht in Frage stellt, der behindert (na was wohl?) die freie Entfaltung. Jedenfalls bis auf weiteres. Die Fiktion besteht darin, die Regeln so zu behandeln, als seien sie Luft, und sie dabei so zu respektieren, als seien sie gewachsener Fels, Basis aller Bewegung. Die gelehrte Fiktion besteht darin, zu behaupten, die Einhaltung der Regeln sei rational (i.e. das Rationale). Rational ist, was aus sich selbst gilt. Der Respekt, den man ihnen zollt, entspricht dem des Wärters, der einen Löwenkäfig betritt: angstfrei und angstdurchsetzt. Das geht eine Zeitlang gut, doch irgendwann versagen die Nerven und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Geist will Beachtung, der Gelehrte will Schüler. Besser noch: er will Adepten. Die Kunst des Gelehrten bedarf der Stille: die Hälfte seiner Zeit entfällt aufs Training, um fit zu bleiben, in die andere teilen sich seine Forschungen und die Einweisung der Adepten. Es ist immer ein Fehler, Vor- und Nachrücker getrennt zu betrachten. Zusammen bilden sie die kleinste Einheit des Betriebs. Wer vor-, wer nachrückt, entscheidet das Los. In den Gremien wird gewürfelt, in den Köpfen der Einzelnen auch. Der Vorrücker hat einen Wurf frei, der Nachrücker verfolgt das Spiel mit bebendem Blick. Alles, was er weiß, ist: sein Lebensglück hängt daran. BLOWASSER / NASSEN Nein, Zerstörer sind Blowasser / Nassen nicht. Weder allein noch zusammen. Wenn sie zerstören, dann nur, was allerorten bereits zerfällt. Dass es durch ihr Zutun zerfällt, bezeugt bereits seine äußerste Fragilität. Auch die Republik der Geister zerfällt aus Mangel an Geistern. Die Gelehrtenrepublik, die so bestandsicher daherkommt, solange das allgemeine Bildungswesen ihr immer neue Mitglieder zuführt, unterliegt im Inneren einem Turnus, der aus Gelehrten Mitläufer werden lässt und aus Mitläufern Büchsenspanner, ungeachtet der Tatsache, dass säkulare Wissenschaft angesichts ihres Waffenarsenals ohne diese Spezies auskommen sollte. Blowasser und Nassen wissen nicht, dass sie ihr angehören, sie wissen nicht, wie strikt ihre Welt von der des Geistes geschieden ist, sie halten die Geistlosigkeit, die sie versprühen, für Geist, sie halten das Schicksal ihrer kleinen Welt in Händen und sich für groß. Krämpfe? Welche Krämpfe? Krämpfe der Existenz. Krämpfe der fiebrigen, Krämpfe der enttäuschten Erwartung. Krämpfe des So-und-anders-Seins, Kollisionen des Vor- und Nachrückertums in ein und derselben Person, in Intrigen und Gemeinheiten endend, denen die Wissenschaft (das geheiligte Attachiertsein an die Mutter aller Erkenntnis und aller Karrieren) als Sternenmantel dient. Nassen und Blowasser wissen noch nicht… Was wissen sie noch nicht? Dass zwischen ihnen bald Todfeindschaft herrschen wird? Aber wer sagt denn, sie wären miteinander befreundet? Wer sagt denn, sie wären einander zugetan? Gleichgültig sind sie sich jedenfalls nicht. Zu persönlich wäre das Band, das sie zusammenhält, um so etwas zuzulassen, zu unpersönlich, als dass ihm mit Freundschaft gedient wäre. Es wäre, als Band, unerheblich. Aber unzerreißbar, solange der ausstehende Erfolg des gemeinsamen Projekts es rechtfertigt.
Das Wort bleibt ihm zwischen den Lippen hängen. Argloser beobachtet ihn scharf.
Nassen kommt ihm zu Hilfe. Und er hört sich um. Wo immer sich die Gelegenheit bietet: Nassen hört sich um. Bis irgendwann die ganze Fakultät weiß: da ist einer, der hört sich um. Wer hört sich um? Keine Ahnung. Eine Nebenfigur wie Nassen, unterhalb der Sichtbarkeit angesiedelt, genießt den Leidensvorteil, nicht beachtet zu werden. Argloser, der das Spiel durchschaut, behält Nassen im Blick. Sieh an, die Ratte, geht es ihm durch den Kopf. ›In der Sache‹ weiß er nichts beizutragen. Das schwächt seine Position und bannt ihn auf den Beobachterposten. Einmal Argloser, immer argloser. nichts geht leichter als das. Man nehme an… – ach was, man nehme die üblichen Ingredienzien, Feuer, Wasser, Luft, ein wenig Erde dazwischen, feuchte, warme Muttererde, das erhöht den Dampfgehalt der Luft, die wir alle atmen, und das ist gut für die Sache. Die Frage bleibt immer, wer zündelt, aber sie bleibt, alles in allem, unerheblich, ein Zundelfrieder findet sich immer. Auch Wassermann darf da nicht fehlen. No water, no fun. Selbstverständlich wäre kein Nassen der Welt in der Lage, die Republik der Gelehrten zu sprengen. Wer ist Nassen? Ein Nichts. Ein Nichts mehr. Kein bloßes Nichts, bloß ein Nichts mehr. Die Botschaft muss von außen kommen und sie muss absolut sein. Wassermann kommt, wann immer die Zunft nach ihm verlangt – prompt, als habe er, unter seinen vielen Terminen, nur auf diesen einen gewartet, er liefert ab, was sie von ihm ordert, und verschwindet wieder in den Nebeln einer Existenz, die den Kollegen als unergründlich gilt, weil er Fragen nach seinem Befinden, seinen Plänen oder gar seiner Einstellung zu Abwesenden konstant mit einem Lächeln beantwortet, dessen opake Verbindlichkeit sein Gegenüber über die Plumpheit grübeln lässt, zu der es sich gerade hat hinreißen lassen. Übrigens kommt der Effekt bei Nassen nicht an, was beim stets wachsamen Blowasser Zweifel an seiner akademischen Zukunft sät. Wäre Hölzchen nicht Hölzchen – denn er ist nicht zwingend Hölzchen, und keineswegs immer –, hier und heute wäre er Wassermann. Damit wäre er fast die Person, für die seine Universität ihn hielt, als sie ihn einkaufte, und für die er sich selber in Momenten äußerster geistiger Klarheit hält. Blowasser hingegen, jünger an Jahren, bewundert Wassermann maßlos. Es würde ihn nicht erstaunen, erführe er heute aus berufenem Munde, dass der sperrig-geschmeidige Pyramidenspross mit den klobigen Händen in einigen Monaten seine eigene öffentlich-rechtliche Fernsehsendung moderieren wird. Noch befindet er sich im Gespräch mit Hölzchen, der zwar in der Pyramide Gaststatus genießt, aber, aus welchem Grunde auch immer, sich ›durchaus‹ als ebenso eitler wie innerlich bewegter Gastgeber fühlend, keinen Zentimeter von seiner Seite weicht. Wassermann hat das neue Buch des Kollegen Killus, dessen Erscheinen der Große Denunziator mit seinen unerschöpflichen Machtmitteln bis zum letzten Tag zu verhindern versuchte, bereits gelesen und möchte, wie er andeutet, gleich nachher, in seinem Vortrag, darüber einiges anmerken. Hölzchen, innerlich leicht beunruhigt, versichert ihm strahlend, nichts anderes werde an diesem etwas diesigen Nachmittag von ihm erwartet, »denn diese Dinge müssen besprochen werden, wir kommen darum nicht herum«. Wassermann lächelt – ein wenig mechanisch, wie es Hölzchen vorkommt, der froh ist, dass kein Dritter Zeuge seiner Bemerkung wurde –, er hat unter den sich versammelnden Hörern einen alten Freund, den Industriehistoriker Lobbock entdeckt und zieht sich mit ihm, den Kopf gesenkt und leicht zur Seite gedreht, in eine der hinteren Sitzreihen zurück. Mechanisch fahren seine Hände über die Seiten eines Notizhefts, das aufgeschlagen vor ihm liegt, und Hölzchen … Hölzchen möchte brennend gern in diesen Aufzeichnungen lesen, besser: gelesen haben, was alle gleich erwartet, denn im Grunde seines Herzens ist er ein ängstlicher Mensch und ›diese Dinge‹ treiben ihn, wie er das ausdrücken würde, um. Immerhin ist neben dem Dekan, wie er zu seiner Verwunderung feststellt, auch der Rektor erschienen und hält, die Hände jovial in die Hosentaschen vergraben und unauffällig die Nähe des Fensters ansteuernd, gewichtig im Hintergrund Hof.
