LA LINEA
FEUER UND WASSER
ASCHENPUTTEL / BLIND DATE
MIT DIR GEHT EIN TEIL MEINER SEELE
DER BLEICHE MOND
GEFESSELT
INCUBUS
KOPFÜBERKOPFUNTER
DIE BÜHNE IST FREI
REIGEN, DIE ALTE LEIER
KALTE FUSION
LA STRADA
Tausend Jahre sind kein Pappenstiel. Andererseits auch nichts Besonderes, also jetzt kein besonderes Zeitmaß, wenn es um die Scham geht. Es geht doch um die Scham? War das eine Frage oder eine – flüchtige – Vergewisserung? Die Zeit der Scham misst nach Jahrtausenden, sie steht mit der Trägheit im Bunde, das ist oft gesagt worden, aber allzu oft ist das oft Gesagte das Gedankenlose, das lose Gedachte, das sich nicht zuordnen lässt und zwischen den Zeiten vagabundiert. Zwischen den Zeiten. Die Scham, deine Scham spielt in den Ritzen der Zeit, nicht wirklich, ihre Spiele sind Schattenspiele, das Rascheln von Kleidungsstücken, das Aufblitzen und Verschwinden einer Hand … und noch einer…
Blitzen Hände auf?
›Allzu oft‹ –
In dieser Formel nistet die Scham. Allzu oft hast du versagt, allzu oft die Höhe verfehlt, die Höhe eines Gedankens, einer Entscheidung, die Höhe deiner selbst. Wann warst du das: auf der Höhe deiner selbst? Anders gefragt (denn du hast Höhepunkte erlebt): warst das dort, auf jener Höhe, die dich von weitem anstrahlt, du? Jedenfalls nestelt sie sich aus den Nebeln der Vergangenheit, streift etwas ab, streift etwas über, streift etwas in dir, schwebt mit trägem Flügelschlag an dir vorbei, Ebenen zu, die dir ewig … denn alle Scham will Ewigkeit…
Wer sagt so etwas? Wer hat so etwas gesagt? Alle Scham will, dass du vergehst, vor ihr, vor dir, vor allem und jedem, und sie will dich ewig in diesem Zustand, der doch nicht bestehen kann, nicht auf Dauer, nicht in dir, es sei denn, du gibst dich besiegt, du gibst dich auf, eine Brieftaube mit unbekanntem Empfänger, ein anderes All mit der Seele suchend, mit was denn sonst?
Du musst sie besiegen und du kannst es nicht.
An diesem Kunststück, lass dir das gesagt sein, kommt keiner vorbei. Ginge sie nicht von selbst, ließe sie nicht von dir ab wie der Hauch einer dir sehr nah stehenden Person, in jener winzigen Abwesenheit, die du dir leistest, die sich dich leistet, der du auf keine Weise entgehst, du wärest auf ewig geliefert, du kämest nicht los von der Scham, es hängt alles von ihr ab, der wahren Königin deines Herzens, der immer verleugneten, die darüber nur lacht. Hast du sie lachen sehen? Hast du sie einmal lachen sehen? Deine lachende Scham! (Warum das Ausrufezeichen? Was hat es hier zu suchen? Streich’s weg.)
Scham und Charme – wie weit liegt das auseinander. Und dennoch, wie nah kommen die beiden einander, sobald es zur Sache geht. Wer beiden erlegen ist – also jeder –, der weiß, dass sie auf einem Holz wachsen, dass eines den Preis des anderen zahlt, wechselweise, rückstandslos. Nur das Individuum dazwischen, das arme unterprivilegierte Ichwesen empfindet den Zwiespalt, es empfindet ihn immer wieder, sobald sich eins im anderen einnistet, denn das tun sie, diese absurdeste aller Gebärden beherrschen sie beide aus dem … Grunde, möchtest du sagen, grundlos, völlig grundlos, denn in diesen Gegenden gleitet die Rede über Abgründe, die ewig unausgesprochen bleiben, ewig, soll heißen, wer hier ein Siegel bricht, der bricht ein, ist schon eingebrochen, ein Ertrinkender mehr, die eisige Oberfläche hat sich bereits über ihm geschlossen, ein umnebeltes Gehirn, das einmal ihm gehörte, verfolgt die Schatten von Leuten, die vielleicht ein Schicksal vorbeitrieb, um ihm beizustehen, ihn womöglich zu retten, aber was weiß der Ertrinkende schon von Rettung.
Merkwürdig, angekommen zu sein, obwohl man nie fort war, allenfalls befangen in einem Rausch, dem Rausch der Freiheit, wie die Menschen sagen, aber das ist Quatsch, denn um Freiheit ging es nie, es ging um Befreiung, und das ist etwas völlig anderes. Es war der Rausch, der vorgab, die Scham zu überwinden, diese verlässliche Größe, die in jedem von uns allen steckt und nicht daran denkt, herauszukommen und sich zu trennen … warum sollte sie sich trennen? Sie ist die Scham.
Die Welt, als Teufelei betrachtet, hat zwei Eigenschaften: Sie ist amoralisch und sie ist pansexuell. Eine Welt, die zwickt und zwackt, kann gar nicht anders sein. Und doch muss sie anders sein, weil die Teufelei sonst unentdeckt bliebe. Sie wäre, so betrachtet, die allermoralischste, da sie ausschließlich unter dem Aspekt der Moral betrachtet würde – die Moral wäre sozusagen die einzige Überlebende auf diesem Schlachtfeld. Sie wäre auch nicht die Moral, deren es bedürfte, um die Welt ins Lot zu bringen, denn die Welt, durch ihr Visier betrachtet, ist definitiv aus dem Lot. Recht gut beschreibt der Ausdruck ›Hypermoral‹ die Zwickmühle: die hyperventilierende Moral hat die Schlacht verlassen und beklagt aus dem konfortablen Jenseits, in das sie sich geflüchtet hat, den Zustand der Welt. Nein, eigentlich beklagt sie nicht ihn, sondern ihr eigenes Los. Die teuflische Welt ist gänzlich losgelassen. Sie ergibt, unter dem Moral-Gesichtspunkt betrachtet, keinen Sinn. Sie ist das sinnentblößte Gegenüber. Warum dann pansexuell? Lauert nicht hier der Sinn? Nun, er mag lauern bis ans Ende der Zeiten. Doch heraus kommt er nicht.
Nein, es hat wirklich nichts mit dir zu tun und jetzt geht es dahin. Geht dahin. Wohin es geht? Ist das wichtig? Es interessiert nicht. Es geht seinen Gang … in die Finsternis, wohin sonst. Unterm Aufmerksamkeitskegel hellt sich die Welt auf, das ist ganz natürlich, der Mensch strebt zum Licht. Das Licht strebt voraus. Das hören Blinde nicht gern, aber Blindheit ist eine Menschheitsmetapher und physische Blindheit ist nicht gemeint. Obwohl –! Sexuelle Blindheit schon eher. Die Welt, als asexuell betrachtet, ist allseitig ausgeleuchtet und dennoch dunkel, tief dunkel, eingetaucht in ein umfassendes Unverständnis dessen, was ist. Was ist denn? Die Frage erinnert an etwas, sie regt den Trieb und er regt sich in ihr. Etwas ist. Soviel Trieblehre muss sein. Kein Trieb – kein Scherz. Kein Scherz – kein Gesang. Der umfassende Scherz über die Welt: ein Klagegesang. In der Klage vergeht die Welt, sie vergeht noch einmal, sie vergeht schneller, sie ist Das-was-vergeht, sie steht Kopf im Bewusstsein, dem eigentlichen Organ des Vergehens. Und doch vergeht, was vergeht. Das muss doch einmal gesagt werden. Im Zeichen des Triebes vergeht die Welt. Kommt er nicht frei, so vergeht sie draußen.
Es berührt mich nicht, es kommt nicht in mich hinein … – Mit gewissen Sätzen beginnt, sagen wir, alles neu, während mit anderen alles beim Alten bleibt. Sätze, die mich berühren, erschaffen mich just in diesem Moment neu. Das klingt komisch, aber so ist es. Sätze, die eine fast physische Ausstrahlung haben, sie tragen die Information dieser Physis und ein bisschen mehr … ein bisschen mehr… Jedenfalls verlangt es die Konvention, die immer mehr will als Körperwelten und dieses Mehr durch Verhüllung erzeugt. Wir wissen nicht, inwieweit wir Körper sind. Andersherum gesagt: Die Körper wissen nicht, inwieweit sie alles sind. Das Wort ›Körpersprache‹ –: welch ein Unsinn. Alles ›Unkörperliche‹ ist Teil des Körpers, der sich erklärt. Kein Körper weiß, wodurch er Körper ist. Kein Körper weiß, wodurch er ›Geist‹ ist. Dafür springt das Wesen ein, der zu wissen glaubt: der Mensch. Die Macht der Abstraktion schwebt über allem, taubengleich.
Sinnlos ist, was ich nicht einsehe.
Nein, so war das nicht gemeint.
Sinnlos ist dasjenige, dessen Sinn ich nicht einsehe.
›Das mag für andere sinnvoll sein‹ – eine Redensart.
Mit der ich mich salviere.
Nichts weiter.
Weiter nichts.
Sehen Sie: Ich bestimme, was Sinn hat.
Ich lasse mir da nichts vorschreiben. Allein,
interessant wäre der Gedanke schon.
Lässt sich Sinn vorschreiben? In welchem Sinn?
Er hat ja, wie man sagt, eine allgemeine Komponente.
Was nur für mich Sinn hat, welchen Sinn hätte mir das?
Nicht viel, würde ich sagen, nicht viel.
Aber was beweist das?
Es beweist, dass es sinnlos ist, sich aus der Welt
herauszuschneiden.
Welchen Sinn sollte ein solcher Wunsch haben?
Sinnlos ist, was ich nicht einsehe.
Nein, so war das nicht gemeint.
Sinnlos ist dasjenige, dessen Sinn ich nicht einsehe.
›Das mag für andere sinnvoll sein‹ – eine Redensart.
Mit der ich mich salviere.
Nichts weiter.
Weiter nichts.
Sehen Sie: Ich bestimme, was Sinn hat.
Ich lasse mir da nichts vorschreiben. Allein,
interessant wäre der Gedanke schon.
Lässt sich Sinn vorschreiben? In welchem Sinn?
Er hat ja, wie man sagt, eine allgemeine Komponente.
Was nur für mich Sinn hat, welchen Sinn hätte mir das?
Nicht viel, würde ich sagen, nicht viel.
Aber was beweist das?
Es beweist, dass es sinnlos ist, sich aus der Welt
herauszuschneiden.
Welchen Sinn sollte ein solcher Wunsch haben?
Der Kern aller Abstraktion ist hohl. Das ist kein gesichertes Wissen, wie auch? Aber denken kannst du es dir. Versuche nur, ihn zu knacken! Nichts, gar nichts kommt dabei heraus. Versuche nicht, ihr zu widerstehen. Alles, was dich nötigt, von etwas abzusehen, es nötigt dich mit einer Gewalt, die du nicht verstehst. Von Zeit zu Zeit nennst du sie ›Vernunft‹. Aber auch dazu wirst du genötigt. Welche Macht in dir nötigt dir deine Zustimmung ab? Die Logik? Einspruch! Gerade sie nicht! Sie fügt eine Prise Etwas hinzu, ohne die Nötigung nicht funktioniert. Die Vernünftigen nennen es den Zwang der Vernunft. Wie oft sind nicht gerade sie die Hüter der Unvernunft! Vernunft, Unvernunft, Worte. Wer soll sie unterscheiden? Die Vernünftigen sitzen auf einem Ast, die Unvernünftigen auf einem anderen. Wieder falsch! Keiner erklärt sich aus freien Stücken für unvernünftig, es sei denn, er will unterstreichen, dass er ›bei alldem‹ der Vernünftigere ist. »Wie unvernünftig!« entscheidet der Vernünftige, also du und ich. Daran ist nichts Vernünftiges. »Sei vernünftig!« schreit die Kohorte und marschiert weiter in Richtung Abgrund. »Seid vernünftig!« schreit der Abweichler und fürchtet den Abgrund. Also entscheidet der Abgrund über Vernunft und Unvernunft. Also der Körper, der Furcht ausströmt. Wer entscheidet im Körper? Dumme Frage. Wer entscheidet über den Körper? Das Gericht.
Solange es Trieb gibt, wird es auch Trieb-Lehren geben. Man nennt sie die Lehren vom richtigen Leben, einer ergänzte: »im falschen« und wurde dafür getadelt, nicht, weil er das Falsche so hervorhob, sondern weil er die Akten schließen wollte: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Das ist natürlich Unsinn, weil es kein falsches Leben gibt. Leben ist Leben. ›Leben im Leben‹ … das wäre die Sprache des Parasitismus, die Sprache mit falschem Zungenschlag. Doch handelt es sich um das Leben der Gemeinschaft, beginnt flugs die Ausnahme. Kann Gemeinschaft falsch sein? Aber sicher. Wie lebt es sich in Gemeinschaft? Gemeinschaftlich? Wie sonst! Ist das schlecht, ist das gut? Eine Frage von unten und oben, links und rechts, dankbar und undankbar. Doch, sicher, die beste aller Gemeinschaften hat sehr undankbare Posten zu vergeben, aus denen sich jeder heraus wünscht, der etwas auf sich hält. Sie ist und bleibt Gesellschaft und lebt von der Teilung durch Arbeit. Gemeinschaft erzeugt Glanz mittels Destillation: Wer glänzen möchte im Leben, der muss sich, durch welche geeigneten Maßnahmen auch immer, nach oben durchreichen lassen oder sich seinen eigenen Glanz erschaffen. Wie erschafft man sich seinen eigenen Glanz? Durch virtuelle Gemeinschaft. Pflege Gemeinschaft mit Heiligen und du fühlst dich heiliger. Pflege Gemeinschaft mit Künstlern, Stars, Sportlern, Helden der Forschung und du fühlst dich künstlerischer, starmäßiger, sportlicher, forschender. Pflege Gemeinschaft mit Bettlern und du fühlst dich … Achtung: hier gabelt sich der Weg und du musst dich entscheiden. Wofür entscheidest du dich? Bist du mehr das eine oder das andere? Und jetzt die Frage der Fragen: Hast du die Wahl? Oder schämst du dich schon?
Im Grunde reicht ein Wort, um die Dinge zu klären: Welt.
Ich sage »Welt« und das alles bekommt einen Sinn.
Ich kenne ihn noch nicht, aber ich werde ihn erkunden.
Ich sage »alle Welt« und ich weiß Bescheid.
Ich sage »meine Welt« und ich verteidige, was ich habe.
Ich sage «diese Welt« und schon ahne ich eine andere.
Ich sage »Weltuntergang« und drohe allem, was ist, mit dem Ende.
Das ist überhaupt der Sinn von allem: die Drohung.
Es droht und ich drohe zurück.
Ich sage: »Welt, kusch!« und ich bin.
Ich sage »Kusch!« und bin der Größte.
Eben noch war ich nichts. Nicht einmal vorhanden war ich.
Und jetzt das.
Im Grunde reicht ein Wort, um die Dinge zu klären: Welt.
Ich sage »Welt« und das alles bekommt einen Sinn.
Ich kenne ihn noch nicht, aber ich werde ihn erkunden.
Ich sage »alle Welt« und ich weiß Bescheid.
Ich sage »meine Welt« und ich verteidige, was ich habe.
Ich sage «diese Welt« und schon ahne ich eine andere.
Ich sage »Weltuntergang« und drohe allem, was ist, mit dem Ende.
Das ist überhaupt der Sinn von allem: die Drohung.
Es droht und ich drohe zurück.
Ich sage: »Welt, kusch!« und ich bin.
Ich sage »Kusch!« und bin der Größte.
Eben noch war ich nichts. Nicht einmal vorhanden war ich.
Und jetzt das.
Angenommen, du identifiziertest dich mit den Gescheiterten,
denen, die ihr Leben hinwarfen, weil es sinnlos geworden war (sinnlos
in ihrem Sinn, denn ein anderer stand ihnen nicht zur Verfügung):
Welchen Sinn sollte das haben? Alle Gescheiterten sind zu viele
für dich, das hältst du im Kopf nicht aus, geschweige denn in der Zeit.
Mit wie vielen Gescheiterten willst du es aufnehmen? Einem? Zweien?
Hundert? Hunderttausend? Einem Kontinent? Dem Kontinent der
Gescheiterten? (Das wäre, immerhin, eine Klammer, welche die
Gescheiterten auf eigene Faust ausschlösse, gleichsam ein
zweites Mal scheitern ließe.) Jeder Gescheiterte versichert dir: Du
bist nicht gescheitert. Jeder Gescheiterte versichert dir: Du bist
gescheitert. Jeder Gescheiterte versichert dir: Du hast keine Wahl,
also fühle dich erwählt. Erwählt wozu? Zum Aufseher? Der Gedanke
erschreckt dich, er ist geschmacklos. Und schon … beginnst du sie zu
taxieren: Was ist dran an ihnen? Ließen sich nicht auch aus diesem
Material … Hierarchien bauen? Eine Hierarchie aus Gescheiterten, das
wäre doch etwas. Und wenn sie selbst nicht wüssten, dass sie
Gescheiterte sind? Das gäbe dir noch ein bisschen mehr Macht, ein
bisschen mehr Deutungsmacht über sie. Wer sie auch sein mögen, sie
müssen alle unter dein Joch. Du brauchst nur den Punkt ausfindig zu
machen, an dem sie gescheitert sind, wie klein, unauffällig, verborgen
er auch sei. Identifiziere dich beizeiten und du findest ihn
heraus.
Das bist du deinem und ihrem Leben schuldig.
Auch
diese Schuld will, wie jede, abgetragen sein.
Ein größeres Unglück ist das Zusammentreffen vieler kleiner.
―No, she doesn’t like her.
Sie mag sie wirklich nicht, das hat Simon ganz richtig gesehen, kluger Junge, das muss man ihm lassen. Er hat’s begriffen, da muss sich Leckebusch fragen, woher, bei soviel Jugend, soviel Einsicht kommt, die schon an Innensicht grenzt: Elisabeth, die niemals Eifersüchtige, die frei, damit Leben sei, unter den Lebenden Wandelnde, zeigt deutliche Merkmale einer eifersüchtigen Zicke –
nein, so weit möchte er, ein paar seelische Kratzspuren abgerechnet, die ihm das tägliche Pensum am Schreibtisch nicht gerade erleichtern, noch nicht gehen, aber zweifellos muss etwas geschehen, und sei es nur, um das wohltemperierte Betriebsklima wieder herzustellen, dessen er bedarf, will er den Abgabetermin beim Verlag nicht platzen lassen. Man bringt, eiserne Regel, keine Studentin nach Hause, auch diese nicht. Auch diese nicht.
Nein, er gibt jetzt nicht den Professor Unrat, die junge Frau wird ihn nicht in die Lage bringen und Elisabeth auch nicht: sie schon gar nicht, es sei denn, er räumt ihr soviel seelische Macht über sich ein, dass er sich irgendwie schuldig fühlt, schuldig im weiteren Sinn, denn wo kein Delikt vorliegt, da hat Schuld schlechte Karten. Hat sie das? Wirklich? Darum geht’s nicht, würde Elisabeth antworten, würde er sie, in einem Anfall von geistiger Umnachtung, danach fragen, darum geht’s wirklich nicht, worum dann?
Eine Frau wie Elisabeth, ›strong‹, wie tall boy Simon sie bei jeder Gelegenheit nennt, übermannt Eifersucht nicht ›einfach so‹, überhaupt lässt sie sich ungern ›übermannen‹, das unter uns und auf die Faust gesprochen, andere Männer mögen das andere Erfahrungen machen, sie könnten sich da aber auch täuschen. Umso erstaunlicher die Affektlage, in die sie beide, quasi über Nacht, geraten sind, seit dieses zugeflogene Spatzenwesen ihre Wohnung als Bauer benützt, ohne Anstalten zu machen, ihr so bald zu entfleuchen. Ein Spatz im Bauer? Nun ja, Metaphern sind Glückssache, das Glück des Suchens und das Glück des Findens gehen nicht immer synchron, gelegentlich gehen sie ganz und gar unterschiedliche Wege.
―This is my paradise.
Augenscheinlich erhebt auch Simon Ansprüche, sieh an, wer hat sich da, quasi als Staatsgast, eingenistet, jedenfalls für die Sommermonate, im Winter ruft die Promenade von Haifa, auch Liz wird nicht ewig im Haus tirilieren. Das Haus, immerhin, wäre groß genug. Das Töchterchen profitiert vom Umgang mit beiden. Man sollte auch diesen Aspekt nicht ganz außer Acht lassen. Ein wenig großbürgerliches Benehmen und wahrlich allen wäre gedient. Selbst den Arbeiter- und Bauernstaat hätte er nicht verlassen wollen ohne dieses grundierende bürgerliche Gefühl, das über Peinlichkeiten, die das Geschlecht nun einmal bietet, hinwegsieht und Formen für alles bereitstellt, für alles, no doubt, young man, keep calm, young man, keep calm. Hat Simon Elisabeth aufgestachelt?
Wir haben den Mechanismus der Schuld analysiert und nichts gefunden außer ein paar Brocken Mondgestein, herausgebrochen aus dem Universum der Wünsche, funktionslose Überbleibsel eines kosmischen Dramas, jedenfalls unter Zugrundelegung der griechischen Mythologie, gegen die, im Vergleich zu anderen, sich immer noch wenig einwenden lässt. Es sei denn… Radikale Aufklärung, von Grund auf betrieben aus dem Gefühl heraus, nicht anders existieren zu können, dürfte zu anderen Ergebnissen kommen, Krafft-Ebing dort im Regal spricht eine solche Sprache, nach ihm traten andere ans Licht, ganz andere, sie haben die Welt verändert, aber die Welt hat auch sie…
… verändert, gewiss. Das Projekt hat Elisabeth verändert, sie reifer, blühender, zur gleichen Zeit schmäler gemacht, vielleicht ihm entfremdet – ein Fehler vielleicht, sich darauf einzulassen, vielleicht. Es ist nun einmal geschehen und jetzt sind wir alle ein ganzes Stück weiter. Der Boden hat sich verändert, womöglich verwandelt, zwischen Veränderung und Verwandlung passt kein Blatt, ein Abgrund hingegen … jederzeit. Veränderung wirkt und Verwandlung bewirkt. Dazwischen liegt oder steht oder fällt das Mysterium tremendum. Die Vorstellungen gehen dir durch und es ist niemand da, sie einzuhegen. Wäre auch lächerlich, denn hier geht’s um die Frage, den Spatz zu entsorgen oder auch nicht. Oder auch nicht.
Nein, Elisabeth. In diesem Fall geht es um mehr. Es geht um den Grund unserer Abmachung. Der Spatz hat nichts zu bedeuten, das weißt du, das weiß ich. Zu bedeuten hat, was du daraus machst. Ich weiß aber nicht, was du daraus machst. Simon ist bloß der Bote. Ich könnte ihn eigenhändig köpfen, dann wäre ich der Unhold und hätte die miesen Karten. Willst du es dahin treiben? Vielleicht genügte es, dein Simon zu sagen und mein Spatz und alles, sagen wir, käme in eine neue Fasson. Welche Fasson soll das sein? Ich werde dich nicht fragen. Darum sag’s mir jetzt, sag es gleich, denn gleich danach wird es zu spät sein. Nein, dein Honigmund mag sich nicht öffnen, er bleibt fest geschlossen, ein wenig fester sogar als sonst, das passt zur neu erworbenen Schmalheit. Sie steht dir übrigens ausgezeichnet, abgesehen davon, dass sie mich auf Distanz hält.
Wenn aber der Spatz nichts zu bedeuten hat, falls er nichts zu bedeuten hat, auch das eine schwer überprüfbare Hypothese, wofür steht er dann? Liz ist kein Kind, eine Kindfrau vielleicht, das entscheiden andere, da halte ich mich heraus, eine Frau bricht in Tränen aus und schon nimmt alles weitere seinen Lauf. So warst du natürlich nie. Deine Tränen, Elisabeth, sie trockneten schnell. Ein Strahle-Lächeln wischte sie aus dem Gesicht, du strahllächeltest, wann immer ich dein gedachte. Jetzt spreche ich schon mit dir, als wärst du mir ganz nah – ein Irrtum, verzeihlich vielleicht, aber ein Irrtum und als solcher notiert. Hin und wieder notiere ich etwas, das ist wahr. Ohne Aufzeichnungen stände die Menschheit noch immer dort, wo die Biologie sie hingestellt hat: am Anfang. Ich kann nicht im Schatten eines Lächelns leben, tut mir leid.
Warum stört dich der Spatz? Das möchte ich wissen. Warum stört mich das? Davon will ich schon weniger wissen. Überhaupt will ich weniger wissen, je näher mir die Fragerei kommt. Das fällt mir, nicht zum ersten Mal übrigens, auf. Es mag in der Psyche so angelegt sein, aber der wirkliche Grund scheint mir ein logischer zu sein: Selbstaufklärung ist ausgeschlossen, das Ausgeschlossene schlechthin, weil der Einschluss das Einzuschließende einschließt, also die typische dialogische Dreierrelation bildet. So eine Dreierrelation haben wir jetzt – unsere Ehe, pardon: unsere Beziehung schließt ein, was sie ausschließt, vielmehr auszuschließen beschlossen hat, die weinende Frau, la donna in lacrime, die Frau, die getröstet sein will und jetzt auch da ist, so wie Simon übrigens, der überhaupt nicht getröstet zu werden braucht, obwohl ich manchmal denke, ganz bei Trost kann er nicht sein, so wie er dich umschwirrt.
Warum stört mich das? Es hat mich bisher nicht gestört und jetzt stört es mich. Das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Vielleicht hat dich das nicht gestört und jetzt stört es dich. Mag sein, ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus. Fest steht: du kannst nicht weinen und ich kann nicht lachen (jedenfalls hört es sich, wie du einmal moniertest, immer furchtbar gekünstelt an), da bleiben wir uns bei einiger Fairness nichts schuldig. So richtig haben mich die Tränen der jungen Dame an jenem Abend auch nicht gerührt, sie waren mir eher peinlich – das Seminar war zu Ende und ich musste den Raum abschließen, nichts lag in dem Moment näher, als das heulende Bündel einfach mitzubringen und vertrauensvoll in deine Hände zu überliefern, das Gehalse im Auto lassen wir jetzt einfach weg, erstens ging es von ihr aus und zweitens war es der bestehenden Verwirrung geschuldet – sie ist leicht verwirrt, unser Spatz, doch nicht leicht zu verwirren, versuch es nur, gleich ist sie blitzwach, und das gefällt mir an ihr.
So jedenfalls kann es nicht weitergehen. Leckebusch ächzt, es ist schon ein besonderes Ächzen, das ihm entfährt, er selbst erkennt es nicht gleich in der Verkleidung, auch besitzt er wenig Erfahrung im Umgang mit dieser unterbelichteten Kommunikationsform und hat sie in Gedanken für Unfallopfer und dergleichen reserviert: nun entfährt es ihm selbst. Gut, dass die Sekretärin schon fort ist – es wäre ihm unangenehm, sich in dieser Weise Gehör zu verschaffen. Ein Kaffee wäre jetzt, ungeachtet der vorgerückten Stunde, ganz recht, zum Glück gibt es Automaten. Draußen dunkelt es, da fängt der Tag erst an.
Von Homer bis Goethe nur ein Tag. Als sei dieser Tag stehengeblieben und spucke ein Bild aus: Kitty im Türrahmen, Kitty der geölte Blitz, Kitty, jäh in der Bewegung innehaltend, während ein feiner Dunst um sie aufsteigt und ihre Person umschließt. Nein, so hoch ragt die Pyramide nicht, dass Wolken das Zimmer fluten würden. Die menschliche Wolke, mit ihr in den Raum getreten, heißt Sibla. Sibla wie si, signora – du musst dir ins Gedächtnis kneifen, um nicht ›blabla‹ zu murmeln.