Wer so redet, in Anwesenheit Starcks, des Philosophen mit Ostvergangenheit, der durch die Reihen der Plaudernden pflügt, als wolle er sie zwingen, ihm ein paar ironische Gedanken nachzuwerfen, der muss wissen, welchen Kraftschluss er damit herstellt:
Nassen, ungewohnt schlagfertig, überdenkt die Kühnheit, von der er gerade noch nicht wusste, dass sie in ihm steckt und herauswollte.
Starck … er bricht ab, nein, er verstummt, sein Blick sucht jene innere Ferne auf, die jeder Mensch kennt, aber nur einige aus eigener Anschauung.
Argloser mustert ihn unbestimmt von der Seite. Selten gesehen, eigentlich nie: Tronka steht mit Friedenwanger zusammen und pflegt das Gespräch. Dieser Hund, denkt Friedenwanger, er hält sein Pulver trocken. Das macht nichts, ich werde ihm auf die Schliche kommen. Tronka ist notorisch unzuverlässig und dies hier ist eine Zeit der Entscheidung. Aber sein Antifaschismus ist echt, ich weiß das von Nassen. Langsam wird er brauchbar, der junge Mann. Nein, das ist doch…!
―Ist Romanistik ein Fach? Auch heute gleitet ihr apartes Hellgrau zwischen den gravitätischen Anzugträgern, entschwindet, taucht auf, entschwindet, als habe sie’s darauf angelegt, ungesehen gesehen zu werden – ein Kunststück, das umso höher zu werten ist, als ihre Erscheinung nach wie vor die vibrierende Aufmerksamkeit der ›alten Säcke‹ auf sich zieht, von denen einige ihren ehelichen Weg von Anbeginn säumten: Dassler, der in diesem Ambiente natürlich fehlt (nie würde er zur Causa Killus ein Sterbenswort sagen, geschweige denn einer Veranstaltung beiwohnen, in der sie zur Verhandlung ansteht), aber jedesmal, wenn sie einander begegnen, ihr eine seraphische Überhöflichkeit entgegenbringt, die sie schamlos genießt, Friedenwanger, das ›Stück Scheiße‹, als das ihn ein jüngerer Kollege ihr gegenüber vor einiger Zeit im Bett bezeichnete, Lobbock, das ›röchelnde Walross‹, Ruffmann und Rosshammer, ›unzertrennliche Schwätzer, bei denen der Charme nicht für beide gereicht hat, so dass sie irgendwann beschlossen, ihn abwechselnd aufzutragen‹, Reinmeier (›Reinmeier ist süß‹), Hölzchen-auf-Stöckchen-Hölzchen, Phallobst-Dürrobst und all die anderen. ―Wir sprechen uns später. Kommen Sie in mein Büro! Wie man eine Republik zerst- … Aber das wissen Sie ja schon. Sie werden sich – verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt
adressiere … überaus geschätzte Kolleginnen und Kollegen…
Sie werden sich gefragt haben – natürlich haben Sie sich gefragt,
geben Sie’s zu, ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an, Kollege
Reinmeier, Sie müssen es sich gefragt haben – aber
was nur? Was, zum Teufel, so müssen Sie sich gefragt haben,
drängt den Wassermann, uns eine Wasserstandsmeldung wie diese ins
Haus zu schicken, ungefragt, unerbeten: Will er womöglich eine
Anleitung liefern? Will er eine Erklärung abliefern für etwas, was
gerade unter unseren Augen geschieht, während wir doch denken, es
geschieht gerade etwas anderes? Oder will er uns etwas Historisches
erzählen, schließlich ist er Historiker, und Historiker … lieben
nun mal Historisches, es fällt schließlich in ihr Genre, und die
Zerstörung einer … Republik, nun, da muss man in der Geschichte
nicht lange suchen, nein, wirklich nicht lange… Apropos suchen:
›Suchen Sie nicht‹, hat mir mein alter Lehrer Prostitsch einmal
gesagt, ›finden Sie lieber, das geht angenehmer und dann
findet man dabei auch immer ein Stück von sich selbst‹. Ein Stück von sich selbst. Sehen Sie: die Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, sie enthält
vielleicht mehr von mir… Warum ich Ihnen das sage? Sehen Sie, Sie und ich, auch
das wäre eine Geschichte, die einmal erzählt werden will. Einstweilen ist es
bloß eine Konstellation. Sie wissen schon, was eine Konstellation ist. Eine
Konstellation … was ist eine Konstellation? Verzeihung, da fällt mir die
Geschichte von diesem Austauschschüler in Amerika ein – wir schicken Schüler
nach Amerika, damit sie sich austauschen, ganz recht –, dem
Austauschschüler, der eines Nachts – oder am späten Abend, ich mache es nicht so
dramatisch – in eine offene Garage eindringt, eine offene, gut ausgeleuchtete
Garage, in der vielleicht ein Auto herumsteht, vielleicht auch nicht, die
Zeitungen bleiben da ungenau, jedenfalls treibt ihn der Durst und eine Flasche
Coca Cola sticht ihm ins Auge, nichts natürlicher also für einen Halbwüchsigen,
als diesem Drang nachzugeben, ihm nachzugehen, ja nachzugehen, und der
Hausbesitzer erschießt ihn, denn er hält ihn für einen Einbrecher, er erschießt
ihn einfach… Dabei ist es doch bloß ein Junge, der Durst hat, nicht die Spur von
einem Einbrecher, nicht die allergeringste Spur… Das, sehen Sie, ist eine Konstellation. Und eine fatale dazu. Es ist sogar, genau genommen, die Konstellation, um die es geht, auch wenn
noch nicht feststeht, wer am Ende dieses Abends erschossen in der Garage liegt.
Ich möchte Sie nicht verunsichern, nein, das möchte ich nicht. Jedenfalls täte
es mir leid, falls so etwas geschähe, aber Sie und ich, wir müssen schon auch
verstehen, wie es um uns steht. Wir befinden uns auf einem fremden Grundstück,
aber wir wissen es nicht. Wir realisieren es nicht. Denn es ist unser Haus,
unser gemeinsames Haus, auf das wir getrennte Eigentumsrechte erheben, teils aus
Erwerbs-, teils aus Bedarfsgründen, so jedenfalls steht es in unseren Verträgen,
wir müssen sie nur von Zeit zu Zeit studieren. Richtig studiert, ist kein
Konflikt so tragisch wie der zwischen dem Garagenbesitzer und dem jungen Mann,
der Lust auf eine Cola hat und sie sich dort holt, wo er sie nicht zu Unrecht
vermutet, weil er sie dort immer holt, wenn er sich zu Hause weiß. Und wo wäre,
vorausgesetzt, die Nacht ist lau und die Sternlein alle, sie blinken, ein junger
Mensch aus Düsseldorf mehr zu Hause als in L.A.? Und wo wären wir mehr zu Hause
als dort, wo wir, genau betrachtet, nichts zu melden haben? Wir müssen unsere
Verträge studieren und tun’s nicht. Warum? Ich frage Sie und mich: warum? Weil
wir die Schrift verloren haben. Wir haben die Schrift verloren. Unsere Verträge (denn um sie handelt es sich)
scheinen uns null und nichtig, denn wir können sie nicht mehr lesen. Einer
dieser Verträge – auf die anderen komme ich noch – besagt, dass wir nicht
schweigend zusehen dürfen, bei Schaden für unsere moralische Gesundheit – dass
keiner das Recht hat, tatenlos zuzusehen oder sogar wegzusehen … Sie erinnern sich? Das alles ist nicht so lange her. Wir haben in diesem festen Gefüge aus
Sätzen gelebt, es wäre nicht nötig gewesen, sie zu Ende zu sprechen. Sie hatten
in unser aller Leben die Führung übernommen, sie sprachen sich selbst zu Ende,
wann immer wir dazu ansetzten, sie zu vollenden. Und gerade jetzt, da ich diese unvollendeten Sätze ausspreche, bemerke ich eine gewisse
Bewegung in Ihren Reihen. In der Tat, der Satz, den zu formulieren ich gerade
ansetze, den zu formulieren ich gerade angesetzt habe … ich werde ihn nicht zu
Ende führen … es scheint mir unsinnig, ja kontraproduktiv, ihn zu Ende zu
führen. Dieser Satz sät Unfriede. Darin besteht heute seine einzige
Funktion. Wobei ich das Heute nicht zu eng fassen möchte, es handelt sich um ein
moralisches Heute, dessen Grenzen sich nicht so leicht nachzeichnen lassen.
›Einmut zu Zwietracht‹: die Frage ist, ob wir uns so etwas leisten können, ob wir uns
so etwas leisten wollen, auf lange Sicht, womöglich bereits auf kurze. Es fällt schwer, deutlich zu werden in einer Welt aus … ich
suche noch nach dem angemessenen Wort und sage einstweilen: aus
Über-Deutlichkeiten. Über-deutlich ist, was keine Chance besitzt,
gedeutet zu werden, anständig gedeutet zu werden nach den uns
auferlegten Regeln des Verstehens, die über die Jahrhunderte
entwickelt wurden, um zu verstehen, was, nun, was geschrieben steht. Sie
verstehen die Formel, ich verstehe sie, wir alle verstehen ganz gut,
was damit gemeint ist, wir meinen zu verstehen, was damit gemeint
ist, wir meinen zu verstehen
… damit beginnt die Misere, eine
Misere, denn es gibt noch andere. Deshalb schalte ich jetzDer Extravagante
Pacta sunt servanda
Es ist nichts so fein gesponnen
es kommt doch an die SonnenR stellt zu seinem Erstaunen fest dass die Menschheit schon immer am Ziel sei
R stellt zu seinem Erstaunen fest dass die Menschheit schon immer am Ziel sei
Eine Gesellschaft namens Gesellschaft bedient sich einer fiktiven Gesellschaft namens Wissenschaft
Die Erziehung der Rüden
Das Experiment ist die Simulation
Die Simulation ist das ExperimentDas Ausgeschlossene ist das Vertraute
Warum?
Weil er zu ist.
Nicht zugeknöpft, nicht verschlossen, nicht abweisend – doch unzugänglich im
Gehäuse seiner Einstellungen, aus denen er sich durch nichts und niemanden
herauslocken lässt.
Ein Spötter, der mit sich in seiner Haut allein ist.
Wie man auch sein Benehmen taxiert –: er kommt auf seine
Kosten.
Eher lautet die Frage, ob es ihn stört.
Es stört dich, dass einer wie er in deinem Revier
wildert.
Aber vielleicht kommt hier bereits die Lösung in Sicht: die Art und
Weise, wie dieser Außenseiter Liz umstreicht, lässt die Mär vom großen Jäger im
Handumdrehen zerfallen. Eikes Gesetz
Projektion
Eikes Vaterkomplex ist legendär.
Das ist nicht so einfach.
Eike hasst den Vater.
Er hasst ihn, wie dieser sich hassen würde,
litte er nicht unter dem Groll der Mutter,
sondern trüge ihn gegen sich selbst
aus Solidarität mit der Frau
an seiner Seite.
Einig worüber? Über die Welt da draußen.
Welche Welt? Eine Welt aus Geschichten.
Eike kennt die Welt aus Geschichten.
Eike lehnt Tronka ab.
Das Gespräch an sich.
Das Gespräch außer sich.
Das Gespräch der anderen.
Das Gespräch als Bereicherung.
Er bereichert sich an gefallenen Worten, als fielen sie ihm zu.
Das sind so Fragen.
Sobald keiner hinsieht, greift Eike zu.
Er ist ein Nascher.
Er ist ein elender Nascher.
Beantwortet das die Frage?
Sein Misstrauen deckt den Raum der Zuversicht ab.
Politik spielt im Raum der Zuversicht.
Demnach deckt er sie ab.
oft und ausgiebig anzuschwärzen. Warum?
Ist Eike weniger Freund? Keineswegs.
Eike ist niemandes Freund.
In seinen Augen ist Hiero ein Niemand.
Zeig ihn mir!
Vielleicht hast du Grips. Mag sein, ich will das nicht untersuchen.
Aber Verstand? Wer hat schon Verstand? Ich kenne keinen.
von Kants Verstand?
die anderen würden es nicht. Dabei redest du dasselbe Zeug wie alle anderen auch. Dein Verstand? Dein Verstand befiehlt dir, dich nicht zu weit von der Herde zu entfernen. Das ist dein ›Mut‹.
Eike ist überzeugt: Dieser Roman macht ihn berühmt.
Eike will berühmt sein.
Eike ist überzeugt: Berühmtheit hat ihren Preis.
Diesen Preis will er nicht zahlen.
Eike hasst die Berühmten.
Er will vergessen werden.
Das kann er haben.
Wer gegen das Vergessen angeht, der vergisst viel. Das ist ganz normal.
Man kann nicht alle Muskeln auf einmal spannen.
Ich selbst bin einer, den man vergisst.
Ich werde gewesen sein und keine Spur hinterlassen haben,
es sei denn, ich lege eine.
Ich kann das.
Aber darf ich das auch?
Würden alle Professor, dann gäbe es kein Wissen.
Würden alle Politiker, dann gäbe es nichts zu regieren.
Würden alle Priester, dann gäbe es nichts zu glauben.
Alle menschlichen Dinge hängen an diesen vier Wörtern:
Es gibt einen Unterschied.
So denkt Eike.
Nein, denkt Eike, den gibt es nicht.
Mache ich einen Unterschied? Nein.
Folglich gibt es mich auch nicht.
Ich bin einer der vielen, die keinen Unterschied machen.
Quod licet Jovi non licet bovi.
Eike ist Lateiner. So etwas, findet er, macht einen Unterschied.
Das, findet er, ist keine frohe Botschaft.
Eike vergisst schnell.
Ich will alle sein.
Ich will wie alle sein.
Ich will nicht auffallen.
Das ist meine Art aufzufallen.
Er will es nicht denken, aber es denkt sich.)
Ich vermittle Wissen.
Wirkliches Wissen ist niemandes Wissen.
Ich will niemand sein.
Dieser oder ein anderer.
Es sind nicht meine Gedanken, die ich vermittle.
Wenn ich wiedergebe, denke ich da überhaupt?
Ich denke mir meinen Teil.
Ich stelle ihn daneben.
Aber nur in Gedanken. Sage:
Muss ich mehr dazu sagen? Ich denke nicht.
Besser die Boote verbrannt als die Zunge.
Erwachen. Das zerschmetterte Gesetz gilt.Hiero, gedankenverloren, holt sich bei der Geschichte Rat
1
wo bleibt dann die Geschichte?
Was ist dann die Geschichte?
Ist das die Geschichte?
Ist das das Ende der Geschichte?
2
Anfang der Geschichte: im Geschlecht träumt die Geschlechterfolge.
Ende der Geschichte: das Geschlecht wird zum Menschheitstrauma.
Ist das noch Geschichte? Ich denke nicht. Es ist etwas danach.
Das Ende der Geschichte ist nicht das Ende der Geschichten.
Die Geschichten nehmen kein Ende.3
Etwas zwischen Geschichte und
Nicht-Geschichte.
Die einen haben gesiegt und die anderen haben gewonnen.
Die Sieger haben das Sagen.
Gewonnen hat, wer etwas zu sagen hat.
Ist das der Sinn der Geschichte?
Aber das ist Un-Sinn.
4
Ich z.B. gehe mit deiner Frau ins Bett.
Es ist dein Experiment, also hast du das Sagen.
Es ist deine Frau, also hast du verloren.
Der Sieg ist die Bedingung der Niederlage.
Die Regel überschreibt das Experiment.
5
Das Experiment ist auf Sand gebaut.
Der Name des Sandes lautet auf: Diskretion.
Ich sage nicht, was ich weiß, und du sagst nicht, was du siehst.
Darauf läuft es hinaus.
Wer verlangt das? Die Frau, die zwischen uns steht.
Sie will ihr gutes Recht.
6
Hat das einer durchdacht? Hat das
mal wirklich einer durchdacht?
Wenn vom Geschlecht bloß der actus
purus übrig bleibt, was bleibt dann von den Geschlechtern?
Der Mann und die Hure.
Wenn der
Mann die Hure
durchstreicht, aus einem Gleichheitsimpuls heraus undenkbar macht (oder den
Gedanken daran bloß als unbegreiflichen Unfall seiner löchrigen Natur zulassen
darf), wo zum Teufel bleibt dann die Frau?
Verschwunden.