Was will dieser Sibla? Zweifellos will er etwas von dir. Er will, dass du ihm zuhörst. Er will zu Wort kommen. Nein, das geht in ihrer Anwesenheit nicht. Er zieht dich aus Kittys Gegenwart heraus, als stecktest du schon zu tief drin. Jedenfalls versucht er es, es ist an dir, die Versuche zu steuern, so dass sie ins Leere laufen. Du hast die Protokolle gelesen, du hast mehr als einmal mit den beiden gesprochen und dir ein Bild gemacht, du weißt also, was du von ihnen zu halten hast und möchtest das nicht vertiefen.
Sibla, die Tür von außen zudrückend und lebhaft die Richtung bestimmend, vom letzten Urlaub in den Kordilleren dauerschwätzend, während wir die Stockwerke abfahren, beim Eintritt in die Cafeteria Themenwechsel: Wie hältst du es mit dem Künstlertum, echte Notwendigkeit oder nur Spielerei, Drückebergerei vor dem Ernst der Arbeitswelt? Wie kommt er dazu, dir diese Frage zu stellen? Bin ich Benn? Deine zögerliche Antwort verzuglos unter einem angelesenen Wust erstickend – die Gehirnforschung habe die Entstehungsregion des Kunstschaffens unwiderruflich fixiert, die chemischen Prozesse seien bekannt, es gebe den Formzwang, insbesondere auf dem Sektor der Musik. Dies alles sich überschlagend: Darüber wolle er reden. Er selbst habe, unter dem eisernen Griff eines uneinsichtigen Vaters ein Ingenieursstudium absolvierend, seine Berufung oder sagen wir, den Vorschein seiner Berufung begriffen, sie erst als soziale missverstehend, das lag in der Zeit, eine Zeitlang habe die Arbeit mit Kindern ihn glücklich gemacht. Unter reinen Triebwesen kann es nichts Böses geben. Mit Kitty sei er dann zu den Alternativen gestoßen – das war eine andere Kitty als heute –, doch die Landarbeit habe sich als Irrweg erwiesen, so dass sie beide, den ganzen Schnitt wagend, sich schließlich, wie so viele zu jener Zeit, in Indien wiedergefunden hätten, praktisch von Ersparnissen, vornehmlich Kittys, lebend, von Ort zu Ort ziehend, stets auf der Suche nach dem einzig wahren Guru, doch diese Suche sei zunehmend verblasst –: dort endlich habe, auf den bewusstseinserweiternden Wegen der Meditation, die Musik in ihn Einzug gehalten, in den Slums von Kalkutta habe er seine indische Seele entdeckt, sein Siddharta-Herz, um es blumig auszudrücken, er und Kitty hätten damit begonnen, Instrumente zu lernen, weit entfernt von der Perfektion, die er heute anstrebe, Kitty aber sei krank geworden, schwer krank, so dass sie das Land samt seinen wunderbaren Bewohnern hätten verlassen müssen, allein die Seele, die Seele und die Musik seien mitgekommen, jedenfalls soweit es ihn angehe, von Kitty lasse sich das so nicht behaupten, Kitty habe sich verändert, sie ist eine andere Person, sobald sie hier aufkreuzt, diese Kitty und die alltägliche, die er kenne und mit der er leider auskommen müsse, hätten praktisch nichts miteinander gemein.
Was soll diese Anhäufung von halbgaren Klischees aus der Psychowelt? Was bezweckt die Langweiler-Stimme aus dem Off? Was hat das alles mit dir zu tun?
Immerhin, wir haben verstanden. Natürlich willst du behilflich sein.
Das ging wohl ins Auge. Da sitzt es nun.
Wohin, wenn nicht auf die Sporaden, sollte einer wie Sibla, seinen allzu sporadischen musikalischen Einfällen nachgehend, sich wohl flüchten? Wobei von Flucht eher nicht die Rede sein kann (es sei denn, man stellt die Misslichkeit seines Zusammenlebens mit Kitty ins Zentrum seiner Entscheidungen), sondern von Zielstrebigkeit – wo das Leben am elementarsten pocht, da muss wohl auch die Kunst sich einstellen, reife Frucht am Baum der sich erfüllenden Triebe, doch in diesem Fall… Ein hoffnungsloser Fall, dieser Sibla, übrigens war das bereits dein erster Eindruck, du hast ihn nur professionell verwischt, um besser arbeiten zu können, der Umgang mit Studenten hat dich gelehrt, die elementaren Eindrücke zurückzudrängen, sie sind, wie immer man es betrachtet, im beruflichen Leben ein Störfaktor.
Also doch Flucht: vor der Unfähigkeit zu komponieren in die leere Inspiration des Südens, davor, von Kitty der Unfähigkeit geziehen zu werden (wobei sie sicher klug genug war, den direkten Vorwurf zu meiden und sich stattdessen auf allerlei unangenehme Andeutungen zu beschränken, vielleicht auch nur auf die große Sorge um sein ungenutzt bleibendes Talent), Flucht vor Kitty selbst und ihrem praktischen Sinn, der darauf bestand, er möge sich, wenn schon die Inspiration pausiere, dann doch wenigstens im Haushalt nützlich machen – vielleicht dachte sie auch, dass sich männliche Kunst und männlicher Haushalt ideal ergänzen, jedenfalls für sie, die berufstätige, gern in ihrem Beruf ›aufgehende‹ Frau. Kitty das Biest – vielleicht handelt es sich um ein bloßes eheliches Konstrukt, hervorgetrieben aus dem alltäglichsten aller Stoffe, der als Gerümpel überall herumliegt und zu jedem Schindluder taugt, der Harmlosigkeit.
Flucht schließlich – und hier bekommt die Sache dann doch einen ernsten Anstrich – vor Kittys Depression … aber nein, den Weg auf die Insel der schönen Frau scheint sie ihm verbaut zu haben, vermutlich mit Hilfe eines finanziellen Manövers. Damit kommst du ins Spiel – als möglicher Verbündeter, jedenfalls als Kommunikator oder doch eher als naiver Außenstehender, dem man schon einmal einen Bären aufbinden kann, einen gewaltigen Bären, auf dass der Außenstehende sich in Bewegung setze, um Druck auf die Dame auszuüben… Was für ein Streich! Und fast wäre er, ungeachtet Kittys Sperrfeuer, gelungen; allen Einwänden zum Trotz regt sich so etwas wie ein tiefes Mitgefühl für die im Mief des Alltags vegetierende künstlerische Seele, als habest du gerade ein Gespräch mit einem in der Gosse gelandeten Spross eines vom revolutionären Pöbel zum Teufel gejagten Königshauses geführt. So stark also ist der Zauber der Kunst, dass sogar ihre Abwesenheit die allgegenwärtige Lüge überglänzt.
Der Baukran ruhte zusammengefaltet in seinem Winkel wie ein riesiges erstarrtes Insekt, das Bild mag abgegriffen wirken, aber es trifft doch das, worauf es mir hier ankommt. In gewisser Weise verleiht das Klettern auf einem solchen Objekt Flügel, man erhebt sich in die Lüfte und lässt die offenen Münder der Spielgefährten unter sich. Man könnte in sie hineinspucken, wenn man sicher wäre, dass man auch treffen würde. So kann es natürlich nicht ausbleiben, dass sich der erste schon aufmacht, um einem nachzukommen. Man reizt ihn mit höhnischen, vielleicht auch nur aufmunternden Worten, dem eigenen Weg zu folgen, man zeigt ihm, wo er sich festhalten kann, welche Richtung er einschlagen muss. Alles Dinge, die er selbst ausknobeln könnte, aber man ist ihm ja vorausgegangen und besitzt einen Vorsprung an Wissen, Schläue, Entscheidungsfreude, dem er sich unterzuordnen hat. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig.
Währenddessen weiß man aus alter Erfahrung: er ist nicht so behende wie man selbst, vielleicht auch nicht so helle, nein, nicht so helle, gerade darauf beruht ja die unverbrüchliche Freundschaft, die man für ihn empfindet. Diese Freundschaft ist ein starkes Band, besonders jetzt, wo auch die anderen, unten Gebliebenen an ihm zerren. Sie sehen seine Unsicherheit, seine Angst, und verstärken sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Auch sie höhnen also, raten ihm, wieder herunter zu kommen, scheinheilig oder unter Gelächter, unter listig absichtslosen Reden mutiert der Kran zum Inbegriff des Verbotenen, ein gewaltiges Tabu lastet auf ihm, bereit, jeden in den Abgrund zu schleudern, der sich ihm widersetzt. Man selbst, in komfortabler Stellung oben auf dem Gestänge hockend, begreift nicht ganz, was sich da abspielt, spielend überblickt man die wenigen, leicht zu meisternden Griffe, die den Kletterer von einem selbst trennen, der Sog, der von den Mündern da unten ausgeht, erfasst den Angekommenen, schon zerrinnt alle Leichtigkeit, nein, nicht alle, ein Teil bleibt, ein guter Teil, leichtschwer fühlt sich der Körper, mehr noch die Aufgabe an, die einen erwartet und wächst und wächst.
Nein, nicht darum geht es, wieder Boden unter die Füße zu bekommen: nichts leichter als das. Aber dieser angststarrende, an den Rücken des Insekts angeklebte, in alle Richtungen blockierte Körper muss mit in die Tiefe, darum geht es jetzt, um nichts anderes, und so macht sich die Tiefe schwer. Ein Klotz, hängt sie an den Beinen, man muss ihr Widerstand leisten, die schwere Aufgabe erfordert den ganzen Mut, ich könnte schwören, dass ich sie noch heute empfinde, schwerer als damals, denn der Kran ist verschwunden und damit die Möglichkeit, mit der Kraft des Erwachsenen die Situation ein für allemal zu klären. Diesen Kran werde ich nicht mehr los. Ich muss den Boden gewinnen, soviel ist sicher, sicher auch, dass mir gerade das verwehrt bleibt, gerade das.
Geh dieser verlotterten, armseligen, hochtrabenden, nichts- und allessagenden, anmaßlichen, verwirrten und zu überraschenden Klarheiten fähigen Existenz nach und du läufst Gefahr, einen Zipfel der alten Ordinarienuniversität zu erhaschen, Symbol eines kraftstrotzenden Wissenschaftsstandortes samt doppeltem Höllensturz und abschließender Schattenexistenz.
Elisabeth zum Beispiel. Welche Rolle mag die junge Dame aus gutem Hause mit dem sicheren Pelzgeschmack für seine akademische Karriere gespielt haben? Ob sie diskret vor Ort den einen Kontakt herstellte, der sich in den Berufungsverhandlungen zum richtigen Zeitpunkt als Joker erwies? Du weißt es nicht und du willst es nicht wissen. Auch ohne eine solche Zutat war der aufstrebende Jungphilosoph ›von drüben‹, der seine Leipziger Geschichten mit leisem, aber unüberhörbarem Tremolo zu vermarkten wusste, ein spannenderer Kandidat als seine ohne nennenswerte Vita antretenden Konkurrenten aus Ulm oder Wanne-Eickel.
Aus der Distanz kaum zu erahnen: die Anziehungskräfte, die zwischen Elisabeth und dem akademischen Löwen in spe mit der Attraktivität eines Buchhalters in jenen längst vergangenen Tagen spielten. (Aber vermutlich nicht entfernt so rätselhaft wie ihr heutiges Schachtelverhältnis, in dem sich die verschiedensten Verhältnisse wechselweise Kopf über Zahl durchdringen.)
Das Rezept
Zielstrebig hat sich Leckebusch in einem Winkel des akademischen Milieus eingehaust, in dem persönliche Gefolgschaft noch etwas gilt. Wer ein Philosoph ist und wer ein Scharlatan, entscheidet nicht der wachsende Stapel von Produktionen, sondern die Anhängerschaft. Schüler verbreiten die Lehre des Meisters über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus und wirken auf sie zurück.
Wer ist Philosoph?
Neunundneunzig Prozent aller sogenannten Philosophen sind Verbreiter und Ausleger fremder Texte. Sie legen nicht Aristoteles aus oder Descartes oder Hegel oder Husserl oder Wittgenstein. Sie käuen die Klassiker-Interpretationen ihrer Kollegen in der Hoffnung wieder, ihnen hier und da eine Variante zu entlocken, auf die sie, allein auf sich gestellt, niemals gekommen wären. Die meisten dieser Varianten werden vom Betrieb zerrieben, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen.
Meister wird,
wer die Chuzpe besitzt, eine autoritative Klassiker-Lesart zu verbreiten, abwegig genug, um heftige Gegenreaktionen hervorzurufen, hinreichend holzschnittartig, um auf den Wogen der Entrüstung bis in die entlegenste Rezeptionskammer geschwemmt zu werden. Dann aber – Betonung auf ›aber‹, denn darum handelt es sich letzten Endes – muss er den Mut oder die Hartleibigkeit oder die Phantasielosigkeit oder die sokratische Hässlichkeit aufbieten, den einmal eingeschlagenen Weg mit äußerster Sturheit weiter zu verfolgen, bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus.
Merke:
Wer sich seiner Herkunft schämt, wird vernichtet. Leckebusch schämt sich seiner Herkunft nicht, er spricht von ihr in leisen Tönen, das bewusste Tremolo inbegriffen, er kann seine Lehrer aufzählen, einen nach dem anderen, ohne rot zu werden: jeder einzelne, bekannt oder unbekannt, verkannt, verrufen, beschrieen, hat ihm seine spezielle Überlegenheit eingeflößt, ihre Gesamtheit ihn mit diesem Lehr-Leib ausgestattet, mysteriös und fruchtbar, Ost/West – eine gekonnte Abbreviatur alles dessen, wofür er steht (niemand weiß das genau).
Du hast ihn taxiert, bewundert, verachtet, aber hineingekommen in ihn bist du nicht. Du hast dich Elisabeth genähert, erst berufsmäßig, dann berufungsmäßig, alles im Rahmen des Projekts, versteht sich, aber auch dadurch bist du Leckebusch keinen Schritt näher gekommen – dem Zahnarzt nicht, dem Verwaltungsbeamten nicht, und dem Buchhalter … schon gar nicht, geschweige denn dem Philosophendarsteller, in dem vielleicht wirklich ein kleiner Philosoph steckt. Musst du denn in ihn hineinkommen? Irgendwie schon. In diesem Spiel ist er Patriarch ohne Auftrag. Vielleicht ist ›Auftrag‹ auch nicht das richtige Wort. Wenn Patriarchsein eine Art Ausstrahlung bedeutet, dann ist Leckebusch eine Fehlbesetzung, eine wirkliche Pleite –
Was dann? Erstens vielleicht: das hier ist kein Spiel. Ein Leckebusch spielt nicht. Alles, was er darstellt, ist er mit dem gesammelten Ernst dessen, der all das sein will, was … auf ihn zukommt. Er ist der gewichtige Mann. Leider hat die Natur ihm, rein physisch, das nötige Gewicht versagt, so dass sein Anspruch ins Leere geht – nicht ganz, nein, nicht ganz, denn ganz ins Leere geht nichts. Es antwortet ihm nur niemand. Nein, er ist nicht der Einzige, dem das geschieht. Im Grunde teilen sie alle sein Los, die Friedenwanger, Dürrobst, Blowasser, Ruffmann, Agosch, Lobbock und wie sie heißen, die Kämpfer wider die Natur ihrer Profession, hinter der sie eine andere freizulegen versuchen, die wahre Dimension der Berufung, das ›Überhaupt‹ inmitten der akademischen Selbstbehauptungsmaschine, in deren Bauch man sich gegenseitig Bedeutung attestiert, um sie sich im gleichen Akt wieder zu nehmen, denn sie ist nichts Besonderes, sie ist das, in dem alle gleich dastehen, ohne es sich eingestehen zu wollen.
Wenn Leckebusch über die Moderne redet, dann nicht, weil er sie entdeckt oder erfunden hätte, sondern weil er als ausgesprochener Spezialist für Modernefragen gefragt wird. Da er nun einmal diesen Ruf besitzt: Laden wir ihn ein! Daraus entsteht im Laufe der Zeit ein Einladungszwang – das Moderne-Symposion, auf dem gerade er fehlte, wäre unvollständig, es fehlte ihm an Kompetenz, es wäre … sag’ wie es ist: unerheblich. Zum Glück fehlt Leckebusch selten, wenn man ihn einlädt, er müsste schon im Fieberdelirium liegen, um einmal abzusagen.
Auf seinen Terminkalender ist Verlass.
VERJÄHRTE REPUBLIKFLUCHT ERREGT /
DIE GEMÜTER WEST UND FÜHRT /
ZUR REFLEXION AUF DEN /
EIGENEN STANDORT
Der ›Akephalos‹, der kopflose Dämon, der als Wiedergänger der Zauberliteratur und der Märchen die Menschen schreckt, erinnert an die Herrschaft des ›Kopfes‹, des Verstandes und der Vernunft, also an das, was den Menschen ausmacht und am Ende an die Natur verrät. In der Scheu, im Zurückscheuen, im scheuen Beiseitesehen und -stehen bekundet sich eine Verschränkung beider Bereiche, die auf die Selbstdeutung der Gattung zurückwirkt. Ein Mensch, der vor einer Tat zurückscheut, ist etwas anderes als ein Tier, das scheut, vielleicht sogar, wenn man die Begriffe genauer untersucht, etwas grundlegend anderes. Aber das Verhalten, in dem seine Scheu zum Ausdruck kommt und an dem es ablesbar wird, unterscheidet sich nicht fundamental von dem des Tieres, es weist eine Ähnlichkeit auf, die bedacht sein will. Ein Mensch, der Scham zeigt, zeigt ein Stück Natur – ›seine‹ Natur wie ›Natur überhaupt‹.
DIXIT LECKEBUSCH
Seit die Welt besteht, hat es Denunzianten gegeben. Nichts kann
einen Menschen daran hindern, hinzugehen und seinen Nachbarn
anzuschwärzen, wie das Wort beziehungsreich lautet, vor allem
nicht, wenn er sich dabei einen persönlichen Vorteil verspricht,
außer dem Gewissen, einem außerordentlich delikaten Gebilde, das
sich menschheitsgeschichtlich gesehen relativ spät und zaghaft zu
Wort meldet.
Nichts?
Oh doch. Furcht vor Rache dürfte der stärkste Beweggrund sein,
die schwankende Brücke zum schnellen Erfolg zu meiden. Und Rache …
Nichts liegt dem zu Unrecht Angegriffenen näher, als sich zu rächen,
sich rächen zu wollen, selbst wenn der Zeitpunkt der
Ausführung in weiter Ferne zu liegen scheint. Rache kann warten, sie
verliert nichts dadurch, dass sie sich Zeit lässt, im Gegenteil: sie
gerät furchterregender durch die Zeit, die sie sich lässt, und
gräbt sich unwiderruflich in die Lebensgeschichte dessen ein, der
sie zu fürchten hat, sie schließlich vielleicht sogar
herausfordert, um die Sache kurz zu machen.
Eifersucht und Rache sind durch eine Reihe von Indikatoren miteinander verbunden, die aus ihnen ein Paar machen, fast wie ein Liebespaar, das sich durch einen Ehekontrakt aneinander gebunden hat und neben den Annehmlichkeiten dieses Status auch seine lästigen Seiten kennenlernt. Elisabeth zum Beispiel: warum sollte sie sich rächen wollen? An wem? Wofür? An Liz, der etwas instabil wirkenden, dem Ehrgeiz ergebenen Studentin, dass sie den Stachel der Wollust in ihren etwas dröge geratenen Gatten eingesenkt hat? An Leckebusch, dessen Liebespraxis sie in- und auswendig gelernt hat, und die sie längst nicht mehr interessiert? Das wäre, wie sie sich selbst sagen kann, zu viel der Ehre – ja sicher, der Ehre, denn eine Ehre wäre es, von einer Person wie ihr verfolgt zu werden, die es immer abgelehnt hat, sich durch Klein- und Nickligkeiten vom vollen Genuss des Lebens, vor allem des sexuellen, abhalten zu lassen. Eine Ehre und eine Inkonsequenz … gerade darin liegt, wie sie in diesen Tagen feststellt, ein gewisser Reiz, ein fast neuer Reiz, an Zeiten in ihrem Dasein erinnernd, die vor der vollen Entfaltung der Rose liegen. Denn als Rose empfindet sie sich, daran besteht kein Zweifel, sie weiß dieser Selbstempfindung unauffällig durch die Wahl ihrer Garderobe Ausdruck zu verleihen, und die Männer … die Männer haben den Wink stets verstanden und auf ihre nicht immer formsichere Weise erwidert.
Eifersucht, der tückische Feuermelder, der heimlich den Brand legt, den er melden soll: man darf in ihr einen inneren Denunzianten sehen, der sein Werk ungefragt verrichtet, ohne nach den Folgen zu fragen. Ein Unheilstifter, kein Zweifel. Neid will besitzen, Eifersucht will zerstören – im Zweifelsfall, um sich Besitz zu verschaffen, aber es reicht auch die Zerstörung an sich, die Zerstörung um ihrer selbst willen. Von Eifersucht überwältigt, beginnt der Mensch sich selbst zu zerstören. Die ersten Trippelschritte auf dem einmal eingeschlagenen Weg kümmern ihn nicht. Er bemerkt sie kaum. Lange Zeit glaubt er sich zurückpfeifen zu können, wenn die Situation außer Kontrolle zu geraten droht. Das ist ein Irrtum. Der Kontrollverlust tritt sofort ein, aber er bleibt unbemerkt. Auch darauf lassen sich Karrieren bauen.
Wer Eifersucht nur im Sexuellen erkennt, der darf sich zu ihren idealen Opfern zählen (stattdessen fühlt er sich sicher).
der eine offen, der andere hinterrücks: wo steckt die Eifersucht? Besitzen sie Gründe, das Fu-Projekt zu erdrosseln? Eher nicht, wenigstens keine persönlichen… Fachliche sowieso nicht, da es sie in ihren Fächern nichts angeht. Allenthalben spürst du den Widerstand, den sie dir eingebrockt haben. Längst ist er zum Selbstläufer geworden und bedarf ihrer Anschubkünste nicht mehr. Befriedigt sie das? Haben sie ihre Schuldigkeit getan? Aber wem waren sie etwas schuldig – und was? Offenkundig sich selbst: ihrem Ego. Was hat es verletzt, das zarte Pflänzlein, was konnte es so verletzen, dass daraufhin dieser Angriff erfolgen musste – ja, musste, denn irgendein Müssen muss doch im Spiel sein, wenn aus Spiel unversehens Ernst wird.
Hilfreich zu wissen wäre zum Beispiel, wem der Krieg, mit dem sie dich überziehen, gilt: dem Projekt oder dir als Person. Du weißt es nicht und vermutlich wirst du es niemals wissen. Der Krieg ist zum Selbstläufer geworden. Je mehr er sich ausweitet, desto unbestimmter das Ziel. Aber guter Freund: Ist das nicht fast schon eine Definition der Eifersucht? |
Falls sie im Spiel sein sollte, was konnte sie wecken? Was hat dieses Projekt, das ihnen gehören sollte, obwohl es frei darüber verfügt? Man kann Fu nicht verstehen, wenn man den Sex aus dem Projektmittelpunkt verbannt, gesitteter gesprochen, die Lustmaschine, die aller menschlichen Tätigkeit innewohnt und den Einzelnen zu Höchstleistungen treibt, von deren Möglichkeit er ohne sie keine Kenntnis besäße … aber es sind nicht die Höchstleistungen allein, welche die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich ziehen, es ist die asoziale Sozialität, die sich in ihr zur Schau stellt, und damit … damit … ja was denn? … der Motor, der in den sozialen Analysen der braven Kollegen fehlt, in denen es von Strukturen wimmelt, von denen keine, für sich genommen, auch nur den kleinsten Finger in Bewegung setzen würde… Und dabei stecken sie bis über beide Ohren im rüden Sexismus ihrer Generation fest, no sex no choice, ihre Tagträume wimmeln von better sex, bloß das Fach, die fachlichen Zwänge drücken ihnen die Maske aufs Gesicht, die Maske des roten Todes, den sie repräsentieren, jeder für sich und alle gemeinsam, die alles Greifbare auflösende Maske der begrifflichen Korrektheit, der Ein-Aus-Schalter, der herrschaftsfreien Diskurse und der strukturellen Hermeneutik. Nein, es ist nicht Neid, der sie bewegt, schließlich könnten sie sich jederzeit an denselben Themen bedienen, es ist Eifersucht, wirkliche blinde Eifersucht, denn du hast etwas getan … etwas getan … wovon ihnen des Teufels Großmutter beizeiten abgeraten hat: du hast den Stier bei den Hörnern gepackt und dazu fehlte ihnen der Mut, vielleicht auch noch etwas anderes, etwas Unaussprechliches, jedenfalls wenn man gestrickt ist wie sie – Statur.
Nein, sie sind ganz normal. Sie sind, um es mit einem Wort zu
bezeichnen, das normalerweise nicht zu deinem Vokabular gehört,
Normalos. Nichts scheint normaler zwischen den Menschen zu
sein als blinde Eifersucht, wenn man darunter nicht die wütenden
Verfolgungsszenarien versteht, die sich an in flagranti
ertappten Ehepartnern entzünden, sondern das lautlose
Wabern zwischen Menschen, die, rein menschlich betrachtet, einander
gleichgültig sein sollten, da bloß eine berufliche Konstellation
oder schlichte, auf Dauer gestellte Nachbarschaft sie verbindet. Das
ganz normale Übelwollen grundiert den Umgang zwischen den
Menschen, man muss ihm nur auf die Schliche kommen.
Im Alltag erscheint es verstellt.
Und der Alltag stellt sozusagen das Milieu, in dem es sich
abspielt.
Vor allem anderen ist Verstellung der Alltagszwang, den anderen
ein freundliches Gesicht zu zeigen. Sie ist das, was man den Kindern
in zähen und ausdauernden Lektionen einimpft, denn sie ist
überlebensnotwendig. Sie ist die grundlegendste aller
Kulturtechniken, und zwar in einem solchen Maße, dass sie selbst noch
dem Verstellungszwang unterliegt. Die perfekte Maske des
Zivilisationsmenschen ist, wie jeder weiß, die zur Schau getragene
Gleichgültigkeit, ein raffiniertes Kunstprodukt, nicht zu
verwechseln mit dem Anblick des selbstbezogenen Mitmenschen, der sich
unbeobachtet wähnt und deshalb die Maske lüftet. Ich habe es nicht nötig, Freundlichkeit zu heucheln, lautet die Maxime der ›Coolen‹. Pure Heuchelei! Soll sich der andere an mir abarbeiten!
Warum sollte er?
Das lautlose Wabern, so sagt es Fu, ist die versagte Lust.
Was aber ist die Versagung? Sie ist eins mit der Maske. Es ist falsch
zu sagen, die Maske sei ins Gesicht eingelassen (oder ruhe ihm auf).
Die Maske ist das Gesicht, das menschliche Gesicht, um genau
zu sein, oder das, was am Gesicht menschlich ist (wobei die Grenze
zum Tier vielleicht nicht besonders scharf gezogen ist): ein
Steuergerät zur Manipulation fremder Wahrnehmung. Warum Versagung?
Weil es den Lustbezirk abgrenzt. Die Maske, schreibt Hanbüchl, der es wissen muss, in seinem neuesten Aufsatz, ist die
vom Menschen gezogene Außengrenze der Person. Ob einer dick aufträgt
oder den natürlichen Gesichtsausdruck vorzieht (eine Simulation, wie
wir wissen), ist eine Frage des Geschmacks, vielleicht der
Persönlichkeit, vermutlich eher der Mode oder der ›Kultur‹, auf
jeden Fall aber Ausdruck einer Binnendifferenz ohne grundsätzliche
Bedeutung. Entscheidend ist die Differenz zwischen Last und Lust,
zwischen äußerer und innerer Beziehungsdynamik (schreibt Hanbüchl).
Das wäre natürlich reiner Fu.