Verschwunden
im Schamgebrabbel sine sexu. 7
Hat sich mein Bedürfnis gewandelt? Nicht dass ich wüsste.
Hat sich Leckebuschs Bedürfnis gewandelt? Es sieht nicht danach aus.
Hat sich Elisabeths Bedürfnis gewandelt? Oha.
Hat sie Bedürfnisse?
Leckebusch?
Was weiß der schon. Wenn aber, so Hiero, die Veränderung von Elisabeth ausgeht, welchen Grund könnte es dafür geben?
Reflexion
Das Begehren, das mich begehrt.
Liegt darin eine
unzulässige Verdopplung?
Nein, keineswegs. Es entspricht meinem Weltbegriff.
Die Welt ist alles, was mich begehrt. Ich bin das wählende Begehren, ich
weigere mich, Objekt einer Wahl zu sein. Ließe ich die Wahl zu, die mich
verwirft, dann wäre ich … spuck’s aus, Hiero, spuck’s aus: Bewohner zweier
Welten, also ein laufender Widerspruch, also unglücklich. In der einen begehrt, in
der anderen … verworfen. Wer mich verwirft, der negiert mich. Ich kann nicht
zulassen, negiert zu werden, das liegt … vollkommen außerhalb meiner
Möglichkeiten.
was wirklich, und dem, was unwirklich ist.
Ich, Hiero, dekretiere:
Fiktives Gespräch zwischen Guido und Hiero im Gedenken an alte Zeiten
Zwei brave Deutsche unterhalten sich beim Überqueren der Fahrbahn über den braven Deutschen
Die Deutschen leben in einer Fäkalkultur. Sie finden scheiße, was damals geschehen ist, sie haben aus der Fäkalie ein Adverb gezogen, das macht ihnen keiner nach. Jedenfalls nicht so schnell, auf dieses Alleinstellungsmerkmal legen sie Wert. Was ist deutsch? Sehr einfach: eine Sache ›scheiße‹ zu finden. Nichts geht leichter als Deutschsein: Finde es scheiße und du befindest dich mittendrin. Nicht wenige bemühen dafür die heilige Dreizahl: scheiße scheiße scheiße. Sie schrecken vor nichts zurück. Darin gleichen sie ihren Vorfahren, jedenfalls denen, die vor nichts zurückschreckten. Und darum geht es schließlich: aversive Mimesis, Nachspielen im Modus des Abscheus. Da staunen Sie! Es will Ihnen nicht zu Kopf? Ich will’s Ihnen glauben. An diesem Knochen habe ich selbst lang genagt.
Das reicht ja bis ins Psychosomatische. Meine ganze Umgebung hat es am Darm. Eine Manifestation, wenn Sie mich fragen. Der deutsche Darm stranguliert sie alle. Wenn ich das so sagen darf. Die Mitgardschlange vermutlich. Darf man das so sagen? Ich weiß es nicht. Es ist ja schon ein bisschen geschmacklos. Und irgendwie auch scheiße gegenüber den Opfern. Ich finde Schweigen manchmal richtig. Man kann nicht zu allem schweigen, das ist auch richtig, aber Sprache ist auch Macht und wer zu allem etwas zu sagen hat, der bringt sich zwanghaft in eine Machtposition, die ihm nicht zusteht. Eigentlich steht sie niemandem zu. Die Deutschen müssen lernen, dass Deutschsein nichts Besonderes bedeutet, darin besteht ihre spezielle Lektion. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Jedenfalls wüsste ich nicht wie. Aber vielleicht sehen Sie eine Lösung.
Wenn mir mein Körper nicht mehr sagt, wann ich aufhören muss, dann sollte ich Hilfe in Anspruch nehmen. So schwer ist das gar nicht. Am besten geht das, wenn alle Seiten ihren Stolz ein wenig zurückschrauben. Ich glaube, ich kann das beurteilen, weil ich schon Fälle gesehen habe, ich meine jetzt, das ging da ins Existenzielle. Da wieder herauszukommen ist gar nicht so einfach.
Sie meinen: Deutschsein auf Krankenkasse?
So in der Art. Ich würde das jetzt nicht ironisieren. Wobei man als Kassenpatientin sich nicht so … in der idealen Position befindet, das gebe ich gerne zu. Aber nach meiner Auffassung ist das auch gar nicht nötig. Wichtig ist, dass man etwas dagegen macht, zum Beispiel auf Demos oder in Schreibprojekten, ja in Schreibprojekten, das hat eine ganz schön befreiende Wirkung. Wow. Man lernt dann auch zu seiner Schuld zu stehen.
Du meinst Verantwortung?
Ich meine schon auch Schuld. Schreiben heißt ja begreifen, was man sich schuldig ist. Jeder steht in seiner Schuld, das ist ganz richtig, aber durch das Schreiben begreift man dann auch, dass alle bei allen ›in der Schuld stehen‹, ich finde das einen ganz niedlichen Ausdruck, der wirklich beschreibt, worum es geht. Wer alles scheiße findet, der hat ja kein wirkliches Verhältnis zu seiner Mitwelt. Eigentlich existiert er doch gar nicht.
Wenn’s darum geht. Das macht die Toten auch nicht lebendig.
Sie wollen Tote erwecken, mein junger Freund? Das nenne ich mutig. Mit wissenschaftlicher Prosa werden Sie das nicht erreichen. Sie gehören zu den Deutschen, die gern ungeschehen machen wollen, was nun einmal geschehen ist. Sehen Sie sich vor! Das ist ein Impuls, den die Scham eingibt. Sie wollen die Scheiße vom Tisch haben. Das klingt ziemlich ordinär, aber es bringt die Sache auf den Punkt. Sehen Sie sich vor: Sie sind auf der Suche nach dem Sündenbock. Haben Sie ihn erst gefunden, fühlen Sie sich auf wundersame Weise erleichtert. Und der fa-
-schismus?
-tale Zirkel beginnt von vorn.Aus gegebenem Anlass fügt Argloser seinen privaten Aufzeichnungen einen neuen Abschnitt hinzu
Nun gut, Erwählung ist vielleicht das falsche Wort, sagen wir: Außerordentlichkeit. Wenn ich außerordentlich bin, wer sind dann die Ordentlichen? Die Dummen, ganz recht, an denen die Verantwortung für das Geschehene klebt, ohne dass sie sich ihrer erwehren können. Wollen Sie’s denn? Oh ja, sie leiden, ohne zu leiden, sie rufen im Chor: ›Ich war’s nicht!‹ und gerade in ihrer Gesamtheit sind sie es doch. Gleichen sie nicht ihren Väter und Müttern aufs Haar? Sie alle sind eine Brut: der Schoß, aus dem das kroch, der Schoß und das, was aus ihm kroch und wieder Schoß wurde, der sie gebar. Sie sind der ewige Spießer. Sollte also ich einen Makel tragen, dann den, mit ihnen verwandt zu sein. Abkömmling von Spießern, Sohn, Enkel, Bruder, Vater von Spießern, Spießerbrut eben, aus gleichem Schoß, aber in ihm bereits rebellierend, ans Licht getreten als Rebell: Mutter war anders. Solange ich denken kann, war sie nicht imstande, sich aus der Spießer-Umklammerung zu lösen, sie selbst zu sein, aufrecht und frei. Aber anders war sie doch. Zwischen Mutter und mir gab es immer einen starken Rapport.Nimm mich!
Schon würgt dich die Scham.
C: Er hat’s vergessen.
B: Was denn?
C: Darüber will ich jetzt nicht reden.
B: Ich auch nicht.
C: Darüber kann man nicht einfach reden.
B (zu C): Wie hält er das aus?
A: Okay, ich war’s. Genügt euch das? Was wollt ihr?
B & C: Wir?
A: Wer sonst?
B: Ganz recht. Wer sonst.
C: Er hat es vergessen.
B: Er will es vergessen.
A: Ich habe es nicht vergessen.
C: Was denn? Dann sag’s uns.
A: Was wollt ihr hören?
B: Wir? Du fragst uns –?
C: Wir wollen nichts hören. Was könntest du uns schon sagen?
B: Worüber willst du denn reden?
C: Also gut, wenn’s dir dann besser geht.
A: Ich kann nicht.
B: Warum nicht?
A: Ich weiß nicht.
B & C: Er weiß es nicht.
B: Du hast also vergessen, was du getan hast?
A: Nein, habe ich nicht.
B: Dann sag’s doch. Los, spuck es aus.
A: Warum? Was habe ich euch getan?
C: Uns? Das fragst du uns?
B: Wir sind ganz Ohr.
A: Ich weiß nicht, was ihr wollt.
C: Wetten, du weißt es? Wetten, du weißt es?
B: So naiv kann keiner sein.
C: Vielleicht doch. Weiß man’s?
A: Ich weiß, was ihr wollt.
B: Schau an, unser kleiner Naiver.
C: Komm schon, wir haben dich trotzdem gern. Weißt du das nicht?
B: Nicht doch. Er hat’s vergessen.
B und C erinnern ihn daran.
A fühlt sich schuldig.
B und C sind zufrieden.
B und C mokieren sich über ihn.
A empfindet Scham.
B und C sind zufrieden.
B: Er hat da einen Vorschlag.
C (zu A): Ich an deiner Stelle wäre da vorsichtig.
A: Das verstehe ich nicht.
C: Das glauben wir dir sogar.
A: Was willst du damit sagen?
C: Ich? Vielleicht willst du uns etwas sagen.
B: Komm, sag’s schon.
A: Worauf wollt ihr hinaus?
C: Stell’s leiser. Wir verstehen dich ja.
B: Was nichts an der Sache ändert.
C: Was nichts an der Sache ändert.
A: Sagt mal, spinnt ihr?
B: Jetzt wird’s unappetitlich.
C: Du könntest in dich gehen.
B: Wir werfen dir ja nichts vor.
A: Dann ist ja alles in Ordnung.
B: Ist es nicht.
A: Und warum nicht?
B: Das musst du dir schon selbst sagen.
C: Das wäre das Mindeste.
A: Was ist jetzt mit meinem Vorschlag? Wollt ihr ihn hören?
C: Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
B: Du hast es vergessen, stimmt’s?
A: Ich habe nichts vergessen.
B: Du weiß es also.
A: Ich weiß alles.
B: Er weiß es.
C: Und es macht dir nichts aus?
A: Nein. Sollte es das?
B: Uns macht es aber etwas aus.
C (zu A): Was weißt du denn?
A: Keine Ahnung. Was wollt ihr denn wissen?
C: Das solltest du dir selbst sagen.
A: Sag’s mir. Ich weiß jetzt nicht, was du meinst.
C: Das solltest du aber.
A: Warum?
B: Weil es unser Verhältnis betrifft.
C: Gib dir keine Mühe. Er kapiert’s nicht.
B: Das scheint mir auch so.
C: Das war’s dann.
B: Auf diesere Basis kann man nicht arbeiten.
C: (zu A): Lass deinen Vorschlag stecken.
B: Ein andermal vielleicht.
A: Ihr könnt doch nicht…?
C: Doch. Können wir.
B: Und jetzt lass uns –
A: Wie recht du hast. Ich schäme mich.
B: Wie recht habe ich denn?
A: Ich meine einfach: Du hast recht. Ja, ich schäme mich.
B: Warum eigentlich? Was hast du getan?
A: Ich stehe zu meiner Schuld.
B: Das kann jeder.
A: Das verstehe ich nicht.
B: Jeder kann behaupten, er stehe zu dem und dem. Beweise es!
A: Gern. Und wie?
C: Das finde ich jetzt schamlos.
B: Du verlangst von uns, dass wir…?
A: Ich verlange nichts.
C: Das ist auch das Mindeste. Vielleicht verlangen wir ja etwas.
A: Nur zu. Ich höre.
C: Wir verlangen … sagen wir … ein gewisses Minimum an Scham. Ist das zuviel verlangt? Ist das schamlos? Los, sag schon: Ist das schamlos?
A: Das sagt doch niemand.
B & C: Das genügt uns nicht.
A: Was dann?
B & C: Es geht nicht um uns.
A: Da habt ihr verdammt nochmal recht.
B: Willst du uns beleidigen?
C: Willst du sagen, es geht uns nichts an?
B: So einfach kommst du nicht davon.
A: Ich will nicht davonkommen. Ich wüsste nicht, warum ich davonkommen sollte.
C: Bist jetzt du das Opfer?
B: Schau, das Selbstmitleid.
C: Selbstmitleid? Der ist doch stolz drauf. Der kann gar nicht anders.
B: Der würde es wieder tun.
A: Das ist nicht wahr.
B: Leugnen kann jeder.
A: Ich leugne nichts.
B: Das kann jeder behaupten. Wenn du meinst, damit kommst du durch, hast du dich getäuscht.
A: Was soll ich deiner Meinung nach tun?
B: Das ist schon der falsche Ansatz.
A: Ich würde gern alles richtig tun und schon ist alles falsch.
C: Da hast du recht.
A: So läuft das nicht.
B: Da hast du auch recht.
C: Wieso hast eigentlich du immer recht?
B: Mir würde das zu denken geben.
B (zu C): Ihm offenbar nicht.
C: Hat doch keinen Zweck.
B: Reden wir von etwas anderem.
C: Was hast du für Pläne?
B: Weiß nicht. Wir könnten ja…
A: Dont’t worry.
B: Kotz dich aus.
A: Be happy. Ich bin dabei.
C: Wobei, wenn man fragen darf?
A: Stell dich nicht so.
B: Scham ist das Mindeste.
A: Ich würde sagen: Das Minimum.
C: Was soll das heißen?
A: Drunter geht nichts. Jeder von uns sollte das wissen.
B: Ich fühle mich schuldig.
A: Leugnen wäre zwecklos.
B: Es wäre unerträglich.
C: Sind hier Leugner im Raum?
B: Lauter Zerknirschte.
A: Ich würde es gern ungeschehen machen.
B: Ich auch.
A: Es ist unerträglich.
B: Das ist es.
A: Was können wir machen?
B: Es geht nicht um uns.
C: Um was dann?
B: Wir müssen uns zurücknehmen.
C: Wie soll das gehen?
A: Wir dürfen keine Ausflüchte gebrauchen.
B: Wir müssen aufrichtig sein.
A: Wir müssen den Schaden aus der Welt schaffen.
B: Wir müssen begreifen, dass der Schaden unermesslich ist.
A: Wir müssen die Schuld annehmen.
C: Ihr bereut alles?
A: Alles. Du nicht?
C: Ihr nehmt alles auf euch?
B: Rückhaltlos. Alles andere wäre das falsche Signal.
C: Eine Frage der Ehre?
A: Nein. Eine Frage der Scham.
C: Das finde ich gut. Das finde ich richtig gut.
B: Wir stehen das gemeinsam durch.
C: Das will ich hoffen.
B: Hast du Zweifel?
C: Ich vertraue euch.
B: Du vertraust uns?
C: Ihr macht das gut.
B: Ich verstehe deine Rede nicht.
C: Ich meine, ihr macht eure Sache gut.
A: Wir machen was?
C: Ich sage nur: Ihr macht das gut. Wenn euch das nicht gefällt: auch gut. Dann habe ich mich eben getäuscht.
B: So kommst du aus dieser Sache nicht raus.
C: Habe ich das gesagt? Habe ich das gesagt?
A: Klang gerade so.
C: Sucht ihr jetzt einen Sündenbock oder so?
A: Wieso das denn?
C: Ohne mich.
A: Du schließt dich aus?
C: Ich schließe nichts aus.
A: You son of a bitch.
B: Kennst du das?
C: Was meinst du?
B: Man hat nichts getan und fühlt sich schuldig.
B: Man fühlt sich am Pranger.
C: Man fühlt sich ausgeliefert.
B: Man kann nichts tun.
C: Man schämt sich so sehr.
C: Man kann tun, was man will, aber es ändert nichts.
A: Was soll sich schon ändern?
B: Gute Frage. Was soll sich eigentlich ändern?
C: Zum Beispiel will ich morgens aufwachen und wieder in den Spiegel schauen können.
A: Kannst du das nicht?
C: Nein.
A: Dann kauf dir einen anderen.
C: Das ist zynisch.
A: Das ist zynisch? Du meinst, das ist zynisch? Ich will dir etwas sagen: Was ihr hier aufführt, ist zynisch. Es ist zum Fremdschämen.
B: Wieso das denn? Ich verstehe Bahnhof.
C: Dann tu’s doch.
A: Was soll ich –?
C: Schäm dich. Würde dir gut bekommen.
B: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir stehen das gemeinsam durch.
A: Ohne mich. Ich steige aus. Ihr seid Heuchler.
B: Sind wir nicht. Wer gibt dir das Recht –?
A: Habe ich Recht oder nicht?
B: Natürlich nicht.