›Dieses Gesicht glüht vor Lust.‹ Aha. Es ist nicht Ausdruck von Lust, es stellt sie nicht dar, es bildet sie auch nicht ab, es wird von ihr durchglüht, als habe es zufällig auf einer heißen Herdplatte gelegen, jedenfalls verarmt seine Beweglichkeit unter dem Ansturm dessen, was hinter ihm vorgeht. Lust hat kein Gesicht. |
Okay, es ist Eifersucht. Eifersucht versteckt sich … versteckt
sich … unter tausenderlei Masken … das ist so nicht richtig … sie produziert
Masken am laufenden Band … sie ist nichts anderes … nichts
anderes als … Gebrabbel … Lebendigkeit auf dem Grund …
organische Substanz, aus der hin und wieder … Fontänen aufschießen …
Geysire … dann tanzen die Masken…
Frage nicht nach dem Anlass, frage nach dem Vorwand.
Betrachte die Pyramide als anhaltenden Maskenball, als Ständige
Vertretung der Masken im Raum der Wissenschaft. Nicht als ob es
hier anders zuginge als anderswo, sie ist nur da.
Missmut. Gebrochener Mut. Woran gebrochen?
An der Grenze zwischen
Innen und Außen.
Missmut / Missgunst: beachte die Vorsilbe.
Es sind bloß zwei unter vielen. Vergiss das nie. Sie sind die Ausnahme, die anderen die Regel. Es sind aber zufällig diese zwei. Genauso könnten es zwei andere sein (oder drei oder vier). Es hat nichts zu bedeuten, dass es just diese beiden sind. Andererseits bedeutet es alles: schließlich hast du’s mit ihnen zu tun bekommen. Der neutrale Rest geht dich nichts an.
Was schwatzt du da?
Friedenwangers denunziatorische Tat: wie jetzt durchsickert, hat seine Frau ihn hinausgeworfen (wegen Untreue, vermutlich im Dienst!). Seither teilt er sich mit seiner Geliebten, angeblich institutsnah, eine Ein-Zimmer-Wohnung, aus der er sich ›im tiefsten Grunde seines Herzens‹ hinauswünscht. Und mit einem Mal hat er, wie er seiner engen Umgebung, sprich Teuschner, gegenüber andeutet und Dowil munter weitertratscht, ein ›Männlein‹ im Ohr. Ein auf solche Weise erworbener Tinnitus erklärt vieles. Friedenwanger, der erklärte Libertäre, seiner eigenen Rede nach ›Libertinist‹ Freudscher Schule, wird der Skrupel nicht Herr, vielleicht auch nur des zehrenden Gefühls, von seiner Frau, bald ›Ex‹, gedemütigt worden zu sein, ja sicher gedemütigt, zu einem langen, sehr langen Spießrutenlauf verdammt, dessen Ende gegenwärtig nicht in Sicht ist.
Friedenwanger ist out. Fragt sich nur, bei wem? Die Pyramide jedenfalls nimmt die Nachricht mit Gleichmut auf. Den männlichen Kollegen zaubert sie ein wissendes Lächeln, dem einen oder anderen gedrückten Mitarbeiter ein schadenfrohes Grinsen ins Gesicht. Ist das wichtig? Ist das bedeutsam? An dieser Front sind sie alle, das zeigt sich bei dieser Gelegenheit, mehr oder minder Leidende. Die Kolleginnen gehen darüber hinweg, als ginge sie das alles nichts an. Was, alles in allem, auf jeden zutrifft. Häusliche Querelen lassen die Pyramide kalt. So kalt, dass man wie eh und je seinen andeutungsreichen Reden lauscht und darüber nachdenkt, welche Aufschlüsse man dem ungewöhnlich informierten (und daher allseits als Gesprächspartner geschätzten) Kollegen zum eigenen Vorteil entlocken könnte.
Nein, Friedenwanger ist nicht irgendwer. Seit seinem gescheiterten Versuch, den Rektor zu stürzen, hat er sich zur Klatsch-, Missgünstige sagen: Desinformationszentrale der Fakultät gemausert. Dabei liegt ihm die eigentliche üble Nachrede fern. Sein Revier ist das Feld der Andeutungen, der sinistren Redensarten, der erstaunlichen Verknüpfungen gemäß dem Motto: Wer hätte das gedacht? Friedenwanger, so könnte es scheinen, lässt denken – das lässt seinen Anteil an den umherschwirrenden Gerüchten im Unscheinbaren verschwimmen. Seriös, seriöser, Friedenwanger – noch Fragen? |
Schrecklichstes aller Gefühle: hinter den Erwartungen zurückbleiben. Wessen Erwartungen? Der Eltern, der Schule, der ›Ausbilder‹, der Dozenten, der Frau, der Kinder … der Vorgesetzten: ja sicher, warum sonst säßen sie da vorn, wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit umdrehten, um Rechenschaft zu verlangen: abrupt, überraschend, im falschen Moment, mit tödlicher Sicherheit in ein Vakuum stoßend, denn auf diesen Punkt vorbereitet ist keiner.
War Friedenwanger vorbereitet auf das, was geschehen würde, als er seine Frau auf das Terrain der Eifersucht lockte? Natürlich nicht. Genauso wenig wie sie, die eheliche Treue von Beginn ihrer Beziehung an ablehnte – als männliche Repression selbstverständlich, als Hohn auf ihr frauliches Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Arglos waren sie beide. Und doch brach der Vulkan just an dieser Stelle aus, ganz ohne Abstimmung. Er hatte immer schon da gelegen und seismische Messungen hätten die beiden von langer Hand warnen müssen.
Waren sie ungewarnt? Natürlich nicht. Sie waren, wenn man so will, mehr als gewarnt. Sie hatten ihre Beziehung darauf gebaut, die Warnungen in den Wind zu schlagen: die erste Generation ohne Liebesfurcht, ohne Maske, ohne Geheimnisse… Sie sind in das Geheimnis geraten wie Kinder, die von Überraschung zu Überraschung eilen und vor Entzücken in die Hände klatschen, während drei Schritte weiter der Abgrund klafft. Das Geheimnis hat sie empfangen, wie es jeden empfängt: scheinbar zurückweichend, mit offenen Armen, mit Selbstverständlichkeiten, die sich gut und vertraut anfühlen, von langer Hand vorbereitet und nunmehr abrufbar, Regalmeter voller Selbstverständlichkeiten, plötzlich abgeräumt…
Wessen Erwartungen also? Friedenwanger weiß es nicht, wird es nie wissen, so angestrengt er sich auch den Kopf zermartert. Er kennt diese Frau nicht, seine Frau, bald Ex, das fremde Wesen, das wie selbstverständlich den Platz der vertrauten eingenommen hat. Er weiß nur, dass er in ihren Augen versagt hat, Versager auf ganzer Linie, auf alle Zeit, für alle Gelegenheit. Er liest es in ihren Augen. Ach wären es nur die Augen! Die Seele liest mit, er liest es sich aus der Seele, die Botschaft, so da denn eine wäre, ist doppelt: er selbst hat sich verurteilt, doppelt verurteilt, das Urteil der Frau ist das Urteil der Welt, die gnadenlos zusieht, wie sein selbstbestimmtes Leben Schiffbruch erleidet, und ihre Schlüsse zieht.
Von ihm, dem Friedenwanger, hätte man anderes erwartet.
Ganz anderes.
Dieses Männlein im Ohr … was bläst es ihm ein? Wovon spricht so ein Männlein den lieben langen Tag und vielleicht sogar darüber hinaus? Du lebst in Sünde. Gehe hin und tue Buße? Zweifellos meldet sich auch diese Stimme in Friedenwanger. Aber wer glaubte, ihr Sitz befinde sich im Ohr, der irrte gewaltig. Friedenwanger kennt sie wohl, die Stimme des ideologischen Feindes, er gerät in Kampflaune, sobald sie sich in ihm meldet, darin ist er geübt. Die Predigt des Männleins hingegen, diese physiologische Verirrung, klingt anders: Du bist ein Versager, sirrt es im Ohr, du bist nicht würdig der Lehren des erhabenen Fu, niemals wirst du ins Paradies der Lüste eingehen, geh hin und krepiere in der Hölle des schlechten Gewissens! So lautet die dechiffrierte Botschaft des Körpers. Doch bei dem Wort Fu richtet der alte Adam sich auf und deutet mit Fingern, schwer wie Blei, auf den Nächsten: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.
›Du‹, das ist dann doch wohl … der andere. Jedenfalls deutet der Finger auf ihn, weg von der eigenen Person, weit weg, wir haben den ideologischen Verderber im Haus, den Menschenverderber im Gewand der Wissenschaft, fasst ihn! Tötet ihn! Aber lautlos, es schickt sich nicht, dass die Hände der Wissenschaft sich mit Blut röten.
Du bist erkannt, Friedenwanger, streng dich nicht an: dein kleiner gemeiner Wahnsinn konzentriert sich in dieser Botschaft, die keine ist, die keine sein will, nur eine Spritze voll Gift, weitergereicht an die Kollegen, auf dass einer von ihnen die Tat vollende, aber erst, wenn die Spur, die zu dir führt, verblichen ist. Denn schuldig schuldlos, das bist du, und deine Schuldlosigkeit erweist sich am Schicksal des anderen, des wahrhaft Schuldigen, dafür wirst du sorgen. So wenig es Schuld im aseptischen Treiben der Wissenschaft geben kann, so wenig kann ein Friedenwanger Schuld tragen. Er kann sie nur deponieren.
Wenn das ausgesperrte Sündenbewusstsein wiederkehrt, wird es nicht sagen: ›Ich bin das Sündenbewusstseins. Was du tust, ist Sünde‹. Vielmehr wird es sagen: ›Ich bin dein Seismograph. Vertraue dich mir an, ich werde dir alle ideologischen Verräter verraten, denn im Aufspüren des inneren Feindes bin ich groß. Im Grunde bin ich nichts weiter als eine kleine physische Unpässlichkeit, ein lästiger, aber treuer Begleiter, der anschlägt, sobald ein unsicherer Kantonist sich blicken lässt. Warte, das muss ich dir erklären. Was ist ein unsicherer Kantonist? Ein unsicherer Kantonist ist einer, der unser aller Überzeugung auf den Prüfstand stellt. Ein Selbstdenker, ganz recht, ein ›Selbsthenker‹, wie Nietzsche zu Recht bemerkt, ein Siegfried meinethalben, je argloser seinem momentanen Geschäft in der Gruppe ergeben, umso schlimmer für ihn, umso schlimmer für die Gemeinschaft.‹
So wird es reden, das weiterhin ausgesperrte Sündenbewusstsein, das längst seine Fesseln gelöst hat und kommt und geht, wie es ihm passt, denn ihm ist jede Maske recht.
Wäre Friedenwanger nicht Friedenwanger, das heißt ein zutiefst
blamabler Mensch, dann könnte er um sich blicken und feststellen:
Wir sind viele. Wir sind, um uns der Sprache der Bibel zu bedienen,
die ihm so liegt, dass er sie scheut wie der Teufel das Weihwasser
(er hat nebenher ein Bibelprojekt laufen, das sie umschreiben soll),
›Legion‹.
So ist es.
Friedenwanger, das ist der sündige Mensch, der sich täglich
die Unschuldsbescheinigung ausstellt und dafür den Mitmenschen madig
macht. Der Krieg gegen die Sünde, in den er, so gläubig wie
blind, als tapferer Soldat einer besseren Welt hineinmarschierte, hat
sich für ihn als eine Nummer zu groß erwiesen. Beim erstbesten
Treffen hat er seine Kräfte zerstört und eine zuckende Kreatur
hinterlassen, mit der er sich identifizieren darf oder nicht – es
macht keinen Unterschied. Für die Kollegen – und nicht nur für
sie – ist Friedenwanger, unser allseits geschätzter Friedenwanger,
der mit dem Männlein im Ohr, er muss nichts weiter
erläutern, denn sie wissen gerade so schon Bescheid. Sie sind verständigt.
Wäre Friedenwanger, so träumt er sich fort, nicht ein geachteter Wissenschaftler, dann wäre er Guerillero irgendwo im südamerikanischen Urwald, durchglüht vom Hass auf Ugly America, das Halstuch dramatisch geknüpft, mit der Waffe im Anschlag: fern jedem inneren Konflikt und durchdrungen vom Recht auf den weiblichen Körper, das die Kalaschnikow, das Instrument revolutionärer Liebe, nun einmal verleiht, weil es ihn, ganz ohne Vergewaltigungsphantasie, schmelzen lässt.
Für eine Überraschung ist Teuschner immer gut.
Da müsstest du schon durch die Finger sehen, bloß um etwas
zu sehen.
Frage: Warum solltest du?
Warum eigentlich?
Liz, das ist: die junge Frau in Bewegung. Kein ganz neues Thema,
zugegeben, ein Beitrag zum Thema Banalität des Banalen. (Dass
dir das jetzt einfallen muss!)
Nein, keine Schönheit trat da auf dich zu. Hübsch herb, so ließe
sich der erste Eindruck sortieren, dem bislang kein anderer folgte.
Warum eigentlich nicht?
Das liegt an der Bewegtheit.
Ein bewegter Körper zieht die Aufmerksamkeit des Jägers auf sich, das ist so. Dafür gibt es gute Gründe, die außerhalb des akademischen Universums liegen, aber innerhalb seiner Möglichkeiten relativ gründlich erforscht wurden.
Kann sein, muss nicht sein. Dieser hier zieht den Blick nicht auf,
sondern an sich.
Liegt da ein Unterschied?
Aber sicher. Ein gewaltiger.
Dein Blick, jeder Blick sucht den Körper im Raum. Ist dieser
Körper schön, explodiert der Blick. Er flutet gleichsam in dich
zurück.
Ist das so? Ja, so kann man es sagen.
Was, wenn der Blick, von der Bewegung des Körpers angelockt,
vorzeitig abgelenkt würde? Wenn er, hineingezogen in diese
Allzeit-Bewegtheit, ins Trudeln geriete? Vielleicht ist Trudeln nicht
das richtige Wort, vielleicht liegt darin eine Schärfe des Urteils,
die revidiert werden muss, aber Flattern, Taumeln, Irrlichtern, das
sind so Wörter, bei denen der Zeiger ausschlägt und meldet:
Getroffen!
Ist dieser Körper, nüchtern betrachtet, stämmig?
Ja, er ist stämmig.
Ist dieser Körper, abschätzend betrachtet, grazil?
Ja, er ist grazil.
Liegt da nicht ein gewisser Widerspruch vor?
Aber sicher. Das Geheimnis der banalen Hübschheit liegt in diesem Widerspruch.
Aber es kompliziert die Dinge unnötig, hier einem Geheimnis das Wort zu
reden. Spar dir den Ausdruck für Wichtigeres auf.
Was willst du von diesem Körper?
Nichts.
Warum musterst du ihn dann so genau?
Ich? Mustern? Wie kommst du denn darauf?
Weil du ihn musterst. Jedenfalls in Gedanken.
Gut, dann mustere ich ihn in Gedanken. Eigentlich fahnde ich
gerade nach ihm. Was ist da zu finden? Ich finde nur einen Wirbel.
Die Frage ist doch, ob du dich mitreißen lässt. Lässt du?
Wenn du mich so fragst: nein. Ich lasse mich nicht mitreißen. Ich
finde sie auch nicht hinreißend. Ehrlich gesagt: ich finde sie gar
nicht.
Das musst du erläutern.
Ich fahnde nach ihr und ich finde ein Mundwerk.
Ein Mundwerk? Warum ein Mundwerk? Was ist mit dem Rest?
Nun, es gibt Augenblicke … Manchmal sehe ich wie durch einen Spalt. Dann stoße ich auf
ihren Körper und pralle zurück (so wie jemand vor der Nacktheit
eines anderen zurückprallt). Versteh mich jetzt nicht falsch. Ich
›erblicke‹ sie nicht ›nackt vor mir‹ oder dergleichen. Es ist nur
… dieser Körper, als Körper ins Auge gefasst, wirkt auf dich so,
wie ein nackter Körper – ein nackter, zufällig durch die Büsche
erspähter Frauenkörper, wir verstehen uns wohl – auf dich wirken
würde, würde wohlgemerkt, denn hier ist von keinerlei
physischer Nacktheit die Rede, im Gegenteil, sie wirkt sehr
angezogen, nicht in diesem mondänen Sinn, sondern im Alltagssinn, so
als mache sie nicht viel von sich her. Andererseits –
Ja?
… liegt dem vielleicht eine Fehlwahrnehmung zu Grunde. Denn
dieser alltägliche Aufzug – Jeans, Männerhemd,
Camouflage-Jäckchen – wirkt auch wieder wie mit viel Bedacht
ausgewählt, so als sei die Trägerin, nach dem Durchgang durch den
Kleiderschrank, erneut auf ihn zurückgekommen, aber hastig, als habe
ihr ein Termin das letzte Quäntchen Sorgfalt abgenommen und nun
erscheine sie so, wie sie nun einmal sei und man müsse ihr das jetzt
halt abnehmen.
Nimmst du es dir ab?
Dumme Frage. Würdest du…?
Stell sie, bloß in Gedanken, neben Elisabeth. Was siehst du da?
Einen Kobold neben einer Frau.
So streng?
Ist das streng? Ist das gerecht? Ist das … sexistisch? Das sind
so Wörter.
Jedenfalls scheint ihr Charme zu wirken. Hast du gesehen, wie
fahrig Leckebusch wirkte?
Fahrig und doch entspannt. Als ob er in der Kulisse
säße und ihrer beider Spiel kontrollierte: Sind wir auch gut? Ja sicher,
wir sind gut. Aber sehen das auch die anderen?
Zum Teufel mit den anderen. Du hast gesehen, was du nicht sehen solltest.
Du?
In diesem Fall bist du jedermann.
Wer denn sonst? Elisabeths ›Liebhaber‹?
Seltsame Frage. Sehr seltsame Frage. Noch sind wir alle im Projekt verbunden. Diese Liz? Undenkbar, sie einzubinden. Jedenfalls scheint es undenkbar, jetzt, in diesem Moment, der vielleicht rascher vorbeigeht, als dir lieb ist.
Ist Elisabeth Teil des Projekts? Ja und nein. Wir spielen es einander vor. Sie Regisseurin, du Arrangeur. Wo liegt der Unterschied? Vielleicht darin: du weißt, was du tust, sie weiß, was du tust. Darin liegt eine gewisse Asymmetrie. Du überwindest sie durch Beschreibung. Du versuchst, sie durch Beschreibung zu überwinden. Aber Elisabeth ist nicht die Frau, die sich beschreiben lässt.
Was lässt dich jetzt an Elisabeth denken?
Zweifellos Leckebusch.
Diese Liz wird ihren Weg machen, dessen bist du dir sicher.
Welchen Weg?
Wessen bist du dir sicher?
Das abgegriffene Ausdrucksfeld, plötzlich reaktiviert, flößt dir Unbehagen ein, nein, es verdeutlicht ein Unbehagen diesseits der Barriere, der berühmten Fu-Barriere, an der die Bewerber sich drängeln.
Asymmetrie ist der Schlüssel zur Symmetrie.
Du versuchst symmetrische Verhältnisse herzustellen.
Darin liegt der Fehler des Projekts.
Wieso Fehler? Darin besteht das Projekt.
Darüber musst du nachdenken.
Na dann –!
Ein Projekt ist ein Projekt.
Nenne es mit dem hausbackensten aller Namen: ein Vorhaben.
Du hast etwas vor und lässt andere daran teilhaben.
Klingt trivial. Worauf willst du hinaus?
Auf Trivialitäten. Fürs erste: unterscheide passive von aktiver Teilhabe. Es ist ein Unterschied, ob jemand an der Planung eines Projekts teilhat oder an seiner Ausführung.
Planung = aktive Teilhabe.
Ausführung = passive Teilhabe.
Doch damit überblendest du etwas.
Du kannst ein Projekt auf zweierlei Weise planen. Die erste umfasst die Wege der Ausführung. Dabei mag es sich um den komplizierteren Teil handeln, aber im Entscheidenden bleibt sie nachgeordnet: sie enthält keinen Zugriff auf das Projektziel. Die zweite umfasst das Projektziel in all seinen Nuancen – diese Weise der Teilhabe mag zwar nicht umfassend sein, aber sie setzt Prioritäten, während sie die Details der Planung anderen überlässt.
›Einen Flughafen bauen‹ kann höchst Unterschiedliches bedeuten.
Als da wäre:
etwas bauen, was
Worin besteht das Fu-Projekt?
Nenne es: ›Herstellung von Symmetrie zwischen den Geschlechtern‹.
Dieses Ziel lag vor allem Anfang fest. Es ist das ›Leit-Ziel‹.
Darin ist wenig Fu.
Das Fu-Ziel lautet: Freisetzung ungebremster Produktivität durch kontrollierte Promiskuität.
(Hast du das in deinen Anträgen je so deutlich formuliert? Natürlich nicht. Diese Dinge laufen unter dem Motto: Wer will, weiß Bescheid.)
Das Leit-Ziel hat also einen Zwilling bekommen: Produktivitätssteigerung. Auch dieser Zwilling stammt nicht von dir. Du bist der, der’s probiert. Also c.
Wie das? Es ist dein Projekt und du wärest Teilhaber erst auf der dritten Stufe? Mach dir nichts vor: selbstverständlich hast du’s gewusst. Aber du hast es verdrängt.
Verdrängt? Warum verdrängt? Dein Ehrgeiz reichte nicht höher.
Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Das hieße doch, dass über diese Dinge nach Ehrgeiz entschieden würde. Aber so laufen die Dinge nicht. Was sie ins Laufen bringt, was sie wirklich ins Laufen bringt, darüber zu befinden … steht dir nicht zu? Warum das denn?
Ist das eine philosophische Frage oder ist es eine Machtfrage?
Und wenn es eine Machtfrage wäre, wäre es dann keine philosophische?
Und wenn es eine philosophische wäre, wäre es dann keine politische?
Keine, die alle angeht?
Was ging dich, als du dein Projekt formuliertest, die Frage der allgemeinen Produktivität an? (Nicht deiner, die steht auf einem anderen Blatt.)
Nichts zweifellos. Sie gab dir die Möglichkeit, dich einzuklinken.
Also stand sie im Raum. Greifbar? Ungreifbar? Unsichtbar? Ein weißer Elefant?
Natürlich nicht. Sie stand für die Überlegenheit des ›Systems‹.
Du bist ein Soldat des Systems.
Einer aus der Schar derer, die sich ihre Mission selbsttätig suchen.
In Maßen. In bescheidenen Maßen.
Wie steht es um das Leit-Ziel?
Konkret gefragt:
Was geht dich die Geschlechtersymmetrie an?
Alles.
Diese Aussage ist brutal.
Aber korrekt.
Wenn du die Klassiker studierst und ihre Aussagen über das andere Geschlecht (und das Verhältnis der Geschlechter untereinander) nur im Ironie-Modus zu lesen imstande bist, dann geht dich das nicht bloß ›etwas‹ an. Es geht dir durch und durch.
Es ist ›gesetzt‹ (aber zur Gänze anders als die Frage der Produktivität).
Fu: der Ausnahme-Klassiker, der beide Fragen miteinander verbindet – diejenige, die dich nichts, und diejenige, die dich alles angeht.
Natürlich kannst du dich hinstellen, dir an die Brust klopfen und behaupten, du selbst seist Fu – das würde dich auf die zweite Teilhabe-Stufe befördern –, aber diese Selbstbeförderung wirst du hübsch bleiben lassen. Erstens machtest du dich lächerlich und zweitens … warum muss es immer ein ›zweitens‹ geben? Reicht es nicht, dass einer sich lächerlich macht? Aber natürlich, es gibt auch den zweiten Grund, du siehst ihn und er sieht dich –
Wenn Elisabeth jetzt die Nerven verliert und Leckebusch … sich verliebt (sagt man das so?) – was passiert dann?
Sie werden zu Teilhabern der Stufe a.
Bist du dir sicher?
Wie kann sich einer da sicher sein?
Und doch sieht es so aus.
Elisabeth, das ist: die Freiheit der sexuellen Entfaltung.
Leckebusch, das ist: die a-sexuelle Freiheit im Sexuellen.
Wie’s scheint, kann man sich da täuschen.
Eine kluge Studentin, das ist diese Liz, jedenfalls fändest du keinen Mann im Raum, der nicht so dächte, mancher vielleicht auch mehr, du willst keinem zu nahe treten, jeder hat seine Präferenzen, jede Präferenz hat ihr Personal fest im Griff.
(Es gibt nicht viele Menschen, auf die sich diese Phrase bruchlos anwenden lässt)
… niemals hätte Leckebusch ihr Betreuungsverhältnis erotisch gedeutet, solange es sich noch in den Anfängen befand. Noch heute hegt er ›in diesem Punkt‹ Zweifel. »Da ist nichts.« Wirklich? Und wenn schon. Es wäre falsch, hier ein Fragezeichen zu setzen. Es gilt das gesprochene Wort. Das ist zwar eine Politiker-Phrase, unbrauchbar unter den Bedingungen der academia, wo so vieles ins Unreine gesprochen wird und nur die ausgereifte, schriftlich fixierte Rede den erhofften Reifegrad birgt, aber in diesem Fall … in diesem Fall… Er wird doch nicht zu weinen anfangen, der Gute? Nein, es war eine nervöse Irritation.
Du bist also Leckebuschs Vertrauter. Die Erkenntnis will
verdaut sein. Alles, was im Rahmen des Projekts besprochen wird, unterliegt der
Verschwiegenheitspflicht, demnach auch der Gegenstand seines Vertrauens.
Dergleichen gilt – selbst für den Fall, dass sie missbraucht wird. Es steht, im
Vertrauen, nicht gut um Leckebuschs Ehe und er ist gewillt, wie er sagt, die
Dinge zu sehen, wie sie nun einmal liegen. Nicht dass er sich etwas vorzuwerfen
hätte – er, der gereifte Mann und dieses … dieses … Mädchen, hätte er
beinahe gesagt, sagt es im Beinahe-Modus, ein Lächeln huscht über seine
Züge, hier geht es überhaupt nicht um Schuld.
Worum dann?
Um
Elisabeths Intransigenz.
Woran macht er das fest? Nein, so klein ist er nicht, dass er ins Detail ginge. Auf der anderen Seite… Er ist noch nicht so sehr ›Fu‹, dass er Elisabeths Eskapaden mit blankem Unverständnis begegnete. Sie hinzunehmen fällt schwer, aber: Wat mutt dat mutt. Elisabeth hat recht, es muss etwas geschehen. So kommt er, scheu aber unerbittlich, auf seinen Haupt-Punkt zu sprechen. Nein, er braucht dich nicht als Vertrauten. Er möchte den Spatz in deine Obhut geben, von Mann zu Mann, gewissermaßen im Rahmen des Projekts, aber dann doch wieder…
Welcher Mann hätte kein Verständnis für seine Lage? Wie er sich allerdings den Vorgang, pardon: den Übergang vorstellt, das steht auf einem anderen Blatt. Ehrlich gesagt, hältst du ihn nicht für besonders findig in solchen Dingen. Ehrlich gesagt, hältst du dich nicht für besonders findig in solchen Dingen.
Worin besteht es überhaupt, dieses Betreuungsverhältnis? Wer betreut hier wen? Das ist … nicht völlig ersichtlich. Mag sein, sie hat sich irgendwann an seine Fersen geheftet (»nach einem Heulkrampf im Seminar«, wie er sagt), die ›junge Frau‹ und der Professor, mag sein, er hat sie ursprünglich ›aus Mitleid‹ nach Hause gebracht, wo Elisabeth sie erst einmal unter ihre Fittiche nahm (sie hat diese zupackende Art), mag sein, das ›Vertrauen‹ zu ihm war anschließend da (wo sonst?), mag sein, daraus ›entwickelte sich‹ eine Vertrautheit ohne sexuelle Komponente (»nichts Erotisches, eher ein Vater-Tochter-Verhältnis, aber nicht wirklich«), mag sein, sie feierten wahre Orgien der Bravheit in Elisabeths Abwesenheit (aber warum?), mag sein, dass Elisabeth übergangslos ›giftig‹ wurde (»rastete ganz schön aus«), ›grundlos‹, versteht sich, das heißt ohne einen der vorgeschriebenen Gründe, mag sein, dass seither der Haussegen schief hängt (das sagt er nicht, aber es ist der Sinn seiner Worte), mag sein, dass seine Wahrnehmung da nicht trügt, mag alles sein –:
… wenn alles so ist, wie er sagt, das heißt, wenn er dir nichts vorflunkert (auch sich, aber das ist im Augenblick nicht so wichtig), dann erhebt sich die Frage – sie erhebt sich riesengroß, ein Berg, der uns beide als veritable Zwerge dastehen lässt –, warum er damit zu dir kommt, als seist gerade du der Meister aller Probleme, gerade du. Das ist nichts Persönliches (es gibt nichts Persönliches zwischen euch), es ist klar und eindeutig ein Verstoß gegen die Regeln.