A: Dann beweist es.
A & B: Wir sollen was?
A: Ich sagte: Beweist es.
B: Das ist schamlos.
A: Dann beweise es.
B: Das ist irre.
A: Irre oder nicht. Bis zum Beweis des Gegenteils bleib’ ich dabei: Ihr seid Heuchler. Schämt euch!
C: Wir uns schämen? Wofür?
A: Habt ihr’s vergessen? Dann kann ich euch auch nicht helfen.
B: Wir brauchen deine Hilfe nicht.
C: Wir haben keinen Grund, uns zu schämen.
A: Schämt euch!
B & C: Unglaublich! Unerhört! Schmarotzer!
B: Schäm dich!
A verlangt, dass B und C Scham bekunden.
B bekundet Scham.
C greift A an.
A und B verlangen Maßnahmen gegen C.
A: Das verändert alles.
B: Wie meinst du das?
A: Das hätte nicht passieren dürfen.
C: Es ist aber passiert.
A: Du gibst es zu?
C: Ich gebe nichts zu.
A: Das ist ein Fehler.
B: Mit dem Zugeben ist es nicht getan.
C: Wie meinst du das.
A: Mir scheint, er hat es begriffen.
C: Mir scheint, du hast nichts begriffen.
A: Vielleicht mehr, als ihr denkt.
B: Bist du dir da so sicher?
A: Und woran denkst du?
B: Ich denke, dass ein radikaler Schnitt nötig ist. Man muss sich von der Vergangenheit lossagen.
A: Ihr solltet euch schämen.
B: Vielleicht hast du recht. Vielleicht geht der Weg durch die Scham. Ja, ich schäme mich. Ich schäme mich so sehr, dass ich denke, das hier ist nur ein wüster Traum.
C: Dann wach auf. Merkst du nicht, dass er mit uns spielt?
B: Ja und? Ich habe meinen Weg gefunden und ich werde ihn gehen.
A: Ich denke, du hast die richtige Einstellung.
C: Mir scheint, du hast einen Extra-Zugriff auf die Vergangenheit.
A: Ich habe meine Lektion gelernt.
C: Und worin besteht diese Lektion?
A: Komm runter. Wir sitzen alle in einem Boot.
C: Das du gerade zum Kentern bringst.
A: Das ich gerade zu steuern versuche.
C: Der große Steuermann! Mir kommen die Lachtränen. Wir sollen uns dir anvertrauen, stimmt’s?
A: Warum nicht?
B zu C: Die Scham hat eine reinigende Kraft. Du solltest dich schämen.
C: Ihr solltet euch schämen. Der Trickreiche und der Trottel. Ein schönes Paar, das ihr abgebt.
B: Das nimmst du zurück.
C: Ich denke nicht daran.
A: Das Spiel ist aus.
C: Im Gegenteil: Dein Spiel ist aus und wir alle gehen unserer Wege.
B: Damit wirst du nicht durchkommen.
A: Wir werden die Öffentlichkeit mobilisieren.
B: Wir werden dich fertigmachen.
A: Worauf du dich verlassen kannst.
Hiero verweigert sich dem Wort Sonnenuhren und sinnt auf Empörung
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.Hieros Traum
Das verbotene Archiv
Hiero sieht fern
Der Ungenannte . Hiero
DIE GROSSE KLOAKE
RUHRSTADT FÜR FORTGESCHRITTENEHieros Katze
IN HIEROS WELT IST KILLUS EIN GEDANKENVERBRECHER.
LESER HIERO VERSTEHT DIE SIGNALE.
IN HIEROS WELT GESCHEHEN TÄGLICH GEDANKENVERBRECHEN.
HIERO IST DER MANN, DER NICHT EINSIEHT, DASS SO EINER DAVONKOMMEN SOLL.
ES KOMMT AUF DIE NACHRICHTENLAGE AN.
DIE VOLLE WAHRHEIT IST DAS NICHT.
DIE VOLLE WAHRHEIT, SAGT HIERO, IST FÜR DIE KATZ.
DER STAATSANWALT IST KEIN WIRKLICHER STAATSANWALT.
DER STAATSANWALT IST EIN DIENER DER SCHAM.
DER STAAT, DEM ER DIENT, EXISTIERT IN HIEROS KOPF.Gewisper zweier Gespenster kurz vor dem Einschlafen
Ein Spießer?
Dazu müsste man wissen, was ein Spießer ist.
Ein Kläffer?
Das verfehlt seinen Ernst.
Ein Wachhund? Schlägt an, wenn Gefahr im Verzug ist?
Frage ihn. Er wird sich als einen der platonischen Wächter sehen. Er vergisst dabei bloß … woran denkst du? Nein, er vergisst eigentlich nicht. Er kennt nicht die segensreichen Wirkungen des Vergessens. Er wird fuchsteufelswild, fordert ihn einer auf zu vergessen, gleichgültig, worüber man gerade mit ihm verhandelt. Das Vergessen, alles Vergessen … seltsamer Gedanke, aber er drängt sich an dieser Stelle auf … es ist bei ihm neurotisch besetzt, die Aufforderung zu vergessen versetzt ihn in Rage, aber das ist nicht alles, nicht alles … er verträgt den Gedanken des Vergessens als solchen nicht, er steckt wie eine Wunde in seinem Psycho-Körper, er lässt ihn sogleich das Eine denken, das Eine, das niemals weggeht, das alles durchdringt, nein, perforiert, durchsiebt –. Er hat eine ausgeklügelte Manier entwickelt, Sachaussagen, egal, wie sie gemeint sind, egal, um welche Sache es gerade geht, als raffinierte Vergessensstrategien zu enttarnen. Killus, der Anwalt methodischen Vergessens, Killus, der behauptet, er wolle das Eine auf vollständigere Weise erklären, als dies bisher geschehen konnte, Killus, der einen alten Zusammenhang neu entwickelt, reizt den Doktoranden Hiero zur Weißglut: gerade an diesem Trick erkennt er den Leugner, das satanische Wesen, das sich ins Heilige einschleicht und dort mit täuschenden Formeln sein Unwesen treibt…
Du willst sagen…?
Nichts. Gar nichts.
Mögen deine Lippen verschlossen bleiben auf immerdar.
der schwarze Fluss, der, deinem Blick entzogen,
nach Westen strömt, nimmt mit, was dir entfiel.
Wenn Leben tötet, dann geschieht es hier.
an den Stätten der hypermodernen /
Erregung, gespeist /
vom Millionen-Abfluss der Haushalte, aus /
Industrie=Einleitungen /
ohne Ende, ausgerollt über /
die graue Steppe: das Rinnsal.
Betonfurche, halb verwittert, das klaffende V der Verlierer /
umfängt die Flut und trägt /
sie fort, nur fort, denn im Fall der Fälle /
ist Fortsein alles. Fluss ohne Ufer, Fluss ohne Wiederkehr: so /
ist es nicht. 100 Jahre Industriekultur haben den Blick /
geschärft. Entsorgung ist alles. Entsorger säumen /
den Weg,
7 Kläranlagen, 7 Perlen im schwarzen /
Strom, vollbringen den täglichen Hokuspokus: Ab- zu Brauch- /
Wasser, Wasser zu /
Wein, Mein zu Dein und alles wieder von vorn.
Wer verliert, hat /
schon gewonnen.
»Quorks, Sie sind ein…«
»Vorsicht!«
»Wieso? Ist er kein Rechter?«
»Du sagst es.«
»So oder so, beschissen fühlt man sich immer.«
»Gezielte Regelverletzung. Fühlt sich besser an. Irgendwie.«
»Darum geht’s doch. Alles ist irgendwie.«
»Irgendwie Scheiße.«
»Scheiße mit Lust.«
»Scheiß drauf. Ich will leben.«
»Sag ich doch, Klugscheißer.«
»Hör endlich mit dem Scheiß auf.«
»Warum eigentlich? Die Scheiße hört doch nie auf.«
»Schon Scheiße, wenn einem so ein Scheißkonzept die ganze Richtung versaut.«
»Was meinst du jetzt damit?«
»Mit der Scheißverantwortung beginnt doch die ganze Scheiße.«
»Also das find ich jetzt…«
»Scheiß auf den Kompromiss.«
»Dann kotz es aus.«
»Darum geht’s nicht.«
»Frag mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil dich die Scheiße nichts angeht.«
»Das Ding issowas von Scheiße.«
»Sag ich doch.«
»Wenn uns der Scheiß um die Ohren fliegt, dann war’s das.«
»Ach nee. Und wem willst du das verklickern?«
»Das isja die Scheiße.«
»Also mach deinen Scheißjob und jammernich so beschissen rum.«
Und das meine ich scheißernst.« Blowasser . Tronka
Blowasser weiß Bescheid.Blowasser gibt einen Fingerzeig
Tronka bohrt nach
Blowasser, zögernd:Nun denn, es ist so weit
Ataraxie!