Leckebusch steht am Fenster, dir zugewandt, er hat seine Spannkraft wieder gefunden und hat dich verplant. Er hat dem Regal ein Buch entnommen, er blättert darin, du kannst dir keineswegs sicher sein, dass er nicht gerade in diesem Augenblick eine Fußnote formuliert, so vollständig steht er im Raum, mit forschendem Blick, gehbereit – ihr solltet zum Abschluss kommen, das von ihm eingeplante Zeitkontingent scheint bereits aufgebraucht. Aufgebracht bist du: wenigstens aufgewühlt, denn was dir hier in aller Freundschaft begegnet, das ist der Versucher, gewillt, das Minimum an Regeln zu durchbrechen, das notwendig ist, um das Projekt am Laufen zu halten, und er verlangt von dir mit der größten Selbstverständlichkeit: ein Gleiches. Nichts fiele dir leichter, als der beiläufig angetragenen Freundschaft mit ebenso angelegentlicher Feindschaft zu begegnen. Sie ist vergiftet. Nichts weißt du genauer in diesem Augenblick, der unter dem Druck eines fremden Terminkalenders vehement vergeht.
Elisabeth hält sich einen Cicisbeo. Das mag ihr gutes Recht sein, aber auch das ist gegen die Regel. Das Projekt ist kein Nebenauslauf, es verlangt, dass du eins bist mit deinen Schritten. Das steht zwar nirgendwo explizit geschrieben, aber es versteht sich, sobald man es ernst nimmt, von selbst. Was Elisabeth ernst nimmt, du hast es nie ergründet, du hast dir die Frage nie vorgelegt, jetzt holt sie dich ein. Dass sie vehement auf sexueller Selbstbestimmung besteht – Promiskuität als Lebensinhalt –, hindert sie, wie es scheint, nicht daran, mit Zähnen und Klauen, den willigen Helfer immer an ihrer Seite, ihr Revier von potentiell gefährlichen Einflüssen freizuhalten. ›Mit Zähnen und Klauen‹, ganz recht. Davon legt der geschundene Ehemann Zeugnis ab (der vielleicht nicht so unschuldig an der Entwicklung ist, und sei es nur dadurch, dass er bei alledem sich der Sonderbehandlung als williges Opfer angedient hat – mag sein, nicht gerade willig, aber, um es in ein Wort zusammenzufassen, rollenfromm.)
Troll dich, Leckebusch: was du verlangst, ist unanständig. Es vertraut auf den allgegenwärtigen Mechanismus der Korruption und zielt damit, als wäre nichts selbstverständlicher als das, auf die Projektleitung selbst. Diese Sicherheit, diese unerhörte Sicherheit verschlägt dir den Atem. Er hätte dir Elisabeth anbieten dürfen und du könntest erstaunter – und befremdeter – nicht sein. Immerhin ließe sich in diesem rein hypothetischen Fall damit argumentieren, hier wolle einer das verhasste Ehejoch abschütteln, um sich ganz dem Fu-gewollten Binden & Lösen zu widmen. Das wäre zwar ein Fauxpas – sag’s derb: eine Peinlichkeit sondergleichen –, aber immerhin, auf dem projektierten Weg läge es schon. In diesem Sinne markierte es ein, wenngleich perverses, Fortschrittsstadium. Wer weiß schon, welche Talsohlen an Hilfsbedürftigkeit durchschritten werden müssen, ehe der entfesselte Trieb seine Rechte mit aller Selbstverständlichkeit geltend zu machen imstande sein wird? Dagegen ist das, was Leckebusch hier bietet, eine Manifestation des Versagens auf ganzer Linie.
Es gehört sich nicht und es ist unerhört.
Elisabeths tall boy, ein strammer Lockenkopf mediterraner Prägung – »die zarteste Versuchung, die es je gab«, wie sie dir einmal, in Anlehnung an einen zum Sprichwort mutierten Werbespruch, mit verschmitztem Lächeln mitteilte –, fehlt in Leckebuschs Rechnung: eine klaffende Asymmetrie, denn nichts wäre einfacher gewesen als gleiche Rechte zu fordern. Versuchte er’s am Ende? Wirkt er deshalb seelisch so zerschrammt?
Generationen von Frauen haben sich das Recht auf den Hausfreund erkämpft – das steht so zwar nicht in den Geschichtsbüchern, aber es anzunehmen liegt nahe –, es gab Zeiten, da lief er als fester Bestandteil des Ehekontrakts mit und die Dame des Hauses hätte sehr erstaunt reagiert, wäre jemand, die obligaten Betschwestern ausgenommen, auf die Idee verfallen, Anstoß an ihm zu nehmen. Nun, jene Zeiten setzten mehr oder weniger stillschweigend voraus, dass der Ehemann seine Bedürfnisse außerhalb des Hauses zu befriedigen wusste. Sie stellten also eine Konzession an den Umstand dar, dass der ›Kontrakt‹ die Frau ans Haus band und ihr damit aushäusige Liebschaften erschwerte. Besser der Rivale im Haus als die Frau im Haus des Rivalen – so muss wohl die ursprüngliche Regel gelautet haben, der sich ein Leckebusch in der gleichen resignativen Unschuld beugt wie einer seiner Vorgänger im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Ein System der checks and balances, kein Zweifel: es gehört wenig Phantasie dazu, sich Elisabeth mit hochgezogenen Augenbrauen vorzustellen, sollte Leckebusch es gewagt haben, tall boy ins Gespräch zu flechten – das sei nun wirklich etwas ganz anderes und stehe hier nicht zur Diskussion. Andererseits verkörpert Elisabeth, wenn irgendwer, den Typus der ›aushäusigen Frau‹. Ihr Erstaunen würde den höchstmöglichen Gipfel erklimmen, sollte Leckebusch auf den Gedanken verfallen, sie, und sei es nur für ein paar Stunden, um ihre häusliche Anwesenheit zu ersuchen:
Und damit hätte sie recht.
Natürlich weiß Leckebusch, rein historisch, was ein Cicisbeo ist und worum es sich dabei handelt. Ob er ihn im eigenen Hause erkennt? Eher nicht … aber er respektiert das eingetretene ungleiche Verhältnis, er akzeptiert es sogar, wenngleich nicht völlig. Irgendwie scheint es Elisabeths Persönlichkeit auf eine von ihm nicht ganz durchschaute, vielleicht undurchschaubare Weise abzurunden – gewissermaßen zu vervollständigen. Gewiss, auch der soziale und selbst der geistige Mensch besitzt einen Körper und bedarf der Gliedmaßen, das ist … das ist doch … keine Frage. Allerdings überfällt ihn, bei allem Verständnis, von Zeit zu Zeit dieses unerklärliche (und vielleicht unerklärbare) Bedürfnis nach Selbstvervollständigung, ein toller Drang, jemanden einzuschleppen, der die Symmetrie wieder herstellen könnte, weniger, um Elisabeth Paroli zu bieten – das wäre gefährlich und führte zu nichts –, sondern um ihnen beiden zu helfen, wieder Ordnung in ihre Angelegenheiten zu bringen, gewissermaßen durch Steigerung der Unordnung… So etwas soll gelegentlich funktionieren.
Mit Liz hat es eher nicht funktioniert, überhaupt nicht – eine furchtbare Sache, die sich da eingeschlichen hat. Aber die Sache mit Liz ist ohnehin eine andere. Mit den Ausschlägen auf der Küchenwaage hat sie rein gar nichts zu tun. Nie hätte er diese schutzlose Person benützt. Er hat sie in Elisabeths Obhut gegeben wie einen … Sperling mit gebrochenem Flügel, aufgelesen am Wegrand, um von Zeit zu Zeit nachzusehen, wie es ihr geht, sich sozusagen des fortschreitenden Heilungsprozesses zu vergewissern.
Doch was sagt man nicht alles so.
Offenbar lässt sich in einer Ehe alles auch anders sagen. Da liegen Vokabeln auf Abruf bereit, die er seit der Pubertät nicht mehr benützt und kaum mehr vernommen hat. Er hätte nicht angenommen, dass Gassenwörter zu Elisabeths Wortschatz gehören. Er hätte auch nicht erwartet, es würde sich so lebendig anfühlen, sollten sie dereinst zwischen ihren schwungvoll gebogenen Lippen hervorsprudeln. Leider muss er feststellen, dass diese Art drangvoller … ach was, peitschender Lebendigkeit ihn heillos überfordert. Mehr noch überfordert ihn die eingetretene, von der Herrin aller häuslichen Klassen nüchtern dosierte Kühle.
Druck und Sog –
kaum hat er die Wohnung erreicht, fühlt er sich, als sei er zwischen die Backen einer Luftpumpe geraten. Theoretisch könnte er im Büro bleiben, könnte, bei wohltuend entspannter Atmosphäre, dort weiter an seinem Buch arbeiten, er hat sich schon überlegt, eine Luftmatratze hineinzuschaffen. Allein der Blick der Sekretärin, Frau Gardan (furchtbarer Name!), … Wie peinlich wäre das wohl? Zu peinlich jedenfalls, um in Betracht gezogen zu werden.
Arroganter Affe.
Ungebremst geht von hier oben der Blick in die Weite, trifft sich am Horizont mit einem feinen, sehr feinen Dunst, in dem die Häuser der Stadt ohne Ende … nein, nicht verschwimmen, sich verwandeln, ihre harte Körperlichkeit ablegen und wie porös erscheinen, nein, irgendwie schuppig oder flockig, als trieben sie auf einem flachen Grund, bevor sie sich in ihn auflösen, einem fernen Nieselregen vielleicht, einem lichtgrauen Vorhang, der die Grenze zwischen Himmel und Erde, die feine, aber scharfe Kontur, die immer da ist, einfach verbirgt.
Tronka lacht.
Ist Sibla Künstler? Tronka bestreitet es vehement.
Für Tronka ist der Künstler der wertvolle Mensch. Sibla ein wertvoller Mensch? Da muss er noch einmal herzhaft lachen.
Serenaden und Symphonien. Soso. Du liebst die Pyramide. Wo sonst wäre so ein Gespräch führbar?
Der Vulvenmaler Fabrizio Rombo hat eine Ausstellung. Nicht im Museum der Scham, wie man annehmen könnte, sondern in einem privaten Museum, das sich nicht weit davon findet: unverkennbar der futuristische Bau, errichtet in einem Jahrzehnt, in dem man, sofern der Auftraggeber finanziell gut gepolstert war, gern in Formen baute, von denen man vorwitzigerweise annahm, sie erfüllten die ästhetischen Ansprüche kommender Epochen. Die kommenden Epochen sind ausgeblieben und der Bau ragt als Zeugnis einer Zeitlosigkeit in den Himmel der Metropolen, die einerseits nie, andererseits gerade deshalb einmal an der Zeit war: ein Wagnis, zu dem sich niemals ein Geschmack bekannte, es sei denn, man missversteht die Lust, ein wenig Zukunft zu kosten, als Geschmack an der Zukunft, obzwar der Geschmack damit wenig zu schaffen hat. Dieselbe Lust herrscht im Inneren des Gebäudes, das keine ebenen Flächen kennt, sondern wie die Spirale des Guggenheim auf jedem Quadratmeter ansteigt, einem unbekannten, jedenfalls außerhalb der gebauten, irgendwann abbrechenden Linie liegenden Ziel entgegen, so dass, wer den höchsten Punkt des Innenraumes erklommen hat und sich abwärts trollt, die Empfindung mitnimmt, er habe auf dem Scheitelpunkt etwas, womöglich das Beste, unwiderruflich versäumt. Das mag stimmen oder auch nicht, es ändert nichts daran, dass ihn keine Sekunde lang das Bewusstsein verlässt, sich an einem vorgeschobenen Menschheitsposten aufzuhalten: hinter sich die Formen und Stile der auch die Gegenwart mit umfassenden Vergangenheit, vor sich eine vergangene Zukunft, eine Zeit, die niemals war und vermutlich niemals sein wird, also eine ungelebte Art Ewigkeit, falls man von irgendeiner Ewigkeit sagen könnte, sie werde gelebt. So muss einst das Grabmal des Theoderich in Ravenna auf einen antiken Menschen gewirkt haben.
Dass der Kunstmaler Rombo einmal an diesem Ort ausstellen musste, lag gewissermaßen von Ewigkeit her fest. Kein Neid, eher Verwunderung! Du schlenderst die Galerie der Bilder empor und stellst fest: Vulven, wohin das Auge blickt. Beim ersten und zweiten Bild waren Zweifel möglich, fast hättest du’s nicht gemerkt, der Ermessensspielraum des Kunstbetrachters ist groß. Aber nach dem zwanzigsten und dreißigsten hat sich die Möglichkeit des Zweifels verflüchtigt wie Rauch in der Sonne. Das Lebenswerk dieses Mannes besteht, um es höflich zu sagen, aus aneinandergereihten Vulven, genauer gesagt, aus endlos mit spitzem Pinsel umspielten Varianten der Raute – stehend, liegend, sitzend, ja gewiss, hin und wieder auch sitzend, jedenfalls der Anmutung nach, um das Maximum an Gewagtheit festzuhalten, die sich auf diesen Leinwänden äußert: ›Sitzende Vulva‹. Beim Titel ist der Betrachter gefragt. Die Bilder selbst tragen Nummern, die sie bloß den Fachleuten vertrauten Serien zuweisen. Immerhin … auch du bist jetzt einer von denen, die wissen, worauf der Weltruhm dieses Mannes sich gründet, ein Auserwählter, wenn du so willst, du weißt Bescheid und das ist momentan bereits die halbe Miete. Es dürfte nicht viele Künstler geben, deren Wirken so bündig in einen Satz zusammengefasst werden könnte, einen auf allen Märkten dieser Welt verständlichen Satz, der dennoch in seiner Direktheit auf gekräuselte Stirnen trifft: Kann nicht sein. Was meinst du damit? Was wohl? Auch du, Brutus, musstest diese Reihe erst abgeschritten haben, um das Unübersehbare zu begreifen. Und darauf kommt es an. Gesehen zu werden in der alltäglichen Bilderflut: Ah, ein Rombo! Unverkennbar ein Rombo! Ein verlässlicher Pol inmitten der unsteten Kunstwelt. Ja sicher, der fehlt noch in unserer Sammlung. Sexidole gibt es in der Kunstwelt zuhauf, da muss schon ein Rombo des Weges kommen, um die Menschen an dieser Front sehen zu lehren, zweifellos ein bedeutender Lehrer der Menschheit, vor dem die Pforten der Kunsttempel sich öffnen, ja geradezu auseinanderspritzen, um es fachgerecht auszudrücken. Er hat’s gerafft!
Rombo weiß, worauf es ankommt.
Du blätterst im Katalog und erstarrst.
Du hast einen Zwilling.
Soweit du zurückdenken kannst, hast du das gewollt: einen
Zwilling. Nicht irgendeinen, sondern den Künstler-Zwilling, einen,
mit dem du die Weltsicht teilst – der eine malend, der andere
schreibend –, hier ist er. Und du? Hast nichts von ihm gewusst, so
wie er garantiert nichts von dir weiß. Dabei wird es wohl
bleiben.
Der Kunstmaler Fabrizio Rombo, laut Katalogauskunft auf den Tag so
alt wie du, kam in dem italienischen Bergdorf zur Welt, dem alle
bedeutenden Maler Italiens entstammen: erste Differenz. Als Kind,
wohlgemerkt: als Kind kannte er bereits die bedeutendsten Künstler der
Halbinsel und sie ihn: zweite Differenz. Seine Studien in Florenz,
später in Rom – merke: der Künstler studiert nicht, er treibt
Studien – konnten ihn nicht befriedigen: nur Mittelmaß
können Studien befriedigen, da läge eine erste Gemeinsamkeit. Es
zieht ihn, nein, er beschließt … welche Ungeheuerlichkeit mag nun
kommen? – er beschließt, nach Indien zu gehen – andere fliegen
oder fahren zu jener Zeit dorthin, der bedeutende Künstler in spe
geht –, um die innere Weite des Subkontinents zu
erfahren: das taten in jenen Jahren viele, vielleicht kreuzten sich
seine Wege mit denen des streunenden Pärchens Siblas und Kitty … hier liegt sie, die Differenz, die
nicht mehr weggeht, und euer beider Lebensläufe unaufhaltsam in
unterschiedliche Richtungen treibt.
Ist dem so?
Wie viele musisch Begabte – Industriellensöhnchen,
Unternehmertöchter – machten sich auf den Weg, um die Abgründe
indischer Weisheit körperlich auszuloten und kamen ernüchtert an
Leib und Seele zurück in die Landschaften, aus denen sie
ausgebrochen waren, um so zu leben wie alle anderen? Wie viele kamen
an Leib und Seele zerrüttet aus ihren Abenteuern zurück, um den
Mantel des Schweigens darüber auszubreiten? Dieser hier kam zurück
und ›Indien‹, die Erfahrung, die ihm die Sinne für die mystische
Welt des Sexus öffnete, verwandelte sich in ein schmückendes
Accessoire seiner Vita, vielleicht sogar in ein
Sesam-öffne-dich jener Kunstwelt, in der mit hohen Summen jongliert wird: ausschließen lässt sich so etwas nicht.
An dieser Stelle klafft das Loch.
Ein Mensch, der es durch ausschließliche Befassung mit einem Geschlechtsteil zu Ruhm bringt, muss in mehrfacher Hinsicht robust sein. Was hat er getan, was du nicht getan hättest?
Dasselbe, lautet die offenkundige Antwort, immer dasselbe.
Das führt unausweichlich zur Frage: Was ist dasselbe? Warum konntest (und wolltest) du es in deinem Leben nicht festhalten: dasselbe? Weil du es nie gefunden hast? Weil es dich nie gefunden hat? Weil es dich gefunden und für zu leicht befunden hat, um sich mit dir ein Leben lang abzugeben? Sei kein Narr. Du hättest ein Leben im Bann desselben nicht führen mögen. Du findest es, rein im Anschauen, boring. Der Mensch liebt Vielfalt – in Gedanken, Worten und Werken: Vielfalt.
Du liebst die reine Vielfalt, genannt Fülle.
Andererseits, hier hast du Fülle: Fülle desselben. Ein Paradox, schwer aufzulösen. Angenommen, dein Zwilling hätte Schuhe gemalt, immerfort Schuhe, nein, nicht die Bauernschuhe van Goghs, sagen wir, Schuhe mit spitzen Absätzen, weibliches Schuhwerk, der sex appeal wäre weit höher: langweilig, langweilig, langweilig … und darüber hinaus: beliebig. Dasselbe und das Beliebige sind nicht dasselbe. Sie fallen nur – mit steigender Tendenz – zusammen. Immer dasselbe ist fast schon beliebig. Warum? Es könnte auch etwas anderes sein, eine Fixierung, eine fixe Idee, ein Wahn.
Alles Beliebige, auf immerdar festgehalten, wird Wahn.
Dein Zwilling, du kannst es nicht anders ausdrücken, ist wahnsinnig. Mag sein, er ist wie du, womöglich du noch einmal. Das könnte durchaus sein, aber: er ist wahnsinnig. Nein, er schreit und tobt nicht, er äußert keine kruden Gedanken, er wirft sich keiner Zoo-Bestie zum Fraß vor – er sitzt still und behaglich in seinem Atelier und malt … nichts Besonderes, nicht dies und das, nichts, was Eingebung oder Zeitungslektüre herbeizaubern könnten, sondern das Eine. Er hat zum Einen gefunden und es lässt ihn nicht mehr los. Er ist zum Künder des Einen geworden.
Er hat genug. Und wie man sieht: es genügt.
Aber, so sagt die Stimme: Dieses Eine ist nicht beliebig. Es ist anders.
Dass in deiner, dass in jeder Wahrnehmung ein Loch klafft, ein Spalt oder eine Lücke, die niemals weggeht, so heftig du auch bemüht bist, sie zu schließen, stößt sich mit der Erfahrung, dass die Welt dicht ist, dass sie, um vollständig zu sein, deiner an keiner Stelle bedarf. Du darfst die Augen schließen. Aber diese Einsicht befriedigt dich nicht, im Gegenteil: es ist, als stachle sie sich an, immerfort Abhängigkeiten herzustellen, die just deinen Einsatz notwendig erscheinen lassen. In der Welt der Nöte bist du und kein anderer der Not-Wender.
Doch das ist Werktagsprosa. Das geschlossene Auge weiß es besser. Unter dem Lid entspringt die Welt der religiösen Symbole, der Lückenfüller, in denen die Differenz von Sein und Nichtsein verschwimmt. Das ist möglich, weil auch diese Differenz abstrakt ist, die Mutter aller Abstraktionen – wie du rasch bemerkst, sobald du dich über sie beugst: sie zu denken löst kein Rätsel, kein einziges. Sie schafft auch keines. Die Lücke bleibt, es scheint, als lächle sie über den Versuch, sie zu schließen, wie über die Aktivitäten eines unzufriedenen Kindes.
Ist Rombo, den sie ›il Clemente‹ nennen, auf ein Symbol gestoßen, das sein Bedürfnis – und das seiner Kunst-Klienten – so vollständig ausfüllt, dass es keines weiteren bedarf? Dieser Frage solltest du nachgehen, bevor sie dir nachschleicht und die Eifersucht ihren verderblichen Zyklus beginnt. Um keinen Preis darfst du den Eindruck stehenlassen, hier könnte einer gefunden haben, wo, deiner Auffassung nach, bloß Suche sein kann, vergebliche Suche wohlgemerkt, also eine leere Suchbewegung, vergleichbar der Fehlübersetzung eines Textes, die aber funktioniert, weil das Original sich nur verhüllt mitteilt.
Dieser hier hat, wie es scheint, gefunden – und zwar in jungen Jahren, was immer den Unterschied macht –, er hat etwas gefunden und wird offenbar nicht müde, der Welt seinen Fund vorzuweisen. Er hat gefunden, was der Welt die Sprache verschlägt, das Symbol, das jede Rede verstummen lässt, weil es die Anwesenden an etwas erinnert, worüber man (sofern man kein überdrehter Literat ist, der damit seine Brötchen verdient) nicht weiter spricht, es sei denn, es geht um ärztlichen Rat und es erscheint unumgänglich, zu diesem Behuf für kurze Zeit das kalte Oberlicht anzuschalten.
Dixit Tronka. Un filosofo vero.
Etwas hat Tronka übersehen – oder so beiläufig abgetan, dass es auf dasselbe hinausläuft: das göttliche Spiel mit der Scham. Wenn du eine Galerie emporschreitest und allmählich begreifst, welche Reihe du im Blick hast und was dich oben, ganz oben erwartet, dann kannst du es dir nicht leisten, dem inneren Erstarren und dem darauf folgenden Widerwillen nachzugeben … erstens bist du nicht allein, es herrscht ein reges Gehen und die Blicke der Kunstfreunde sind nur scheinbar unverrückbar auf die Objekte ihres Entzückens gerichtet, in Wirklichkeit nehmen sie jede, selbst die feinste Bewegung in ihrer Umgebung auf und weben sie ein in das vielgliedrige kommunikative Gespinst, ästhetisches Erlebnis genannt, dem zuliebe sie die ausgetretenen Bahnen ihres beruflichen Alltags verlassen haben, zweitens zwingt die Scham selbst dich zur Gesichtswahrung, gleichgültig, wieviel oder wie wenig du dir aus dem Urteil deiner Mitbetrachter machst, das so seltsam zwischen dem Anblick der Objekte und dem am Orte herrschenden Kollektivzwang emporwächst, dass du reihum das Knistern in den Köpfen empfindest. Und drittens – warum taucht auch hier wieder ein Drittens auf? –, drittens lockt dich ein perverses Empfinden der Schadenfreude auf dem Grund der Scham, die volle Strecke zu absolvieren, um die Schande, ganz recht, die Schande auszukosten, die darin liegt, dass diese Scharade von allen ohne Unterschied gespielt wird, so dass der Verdacht nach und nach zur Gewissheit reift, dass das, was hier gerade geschieht, in allen Museen der Welt, die sich am Wunder der Kanonbildung – der Heiligenkür, um es etwas spitzer zu formulieren – beteiligen, ganz genauso abläuft, immer und immer wieder … denn das und nichts anderes bedeutet es, oben anzukommen, dort, wo nichts mehr dazukommt, was deinem Urteil – natürlich begreifst auch du die Wichtigkeit dieses Künstlers im Weitersteigen – eine finale Rechtfertigung liefern könnte. Kein Wunder also, dass auf diesem Wandelgang Schweigen herrscht, das Schweigen der Ertappten, die gewillt sind, ihre Schande tief unten mit sich selbst auszumachen und niemals, niemals dem Impuls des Kindes aus dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern nachzugeben: »Aber das ist doch ––!«
Es würde ja auch nichts nützen, wo doch jedermann bereits verständigt ist.
Das Halbe lieben – das Halbfertige, Halbgare, Halbernste, Halbwerte, es zu lieben und nicht zu lieben, halb eben, weil die Bereitschaft zu lieben – zum Beispiel die Kunst, die Musik, das Theater – auf keine Objekte trifft, welche die Bereitschaft rechtfertigen könnten, heißt, die Simulation zu akzeptieren und das Simulierte für bare Münze zu nehmen. Man muss die Simulation nicht mögen, es genügt, sie hinzunehmen und an der allgemeinen Lüge teilzuhaben.
Warum so heftig? Seit wann ist Simulation Lüge? Wenn irgendwo ein Krieg ausbricht und die Meinungszunft deines Landes simuliert Entrüstung über einen der gerade noch gehätschelten Gegner, um Waffenlieferungen (und mehr) an die andere Seite zu legitimieren, ist das dann Lüge? Ist es nicht simple Interessenwahrung? Was garantiert mir, solange ich nicht mit eigenen Augen das Schlachtfeld kognosziere, dass dieser Krieg wirklich stattfindet und wirkliche Menschenleben kostet? Die Simulation. Was verrät mir, dass die Simulation Lüge sei? Die Simulation. Was sagt mir, dass die Simulation Simulation sei? Die Simulation? So leicht gerät der theoretische Mensch ins Absurde. Und was trägt Schuld daran? Die – defizitäre – Struktur des Gehirns? Ist das wahr? Ganz offensichtlich nicht. Das Gehirn ist das Gehirn und die Defizite, die wirklichen Defizite liegen in der realen Welt. Die halbierte – geviertelte, geachtelte etc. – Information lässt ein sicheres Wissen nicht zu, gleichgültig, ob du es für möglich hältst oder nicht. Die Verdoppelung, Vervierfachung, Verzwanzigfachung immer desselben, sprich der halbierten Information, dient der Verwirrung. Wirklich verwirrt sie den Menschen, weil sie seine Wahrnehmungskapazitäten aufbraucht und damit das Urteil in die Länge zieht … nein, niemand schiebt sein Urteil in einer Sache auf, die ihn angeht. Er zieht es nur in die Länge, es ist ihm nicht völlig ernst damit, es erscheint aufgesetzt, sobald es zum Ausdruck gebracht wird, und nicht weiter wichtig, solange es bloß zum inneren Gleichgewicht beiträgt. »Ich bin mir nicht sicher« heißt: ich schließe mich der gültigen Auffassung an, vornehmlich deshalb, weil Gültigkeit etwas ist, dem ich mich nicht entziehen kann, aber ich versage ihr die letzte Zustimmung. Und siehe da: niemand braucht deine letzte Zustimmung, sie ist völlig unnötig, wo es darum geht, dass etwas funktioniert. Die wahre Simulation (oder das simulierte Wahre) bist du. Du sollst dich vergessen! lautet der Imperativ der geschlossenen Informationswelt, du musst verstehen, dass dein Vorbehalt, der nicht weggeht, nichts bedeutet. Die Menschen verstehen das und gehen ihrer Wege.
›Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin‹: So lautete eine der Parolen des Aufbruchs, der deinesgleichen noch immer im Blut liegt. Was damals utopisch klang, ist eingetroffen, keiner geht hin, weil Krieg ist, außer Narren und Geschäftemachern natürlich, aber das ist ein anderes Ding. Dafür herrscht allenthalben der totale Informationskrieg – der gezielte Entzug von Informationen einerseits, die Überflutung mit Hilfe des Immergleichen und, last but not least, die permanente Verletzung des Augenscheins durch etwas, das einmal die Überlegenheit der Wissenschaft über das bloße Zeugnis der Sinne begründete: die Bereitschaft zur Kränkung nicht bloß der individuellen, stets fehlerhaften Wahrnehmung, sondern der Wahrnehmung schlechthin durch gezielte Selektion. Kopernikanische Revolutionen stehen recht selten an. Dort, wo sie auf Immerfortheit gestellt werden, herrscht der Bluff.
›Bluff‹ – die ultimative Formel für das, was dieser Rombo da treibt.
Philosoph Kypras, auffahrend, Hand vorm Mund, halb abgedeckt die Augen: Mein Gott, wo bin ich hier gelandet? Die Aula, locker bestuhlt, brodelt sanft vor sich hin. Die Sonne Griechenlands hat mich gebräunt, wie käsig schimmert dieser Saal. Bleichgesichter, durchscheinend bis auf den Grund. Aber was ist der Grund? Irgendwie muss die Zeit ja vergehen. Vormittag, Professorenzeit. Da stehen sie, die Vielberedenden, beisammen. Es leuchten die Bildschirme, Hausfarbe dodger blue: linker Flügel, Mittelteil, rechter Flügel, harrend allen Unsinns, der gleich darauf aufflammen wird. Er kennt die Künstlerin nicht, weiß weder, wer ihr die Ehre, vor diesem hochkarätigen Gremium zu sprechen, zugeschustert hat, noch, wie sie die Chance nützen wird, ihr Anliegen vorzutragen. Ein Anliegen muss schließlich im Spiel sein. Welcome back, Ruhrstadt.
Das hier ist nicht Athen.
Sitzriese Tronka, gleich neben Elisabeth mit den Füßen scharrend, die Arme vor der Brust gekreuzt: Aal und Reuse. Elisabeth thront. Tronka schwadroniert. Ach, und da drüben: Dürrobst. Pfeifchen im Mund, wie in alten Zeiten. Raucht aber nicht. Sie haben es ihm, unter Androhung der Zwangsjacke, abgewöhnt. Wirkt kastriert, der Junge. Graues Hähnchen, aller Verantwortung bar. Du kennst ihn noch anders. Aber so geht es auch. Ach, unser Dekan. Tag, Herr Argloser. Herr Dekan – Aufgetaucht aus dem Nichts. Aber sicher doch. Dorthin wird er auch zurückkehren, sobald der Job hier seine Anwesenheit nicht mehr erfordert. Worauf du dich verlassen kannst. Elisabeth ist und bleibt ein aparte Erscheinung. Man sähe sie gern häufiger in diesen Räumen. Leckebusch, Leckebusch … nein, er ist nicht da. Hat sie geschickt. Nicht dumm. Was quasselt dieser Tronka da? Merkt er nicht…? Nein, der merkt es nie.
Kypras ist hundemüde. Der Flug. Dieses Mal hat er ihn geschafft. Man sieht’s ihm an.
Tronka in heikler Mission. Das Schicksal hat ihn mit Elisabeth
zusammengeführt. Gerade noch, als er sich neben sie setzte, hat er
sie nicht einmal wahrgenommen. Das Malheur ist passiert. Die heiße
Fu-Partnerin, jetzt und hier umgibt sie kühle Distanz. Tronka glüht.
Es ist gegen die Regel. Mische nie Fu-Welt und wirkliches Leben.
Das da spricht aller Absprache Hohn. Es fühlt sich an, als habe er
einer maskierten Nackten das täuschende Tuch vom Gericht gerissen
und darunter die Frau seines Lebens entdeckt oder vielmehr das wahre
Leben der Frau an seiner Seite … der Frau des Chefs an ihrer …
der Frau der Gattin … welch schrecklicher Unsinn! Leckebusch …
wie lange schon ist der eitle Pfau sein Chef nicht mehr? Wie lange er
selbst Pida der Unscheinbaren verfallen? Eine glatte Weile, würde er
sagen, die Welt hat sich seither ziemlich gedreht. Elisabeth, die aus
dem wirklichen Leben: eine alte Bekannte, eine gute Bekannte, eine
ziemlich gute … eine unziemlich … gute, wenn er jetzt noch
glasige Augen bekommt, dann ist alles verloren, mein Gott, mein Gott,
um Himmels willen keine christliche Anwandlung, das hier fühlt sich
plötzlich so … richtig an, unfassbar richtig, dieses
Seite-an-Seite, Idiot. Du musst reden, Tronka, reden reden reden um
jeden Preis. Kämpfe! Um jedes Wort, um jede Silbe … deine
Glaubwürdigkeit hängt daran. Remind your face. Kontrollier’
dich! Was geht da vor? Eine Verwechslung, was sonst. Der sexuelle
Appetit ist nicht auf Identitäten geeicht, die sonderbare
Fu-Anonymität macht sich, jedenfalls der Theorie nach, diese
Eigenschaft zunutze, daher ist das hier … völlig absurd.
Elisabeth, Gegenüber so mancher Party-Gespräche, die Tochter, die
Sèvres-Tässchen: Nicht alle Tassen im Schrank, was? Das hier
also fühlt sich richtig an. Dein Gefühl sagt es und nichts sonst.
Richtig.
Als ob es nur das Gefühl wäre.
Diese Frau gehört in sein Bett.
Nein, sie kommt daher, sie wickelt sich gerade heraus und ihr
Lächeln sagt: Da bin ich. Es ist Wahnsinn, aber so bin ich nun mal.
Komischerweise lächelt es nur in ihm.
Ist Tronka ein Automat? In vielem, ja. Ein Menschautomat. Ein
Mensch, gefallen in einen Automaten, der mit ihm verfährt, wie er
will (was auch nur eine Redensart ist, da der Automat über keinen
Willen verfügt). Das widerspricht seinem Selbstverständnis, es
widerspricht ihm eklatant. Ein Tronka kann gar nichts anderes sein
als ein Stück geballter Wille, gleichsam die Faust in Aktion. Aber
wieviel Denkvermögen steckt in der Faust? Dass du dich da mal
nicht täuschst. Die für andere reservierte Redensart erschafft
im Handumdrehen den anderen in ihm selbst. Und dieser andere, das
Objekt der Beobachtung … nein, Tronka leidet an keiner
Papa-Mama-Kind-Neurose, an keinem der üblichen Traumata, er hält
sich für keine borderline-Persönlichkeit, die eine ihrer
anfallhaften Krisen erlebt, er schämt sich ganz einfach, er
schämt sich rundherum, der Scham-Anfall lässt seine Persönlichkeit
schlingern gleich einem alten Lastwagen auf der Landstraße, der
gerade durch ein Schlagloch rumpelt.
… aber da war doch etwas? Dies hier ist nicht die Scham der
Kindheit, gleichwohl noch immer die Scham des Ertappten, ertappt
durch wen? Durch sich selbst, wen sonst. Wobei ertappt? Bei nichts.
Bei gar nichts. Dabei, neben Elisabeth zu sitzen und die Hände
ruhig zu halten. Gern würde er mit der Hand über ihren Nacken
fahren, aber diese Geste, allein diese winzige Geste, ist verboten.
Sie verbietet sich von selbst. Lektion eins: Denken Sie nach, dann
begreifen Sie, was es heißt: Das verbietet sich von selbst. Das
Verbot, das keiner ausspricht, das unsichtbar im Raum steht, schützt
die Gesellschaft vor sich selbst. Es wahrt die Trennschärfe. Es
ermöglicht, worauf alle Gesellschaft beruht – das Rollenspiel.
Nichts einfacher zu begreifen als das Verbot: Respekt ist die
Urgestalt des Begreifens. Niemand muss ihm, Tronka, Respekt
beibringen. In diesen Dingen ist er der Lehrer.
Was also will ihn die plötzliche Schamüberflutung lehren? Dass
auch er, Tronka, sobald an der Grenze zum Bewusstsein Sexualia ihr
Verwirrspiel treiben, bloß ein Automat wäre? Ein
Irgendjemand, ein Wicht, ein Nichts? Ganz sicher nicht. Diese
Lektion, wenn es denn eine sein sollte, kommt nicht an ihn heran. Es
ist ja auch nicht so, dass ihn ein Schwellkörper regierte. Nein, so
ist es nicht. Selbst wenn es so wäre: Was hätte er, Tronka, damit
zu schaffen? Nein, seines Körpers, der, gut beschützt, keine
Blickfläche bietet, schämt er sich nicht. Überhaupt (!) schämt er
sich nicht vor seiner Umgebung, die ihm, ehrlich gesagt, im Moment
ziemlich schnuppe ist. Er könnte jetzt aufstehen und durch die Tür
dort hinausspazieren, es ginge niemanden etwas an und kein
Anwesender, außer der Referentin vielleicht, würde es übel
vermerken. Vor Elisabeth? Warum das denn? Schlussendlich
sitzen sie beide im gleichen Boot. Sie verlangt auch nicht, dass er
sich zu ihr bekennt. Eher scheint sie zu fürchten, dass sein Gebaren
sie beide verraten könnte.
Wie lächerlich.
Eike lässt Tronka nicht aus den Augen. Das ist Teil seines Jobs, aber etwas glitzert in seinem Blick, das nicht in seiner Aufgabe aufgeht. Der Blick des Konkurrenten ist stets erkennbar. Eike mag ein Diener des Projekts sein, aber zuallererst ist er ein Schüler Tronkas. Einer von fünf Getreuen, die, einer nach dem anderen, zu Verrätern wurden. Einer von fünf Verrätern, die an ihrer Treue nicht rütteln lassen. Auch Eike hat seine Nacht mit Elisabeth bekommen, eine, nicht mehr, als habe das Projekt sie verschluckt. Dass er sie hier serviert bekommt, Seit’ an Seit’ mit Tronka, als sei damit die Besitzfrage a priori zwischen ihnen geklärt, erzeugt eine Art kalter Weißglut in ihm, er spürt, er könnte Tronka hier und jetzt töten, die Aufgabe böte ihm, psychologisch gesprochen, keinerlei Schwierigkeit, doch ebenso wenig macht es ihm etwas aus, auf seinem Beobachtungsposten zu verharren und jede Regung Tronkas zu kontrollieren. Es scheint ihm sogar, er brauche gar nicht erst hinzuschauen, um im Bilde zu sein, so scharf hat der andere sich in seine Wahrnehmung eingegraben. Das über diese drei Personen ausgeworfene Spannungsnetz ist so stark, dass sie Funken sprühen müssten, ginge es in diesen Dingen so sinnlich zu, wie die Materialisten alter Schule stets zu wissen meinen. Gibt es auch Materialisten neuer Schule? Oh ja, die gibt es. Sie reden über Spannungen, die sich den üblichen Messungen entziehen, Zellkommunikation über spezielle Wellen, geheimnisvolle Fernwirkungen, ebenso unerforscht wie zuverlässig, das heißt statistisch signifikant messbar, den ganzen Bereich der obscuritas, als hätten sie definitiv den Jackpot des Lebens geknackt und warteten jetzt auf die Auszahlung.
Was nimmt Eike in diesen Minuten an Tronka wahr? Was immer es sein mag, es geht in ihn hinein ohne Wiederkehr. Würde er jetzt ein Wort für ihn finden wollen, es hieße ›Feind‹ und bedeutete nichts. Auch Feindschaft ist bloß ein Wort.
Tronka weiß nichts vom Netz der Spannungen, das um ihn geknüpft ist, für ihn ist alles, was ihn berührt, intrinsisch: Cupido, stupido. Begehren macht dumm. Schon dass es ihn, den Beredten, verstummen lässt, zeigt, dass er das da mit sich selbst abmachen muss und mit niemandem sonst. Wovon redet die Referentin da? Worüber sie redet, ist klar, aber wovon? Diese Frau ist die Ahnungslosigkeit in Person. Ist sie eine Frau? Dumme Frage, vielleicht wäre es geschickter, sich über die Person Gedanken zu machen. Ist sie eine Person? Kein Automat? Hoppla, ihm dünkt, als habe er sie bereits gesehen. She belongs to the project, ganz sicher, sie gehört zum Projekt, deutlich erinnert er sich, wo hatte er nur die Augen? Wenn sie aber zum Projekt gehört, dann muss er seine Aussage revidieren. Anna Amalia, sagt ihm der Name etwas? Dieses verfluchte Weimar, stets kommt es quer. ›Ama‹ – ja sicher. Er braucht eine neue Brille, ganz unmetaphorisch, ganz handwerklich direkt. Die Routinen verbergen die Wirklichkeit, sie gaukeln Sichtbarkeit vor, jedoch im Entscheidenden … im Entscheidenden … im Ent… Ama, die herrliche Ama, etwas kapriziös, herrlich, ziemlich kapriziös sogar, sie redet frei, frei, wie der Herr … aber lassen wir den Herrn aus dem Spiel, ganz sicher ist es sein Spiel wie alle Schöpfung, doch für den Moment … Moment mal: Did you ever see such a touching woman, telling you she’s a goddess? Woher kennt er den Vers? It’s true, isn’t it? I am Vulva, your bloody mistress, some call me Blasphemia, it’s okay, it’s all okay.
Hat Elisabeth etwas bemerkt? Entschuldige, Elisabeth, aber diese Minute gehört einer anderen. Natürlich kann sie dir nicht das Wasser reichen, welche Frau könnte das, aber im Augenblick, im Augenblick kannst du ihr nicht das Wasser reichen. Tja, so ist das im Leben. Das Leben befiehlt, ich gehorche. Gehorchte ich nicht, wo käme ich da hin? Wo kämen wir da hin? Das würde dein Köpfchen niemals verzeihen. Man wohnt nicht jeden Tag einer Parusie bei, in meinem Beruf kommt das eher selten vor. Im Zwielicht der Gedanken ist vieles möglich. Anderes hingegen bedarf der Erleuchtung. Ama, Ama, woran erinnert mich das? Es war einmal in einem finsteren finsteren Walde … ein einsames Köhlerpaar dämmerte vor sich hin, die Kröten, sie wollten nicht reichen, nicht für ein elendes Leben zu zweit, und warum … warum setzt man sich schon zusammen, wenn nicht für ein Leben zu zweit? Es wäre wohl besser, wir versuchten unser Glück einzeln, jeder für sich, sagte die Frau, welches Glück, wollte der Köhler wissen, der Meiler muss brennen, er ist weit und breit der einzige hier und wenn ich gehe… Wer spricht davon, dass du gehst, hauchte die Frau im reizendsten Negligé, der Mann, angeweht von der Fülle der Möglichkeiten, neigte sein Ohr, sein einziges Ohr, lang wie das eines Esels… Am nächsten Morgen war der Esel, pardon, der Mann, immer noch da und sie erkundigte sich, während der Kaffee durchlief, wie denn die Nacht gewesen sei und verschiedenes mehr. Der Esel, pardon, der Mann aber saß da und brütete. Drei Tage und drei Nächte lang saß er an seinem Platz und brütete, schließlich befinden wir uns im Märchen und da gelten gewisse Konventionen. Schließlich stand er auf…
In Gedanken, im Fieber der Gedanken durchläuft Tronka, der keinen Museumsbesuch auslässt, die Galerie der Rhomben, jedem einzelnen gerade so viel flüchtige Aufmerksamkeit widmend, wie ein Kurzsichtiger braucht, um das Motiv einwandfrei zu identifizieren, gern würde er den Finger zur Hilfe nehmen, aber das schickt sich nicht … schickt sich nicht … da! Das Bild des Esels mit abgeknicktem Ohr, die phrygische Mütze quer darüber gehängt, beinahe hätte er es verpasst. Wundersamerweise ist der Künstler bereits zur Stelle und flötet sein ›Wunderbar! Dieses Bild, äh, war eigentlich für Sie bestimmt, ein Wunder, dass Sie es überhaupt gefunden haben. Ich gehe jetzt und entferne…‹
Da lacht Herr Tronka.
Die letzte Potenz ist die ver-letzte.
Allzu lange hast du an diesem Punkt geknabbert: dem Umschlag der frei eingegangenen, um nicht zu sagen: gewählten Beziehung in ein unfreies, um nicht zu sagen heuchlerisches Verhältnis, in dem beide Seiten einander belauern, um, gib’s zu, Punkte zu sammeln fürs Auseinandergehen, das vorderhand auf sich warten lässt. Das entspricht zwar den Erfahrungen langer Generationen mit der nicht mehr so christlichen, nicht mehr so unauflöslichen Einehe, genauer, der berühmten Liebesheirat. Doch vom Standpunkt der vollendeten Beziehung aus ist die Liebesheirat ein Zwitter, genauer: ein Täuschungsverhältnis von Anfang an, in dem Selbst- und Fremdtäuschung einander vertrauensvoll die Hand geben. Denn die Ehe, zumal die christliche, ist die Ehe, wie rechtlich durchlöchert sie auch sein mag, und ihr Ende ist immer teils Segen, teils Fluch, niemals ein einfaches Auseinandergehen.
Nimm die Ehe zwischen Leckebusch und Elisabeth: nichts würdest du von ihr verstehen, bemerktest du nicht den gusseisernen konventionellen Kern in alledem. Er erlaubt, was in der Beziehung die Todsünde schlechthin darstellt (denn auch sie besitzt ein christliches Innenleben): den selbstverständlichen Alltag zweier Menschen, die irgendwann eine soziale Zelle gegründet haben und wissen, dass sie die daraus erwachsene Gemeinsamkeit nicht strapazieren, aber auch nicht aufgeben dürfen, wollen sie nicht Unheil auf ihre Häupter herabbeschwören. Das Unheil mag, lebensstrategisch gesprochen, verflacht sein, aber es liegt, eine träge Schlange, leise züngelnd im Hintergrund und niemand kann es, seelisch gesprochen, daraus entfernen.
Tronka hingegen, Tronka und Pida: der Kern ihrer Ehe ist die Beziehung. Nichts kettet stärker aneinander als das Unheil, sie ausreizen zu müssen, als gäbe es nichts anderes unter der Sonne zu durchleben als gerade sie. Christlich gesprochen schweißt ein Höllenbund die beiden unerlaubterweise zusammen (so weiß es Tronkas Schwiegervater, ein Christenmensch alter Schule): Sie kommen nicht zusammen und sie kommen nicht voneinander los. Doch in diesem Fall wäre das Erlaubte das Unerlaubte. Das wirft die Frage auf, was ›erlaubt‹, was ›unerlaubt‹ in Beziehungsdingen bedeutet. Im Prinzip gilt die einfache Regel: unerlaubt ist das Eheartige. Was ist das Eheartige? Es ist frei interpretierbar. Das Eheartige ist der faulende Rest der bürgerlichen Ehe – seelisch gesprochen. Rechtlich gesprochen hingegen … entfaltet sich die Beziehung unter dem Schutz der bürgerlichen Ehe.
Wer aus äußeren Schrecken kommt, achtet die inneren gering. Er glaubt bereits, sie verstanden zu haben. Da liegt der Fehler. Schon die äußeren Schrecken entspringen dem Wahn. Es gibt kein empfundenes Außen diesseits oder jenseits der fiebrigen Kurve, die wir Bewusstsein nennen: QaS – Quell allen Schmerzes. Vom Wahn heilen: am Angebot erkennt man den Scharlatan.
Das Totem regiert den Schmerz. Ein ferner Schrecken spiegelt den allzu nahen und lässt ihn objektivierbar erscheinen. Auch erscheint er ja bereits im Ursprung gebändigt, ein Gott in der Maske. Die Maske richtet den Gott: zu, ab, auf, hin und aus. Es sind Regungen des Schmerzes, der niemals nachlässt. Manche Kulturen räumen ihm einen erhöhten Platz ein, andere nicht. Die eine oder andere macht ihn zum Aschenputtel. Als Sargträger gebrauchen ihn alle – als Wesen ohne Identität.
Die Wut dieses Gottes ist unbeschreibbar. Nur das Lächeln der Maske lässt sie erahnen. Wer nach ihr greift, dem verdorre der Arm. Armer Arm! Erbärmliches Los dessen, der sich vergreift: ein Teil des Ganzen zu sein, das sich von ihm abwendet. Aber es ist nur das halbe. Auch er wendet sich ab. Im Vergehen geht er hinaus. Hinausgehend aber ist er der, der bleibt.
Das Bleiben, nicht greif-, nicht fassbar, wird gern materiell gedeutet, Plunder, der sich in den Museen breitmacht, perverses System der Archive und Bibliotheken, Lockstätten für Brandstifter, schmutziger Rest, an dem sich Moder und verjährter Gebrauch ein Stelldichein geben. Das Zu-Leibe-Rücken ist eine Kulturtätigkeit wie andere auch – soviel zur Kultur.
Das wäre also das Böse? Aber nein, es ist nur sein gemütlicher Anblick. Das radikal Böse befasst sich nicht mit dem ordinären Totschlag. Es ist radikal unterbeschäftigt und lauert auf seine Stunde. Derweil sorgt das gemütliche Böse dafür, dass es weitergeht. ›Müll‹ ist eine metaphysische Kategorie. Im Hinter-sich-Lassen die Salzsäule erahnen, das Erstarren, das nicht ausbleibt, die Entsorgung des Ich: Religion auf Distanz.
Was liegt am Christentum, was an Religion? Die Frage stellen heißt sie verlassen. Wo Religion anliegt, erscheint sie: vom Bedürfnis überwältigt, von der Gewalt verhöhnt und vom Wissen erschlagen. Am Lager seines toten Gottes Flüche murmelnd – so stellt sich mancher Neuling der ortsfremden Obrigkeit, die leider keine Zeit findet, sich mit ihm zu befassen. Warum auch? Die Gretchenfrage, sie stellt sich nicht, weil Religion niemals aufgibt, weil ihr jede Pfütze genügt, um sich aufs Neue darin zu sammeln. Selbst der Himmel, der sich drin spiegelt, ist nur Zugabe, sie kommt, wenn’s sein muss, ohne ihn aus.
Dass jede kommende Religion sich an einer vorhandenen mästet, besitzt eine selten erwähnte Pointe. Die gegenwärtige Religion ist die Gegenwart der Religion, die unsichtbare Summe ihrer Verhältnisse in dieser Welt. Die kommende Religion schlingt diese Verhältnisse in sich ein, sie ist die Aktualität, betrachtet als Religion, das heißt als ein vom Schmutz der Gegenwart gereinigtes Herkommen, das sich erst in Ansätzen zeigt. Die kommende Religion ist die vergangene im Futur, bereichert um all die Kompromisse und Weiterungen, die ihr das Überleben im Heute sichern, als liege darin ihre lange Zeit vernachlässigte Pointe.
Kein Denken lässt sich beschränken. Doch seine Unbeschränktheit lässt sich nur beschränkt ertragen. Deshalb bleibt sie virtuell. In diesem Sinne sind alle Kulturleistungen nicht nur beschränkt, sondern Ausdruck von Beschränktheit. Es ist die Beschränktheit, die zur Darstellung drängt. Die Verächter der Religion sind Menschen, die für den Ausdruck ihrer Beschränktheit einen Sündenbock brauchen: Sie drücken ihn heraus aus dem Ensemble der ›anstehenden Aufgaben‹ und finden sich darin schön.
Keine Sorge: das wird schon. Darum sollte man sich nicht allzu sehr kümmern. Der Schmerz, der erlöst werden möchte, nimmt den nächsten Flug. Wer wollte daran zweifeln? Woher also das Beharrungsvermögen? Woher das Nicht-weggehen-Wollen? Die Unsicherheit mit der Unsicherheit erklären zu wollen ist lächerlich. Der Zweifel, ob es besser wäre zu gehen, und die Gewissheit, dass es besser wäre zu gehen, sind ein und dasselbe. Ein Zweifel, der es nur zur Gewissheit, und eine Gewissheit, die es nur zum Zweifel bringt, sind Ausdruck des beschränkten – und bedrängten – Ich: Kopf oder Zahl.
Sich aufgeben – wohin? Sich stückweise aufgeben – warum? Um durchzukommen, vermutlich. Das aber bedeutet, dass jedes stückweise Sich-Aufgeben ein Zurücklassen ist, während der Sinn des Sich-Aufgebens vor ihm liegt. Sogar der Selbstmörder, der sich in einem Stück aufgibt, bleibt dem Stückwerk verhaftet. Er begrenzt sich von außen: er umrundet sich, er umschnürt sich, er nimmt einen Anlauf und stößt sich in die Vergangenheit. Das bedeutet es, Zukunft zu reklamieren – für sich, für wen denn sonst. Tote auf Urlaub sind Menschen, die an die Zukunft glauben wie an ihr eigenes Leben. Das Wie enthält das Problem.
Selbsttötung ist Ahnenkult, also Nachfolge. Jemand schließt die Tür, um zu folgen. Ins absolute Dunkel hinein gibt es weder Folge noch Nachfolge. Ein Zeichen ist schon vonnöten. Im Zeichen des Menschen schließt einer die Tür. Wir sehen die flächiger werdende Erwartung auf seinem Gesicht, wir hören das leise Knarren der Angeln, wir sehen den Spalt, der sich schließt, mehr nicht. Wir wissen, wir sind noch nicht Einzelne genug, um zu folgen, wir bleiben zurück. Was wir gesehen haben, ist das Zeichen eines Zeichens. Wir drehen uns um und die Substitute stehen schon bereit. Fast gerührt gehen wir an ihnen vorbei.
Die Frage nach dem Mittler endet dort, wo die Vermittlung in Frage steht. Was soll vermittelt werden, wodurch und zu welchem Ende? Zum richtigen? Ist es also das Ende, um das sich alles dreht? Ist das richtige Ende das Ende? Ist das, was jeder erreicht, das zu Erreichende? Was heißt es, auf diesem Weg verloren zu gehen? Was verliert der, der verloren geht? Auf all diese Fragen gibt es Antworten, verloren gegangene und unerreichbare. Wir kennen die Bilderbücher und ahnen ihren Sinn. Vielleicht ahnen sie etwas von uns, aber das, gerade das, ist unentscheidbar. Wir suchen den Zusammenschluss in der Differenz. Wer sie aufgibt, gibt sich auf und eilt – vorbei.
Liz geht es gut, sie hat einen Mann. Wie sie das sagt:
Sie wird ihn heiraten, mit allem Pi-Pa-Po, wie sie sagt, mit Brautjungfern und selbstverständlich kirchlich:
Sie muss ihn haben, denn:
Meint sie das ernst? Meint sie das wirklich ernst?
Du könntest ihren Kopf zwischen beide Hände nehmen und würdest doch nichts erfahren. Am Ende wüsstest du nicht, was du hättest erfahren wollen. Liz geht’s gut, Liz geht’s schlecht. Zwischen diesen beiden Zuständen pendelt das Leben. Hin und her, her und hin –
Ist das gut? Ist das schlecht? Es ist, wie es ist.
Liz die Sanfte, Liz die Aufgekratzte ist bipolar gestört. Alle wissen’s. Nur: wenn das eine Störung ist, wer will dann ungestört leben?
Wie weit wird sie es darin bringen? Vom Pirschverhalten her eine Artemis, hundertbrüstige Keuschheit, sie ruht und rastet nicht, bis zwischen ihr und dem Wild nur mehr ein Nichts steht, hinter dem sie instinktiv Schutz sucht, während sie näher kommt… Eines ist gewiss: sie wird kinderlos bleiben, kinderfreie Zone, das schuldet sie ihrer Freiheit, der Freiheit zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebt. Also werden all die eifrig und mit Geschick gesammelten Gene nutzlos verschwendet sein. Das erinnert an eine bekannte Definition des Schönen:
Die Schönheit der Gene, vor allem wenn sie in keiner Kindersaat aufgeht, vollendet sich fern den indiskreten Blicken der anderen. Liz’ Jagd nach dem besonderen Mann, dem intelligenten Professor, dem berühmten Schriftsteller, dem sportlichen Typ, der die Zukunft auf seinen muskulösen Schultern balanciert, dem Mann ihrer Träume (im Chor der anderen) geht niemanden etwas an –
Aber das wirst du schön bleiben lassen.
Eine Liz, dessen bist du dir sicher, wird keine Kinderlosigkeit daran hindern, die Große Mutter zu geben, wenn erst die Zeit dafür reif ist.
Alles zu seiner Zeit.
Bevor sie hinausgeht, platziert sie noch rasch ein Bömbchen.
―Ich hab’ euern Großen Denunzianten getroffen.
Unseren Großen Denunzianten? Wer soll das sein?
Heuchlerische Replik –. Schon klar, wer da gemeint ist.
Wo
hat sie ihn getroffen? Auf der Straße? Im Bett? Im Stundenhotel? Am
Rande einer Tagung? Am Strand von Warnemünde?
So funktioniert Liz.
Der große Denunziant ist der Große Denunziant. Das hat sie gut gesehen.
Argloser räuspert sich und fährt fort.
Sie sehen … was sehen Sie hier? Ja gewiss, einige haben es erkannt, nennen wir es eine Art Wankelmotor, ein Druckgehäuse mit einer darin rotierenden Scheibe, angetrieben durch einen doppelten Zündmechanismus, schauen Sie, da steht es: Science und Bad News, zu deutsch: politisch motivierte Forschung und Horrornachrichten. Des weiteren sehen Sie zwei Kammern: eine nach außen und eine nach innen sich öffnende, aber natürlich ist das eine durch die unbewegliche Zeichnung erzeugte Täuschung. Die kleinere, nach außen offene Kammer enthält ein besonderes Fluidum, genannt Umweltbewusstsein, das teils aus der Umgebung zuströmt, zum größeren Teil jedoch durch mittels der sich schleichend verändernden Kammerform aufgebauten Kompressionsdruck erzeugt wird. Die größere hingegen, in der die genannten Explosionen stattfinden, expandiert – sie expandiert bis zu einer Umlaufposition, an der das zweite Ventil sich öffnet und die heiße Luft der aufgestauten Erwartungen in die Umgebung entlässt. Darauf wiederholt sich, wie abzusehen, der ganze Zyklus. Diese zweite Kammer – oder Kammerphase – birgt die ökonomische Seite des so simplifizierten, aber eben für die Massen fassbaren Weltprozesses. Jeder ökologische Problemdruck, heißt das, erzeugt, einmal ins System eingespeist, neue Klassen von Gebrauchsgegenständen, im Idealfall ganzen Technologien, und somit Güter, von denen man sich eine Lösung des Problems verspricht, die aber in Wahrheit – ich sage ausdrücklich nicht: nur – eine neue Konjunktur entfachen, der, wie gesagt, über kurz oder lang die Luft ausgeht, woraufhin das Ganze sich ad libitum wiederholen lässt.
S, in der ersten Reihe lümmelnd, schwenkt den Wuschelkopf, scheinbar sinnend, zur Seite –
Iris hingerissen, ganz Ohr:
Sackbrenner hat die Mittel zu einer Studie Male behaviours in open and closed spaces bewilligt bekommen; sie freut sich schon wahnsinnig auf die Zusammenarbeit mit der britischen Kollegin, die sie gerade rechtzeitig ins Boot holen konnte. Unter der Hand hat sie noch ein weiteres Projekt laufen, über das sie die Fakultät erst später zu unterrichten gedenkt, um den Forschungserfolg nicht zu gefährden: Worin unterscheidet sich männliches Benehmen in Gegenwart weiblicher Konkurrenz von dem in ausschließlich männlicher Umgebung an den Tag gelegten? Exot S, den sie nicht aus den Augen lässt, kommt ihr zur Einstimmung gerade recht.
Auch juckt es sie, den Medienstar an einem Ort nüchterner Brillanz wie diesem ein bisschen … aufzumischen. Flüchtig berührt ihr Blick Iris, die treue Seele, dann strafft sie sich, um dem Dekan, den politischen Gast kalt ignorierend, eine einfache Frage zu stellen:
Da kiekst Kypras laut und vernehmlich.
Welchen Ansatz? S lacht ihr gönnerhaft ins Gesicht, Argloser, das
Wort ›Gender‹ wie einen Zahnstocher von einem Mundwinkel zum
andern befördernd, verwendet den Ausdruck ›psychoanalytische
Grundierung‹, murmelt etwas von ›nicht mein Fach‹, ›Ihr
Ressort‹, aber schließlich richtet er sich, der Not gehorchend, zu
seiner vollen Größe auf.
Sehr groß ist er nicht, der Gute.
Sackbrenner, vibrierend vor Ungeduld – oder ist es Zorn? – reißt ihn aus der Rotation.
Weiter kommt sie nicht, die Ohos und
Nein-so-nicht-Frau-Kollegin, sorgfältig eingefädelt,
prasseln auf ihre Rede nieder, einen kurzen Moment hält sie inne,
streicht sich die Haare aus dem Gesicht und will fortfahren…
… aber nein, S erhebt sich aus seinem Plastikstuhl, läuft mit
raschem Gang auf sie zu, der fleischige Wauwau schnappt ihre Hand,
leicht, leichter, reckt sie hoch, höher, bis endlich Kollegin Sackbrenner,
ins Mark überrascht, der kaum zu ignorierenden Aufforderung Folge
leistet: da steht sie, freigestellt, leicht gebogen (was ihre
Porzellanfigur dezent unterstreicht), von Angesicht zu Angesicht
dem Herrn mit der kratzigen Donnerstimme gegenüber, die, während er
die gestresste Hand loslässt, sich fistelnd (auch das gehört zu
ihren bekannten Specifica) an ein nicht vorhandenes Volk richtet.
―Völker, hört die Signale! Nein, im Ernst, Frau Kollegin … – ich habe Ihren Namen vorhin nicht mitgekriegt, aber das holen wir gleich nach –, Sie haben verdient, dass man Ihnen zuhört. Ich jedenfalls höre Ihnen zu, wir Grünen sind im allgemeinen bekannt dafür, dass wir Ihnen zuhören … und nicht allein zuhören. Wir bieten Ihnen die passende Plattform, die einzige übrigens im Lande, Sie gehören zu uns, Sie sind unser treibendes Element… Ich will hier nicht Wahlkampf betreiben, aber das musste jetzt heraus. Die Wissenschaft … sehen Sie, wir sind die Partei der Wissenschaft, deshalb habe ich mir heute Zeit genommen, die Wissenschaft wird daran gemessen werden, wie weit es ihr gelingt, die Genderfrage zu lösen. Sie alle haben richtig gehört, ich sagte zu lösen … dazu gehören die richtigen theoretischen Konzepte, mit denen wir draußen in der Praxis auch etwas anfangen können. Nicht jedes Detail von dem, was ich heute hier hörte, hat mich überzeugt. Einiges schon, ich vermute mal, wir haben noch eine lange gemeinsame Wegstrecke zu bewältigen. Professora …, vor Ihnen liegt ein gewaltiges Pensum. Ich bin sicher, Sie werden es mit Bravour erledigen. Sie werden auch nicht die einzige sein, dafür werden wir mit aller Macht sorgen. Mit aller Macht, denn das ganze ist eine Machtfrage. Von allein, da hat Ihr Herr Dekan leider recht, auch wenn er es etwas verklausuliert ausdrückt, von allein bewegt sich gar nichts. Die bewegende Kraft, die hinter allem steckt, das sind wir. Auch die Zukunft braucht eine Partei. Nein, das ist keine Drohung. Wir machen Ihnen ein Angebot. Was Sie draus machen – bitte. Sie werden, jeder für sich und alle gemeinsam, sich das Richtige schon herauspfriemeln.
Spinnt Dürrobst? Bei ihm weiß man das nie.
Teuschner hat den Vorwärtsgang eingelegt. Man erkennt es von
weitem. Der gern und oft Saumselige schiebt die Schultern nach vorn,
die Monteursarme hat er ausgefahren, seine Hände, rissig und nicht
ganz den Sauberkeitsvorstellungen des erlauchten Zirkels
entsprechend, fahnden nach imaginärem Gerät, einem Schraubenschlüssel
oder einem Zollstock vielleicht (der Innenausbau des Privatdomizils
kommt voran). Die soeben erlebte Szene beschäftigt ihn tief.
Es ist nicht recht, den amtierenden Dekan auf diese Weise ins Unrecht zu
setzen. Dies hier ist akademischer Grund.
Seine Stimme quietscht vernehmlich, als er sich meldet. Sie
normalisiert sich rasch, doch ein Oberton bleibt vernehmbar, eine
kaum merkliche Warnung an alle, die Grenzen des Diskurses zu
wahren und Politschrott gefälligst dort zu lassen, wo er hingehört,
auf jeden Fall: draußen. Argloser ist erleichtert.
Teuschner dankt überschwänglich.
S, wieder sitzend, schnalzt mit der Zunge.
Ob und wann Teuschner kommt, das ist ganz allein seine Sache. Ein
schräger Blick auf S und er lehnt sich erschöpft zurück. Er meint
ja nur und die Sache geht ihn eigentlich nichts an, aber
da er sich nun einmal in das wirklich spannende Gespräch
eingemischt hat, kann er auch gleich sagen, was er, die bessere
Sachkenntnis der anwesenden Kolleginnen und Kollegen immer
vorausgesetzt, von der Sache hält, nämlich:
Sex als Triebkraft der Gesellschaft zu bezeichnen, gehe
offensichtlich an der Sache vorbei, wie Kollegin Sackbrenner in ihrem
ausgezeichneten Redebeitrag überzeugend gezeigt habe. Der Begriff
›Mode‹, dessen Einführung in diesem Zusammenhang er als glänzend
empfinde, besage schließlich nichts anderes, als dass hier ein
Diktat vorliege, aber ein selbstauferlegtes, und so, als
selbstauferlegter, erscheine auch der ganze Geschlechterdiskurs in
einem gänzlich anderen Licht –
Schlechte Rhetorik. Sehr schlechte Rhetorik. Aber auf den Punkt.
Der Spott in Dürrobsts Stimme.
Ist es Spott? Sarkasmus? Ordinäre Häme? Ein Mix aus allem?
Zeitschild: Das Bild ist nicht schlecht. Ein Schild, angefertigt, um dem Medusenblick des theoretisch uneinholbaren Wirklichen zu widerstehen, zugleich aber auch dem Feuerodem Fafners, des Herrn der Schätze, darunter der offenen, keiner Komplexität weichenden, niemandem dienstbaren Wissenschaft –… ja gewiss, das hätte ihm einfallen können, ihm einfallen müssen, reine Qual, den Einfall aus Teuschners unberufenem Mund zu vernehmen, also muss gegengesteuert werden. Ein Gedanke geistert durch den Raum –: niemandes Gedanke, zufällig stammt er aus einem Mund, wer wird ihn fangen? Der, dem es gelingt, das Erstlingsrecht zu eliminieren, ganz recht, zu eliminieren, am besten dadurch, dass er die Stimme des anderen zum Verstummen bringt. Teuschner wankt: er ist verstimmt. Das Hohelied auf das Kollegengespräch ist krachend an der unversehens aus dem Nichts aufgetauchten Barriere gescheitert.
So funktioniert Dürrobst.
Dürrobst und Teuschner: ungleiche Gegnerschaft. Dürrobst hat Teuschner falsch eingeschätzt. Das liegt daran, dass er eine Eigenschaft Teuschners nicht kennt, die dieser vor allem im privaten Umgang pflegt. Teuschner macht es nichts aus, die Gangart zu wechseln, sprich: den Grad der Direktheit. ›Gezielte Schamdurchbrechung‹ könnte man diese Technik nennen, wenn es denn eine Technik wäre und nicht einfach seine Art zu sein. Teuschner, der schamlose Mensch. Das mag, wie alles andere hier im Raum, Fiktion sein, eines jedenfalls nicht: folgenlos.
Teuschner, einfältig lächelnd, schaut sich um, gewahrt die gesenkten Blicke, den Wuschelkopf des Herrn S, der Ungeduld signalisiert, er steht auf, geht nach vorn, stellt sich, leicht versetzt, die Demonstrationspose wahrend, vor Dürrobst, der seine Ellbogen anzieht … gleich wird das Fauchen des angegriffenen Raubtiers den Raum dominieren –
Und stiefelt davon.
Still lächelt Sackbrenner in sich hinein.
Der Schamkern ist eine Spindel
Wolltest du etwas sagen?
Warum nicht? Ja sicher. Aber gewiss doch.
Dann heraus mit der Sprache. Warum sagst du es nicht?
Weil es peinlich ist.
Warum ist es dir peinlich?
Es ist nicht dir peinlich. Es ist peinlich.
Wie kann etwas peinlich sein, was nicht dir peinlich ist?
Das kann ich nicht sagen.
Ich? Wo kommt das her?
Angeflogen vermutlich. Ja, ein Anflug. Von irgendwoher.
Also drehen wir uns im Kreis.
Was du nicht sagst. Ist das nicht peinlich?
Drehe ich mich im Kreis,
komme ich nirgendwo hin.
Ist das peinlich?
Ja, das ist peinlich.
Der Schamkern ist eine Spindel
Wolltest du etwas sagen?
Warum nicht? Ja sicher. Aber gewiss doch.
Dann heraus mit der Sprache. Warum sagst du es nicht?
Weil es peinlich ist.
Warum ist es dir peinlich?
Es ist nicht dir peinlich. Es ist peinlich.
Was kann peinlich sein, was nicht dir peinlich ist?
Das kann ich nicht sagen.
Ich? Wo kommt das her.
Angeflogen vermutlich. Ja, ein Anflug. Von irgendwoher.
Also drehen wir uns im Kreis.
Was du nicht sagst. Ist das nicht peinlich?
Drehe ich mich im Kreis,
komme ich nirgendwo hin.
Ist das peinlich?
Ja, das ist peinlich.
Peinlich: der Anblick eines Menschen, der sich im Kreise dreht. »Wohin willst du?«, möchte die Mitwelt ihm zurufen. »Entscheide dich! Gebrauche deinen Kopf!« Der sich im Kreise drehende Mensch erscheint seiner Nachbarschaft kopflos. Ein Mensch, der nicht aufhört, sich im Kreise zu drehen … ein solcher Mensch ist offensichtlich von Sinnen. Je länger er sich dreht, desto wahnsinniger kommt er den anderen vor.
Eine Gesellschaft, sich kopflos im Kreise drehend: Wie peinlich mag das wohl sein? Und doch, es gibt sie. Die närrische Gesellschaft, sie flüstert dir zu: Wart’s ab! In dreißig Jahren wirst du an meiner Statt eine andere sehen. Wird sie dir gefallen? Werde ich dir dann gefallen? Siehst du, die Vorstellung lässt du dir doch gefallen. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, die viele Café-Besuche erlaubt. Schon ruhst Du im Leder-Fauteuil, rückst das Stühlchen, greifst nach der Zeitung (noch liegt sie aus), kontrollierst dein Handy (vornehm ausgedrückt, denn es kontrolliert dich), sparst deine Rede (mit wem solltest du reden, da du dich doch herausreden willst) und die Zeit vergeht wie im Flug. Wie im Flug? Der ist nie geflogen, der diesen Spruch erfand, jedenfalls nicht zu zivilen Zeiten. Dreißig Jahre sind wie ein Tag. Du verlässt die Zeitmaschine, gebräunt, wohl gelaunt, es ist eine andere Welt. Eine andere Welt, wohl wahr. Dann die Probe aufs Exempel: Peinlich.
Eine Gesellschaft, sich kopflos im Kreise drehend: Wie peinlich mag das wohl sein? Und doch, es gibt sie. Die närrische Gesellschaft, sie flüstert dir zu: Wart’s ab! In dreißig Jahren wirst du an meiner statt eine andere sehen. Wird sie dir gefallen? Werde ich dir dann gefallen? Siehst du, die Vorstellung lässt du dir doch gefallen. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, die viele Café-Besuche erlaubt. Schon ruhst Du im Leder-Fauteuil, rückst das Stühlchen, greifst nach der Zeitung (noch liegt sie aus), kontrollierst dein Handy (vornehm ausgedrückt, denn es kontrolliert dich), sparst deine Rede (mit wem solltest du reden, da du dich doch herausreden willst) und die Zeit vergeht wie im Flug. Wie im Flug? Der ist nie geflogen, der diesen Spruch erfand, jedenfalls nicht zu zivilen Zeiten. Dreißig Jahre sind wie ein Tag. Du verlässt die Zeitmaschine, gebräunt, wohl gelaunt, es ist eine andere Welt. Eine andere Welt, wohl wahr. Dann die Probe aufs Exempel: Peinlich.
Merken die Menschen nichts? Wollen sie nichts merken? Sind sie unfähig, etwas zu merken? Haben sie in ihrer Unfähigkeit Wurzeln geschlagen? Aber es sind doch andere, immerzu andere, durch die Schule der Unfähigen, Unfertigen, Unbeweglichen gegangen: Müssten sie nicht irgendwann die Beweglichkeit selbst sein? Nun ja, das sind sie vermutlich. Sie kreisen einfach um sich selbst, die Einzelnen wie die Gesellschaft, da existiert kein Unterschied. Oh doch, ein winziger. Das Ich schlägt Falten, Gesellschaft Wunden.
Und wenn ich mich im Kreise drehte: Was geht’s dich an?
Vorerst nichts. Gar nichts. Woher willst gerade du wissen, ob ich mich im Kreis drehe? Siehst du in mich hinein? Siehst du nicht, dass ich schon weiter bin? Weiter als ihr alle? Dass meine Pirouetten nur das Ziel verfolgen, euch zu verwirren? Dass ich nicht will, dass mir einer folgt? Dass, wer mich in meine Hintergedanken hinein verfolgt, mein Feind ist?
Nicht, dass ich Feinde bräuchte. Gesellschaft braucht Feinde, das ist wahr. Das wenigstens habe ich gelernt. Eure Gesellschaft braucht den Feind, auch das habe ich gelernt. Einen Feind, den sie in allen Verkleidungen aufzustöbern gedenkt. Er ist nicht der Klassenfeind, er ist nicht der Rassenfeind, er ist der Menschenfeind. Der Mensch des Abstands, der Mensch, der seine Verletzungen nicht zu Markte trägt, der Mensch, der lieber vor sich selbst ausspuckt, als dass er sich als Opfer bezeichnen würde. Der Mensch, der sein Brandmal nicht sieht, obwohl es ihn fast verbrennt, der Misanthrop, der den Menschen zu sehr liebt, als dass er ihm unser aller Zukunft aufbürden würde, er ist euer Feind.
Warum das so ist? Ich habe es nicht verstanden. Ich werde meine Verwunderung mit ins Grab nehmen. Vielleicht auch nicht. Ein anhaltendes Wunder ist schließlich keines. Was ist es dann?
Ein anhaltendes Wunder ist ein Ärgernis.
Kein Wunder also, wenn ihr wähnt, ich drehte mich im Kreise. Nur das Motiv bleibt, einem wie dem anderen, dunkel. Da müsste schon jemand kommen und meine Gedanken lesen. Keiner kann die Gedanken des anderen lesen. Auch das sagt sich leicht. Dabei ist es doch von allem das Leichteste, anderer Leute Gedanken zu lesen: »Ich weiß, was du denkst. Wenn du wüsstest, dass ich in dir lesen kann wie in einem Buch!« Mit diesem Paradox geht ein Mensch durchs Leben, geschlagen mit einem Wissen, das keines ist, das vielleicht ein Wissen ist, das vielleicht ein Wissen ist oder etwas anderes, eine notwendige Selbsttäuschung, ohne die sich ihm hoffnungslos verwirren würde, was jetzt als offenes Buch vor ihm liegt: seine Welt, bevölkert von jenen anderen, die er verstehen muss, will er nicht auf der Stelle treten und sich … hoffnungslos im Kreise drehen, was das Furchtbarste wäre, womit er geschlagen sein könnte, solange er – wie heißt das Wort? – noch irgendwie einsatzbereit ist.
Das Motiv, das mich im Kreis treibt, das mich immer und immer wieder in meinen Kreis zurücktreibt, gleichgültig um die Lockung, die im Fortgehen um seiner selbst liegt, ist mein Eigentum. Ich halte es von euch fern, ich halte es mit Absicht im Dunkeln, ich will nicht, dass sich ein anderer an ihm zu schaffen macht. Wenn ein anderer glaubt, in mir lesen zu können, dann vergisst er das Allerheiligste. Der eine muss es befingern, der andere es betreten, der dritte es scheu umschleichen oder umstreunen: das sind bereits drei Arten des Heiligen, die wenig miteinander gemein haben und deshalb dazu taugen, alle Arten von Missverständnissen zwischen den Menschen zu provozieren. »Ich weiß, was dir heilig ist« heißt, übersetzt: »Ich weiß, was dir heilig ist.« Ich weiß, woran du dich ausrichtest, du kannst mir nichts vormachen. Ich weiß, wie du tickst.
Da liegt der Fehler und er ist hoffnungslos.
The in-no-va-tion
of pe-ne-tra-tion
that’s my sen-sa-tion
Harm-less, ruth-less, relent-less, sense-less. Sibla besitzt ein Faible für die englische Sprache. Really? Eher für den Klang einzelner Wörter, das gleichmäßige Silben-Ab-Auf, eine Lautfolge wie
ba-by-get-out-of-my-sun
the train-is-wai-tin’-just-now
vorgetragen im spröd-dunklen Südstaaten-Jargon eines John Ford-Western, gerät in seinen Tagträumen zum kompositionswürdigsten Stück Sprache unter der Sonne. Schattengleich dagegen hat sich das Indo-Englische, dieses an verjährte Gewalt und Unterwerfung erinnernde Unterwerfungsidiom, auf seine Seele gelegt: die eigentümliche Strahlkraft indischer Musik, das sagt ihm das Gehör, verdankt sich der Reinigung der indischen Seele, nein, der Seele überhaupt, von den Schlacken kolonialer Überfremdung. Indien ist ein Fall für sich, man muss dort gewesen sein, um es zu begreifen, doch er bezweifelt sehr, begriffen zu haben, wie Inder ticken, auch fühlt er dunkel: als Europäer, speziell als Deutschem, steht ihm nicht zu, diesen Kontinent zu begreifen. Alles Begreifenwollen, so seine agenda nigra, erneuert den kolonialen Impuls und damit das verfluchte Herrenmenschentum, das ihm oft genug auf seiner Reise ins Innere des Mondes aus unberufenem Munde entgegenschlug. Kolonialismus ist ein Gewächs mit tiefen Wurzeln. Reiße ihn aus und er wächst ungerührt nach. Drei Takte Beethoven und du weißt Bescheid: hier tummelt sich der klanggewordene Hochmut einer Kaste von Besserverdienern, die ›Menschheit‹ sagt und den eigenen Reichtum meint – Musik des Unreinen, Bösen, Verdammenswürdigen, doch so weit will er, Sibla, persönlich nicht gehen.
Surely, we know whats’s going wrong with Europe.
Der Herr der Töne weiß nicht, wie nah er damit den Forschungen des Gelehrten Duro kommt.
Sibla weiß nichts von Duros Pyramiden-Existenz, das ist gut so, das soll so
bleiben.
Die Welt des Wissens: ein Buch mit sieben Siegeln.
Schon daneben. Wissen ist nicht buchförmig.
Duro meets Sibla?
Nimmermehr. Auf welchem Planeten? Venus? Mars? Eine entfernte Möglichkeit böte Saturn: denkbar, dass sich unter der Schirmherrschaft Assons, des steinernen, notorisch von einem Anbeter-Ring umgebenen Gastes im Sonnensystem der Pyramide so etwas vielleicht arrangieren ließe. Auch dann stünde immer noch die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Konjunktion zweier Hörigkeiten – weniger höflich ausgedrückt, der schicksalhaften Begegnung von Schwanz und Anglomania – im Raum.
Sibla ein deutscher Provinz-Esel?
Ja und nein.
Duro ein Snob?
Nein und ja.
Kitty, jetzt oder nie:
Sibla, der Komponist am Tisch seiner Träume, dreams für die Kundschaft erbrütend: gleich wird er sich auf Zehenspitzen erheben, um den Kabelsalat zur Raison zu bringen. Ein Wetzen: das Große Gehör, auf Empfang geschaltet, verschiebt Lautsprecher – große und kleine, kreuz und quer, her und hin. Merkposten Klirrfaktor! Never forget! Etwas mehr Bass! Justierung ist alles. Das Programm, einmal eingestellt, schreibt, aber Sibla ist nicht zufrieden. Er wiegt das Haupt, kratzt sich am Kopf, lässt die Tonfolge wieder und wieder passieren: So nicht. Wie dann? Das Programm, so geduldig wie unerschöpflich, spult Varianten ab, die es gleichgültig lassen. Besäße es Bewusstsein, empfände es eine gewisse Leere. Vielleicht gähnte es dem Herrn der Töne ins Gesicht, was eine Unehrerbietigkeit darstellte und streng geahndet würde. Gut, dass Programme über kein Bewusstsein verfügen. Schon Menschen sind damit überfordert und alles in allem hat sich die Einrichtung nicht bewährt.
Was z.B. treibt Siblas Bewusstsein den lieben langen Tag? Es ist produktiv. Kitty, die ihren Beruf gern an den Nagel hängen würde, schleicht auf Zehenspitzen umher. Manchmal lässt sie etwas fallen, sie will den Plumps hören, er hebt ihr Lebensgefühl. Ein produktives Bewusstsein, auf Wochen und Monate hinaus damit beschäftigt zu verwerfen, was ihm vorgelegt wird, ist ein Tyrann. Wäre Sibla Tyrann, Kitty wäre es maulend zufrieden und ließe sich schikanieren. Ein Komponist, der sich durchsetzt, muss stark sein. Sibla ein Tyrann? Er hat bloß zu viel Bewusstsein, und das geht seine eigenen Wege. Welche das sind, ist ihr ein Rätsel, das sie nicht länger ergründen möchte. Der Rätsel sind genug geraten, wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen.
Kitty stellt sich vor, wie es ihr erginge, wenn sie Bewusstsein hätte. ›Das ist mir schon bewusst‹ gehört zu ihren stehenden Redensarten. Sibla fragt sich, während das Programm generiert, was wohl von ihrem Unterbewusstsein geblieben sein mag, dem weiblichen Underground, der so paradiesische Ausflüge erlaubte. Vielleicht wurde ein Keller draus, ein Verlies für verstockte Gefühle. Der Gedanke widert ihn an. Er schaltet ihn ab, doch das Maschinchen, es rattert weiter.
Ein Analytiker, der genügend Scharfsinn und Zeit aufbrächte, würde begreifen: Sibla komponiert Zeit. Zwar ist alle Musik Zeit (oder kostet sie, je nach Genuss), aber sein Modell funktioniert anders: Sibla gestaltet die Zeit selbst, Tempus purus, die fugitive Zeit, die man im Deutschen den Zeitfluss nennt, ohne Bett und Ufer zu kennen. Kein Wunder also, dass er große Mengen davon verbraucht. Zeit ist der wahre Stoff seiner Träume. Tief in seinem Inneren weiß er, dass er genug davon hat und schwärmt davon, sie auszugeben, während sie unerbittlich verrinnt. Gäbe es ein System der Ehrungen, das auch den stillsten Schreibtisch einschließt, Sibla wäre Held der Zeit – in Bronze, vielleicht auch in Gold, mit einem schicken kleinen Bändchen daran, dessen Sinngehalt der Erläuterung harrte. Aber während Sibla schwärmt und ihm die Zeit durch die Finger rinnt, gibt er ihr eine Form, durch die sein singuläres Leben sich im nicht weniger singulären Universum abdrückt, gewissermaßen als Hohlform seiner selbst, ein Hohl, um das herum gelebt wird, auch wenn der Anrainerkreis klein ist und keine größere Rezeption in Sicht. Sibla, seine Frau ahnt es nicht oder kaum (denn ein Spalt auf die wesentlichen Dinge des Lebens bleibt immer offen), ist der Meister des Hohls. Wie viele von seiner Sorte mag es geben? Das Geheimnis solcher Existenzen bleibt dicht, sie tragen es auf der Haut und achten streng darauf, dass es keine Löcher bekommt. Diese Achtsamkeit ist ihr Wesen, sie können und wollen nicht aus ihm heraus, denn das wäre der Untergang.