Feindfahrt I
Feindfahrt II
Zuschauer
Killusall
Ist das so?
Wie
studentisch gebärden Studenten sich, die ihre Professoren wie Freiwild vor
sich her scheuchen?
In welcher Tradition steht denn das?
Wie eigen ist
ein unermüdlich um sich selbst kreisender Hölzchen, der sich offenbar nicht für
gefährdet hält?
Darüber muss gestritten werden.
Die Historiker der Pyramide sind alle versammelt und wild…
Wie heißt das Wort?
Tacheles.
Ja, sie sind wild…
wild entschlossen…
Tacheles zu reden.Hölzchen fühlt sich geschmeichelt
Leckebusch bewundert den Großen Denunziator
Kampf der Götter
Antwort: Der eine darf, der andere nicht.Hochmut kommt vor dem Fall
Revisionismus
Leckebusch bebt
Denn wovon lebt der Mensch?
Hyper-, Hyper- … wie heißt das Wort?
R berät sich mit seinem Spiegelbild
Merkposten eines Abgehalfterten
Teils – teils.
R stösst an seine Grenzen
Du bist kein unbeteiligter Beobachter. Diesmal nicht.
Elisabeth gehört dir.
Eifersuchtsanalyse,
samt allen Zweideutigkeiten, die ein solcher Versuch mit sich bringt.Erster Gang in die Löwengrube
Und Pida … tanzt
Das Elisabethanische Zeitalter währet nur eine Nacht
Eine ›einmal
getroffene Wahl‹ zielt ja wohl auf das Moment der Dauer. Insofern
ist in der Sprache selbst die Dauer der einmal getroffenen
Wahl als Merkmal gegeben.
Frage
Ist das richtig? Nicht alles, was ›ersichtlich‹ so ist, hält
einer weitergehenden Betrachtung stand.
Sind ›Lust und Laune‹, wie von E praktiziert, Fu?
uswusw.Die Verbündeten (1)
… die tiefe, aus allen Poren strahlende Befriedigung, den
Kabalen der Fakultät entronnen zu sein und seine Professur erbeutet
zu haben, hat ihn aufgewertet, Elisabeth blickt auf ihn wie auf eine
gelungene Kreation, auf die sie ein wenig stolz sein kann. Stolz
wartet bekanntlich nicht, er ist schon da, wenn man beschließt, ihm
die Tür zu öffnen, er ist der Wunschinhalt, der dem Wunsch
vorangeht.
Kleiner Einwand
Wie kann einer froh darüber sein, ein Gefühl
der Befriedigung zu empfinden? Liegt hier nicht eine petitio principii vor? Und trotzdem geschieht es…
Im gedankengespeisten Universum der Gefühle ist immer noch Platz für
eine kleine Reflexion, vielleicht sogar Reflexion der Reflexion, es
muss ja nicht gleich ein Hochbau zusammenkommen, der einstürzen wird,
ist seine Zeit erst einmal gekommen. Pida rumort
Die Verbündeten (2)
Ein garstig Weib
Zweiter Gang in die Löwengrube
Das ist ein Fabeltier aus einem andern Land.Eine Lektion die nicht weggeht
Im Nebel der Vermutungen
Feuer? Wo ist Feuer?
Einiges über Infamie
Kalter Kaffee oder die endlos erörterte Frage: Warum diese beiden und und keine anderen?
Gestutzte Flügel
Obertöne
Kleines Finale
Friedenwanger wiehert
Lobbock hat recht, findet er.
Duro der Fisch. Der Ausdruck wandert ihm durch den Kopf, während aus den
Mundwinkeln die Spannung weicht. Kalt und wendig, mit Starrsinn, besser:
Starrunsinn behaftet. Gleich nachher muss er das Wort aufschreiben, man
vergisst so vieles. Die besten Einfälle bleiben auf dem Flur zurück, der sie
ausspucken half.
Industriehistoriker Lobbock lernt seine Lektion
Streicher lacht
Beantwortung der Frage: Ist Lutz C. Streicher ein sympathischer Zeitgenosse?
Worin es besteht?
Keine Ahnung. Ist das wichtig?
›Rein karrierremäßig‹ darf er sich über nichts
beklagen.
Als erster seines Geschlechts hat er es zu
akademischen Würden gebracht. Im Kreis der Familie ist er ein
Fremdling, man redet ihm freundlich ins Gesicht, froh, ihm den Rücken kehren zu
können. Den Handwerkern und kleinen
Angestellten bereitet der akademische Habitus Stress – jedenfalls in seiner Generation, die nächste,
eine Bildungsoffensive weiter, scheut sich nicht, ihre neidgetränkte Missachtung
des ›Abgehobenen‹ offen zur Schau zu tragen. Man verurteilt einen Menschen nicht grundlos –
Dossier-Sätze, das Subalterne streifend
Der eingebildete Lutz
… ist daher
Lutz, wie Friedenwanger ihn aus boshafter Nahdistanz nennt, der ideale Kandidat,
wenn’s darum geht, ein diskretes Netzwerk von Möchtegern-Umstürzlern aus dem
Aufklärer-Hut zu zaubern. Blindekuh
Der Geist steht links
Über Feindschaft
Die Audienz ist beendet.Der Große Denunziator braucht einen Feind von innen
In einem gleichen sich die Kontrahenten –
… et nos mutamur in illos
Hölzchens Anspruch auf Würde
Hat Hölzchen Würde?
Wenn ja, warum setzt er sie dann täglich aufs Spiel?zur
Erinnerung
Das Ehemodell ist (noch immer!) an dieser wie an vielen anderen Stellen selbsterklärend: Heiraten heißt, die Fassade der Unabhängigkeit zu errichten, ohne die, ganz traditionell, der heterosexuell geprägte Mann ein von seinen Geschlechtsgenossen kalt lächelnd beiseite geschobenes Leichtgewicht bleibt. Das wissen auch die Hetero-Feinde und deshalb intervenieren sie just hier.
Frauenverachtung und Frauenverehrung
Der apportierende Hölzchen, der hüpfende Hölzchen:
Es wird eng
Es wird eng
– unsinnig auch deshalb, weil ihre
Anwesenheit, auf welch vertrackte Weise auch immer, spürbar ist, als hinge sie,
wie der Geruch feuchter Kleidung oder eines Hundes, in der Luft,
– unsinnig zum Dritten, weil die bloße Tatsache des Gesprächs beide Seiten
dazu nötigt, über die Zeichen fremder Feindseligkeit hinwegzusehen – eine
Selbstverständlichkeit unter Kollegen, die wissen, dass diese Plage jeden von
ihnen treffen kann und was von ihr zu halten ist.
Nein, eine Hasserin ist sie nicht.
In seinem Herzen ist jeder ambivalent.
Welche Maßnahmen mag sie ergreifen?