Das ist nichts Besonderes, es geschieht bei ihm alle Tage. Nun, vielleicht nicht alle Tage, aber, sagen wir: der Halbjahresrhythmus gibt das Geleit. Leckebusch schwitzt seine Bücher nicht aus wie andere, bei ihm ist das Schreiben ein geordneter Nebenaspekt der Lehrtätigkeit wie zum Beispiel das Verfassen von Gutachten oder das Konzipieren von Vorlesungstexten. Leckebuschs Gutachten, in all ihrer kristallinen Kühle, sind berühmt: es sind Mikro-Traktate, aus denen eine moralische Weltordnung spricht, gegen die gehalten das Begutachtete schnell wie der gern zitierte struppige Straßenköter erscheint. Leckebusch, so ließe sich der Vorgang zusammenfassen, bringt den Gedanken Manieren bei. Wie immer, geht dabei einiges an Substanz verloren. Anderes, zum Beispiel die Relevanz, wird auf diesem Wege erst sichtbar. Leckebuschs Gutachten sind Konverter. Man steckt einen erarbeiteten Gedanken hinein und man bekommt einen relevanten Gedanken heraus.
Liebhaber des informationstheoretischen Vokabulars könnten geneigt sein, ihn als redundant zu bezeichnen: vollgepackt mit Signalen, die an Bekanntes anknüpfen, ein kleines, die eigene Standortbestimmung erleichterndes Verweissystem, ein Who is who für bedeutsam gehaltener Vorstellungen, die einander auf frappierend selbstverständliche Weise die Klinke in die Hand drücken oder – im Gegen-Fall – sich wechselseitig die Tür aufhalten, um Zugang mit Zugang zu vergelten. Ein relevanter Gedanke verwandelt Bezüge in Beziehungen, Sachliches in Soziales, er lässt die Kraftlinien der Community aufleuchten und katapultiert seinen Urheber ins Feld mehr oder minder ertragreicher Interaktionen. Jedenfalls sollte er das, denn da sich relevante Gedanken in beliebiger Zahl erzeugen lassen, steigt die Zahl der Relevanz-Anwärter und ihrer Bedürfnisse exponentiell an, sobald ein entsprechender Markt sich erst einmal etabliert hat. Ein Könner wie Leckebusch kommt da gerade recht: seine aparte Fähigkeit, Wein in Wasser zu verwandeln, ist so gefragt, weil sie Vermittlerdienste verspricht, die gern in Anspruch genommen werden, wenn es darum geht, eigene Denkprodukte in den Markt einzuspeisen. Auch wissenschaftliche Ergebnisse sind darauf angewiesen, auf Märkten zu zirkulieren – auf Meinungs-, Überzeugungs-, Forschungs- und Zitatmärkten, auf denen gilt, was kursiert.
Die Livree
der Vernunft
Wie man
der Vernunft
Manieren
beibringt
(und dabei
Lakaien
gewinnt)
Pashalis Kypras
Leckebusch-Studien
Wenn Leckebusch ein Buch schreibt, treten die Sorgen des Alltags von ihm zurück. Mit weit geschlossenen Augen sammelt er die Geräusche der Zunft, ordnet sie, prüft sie auf ihre Tauglichkeit und bereitet sie in einer Menge kleiner Notizen auf, bis sie widerstandslos dem Dreier- oder Fünferschritt folgen, in den sich über kurz oder lang jede Gedankenmasse ergeben muss, will sie vor seinem inneren Ohr Bestand haben. Dieses innere Ohr, ein Selektionsorgan erster Güte, hört sich heraus, was... nein, nicht, was es hören will, sondern was ihm hörbar dünkt, fast wie das die Fassungskraft seines Publikums mithörende Ohr eines Komponisten, der weiß, für welche Art von Kost sein Name steht, und der darüber zu einer Art Vorkoster in eigener Sache geworden ist, ohne diesen Vorgang im mindesten zu bedauern, da er ihm im Wesen der Sache begründet zu liegen scheint. Allerdings bewegt sich das von Leckebusch betriebene Gedanken-Hören auf anderen Bahnen. Da ihm für seine professionellen Denkbewegungen neben dem bereits Gedachten immer auch die Geschichte des Denkens zur Verfügung steht, soweit sie von anderen Denkern rekonstruiert wurde, nehmen die Gedanken bei ihm automatisch eine historische Färbung an: sie werden zu Abschnitten eines Prozesses, der sich von den Vorsokratikern über Platon, Aristoteles, Leibniz, Kant, Hegel, Nietzsche in die Gegenwart und darüber hinaus spannt, vergleichbar den Gliedern einer Fahrradkette, die sich jedes Mal strafft, sobald einer in die Pedale tritt.
Das Pedal-Bild will, da auch anderweitig konnotiert, weiter bedacht sein. Alles, was Leckebusch denkt (oder als Denkmasse weiterreicht), ›hat Pedal‹, es klingt bedeutend, ohne in gleichem Umfang bedeutend zu sein. Oder, da sich so etwas nicht ganz einfach behaupten lässt: neben dem, was es besagt, bedeutet es stets auch etwas, das es besagen soll, ohne die Dimension erkennen zu lassen, in der letzteres durch einfache Worte mitteilbar wäre. Dabei besteht an einfachen Worten in Leckebuschs Werken kein Mangel. Er pflegt einen guten, nicht willkürlich mit Fachausdrücken überladenen Stil, man könnte ihn unter die verständlichen Autoren rechnen, würde man nicht genötigt, immer zugleich zu viel und zu wenig heraushören, zu viel Bedeutung und zu wenig, sagen wir, Bedeutetes, so als wohne man der Eröffnung einer endlosen Folge von Fragen bei, deren identischer Kern immer lautet: ›Und was bedeutet das?‹
Leckebuschs Bücher, eine Reihe ausgedehnter Gutachten über die Klassiker der philosophischen Literatur, gelten als Kassenschlager. Entsprechend gern werden sie zitiert. Ohrwürmer für Kunden, die ein offenes Organ für dergleichen besitzen, füllen sie den Gehörgang aus, statt, wie es doch sein sollte, die Gedanken durchzuleiten, mit denen sie sich beschäftigen. Kein Wunder also, dass Leckebusch einmal dem Wesen des Sinnes nachspüren musste, der ihm so unerhörte Einnahmen beschert. Denn davon handelt sein neuer Titel: vom Nach- oder Überhören des Gehörten, in dem das Gehörte ›allererst‹ preisgibt, was als das zu Gehör Kommende bereits im ursprünglichen Akt des Hörens anwesend ist, ja ihn ›gewissermaßen‹ erst ermöglicht. Das klingt schwieriger als gedacht, schließlich sind wir alle daran gewöhnt, auch im Weghören weiterzuhören, ein guter Zuhörer weiß, dass er manches überhören muss, um seinem Gesprächspartner folgen zu können: das mag in vielen Fällen moralisch gemeint sein, aber im Allgemeinen beschreibt es doch die unentwegt filternde Tätigkeit des Gehörs, sein Passieren-Lassen der Fülle des Gehörten, seine wechselnde Aufmerksamkeit auf Geräusche, die den, der da hört, angehen könnten, während die Welt, als akustische Kulisse, unentwegt im Hintergrund weiterplätschert. Das Bindewort ›sein‹, davon gibt sich Leckebusch überzeugt, entsteht an dieser flüchtigen Grenze zwischen dem Mitgehörten und dem Gehörten, also dem vom Gehör ins Dasein gehobenen Geräusch.
Etwas ist – was war das? – es ist ›anders‹, etwas Bestimmtes, etwas ganz Bestimmtes, dem ich nur nachgehen muss, um es zu finden, ein guter Hirte, der sich nachts aufmacht, um ein verirrtes Schaf im Gelände zu finden, nachdem er ›etwas‹ gehört hat. Der gute Hirte kennt das Gelände trotz offener Grenzen und in alle Himmelsrichtungen verschwimmender Bezüge. Das hier ist seine Welt und er findet sich blind in ihr zurecht. Genauso würde er nächtens vor den unbekannten Geräuschen einer Stadt zurückzucken, denn dort ist er: in der Fremde.
Sehr einfach: Leckebusch spart sie aus. Man versteht wenig von seiner Schreibweise, wenn man die Bilder und Wendungen nicht kennt, die er sich und seinen Lesern erspart, um zu diesen zügigen und glatten Formulierungen zu gelangen, die dem unmittelbaren Verständnis seiner Texte immer einen kleinen Widerstand entgegensetzen, so dass man als Leser ein zweites Mal ansetzen muss, um sich zu sagen: ja sicher, es steht ja alles da, aber eben nicht so, dass es einem beim ersten Lesen klar würde. Diese Eigenschaft teilen Leckebuschs Texte mit denen vieler anderer Philosophen, sie gilt gewissermaßen als Markenzeichen der Philosophie. Aber es gibt da einen Unterschied: während andere Texte einen ins Denken hineinlocken – oder es zumindest versuchen –, sperren diese ihre Leser aus, sie schneiden die Bereitschaft zum Mitdenken gewissermaßen von den Quellen ab, aus denen es sich bedienen müsste, um weiter zu kommen, so wie Leckebusch sich schreibend aus ihnen zu bedienen weiß, und wäre es nur, um die nächste Seite zu füllen.
Warum? Darauf gibt es nur eine Antwort: sie handeln von Verbotenem. »Absurd!« würde Leckebusch geschmeichelt einwerfen, »ganz absurd! Und überhaupt: es gibt keine Denkverbote in der Philosophie, es darf sie nicht geben. Das wäre Heterodoxie.« Mag sein, ›Verbot‹ ist nicht ganz das richtige Wort, niemand hindert einen Leser daran, das Umfeld eines Wortes, einer Redewendung, eines so und nicht anders vorgetragenen Gedankengangs zu recherchieren und seinem Verständnis auf diese Weise nachträglich einzuverleiben. Gehört er zur Zunft, dann versteht er ganz gut, warum Leckebusch die eine oder andere Anspielung meidet. Doch in der Regel hütet er sich, den Zusammenhang auszuplaudern. Denn das hieße, bei Strafe der Lächerlichkeit, einen Kollegen bloßstellen – ohne Not und, vor allem, ohne Beweise.
Warum? Darauf gibt es nur eine Antwort: sie handeln von Verbotenem. »Absurd!« würde Leckebusch geschmeichelt einwerfen, »ganz absurd! Und überhaupt: es gibt keine Denkverbote in der Philosophie, es darf sie nicht geben. Das wäre Heterodoxie.« Mag sein, ›Verbot‹ ist nicht ganz das richtige Wort, niemand hindert einen Leser daran, das Umfeld eines Wortes, einer Redewendung, eines so und nicht anders vorgetragenen Gedankengangs zu recherchieren und seinem Verständnis auf diese Weise nachträglich einzuverleiben. Gehört er zur Zunft, dann versteht er ganz gut, warum Leckebusch die eine oder andere Anspielung meidet. Doch in der Regel hütet er sich, den Zusammenhang auszuplaudern. Denn das hieße, bei Strafe der Lächerlichkeit, einen Kollegen bloßstellen – ohne Not und, vor allem, ohne Beweise.
Eine ganze Literatur hat sich darauf spezialisiert, all jene Wortprägungen zu stigmatisieren, in denen Hirte und Sein, Not und Sorge, die Existenz und das Offene sich am sorglich geschaufelten Grab der ›abendländischen Metaphysik‹ zur danse macabre versammeln. Nicht um von der Metaphysik zu retten, was zu retten wäre, das ganz und gar nicht, sondern um den Prozess der Aufklärung weiter zu treiben, genauer gesagt: den unvollendeten Prozess der Moderne, einen klassischen Prozess gegen Andersdenkende, ohne Richter, ohne Verteidiger, dafür mit einer voll besetzten Anklagebank und einer stattlichen Zahl von Beisitzern, trainierten Merkern, die jeden Verfahrens-Zug registrieren und dafür Sorge tragen, dass kein Ende des Verfahrens in Sicht kommt.
Leckebusch, als Denker der Moderne, ist also gut beraten, die Vorratskammern ostentativ verschlossen zu halten, aus denen er sich heimlich bedient. Warum tut er’s dann? Leckebusch ist keiner der notorischen Ankläger, eher gehört er zu den stillen Merkern im Lande, deren Hintergedanken sich auf wundersame Weise mit ihren Vordergedanken zu mischen pflegen, so dass jeder Versuch, sie wirksam auseinander zu halten, zwangsläufig in die Irre geht. Um seine Sätze spielt ein diskreter Zug, als wüssten sie etwas, das sie verschweigen, in aller Offenheit, versteht sich, denn sie haben nichts zu verbergen: sie haben nichts zu verbergen, ganz recht, sie leiten nur durch.
Wenn Leckebusch denkt, gleicht sein Bewusstsein einem Rangierbahnhof – was hereinkommt, muss auch wieder hinaus, aber in sinnfällig veränderter Zusammenstellung, so dass der eine Gedanke verkürzt, der andere halbiert, ein dritter wundersam ergänzt den Weg in die Ferne antritt. Mit bloß kurrenten Gedanken ließe sich das schwerlich erreichen, und wenn, dann nur um den Preis der Bizarrerie, als fehle dem Verfasser die Gabe der angemessenen Wiedergabe und er kompensiere diesen Mangel durch Willkür. Dadurch, dass er Versatzstücke eines anderen, allen geläufigen, jedoch mit einem Lächerlichkeits- beziehungsweise Schrecklichkeits-Index versehenen Denkens hineinmischt, aber unterhalb der Deutlichkeitsschwelle, spannt er die Aufmerksamkeit seiner Leser, versetzt sie in eine Aufbruchstimmung, die beim Weiterlesen zu gleichen Teilen verpufft und sich beständig erneuert.
Leckebusch, als Denker betrachtet, handelt nicht von Verbotenem, er handelt mit Verbotenem – unter steter Beteuerung, ein solches Verbot existiere gar nicht und alle Positionen lägen, einer fairen Auseinandersetzung jederzeit zugänglich, ›auf dem Tisch‹.
Was, nebenbei bemerkt, stimmt. Die Fraktion des stigmatisierten Vordenkers ist während all der Jahre, in denen Leckebusch umsichtig die eigene Reputation mehrt, rührig, und mehr als das: da sie die Schwachstellen ihres Meisters besser als andere kennt, hat sie stetig und umsichtig einen Großteil der Löcher gestopft, aus denen der Zeitgeist einer in Schande vergangenen Epoche tropft (manchmal auch nur das Drüsensekret des Autors).
Alles, was ›aus dieser Ecke‹ kommt, ist allgemeiner Aufmerksamkeit gewiss. Die Publikationsorte sind seriös, Pöbeleien kommen nur selten vor, die Karrieren sind ungebrochen. Dennoch... Es sind die anderen, die sich dort tummeln und durch einen gewissen Mangel an Berührungsängsten auf sich aufmerksam machen.
Dieser Mangel zeichnet sie ebenso aus wie die Stromlinie einen Leckebusch, für den sie zu den Unberührbaren zählen: während er ihre Dienste in Anspruch nimmt, möchte er am liebsten vergessen machen, dass es sie gibt. Doch das ist leichter gesagt als getan. Als redlicher Fußnotenschreiber trägt er sie dem eigenen Haupttext hinterher wie ... wie ... ein apportierendes Hündchen, das mit dem fortgeworfenen Stock im Maul seinem Herrchen nachtrottet.
– ein unverächtliches Motto für all jene Denker der Moderne, die vorurteilslos das Vorurteil pflegen, sie, das heißt ›die Moderne‹ sei uns aufgetragen wie die Pflege eines Automobils, der man sich am besten anhand eines Lastenheftes widmet, in dem penibel verzeichnet ist, was ›geht‹ und was ›nicht geht‹, also vor allem Denken als Durchgestrichenes existiert, als Nicht-Gedanke... Solche Nicht-Gedanken existieren vermutlich in jeder Gesellschaft. Sie sind unausrottbar und dauernd in Bewegung. Für jeden, der auf die Seite der frei verfügbaren Gedanken wechselt, verschwindet ein anderer im Hexenturm. Nur vereinzelt dringen Schreie oder leise Seufzer heraus.
Welche Szenen spielen sich im Inneren ab?
Besteht Folter-Verdacht?
Schließlich werden dort keine unbedarften Gedanken zusammengezogen, sondern Kämpfer, Überzeugungstäter, Rattenfänger, Kindesentführer: gefährliches Zeug, nicht leicht zu bändigen.
Der Ausschluss vollzieht sich geräuschlos. Doch das sagt wenig darüber aus, wie es drinnen zugeht. Man weiß es nicht, denn man will es nicht wissen. Dabei wäre es ein Leichtes, sich Zutritt und Wissen zu verschaffen. Wärter gibt es, aber sie ähneln kläffenden Hunden, kein ernsthafter Mensch lässt sich von so etwas abhalten, der Richtschnur seines Wollens zu folgen.
Die Wahrheit ist: es bedarf keiner Wärter. Die Wahrheit ist: was dort geschieht, dient der Reproduktion von Gesellschaft. Auf eine scharfe, wenngleich verborgene Weise sorgt der Ausschluss dafür, dass die feinen und groben Unterschiede, deren Gesamtwirkung als Gesellschaft bezeichnet wird, nicht von der Bildfläche verschwinden. Im Einzelnen ist die Gesellschaft übermächtig. Die einfache Neugier, das lockere Interesse, schließlich das erbitterte Ringen um Anerkennung: auf all diesen Wegen stößt sie ins Innere vor und krallt sich darin fest. Leckebusch zum Beispiel ist den modischen Gepflogenheiten, an denen sich die Philosophengemeinde erkennt, bis in die letzte Faser verpflichtet.
Dagegen verstoßen, eventuell sogar aufbegehren? Nie im Leben!
Aber natürlich entgeht ihm ebenso wenig wie den klügeren Kollegen, dass, angesichts der Knappheit der ›Ressource‹ Erfindung, die Nicht-Gedanken einen unverächtlichen Vorrat an Ideen enthalten, geeignet, dem, der sich ihrer geräuschlos zu bedienen weiß, Vorteile vor der Konkurrenz zu verschaffen.
Nie würde Leckebusch, ein Meister der Geräuschlosigkeit, es bis zum Äußersten kommen lassen. Es muss schon zu ihm kommen, das Äußerste. Anders geht es nicht.
Hiero, wippendes Knie, den Blick stier auf Pw gerichtet: Wir sind die wirklichen Demokraten. Vielleicht die einzigen, die die Welt hervorgebracht hat. Jawohl, die einzigen. Lach nicht. Ich weiß, was du sagen willst. Hör auf zu lachen. Ich meine bloß, wir wurden nicht in irgendwelche Luftschutz-Nächte hineingeboren. Das kannst schließlich auch du nicht bestreiten. Die ersten wirklichen Nachkriegsdeutschen sind wir.
Das ist kein Verdienst, das ist Fakt.
Wir wurden nicht zurechtgebombt wie die anderen vor uns. Wir kamen gleich ins gemachte Nest. Der Tisch war gedeckt. Die im Osten hatten einfach Pech. Wir sind die Nutznießer der Geschichte. Aber Nutznießer ist man immer nur bis zu einem gewissen Grad. Ich meine, das Leben ist mit einem noch lange nicht fertig, nur weil man an einer bequemen Stelle sitzt. Sowas kann sich ändern.
Nein, darum geht es mir nicht.
Worum dann?
Gute Frage.
In Wahrheit sind wir von den Erfahrungen der vier, fünf, sechs, sieben, acht Jahre vor uns Geborenen durch eine so ungeheuerliche Kluft getrennt, dass ich mich frage, ob wir überhaupt so etwas wie eine gemeinsame Generation mit ihnen bilden können.
Ich sehe die Sache so: Wenn sie eine Generation sind, dann sind wir keine, jedenfalls keine eigene, sondern so ein Nachklapp, ein Nachschleicher, wenn du willst, Schleicher, ja.
Das hören wir nicht so gern. Wer hört das schon gern? Niemand hört sowas gern. Aber wahr ist es doch. Es ist unsere Wahrheit. Sie hört sich beschissen an, aber man kann ihr, verdammt nochmal, versuchsweise ins Auge blicken.
… Demokraten? Wieso Demokraten? Natürlich nicht. Hat das denn jemand behauptet? Wie auch immer, ich würde ihm widersprechen. Es ist nur die Voraussetzung für das, was ich sagen möchte, wenn mich freundlicherweise mal keiner unterbricht. Also, was ich sagen will… Das ist jetzt albern, ich weiß nicht, was das soll. Ich kann auch aufhören, wenn ihr wollt.
Das klingt schon wieder trivial. Lacht ruhig, ich muss ja selbst lachen, hört mir doch mal zu. Ich weiß nicht, was daran komisch sein soll. Pw, lass die Faxen, ich finde das albern.
Also –
Die Väter sind Nazis oder Anti-Nazis. In meinem Fall anti, das ist jetzt die Gnade der richtigen Geburt, da könnt ihr stänkern, solange ihr wollt. Isso.
Also.
Die Re-Education – ein Riesen-Flop. Jeder weiß das. Nur warum, das weiß nicht jeder. Eigentlich weiß es kaum jemand.
Was soll das Grinsen? Wenn du es weiß, dann sags doch, sags doch. Ich bin ganz Ohr. Weil Psyche nicht so funktioniert? Gut, das mag wahr sein, das kann ich nicht beurteilen. Ja, ich sags doch, es kann wahr sein.
Hört mir doch einmal zu.
Es kann nicht funktionieren, weil, weil … ganz einfach … weil Propaganda reziprok ist. Erst kommen die einen, dann kommen die anderen, dann wieder die einen, dann wieder die anderen. Propaganda ist eine Kippfigur, versteht ihr? Der Gegner ist in die eigene Rede einmontiert. Er kommt mit zur Sprache, er ist immer schon mit von der Partie. Der Kampf hält ihn lebendig.
Wenn einer heute aus dem Osten kommt, ich meine jetzt: abhaut und sieht, wie es hier zugeht, dann dauert es eine Weile, bis er seinen Marx wieder herausholt und sich sagt: Also doch. Oder er lässt Marx Marx sein und sagt sich: Ist doch alles Schwindel.
Man kann das Skepsis nennen oder, im Fall der Nazi-Väter, einmal-Nazi-immer-Nazi. Das ist ganz egal. Homo homini lupus. Der Wolf frisst Kreide. So will es das System. Die Kreide braucht sich auf. Und eines Tages … eines Tages … ist sie dann weg.
Damit kommen wir der Sache endlich näher. Denn genauso gilt: homo homini deus. Der Mensch will sich und anderen Gutes tun. Zunächst einmal sich, das ist schon richtig. Doch diese Grenze, die ist nicht ... nicht besonders gut gezogen.
Ist doch klar, was das heißen soll.
Natürlich bin das nicht ich. Aber irgendwie sind sie ein Stück von mir. Sie gehören dazu.
Wenn ich mit jemandem eine Firma aufbaue und ich ziehe ihn gleich über den Tisch, dann wird das nichts mit der Firma. Also muss ich abwarten. Und während dieser Zeit bin das Ganze, die Firma und die Interessen des anderen, eben auch ich.
Also –
Der Wolf frisst Kreide. Er ist gar kein richtiger Wolf mehr. Ein Engel auch nicht gerade, aber den brauchen wir hier nicht. Den lassen wir in der Schublade. Der Wolf ist kein Wolf mehr, warum? Das ist der Punkt, auf den ich hinaus will.
Weil er seine Familie nicht beschützen konnte.
Das mit dem Vaterland ist ja eine kitzlige Größe. Vaterländer bestehen sozusagen aus Siegen und Niederlagen. Da herrscht so eine Art Pulsieren, in das der Einzelne mit hineingezogen wird. Aber was ihn dabei presst oder weitet, das ist doch nicht er selbst, und wenn so einer erstmal kapiert hat, dass er sich von Verbrechern in die Scheiße hat reiten lassen … also da fällt der Abschied vom Vergangenen nicht so rasend schwer, möchte man meinen.
Es sei denn … ja, gleich … man leidet an einer Art Komplizen-Syndrom. Sowas gibt’s natürlich, die Gründe liegen ja auf der Hand. Und dann ist da ja noch Auschwitz, jetzt als Kürzel genommen.
Aber die Familie – das ist er selbst. Der Bombenkrieg, die Vergewaltigungen im Osten, die munteren Fräuleins im Westen, auch die, natürlich, darüber muss man schweigen.
Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.
Ein erfolgreicher Nachkriegssatz.
Auch darüber muss man schweigen.
Wer quatscht, stört.
Also: der Wolf ist nicht länger Wolf. Er löst sich auf, ein paar Hardcore-Typen ausgenommen, die geben dann die Bosse. Ja, richtig, in Afrika passiert sowas auch, jedenfalls zum Teil, Vietnam, Laos, Kambodscha, was weiß ich, frag doch den Scholli, der kennt sich da aus. Das passiert überall, wo sowas … geschieht.
Also –
Wir sind keine Zeugen der Niederlage, wir sind ihre Kinder. Wir wurden in Freiheit geboren. Mach deine Witze, wahr ist es doch. Wir sind frei geboren, sind wir das nicht? Die Familie hat man notdürftig repariert, Betonung auf Notdurft, die Häuser stehen wieder, im Schutt dazwischen spielen wir Indianer und Cowboy, die Ratten vermutlich auch, aber die fragt ja keiner. Die Erwachsenen lesen wie die Blöden Camus, warum, fragt auch keiner. Warum? Das weiß doch jeder.
Die Ratten, erst drinnen, dann draußen, tolle Metapher, versteht jeder. Aber wie kann es sein, dass wir den Arzt, ich meine, haben wir den übersehen? Wie schön, dass wir jetzt die Geschichte aus seiner Sicht, ich meine, das baut doch auf, oder? Soviel zu den Erwachsenen.
Jetzt zu uns. Krieg, Nazis? Sowas gibt’s doch gar nicht. Wir wissen nicht, worüber sie reden, wir wissen nicht, worüber sie schweigen. Wir wissen es nicht, es hat keine Realität, es existiert nicht, es ist nichts für uns. Das meine ich. Es ist nichts für uns.
So geht das Spiel. Wer will so etwas spielen?
Meine Schwester gehört schon zu den Erwachsenen. Komisch, dabei ist sie ein Kind, fast wie ich. Sie war dabei. Wenn einer von uns den Mund aufmacht, gibt’s eins drauf: er weiß nicht, wovon er redet. Was weißt denn du? Selbstredend erfahren wir nichts, außer in Andeutungen, die keiner versteht.
Auf der Penne ändert sich das. Schön langsam, unter grotesken Verrenkungen. Aber den Alten kann man damit nicht kommen.
Die Schule, das sind die anderen. Was wissen denn die? Natürlich wissen sie, aber sie werden sich hüten, es auszuspucken, man selbst hütet sich doch auch. Das ist schließlich kein Stoff, den man an Kinder ›vermittelt‹, allenfalls ganz vermittelt, ganz entfernt, abgerissen, außer jedem Zusammenhang.
So sieht es aus.
Wir haben die Freiheit, wir wissen nichts. Nescio ergo sum. Das meine ich, wenn ich sage, wir sind die Kinder der Freiheit.