Gleichgültig welche: das Schema von häuslicher Spannung und Entladung ist aktiviert.Nein,
es ist eine Zwangsveranstaltung erster Güte: die häusliche Partner-Konstellation tritt zurück, vor ihrem Hintergrund entfaltet sich die Wunderblume der Freund-Feindschaft, des Wissens, zu welchem Haufen man gehört (dem großen) und wer nicht dazugehört, heute nicht, morgen nicht, nimmermehr – ein scharf umrandetes Wir kommt da zum Vorschein, nur noch sehr entfernt der verschwommenen Generations- und Forschergemeinschaft verwandt, der sich verpflichtet fühlt, wer sich einfach kein Leben im Abseits vorstellen kann. Eine Schmähgemeinschaft, die den Gegner im Leibe hat und daher weiß, wie er tickt, so dass sie die im Raum schwirrenden, nie ganz eindeutigen, nie ganz schlüssigen Bezichtigungen nach Bedarf und Belieben auffüllen kann. ›Nach Bedarf und Belieben‹ soll heißen: gemäß dem Wunschpotential gebundener Seelen, die es nicht nötig haben, erst in Bücher zu blicken, um zu wissen, was darin geschrieben steht und warum der Einzelne in der Pflicht steht, es mit allen Mitteln, verbal und nonverbal, zu bekämpfen.Wer Hölzchens erste Beschreibung des Besuchs bei Killus noch im Ohr hat, reibt sich verwundert die Augen:
Natürlich hat der Sozialismus auf seinem Weg unfassbare Massenverbrechen … keine Frage, darüber sind wir uns einig, darum kann es jetzt wirklich nicht gehen, Genosse Stalin, keine Frage, selbst Lenin, das ist gar keine Frage, wer meint, darum müsse es heute gehen, wo lebt der überhaupt? Nein, worum es geht, das ist doch die ganz einfache Frage: Lassen wir es zu, dass unser Bild der Epoche verwässert wird, bis alle irgendwie schuldig sind und die Urschuld – ja, ich spreche jetzt ganz bewusst so – die Urschuld liegt im Roten Oktober, weil dort alles anfängt? Kann das unser Bild der Epoche sein? Ich weiß, Solschenizyn behauptet das ja seit langem, aber wer ist Solschenizyn? Ein ehemaliger Sträfling, ein subjektiv Gezeichneter, ein verbitterter Mensch… Das ist seine Perspektive. Darf das unsere sein? Dürfen wir so reden? Ich meine: nein. Killus verlangt vom Historiker, er müsse objektiv sein. Also seien wir objektiv. Die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen sind nicht ableitbar, sie
sind singulär. Punkt, Ende aus, Schluss der Debatte.
Gemeinsame Richtung? Vorgegeben vom Rektor in seinen tumben, zur allgemeinen Erheiterung dienenden Ansprachen, während er doch bloß den Anwandlungen des Niemandskollektivs Ausdruck verleiht, das in jedem von ihnen haust? Offenbar besitzt der Große Denunziator die Fähigkeit, innig mit diesem … Niemandskollektiv zu kommunizieren – etwa so, wie ein Klavierspieler mit einem Konzertflügel Zwiesprache hält, den er nie zuvor gesehen, geschweige denn gehört hat. Etwa so … und auch wieder anders, ganz anders, verwickelter, weniger mechanisch, mehr … menschlich? Seltsame Menschlichkeit! Vielleicht ›allzumenschlich‹? Mag sein.
Damit kommst du zur Frage (oder sie zu dir): Was hält dich an einem solchen Ort?Ein Mann der Scham
Der nackte Mensch – ein Widerspruch in sich
Liebe machen aus Angst vor dem Tod
Aus Streichers Kladde
Ein Einfall von bestechender Einfachheit kreuzt Streichers Gedankenwelt
Die Massenbasis der Linken … Lindgrün
mit rosa Schleifchen.
Save the planet.
Träume einer Sommernacht.
Die Propagandamaschine der Linken ist effizient, aber lückenhaft.
Wir können das besser.
Man müsste uns einfach nur – lassen.
Einfach nur lassen.
Warum denn nicht?
Reell am konservativen
Gedanken sind die Interessen.
Der Rest…? Eindämmungsprosa, containment
prose … umwogt und umwoben vom Vorwurf der Reaktion … wie viele Menschen im
Lande mögen uns hassen … der Sprache wegen … es gäbe sie gar nicht, sähe sich
das Kapital nicht genötigt, den Attacken seiner Kritiker mit abwehrbereiter
Faust entgegenzutreten.
Nötigung … Nötigung … sie existiert vielleicht nur
in den eigenen Köpfen. Auf alle Fälle… Wer mit dem Tod wirbt, den belohnt das Leben
Und das wäre nur der Anfang. Auf verschlungenen Pfaden kommt Streicher der Sache näher
Bist du ein scharfer Hund?
Warst du ein scharfer Hund?
Hin und wieder. Das System hält das fest.
›Die bereinigten Interessen‹ … wie klingt das? Irgendwie sicher. Eine sichere
Bank. Gleich daneben, im Morast dümpelnd: die bad bank der faulen Kredite…: das entsorgte
Glaubenssystem der Rechten. Haltbarkeitsdatum überschritten.
Weggekippt wie eine Ladung fauler Nüsse.
Am Ende verzehrt jedes System sich selbst.
Ist das ein konservativer Gedanke?
Oder ein rechter?
Bad thought.
Lutz, du bist ein Narr.
Dieser eingebildete Abgrund … was ist das überhaupt?
Eine in alle Richtungen ausgreifende Gesellschaft wäre –
spuck’s aus! – richtungslos.
Wie das Universum? Wie das Universum!
Eine solche Gesellschaft ist nicht vorstellbar.
Jede Gesellschaft nimmt eine Richtung.
Eine?
Viele.
Viele, die sich zu einer vereinigen.
Diese eine gilt es zu finden.Im Augenblick beschäftigt Streicher ein anderer Gedanke
Die ungenutzten Richtungen, sind sie einfach nicht existent?
Nicht für diese Gesellschaft?
Oder werden sie brutal ausgeschlossen?
Werden sie unterdrückt?
Welche Übermacht ist da zugange?
Welche Ohnmacht ist da zugange?
An dieser Stelle kommt das Tabu ins Spiel.
Das Tabu ist eine sanfte und furchtbare Macht.
Eine Macht wie keine andere.
Das Tabu verschließt den Abgrund.
Der Abgrund, das sind die versagten Richtungen.Aus Streichers Werkstatt
Die Verstümmelung des Bewusstseins in vier Schritten
Die reiche Fracht des Bewusstseins
Die Hälften passen nicht
Der reine Blowasser
Der reine Blowasser
Wie strahlt einer wie Blowasser, ein rundlicher Mensch, der nie aus dem Anzug zu kommen scheint, das Verlangen nach Würde aus?
Blowasser und Nassen mischen den Laden auf
Newcomer-Nassen braucht den erwählten Meister, um sich an der verletzenden ›inhärenten‹ Ungleichheit der Partner abzuarbeiten.
Beide brauchen ihr Projekt, um mehr zu sein.
Mehr als was? Mehr als wer?
Das ist die Frage … die das frischgebackene Paar (›Pärchen‹?) postwendend an seine Umgebung zurückerstattet.
Nach=Rücker / Vor=Rücker
Nach=Rücker / Vor=Rücker
Einige allgemeine Bemerkungen, die Gelehrtenrepublik und das Verhalten ihrer Bewohner betreffend
Die Republik der Geister besteht aus Köpfen, die Gelehrtenrepublik aus Vor- und Nachrückern
Akademische Krämpfe
Wie zerstört man eine Republik?
Blowasser übt den kill switch. Die ultimative Form, Schweigen zu verhängen, während der andere fortredet. Doch niemand spricht. Nolens volens bewegt sein Mund sich weiter.Zweiter Vortrag des Historikers Wassermann
Der Hörsaal füllt sich
Ein zerbrechlich Ding
Leckebusch
Auch Leckebusch hat, trotz fehlender Einladung, es sich nicht nehmen lassen, der Veranstaltung beizuwohnen. Tatsächlich hat er etwas von einer Geistererscheinung, wie er da mit hängenden Schultern am Fenster steht und auf den vom Stop&Go-Verkehr umschlossenen Park hinunterstarrt, als winke ihm aus der Tiefe ein Stück unbewältigter Vergangenheit zu. Seit Elisabeth eine Stelle in der Pyramide angenommen hat, gilt das Band zwischen den beiden in der Öffentlichkeit … als überdehnt. Peu à peu hat die Republik der Wörter aus den beiden Konkurrenten geschmiedet (ein hartes Wort angesichts der Geschmeidigkeit, mit der Elisabeth sich inmitten ihrer neuen Kollegenschar bewegt), wo doch der Professor und die Mitarbeiterin ganz unterschiedliche Fächer repräsentieren.
Belustigt, mit einem Gran Empörung in Blick und Stimme, hat er sie angeblinzelt, als sie ihn von ihrer neuen Lebensaufgabe in Kenntnis setzte. Elisabeth, schneidende Ironie erwartend, fühlte sich überrascht und fast ein bisschen enttäuscht. Hatte sie in letzter Zeit irgendein Toleranzedikt übersehen, das ihn zur Mäßigung zwang? Mag sein! Sie kommt nicht drauf und geht ihm seither unauffällig aus dem Weg, wobei sie mit einer sie selbst überraschenden Genugtuung die verstohlenen, bisweilen zu Fragezeichen sich krümmenden Blicke sammelt, die auf sie zu werfen er überhaupt nicht zu unterdrücken gedenkt.
Wassermann spricht