Also –
Wir haben uns nicht gegen die Familie entschieden. Die Familie hat sich entschlossen, uns ihre Geheimnisse nicht zu verraten. Sie hat sich gegen uns entschieden. Darüber ist sie zu Grunde gegangen. Jawohl, zu Grunde. Statt der Geschichte auf den Grund zu gehen, haben wir die Erzählung anstandslos angenommen, die wir bekommen konnten. Ich sage ja nicht, dass sie falsch war. Sie war nur allgemein. Die Medien haben uns gemacht, komplett, mit Innenleben und allem, natürlich nicht vollständig, sowas gibt’s nur in der Science fiction oder in irgendwelchen Psycho-Camps der CIA, ich meine damit eher, sie haben uns in Stellung gebracht. Der Vater war entweder Widerstandskämpfer oder dabei. Also fast immer: dabei. Der eine zu groß, der andere zu klein, Held oder Arschloch, dazwischen nichts. Zu uns ist keiner nach Hause gekommen, für uns sowieso nicht. Was ich damit sagen will? Ich sage nur:
Die ›Mauer des Schweigens‹, erinnerst du dich? Natürlich erinnerst du dich, ich weiß gar nicht, was das jetzt soll. Also ich komme dir jetzt weit entgegen, ich rekonstruiere die allgemeine familiäre Situation damals, ich will jetzt nicht vergleichen, wo es nichts zu vergleichen gibt, das wäre ja … danke, du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Verbindlichsten Dank. Sehr hilfreich. Ich kann auch abbrechen
Also –
Die Geschichte ist die Geschichte. Wir sind in die Geschichte hineingeplumpst wie … wie die Sperlinge. Jeder hat sich aus ihr herausgepickt, was ihm geschmeckt hat, obwohl das Ganze überhaupt nicht geschmeckt hat.
Wir sind keine Leute, die erst überzeugt werden mussten. Ich meine jetzt: innen. Ist der Unterschied wichtig? Ich denke schon.
Verdammt, jetzt habt ihr mich durcheinander gebracht. Ich wollte etwas über die Mütter sagen:
Zwangssolidarisch.
Blödes Wort, ich weiß das selbst,
Spuck’s aus, wenn dir was besseres einfällt.
Übrigens mit beiden Seiten. Also zerrissen.
Was das jetzt wieder bedeutet?
Ich weiß es noch nicht, aber ich werd’s herausfinden.
Die Familie ist in den Müttern zu Grunde gegangen.
Wie? Das weiß keiner. Das ist ein Geheimnis.
Du solltest dich schämen. Hört auf.
Ihr solltet euch alle schämen. Apropos:
Der Väter schämt man sich öffentlich,
Der Mütter schämt man sich im Geheimen.
Jetzt ratet mal, welche Scham mächtiger ist.
Ich? Nein. Ich schäme mich nicht. Warum?
Die Kinder der Freiheit: Sind sie frei? Sind wir Freie? Und wenn schon: Wären wir imstande, sie weiterzugeben? Warum frage ich das? Weil wir hochnäsig sind. Unwissend hochnäsig.
Es könnte sein … es könnte sein … was könnte sein? Dass wir unsere Freiheit längst verloren haben. Um ein Linsengericht.
Und an wen? Sie nennen sich Achtundsechziger. Wir nennen sie Achtundsechziger. Wir benehmen uns, als ob wir, kritisch gestimmt natürlich, zu ihnen gehörten, nein, als ob wir dazugehörten, obwohl wir es besser wissen sollten. Es ist aber nicht wichtig. Wir sind, mit Brecht gesprochen, das, was nachkommt: nichts Nennenswertes. Wir sind ihr nicht Nennenswertes.
Sie könnten sich auch Hundertsechziger oder falsche Fuffziger nennen. Es liefe auf dasselbe hinaus.
Tatsache ist: Wir sind nicht frei.
Wir sind gefesselt in Gedanken, Worten und Werken. Bricht einer heraus aus der Wand aus Schweigen, die ihren Auftritt umrahmt, dann stürzt er ins Leere. Jeder weiß das. Jeder richtet sich danach. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Ein Automat. Nicht einmal die Träume … sind frei. Jeder von uns wäre bereit zu schwören, dem sei nicht so. Ach was schwören: er würde die nackte Wahrheit lächelnd ins Reich der Unterstellungen verweisen.
Ich fürchte, ich fürchte … wir werden die Freiheit nicht weitergeben, weil wir, weil wir nur ihren Schein genießen.
Nur ihren Schein… Ihr wisst, was das bedeutet. Der Schein der Freiheit, das ist … alles zu tun, was erlaubt ist. Fragt sich, wer hier erlaubt. Wir leben zwischen Gespenstern, die uns Erlaubnisscheine ausstellen, auf denen in allen Regenbogenfarben steht: Genieße! Wir können uns gar nicht vorstellen, dass es eine Welt außerhalb dieser Schein-Welt gibt.
Doch: Wir halten sie für die Welt der Unfreiheit und schaudern vor ihr zurück.
Der Rektor blättert.
Vor und zurück. Zurück und vor.
Etwas dick geraten, das Ding. Ein Wälzer.
Er muss auch gleich ins Büro.
Warum kommen diese Schriftsteller nicht auf den Punkt?
Wer liest dieses Zeug überhaupt? Wer kann sich das heute noch
leisten?
Bücher sind von gestern, orakelt Agosch. Da ist was dran.
Leckebusch legt gerade sein neues Buch vor. Du wirst ihn wohl
einladen müssen. Zum Glück schreibt er keine Romane. Obwohl –
Kommschon, kommschon, kommschon. Wo bleibt die Stelle? Jetzt
eine kleine Suchfunktion drüberlaufen lassen und sie wäre da.
›Atavistisch‹ nennt Dürrobst das. Recht hat er.
Seltsam, warum wildert ein Schöngeist in den Naturwissenschaften?
Fällt ihm nichts Eigenes ein? Dieser Titel! Kulturelle Aneignung
heißt das wohl. Appropriation unter falscher Flagge. Wie viele arglose
Zeitgenossen fallen auf so einen Titel herein? Viele, wenn er der
Bestsellerliste trauen darf.
Man sollte Feuilleton-Rezensenten auf exakte Stellenangaben
verpflichten. Verlotterte Existenzen … wer hat das gesagt? In
meiner Stellung muss ich mir sowas versagen.
Andererseits: wer liest schon hauptberuflich Romane? Muss ein
ziemlich verzweifelter Job sein.
Kühe, Kühe, Kühe … kommschon …
Kühe, Kühe, kommkomm, meine Zeit ist um, da wird das verfluchte
Wort doch wohl … da. Nein, doch nicht. Wieder von vorn! Nein, doch
eher hinten. Komische Tätigkeit, dieses Blättern. Lange kein Buch
in Händen gehabt. Muss spannend sein, all das Zeug zu lesen.
Hélène, Marie, Chloé. Robeeer. Und wieder Hélène. Kommt zur
Sache, Kinder! Gleich … gleich…
Kühe. Da steht es. Unterstreichen, Zettel rein. Muss los.
Der Rektor ist nicht der einzige.
An diesem MoMorgen blättern, von Kufstein bis Flensburg, Tausende
nach einem Wort. Die MaMacht des Feuilletons bewirkt Wunder.
Wunder der Intonation gibt es, an die kein Gedächtnis heranreicht. Flatus, das gesprochene Wort, ist immer auf und davon. Nur in den Gehirnen steht es: unverbrüchlich für ein paar Stunden. Dann kommt ein anderes daher und ersetzt es.
Die Tradition des Dazukaufens hat sich bewährt. Was kein heimischer Romancier hinzuschreiben wagt, das besorgen andere. Westlich des Rheins ist die Luft klarer. So müssen Übersetzer das Werk des Tabubruchs vollbringen, auf den der rebellische deutsche Schriftsteller mit der Muttermilch abonniert ist. Und wenn sie Glück haben und wenn sie Spaß haben und wenn sie gut sind und wenn das Feuilleton mitspielt, dann … genießt ein Pariser Zampano den Erfolg.
Die sexuell befreite Frau – ein Tabu. Nicht was sie treiben, ist das Ärgernis. Was dann? Wo dann? Der Erfolgsschriftsteller hat sich umgeschaut. Man hat ihn, Gott Mammon sei es geklagt, in die touristische Küche vordringen lassen, er hat die Deckel der Töpfe gelüpft, unter denen das wahre Leben der anderen brodelt, als bereite ein Supervulkan seinen lange angekündigten Ausbruch vor. Er hat auch ein wenig vom Backwerk genascht, das ist wahr. Wie anders sollte Monsieur Éclaireur auch erschmecken, was sich da draußen zusammenbraut? Der Dichter hat einen ledernen Gaumen. Den richtigen Appetit muss einer schon mitbringen, wenn hoch über dem exotischen Ferienparadies die Landeklappen ausgefahren werden und die menschliche Fracht von Bord geht. Die Rolle des Kundschafters besitzt viele Vorteile. Insbesondere dann, wenn er gewillt ist, als Beobachter zweiten Grades an den Schreibtisch zurückzukehren.
Warum so ironisch? Führt hier ein klitzekleines Neidgefühl die Zunge spazieren? Apropos Zunge … die spitzeste aller professionellen Zungen hat sich des ›Plots‹, wie sie schreibt, angenommen und findet ihn … sahnig, Sie haben richtig gelesen, sahnig, sie wünscht eingedenk der Verlagstentakeln, die bis in die Redaktion reichen, allen ihren Leserinnen einen Intimspaß mit Kühen, braunen und gefleckten, soviel Entspannung muss sein. Da schmunzeln die zeitunglesenden Herren an ihren Frühstückstischen, schlagen ein Ei auf und freuen sich auf das Gelbe. Der Kerl hat’s geschafft. Ein Alpha-Typ, keine Frage, den Trick muss man sich merken.
Die Frau des Rektors ist etwas genervt. Sie schnappt sich das Buch, verschwindet unter die noch warme Bettdecke und beginnt zu lesen.
Die Augen gingen ihr über.
Scheißkerl.
Es macht…
Es macht schon einen Unterschied…
Es macht den Unterschied, wie man ins Leben der anderen
vordringt…
… ob mit den Mitteln des Geistes, der Beobachtung aller Fäden,
die sich von dir zu diesen da spinnen und zusammen ein
sympathetisches Band erzeugen, oder mit dem entschlossenen Grimm des Sammlers, der
einer ersten, zweiten, dritten Enttäuschung folgt, als sei sie das Schlüsselelement
aller Erkenntnis, sorgsam das verfügbare Zeitquantum überwachend,
weil sich sonst die Sache nicht auszahlt … auch hier also die
Sache, aber eine radikal andere: die Sache des schnellen Geldes,
das sich zwischen ihn und die Menschen drängt und nur einen Effekt
gelten lässt: So isses.
Wer das So isses fest im Auge behält, der kann auch von der Beobachtung leben. Schließlich will er leben, nicht anders als die Opfer seines Reptilienblicks, möglichst nicht zu knapp, denn auch hier treibt der Erfolg den Erfolg. Dafür bedarf es der Proselyten. Wenn es eine Aufgabe gibt, die der Berufsschriftsteller nicht aus dem Blick lassen darf, dann diese: sich seinen Proselyten-Anteil, genannt ›Lesergemeinde‹, aus dem Kuchen der Großen Allgemeinen Leserschaft herauszuschneiden und in Treue fest zu bedienen – usque ad infinitum.
Das gute Buch | Die Große Allgemeine Leserschaft besitzt nur geringe Neigung zu belletristischen Werken. Was im beginnenden Kybrium vom alten Lesefieber übriggeblieben ist, starrt gebannt auf die unverhofft ergrünende Wüste Information. Auch sorgsam gepflegte langjährige Autor-Leser-Beziehungen wandern da leise seufzend in den säkularen Orkus. Nüchtern betrachtet stellt allein das diffuse, durch keinerlei Kirchen-Aktivitäten abzudeckende religiöse Bedürfnis der Epoche die psychischen Rest-Energien zur Verfügung, die es braucht, um sich von einem Buchdeckel zum anderen vorzuarbeiten, bei der Stange gehalten praktisch nur durch den ermüdenden Rhythmus opulenter, das Alltagsvolumen sprengender Beobachtungssätze. Wer im informationellen Überfluss lebt, erwartet vom guten Buch nichts. Voilà, da haben wir das religiöse Bedürfnis. Das Gros der rapide schrumpfenden Käuferschaft hingegen benötigt, als klassische Dreingabe, ein stilvoll verpacktes Geschenk. |
Wie jede Gemeinde verlangt auch die des Berufsschriftstellers nach Erleuchtung: K verstört. Wie er verstört, erklärt sich aus dem Charakter der Rituale: nicht zu knapp, nicht zu sehr, nicht zu ungewohnt, das Gewohnte soll überwiegen, denn es garantiert den Lesespaß pur. Wie schön, sich einmal pro Jahr an der Hand nehmen zu lassen: So sehe ich das auch. Die Welt hat sich gedreht, aber auf den Autor ist Verlass. Vielleicht komme ich dieses Jahr nicht dazu, ihn zu lesen, ich habe so viel um die Ohren, es verlangt Sammlung, sich auf seine gewohnten Vorzüge einzulassen, aber das Buch … das gute Buch… Da steht es im Regal und wartet auf ruhigere Zeiten.
Der Rektor weiß von keiner Lesergemeinde. Sein Gemüt ist, was diese Dinge angeht, a blank sheet of paper. Den Ausdruck kennt er und entblößt lachend das Gebiss.
Das mit den Kühen ist etwas anderes.
Iris, den Kopf am Hörer, notiert. Was sie notiert, geht nur sie und die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung etwas an, eine Stimme, die durch und durch zu gehen scheint, nicht schreiend, aber erhitzt, ja, so kann man es sagen. Die Frau des Rektors ist echauffiert, ihre Tochter hat sie bereits rebellisch gemacht, nun scheint sie die Pyramide in Wallung bringen zu wollen (… obwohl, Iris bleibt auch in dieser Situation die Ruhe selbst). Was sie sonst noch planen mag, wissen die olympischen Götter. Etwas Junonisches haftet ihrem Auftritt an, als habe sie IHN bei seinem neuesten Seitensprung in flagranti erwischt. Doch diese Sache liegt tiefer, sehr viel tiefer, sie geht an die Wurzel aller Seitensprünge. Der bekannte französische Schriftsteller (›Phrasebecque‹?) hat den Kónsens aufgekündigt und da geht er dahin. Welchen Kónsens? (Die Betonung hat sie, nach längerem Sträuben, denn sie stammt aus bildungsbürgerlichem Haus, von ihrem im Niederwalzen kleinlicher Bedenken geübten Gatten übernommen.) Natürlich den Kónsens der Geschlechter, der darin besteht … worin eigentlich? Dass Lust Lust ist und weibliche keinen Deut weniger wert als männliche, in welchen Formen sie sich auch zeigen möge. Für diese Auffassung hat sie ihr bewegtes Leben lang gekämpft und fest daran geglaubt, in IHM, dem Genossen der ruhigeren Jahre, einen Glaubenspartner gefunden zu haben, der auch zu kämpfen weiß, wenn einmal die Zeit gekommen ist und die Reaktion marschiert.
Die viehische Entdeckung gibt ihr zu denken. Alles nur Pappmaché? ›Vernuttung eines Geschlechts‹? Kühe … Vision einer von Kühen bestampften (denn von ›beherrschen‹ kann da ja wohl nicht die Rede sein) Welt. Der … Froschbeck und seine liebedienerischen Rezensentinnen sollen sich ihren Kuhmist sonstwo hinstecken, aber in ihrer Welt… Wie durchseucht ist die Pyramide eigentlich schon…?
An dieser Stelle unterbricht Iris sanft:
Irene ist wach. Überwach. Und kein Friedensengel.
Nein, das ist sie nicht.
Der Kónsens ist zerbrochen.
Spitzenautoren wie Kneesebecq sind darauf fokussiert, der Welt ein neues ›Non!‹ zu schenken. Seit den Tagen Voltaires ist DAS NEUE NON! die Weise, sich als Autor der Menschheit, soweit sie des Lesens mächtig und willens ist, diese Fähigkeit zu betätigen, zur Kenntnis zu bringen, sich ins Menschheitsgedächtnis einzuschreiben, wie Duro das nennt. Schriftsteller haben die neue Lust ausgerufen (Non! zur Triebrepression), die neue Unlust, den alten und neuen Adam, hinter- und durcheinander, DIE FRAU (Non! zum Weib), das androgyne Zeitalter (Non! zum ›fixen‹ Geschlecht) und das Veralten der Heterosexualität (Non! zum Homme à femmes). Doch keiner hat es bisher geschafft, die Sanftheit des neuen Geschlechterideals so unverschämt zu denunzieren, dass er dem Idealbild vollkommener Verblödung damit neue Gläubige erschlossen hätte, während der Rest der Leserschaft sich feixend die Hand vor den Mund hält.
Das geht natürlich nur, weil jedes Exemplar seines Buches das androgyne Konterfei seines Autors auf dem Einband trägt.
Das Medium ist der Autor
Der Autor ist die Botschaft
Was bedeutet Knisterbecks Non!?
Schwer zu ergründen, warum der Rektor sich seiner an diesem Morgen bemächtigt. Unruhe hat ihn gepackt, ein Aufbruchsrumoren, als sollten die alten stürmischen Zeiten seines Lebens noch einmal anbrechen, als falle der unscheinbare Niederschlag vieler Jahre urplötzlich von ihm ab, doch wenn er darüber nachdenkt, dann ist es kein privater Rumor, vielmehr einer, der sich gegen den Zustand der Welt richtet, an deren Schaffung ›an vorderster Front‹ mitzuwirken er sich immer verpflichtet fühlte. Something went wrong. Sein Verhältnis zu Frauen war und ist chevaleresk. Im Laufe seines Lebens hat er ihnen so viele Türen aufgehalten, dass ihm dabei vielleicht aus dem Blick geriet, wohin diese Türen letztlich führten. Was für ihn gilt, das gilt vielleicht auch für die Frauen, die einen Tick zu eilfertig den plötzlich im Raum stehenden Einladungen Folge leisteten, verführt durch die Animationskünste der Medien, das Dauergespräch über Machos und neue Männer und Alphas – oder, je nach Kreis und ideologischer Bindung, die Abwesenheit eben dieser Themen, denn der menschliche Zirkus ist groß und unübersichtlich und die Künste der Beleuchter übertreffen alles jemals Dagewesene.
Irene hingegen wittert den Betrug. Dass der Fortschritt, das kostbarste Gut ihrer Lebensjahrzehnte, sich wie ein welkes Blatt vom Zweig lösen und langsam zu Boden trudeln könne, das, ja das … hätte sie sich nicht träumen lassen. Vor allem, dass dieser Vorgang geradewegs im Gehirnkasten ihres Gatten stattfindet, lässt die Lebensgeister aufschäumen. Iris, die Freundin, hat ihr viel über das Projekt erzählt, Starkes und weniger Starkes, doch die Bilanz ist, alles in allem positiv. Das Verhältnis der Geschlechter kommt voran. Hier, am Ende der Straße, wartet der Mülltransporter: das ist eine Provokation ohnegleichen und bedarf energischer Gegenmaßnahmen. Sie hat schon in der Buchhandlung angerufen und eine Plakataktion angekündigt, falls nicht stante pede – an dieser Stelle legt die Buchhändlerin eine kleine Hörpause ein – das Buch aus dem Schaufenster verschwindet. Jetzt lässt sie sich mit dem Direktor des Kulturzentrums verbinden – denn diese Sache geht ins Volk – und lässt sich für einen Vortrag im laufenden Trimester buchen:
Er hat richtig gehört. Die Sache duldet keinen Aufschub.
Man kann nicht sagen, die Ehe zwischen Irene und dem Rektor sei ein Kompromiss.
Man kann alles sagen.
Kompromiss bedeutet Verzicht.
Die Ehe zwischen Irene und dem Rektor ist eine Zugewinngemeinschaft.
Für den (seinerzeit noch aufstrebenden) Rektor bedeutete Irene einen Reingewinn. Mit eiserner Disziplin deckt sie den Bereich Kultur ab, für den er von Haus aus nicht zuständig ist.
Für Irene war der (seinerzeit noch aufstrebende) Rektor ein Langzeit-Investment. Du siehst, es hat sich ausgezahlt.
Ohne Kultur kein Aufstieg, ohne Aufstieg keine Kultur, jedenfalls keine, über die zu reden sich lohnte. Irenes durch allerlei kleine Zuwendungen geschaffenes Imperium, das sich kreuz und quer durch die Ruhrstadt schlängelt, bleibt selbst für den Rektor, der nie begriffen hat, auf welcher Woge gönnerhafter Zustimmung er seit Jahren daherschwimmt, undurchschaubar. Vom Typus her ist er selbst zu spontan Gönner, als dass er sich vorstellen könnte, sein von Selbstzufriedenheit strotzendes Ego-System ruhe, wie Venedig auf seinem Unterwasser-Pfahlreich, auf der unermüdlichen Freundschaftspflege seiner Frau auf. Dreimal am Tag könnte ein falscher Freund ihm reinen Wein einschenken und die befremdliche Botschaft würde ihm auf der Stelle wieder entfallen. Am richtigen Fleck kann auch Vergesslichkeit ein innerer Wert sein.
Der Rektor hat den Wert am richtigen Fleck. Auf diesen Wert hat Irene gesetzt.
Er ist feist geworden, der Gute. Irene hingegen, die charmante Blondine, ist noch immer sehenswert, auch wenn die tägliche Verweildauer vor dem Spiegel mittlerweile episch genannt werden darf.
In ihrer Ehe ist Verzicht ein Fremdwort. Selbst auf die einzige Tochter haben sie seinerzeit nicht verzichten wollen.
Und es ward ihnen aufgetan.
Du musst durchs Sündenbewusstsein durch, um aufgenommen zu
werden.
Sei die Charmante unter den Kämpferinnen.
Wenn ich es richtig mache, was geht’s die anderen an.
Wer durch diese Tür geht, ist bereit zum Verrat.
Was rechtfertigt den Schritt? Verrat.
Rechtfertigt Verrat Verrat?
Gleiches mit Gleichem.
Irene drückt die Tür zum Paradiesgärtlein auf. Eine
Filmgebärde.
Die Blicke der Freundinnen leuchten auf.
Don’t be an idiot. Don’t join the gang.
Blick nie zurück.
Vic zerlegt das ›ä‹ in ›Männer‹ und lässt die Zunge über das künstlich geschaffene Hindernis hüpfen … Ma:enner sind tabu.
Die Schlange zu deinen Füßen. Mein Gott, wie lang ist das Teil?
Zitternd kriecht Willi aus Victorias Bluse.
Flight 5-0-7. Flight 5-0-7. Passengers please proceed…
Vic weiß noch nicht, wo sie ansetzen soll. Keine leichte Situation für eine Wissende. Gern ließe die stadtbekannte Schwester des weltberühmten Schriftstellers für einen Moment nur die Maske fallen, die MASKE (sie hat sich angewöhnt, in ihren Schriften alle Wörter, auf denen ›ihre‹ Botschaft ruht, in VERSALIEN auszuführen) einer Führerin der Verwirrten Frauen (VF), unter deren Blick sich die verworrensten Verhältnisse glätten, bis nichts weiter an sie erinnert als ein zurückgebliebener Tropfen Herzblut, aus dem sie den Sud immerwährender Rachsucht gewinnt: nadelkopfgroß, aber hochwirksam. Auf ihrem häuslichen Spiegel steht, schwungvoll hingemalt: KUHDOKTRIXX (mit Doppel-X, um den genetischen Fakten Rechnung zu tragen). Neben der Garderobe, aufgeschlagen, ihr Buch: Die LIEBE zum MA:ANN ist HEILBAR. Die FÜLLE der VERSALIEN weist DEN WEG. Geh ihnen nach und DU findest DICH. Bist DEIN DU DU, BIST DU das BIEST.
Noch Fragen?
Vic nennt Conni DIE MARSCHALLIN. Das Ding mit Duro imponiert ihr WIDER WILLEN. Sie schreibt darüber EIN BUCH. Davon weiß Conni nichts.
An der Tür steht, mit Kugelschreiber halb ins Holz geritzt:
Lust Conni Niemand zu sein unter soviel / Koniferen
Es ist nicht das einzige Gekritzel. Darunter steht:
Rettet das Problem!
Auch eine dankbare Künstlerhand findet sich.
Conni auf Beobachtungsposten. Irene, findet sie, begeht den Fehler ihres Lebens. Doch dieser Fehler, das spürt sie, muss sein.
Irene muss das innere Biest nicht entfesseln. Ihre Wut ist ansteckend.
Was Conni verschweigt: Sie hat bereits versucht, den berühmten Autor zu buchen.
Vic bereitet einen Lichtbildervortrag vor: Die wunderbaren
Kühe.
Jetzt hebt sie ab.
Vic hasst TROPEN. Die Entfesselung des Biests kann nur gelingen, wenn die Bilder schweigen. Eine Kuh ist eine Kuh ist eine Kuh und keine Metapher. Der MA:NN stiehlt das Kuhsein: das warme ruhige, beständige Beisichsein des sich selbst genügenden KO:ERPERS. Eine Kuh ist mächtiger als jeder Reiz. Das KONZEPT ›Landschaft mit lila Kühen‹ nimmt dem Kuhsein die RADIKALE WU:ERDE. LANDSCHAFT ist MA:ENNLICH. SPRENGE das Bild. SETZ DICH in die MITTE des Bildes und lass es PLATZEN.
Unauffällig mustert Irene ihre Figur.
Wann war ihr letztes Forschungssemester?
Ein Rektor ist doch bloß ein Verwaltungsbeamter.
Des Dozenten Gesichtsmuskeln, durch die Frage gespannt, eine Projektionsfläche erster Güte: was wäre, wenn er jetzt ein wenig in Wallung geriete ... oder ins Stottern ... oder ins Vordenken... Man kommt, als Student, nicht oft in die Pyramide, da will man Schauspiel, am besten pur. Der Dozent pflegt die mäandernde Rede, das wissen sie schon.
Sehen Sie, was hier passiert? Den einfachen Negator können Sie in der Pfeife rauchen. Er sagt Ihnen nichts, das Durchgestrichene blickt überall durch, es ist die Botschaft, nach wie vor. Dieses Durchgestrichene, das überall durchblickt, nennt man in zivilisierten Kreisen Tabu. Ich erwähne das deswegen ausdrücklich, weil die zivilisierten Kreise es vorziehen, vom Tabu zu reden, als sei es ein Charakteristikum primitiver Kreise, früher sagte man: der Primitiven, aber das ist natürlich tabu. Sie streichen also die Ordnung durch, die überall durchblickt. Ich verstehe: Sie wollen keine Ordnungsfanatiker sein, Sie sind aufgeklärt. Ordnungsfanatiker streichen das ›un-‹ durch, den Negator, sie wollen es positiv und denken dabei unentwegt ans Negative. Wundert uns das? Natürlich nicht. Aber beantworten Sie mir doch die kleine Frage: Was ist nun tabu? Die Ordnung? Oder die Unordnung? Sagen Sie bitte nicht: dem einen dies, dem andern das. Das wäre nun wirklich primitiv. Wir alle sind Ordnungsfanatiker – Sie, ich, der ganze Haufen, Sie werden keine Stecknadel darin finden. Lesen Sie die Schriften der Anarchisten und Sie wissen, was ich meine. Glasklare, perlende Prosa, ein Gedanke klüger als der andere, ein Gedanke stimmiger als der andere, der reinste Ordnungszwang, und er kehrt sich, wie immer, am Ende gegen die Realität.
Nach der Pause reden wir weiter.
»――«
»――«
»Um Kopf und Kragen.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Wovon redet ihr?«
»Lasst uns weitergehen.«
>»Um auf dieses Bild zurückzukommen –«
»Ja?«
»Es entstand nach einem Schlaganfall des Künsters.«
»Ist das wichtig?«
»Steht im Katalog.«
»Ich mag solche Darstellungen nicht.«
»Ich frage mich, was es darstellt.«
»Egal. Es ist grausam.«
»Das Bild oder die Sache?«
»Was ist die Sache, wenn es doch ein Bild ist?«
»Frag mich nicht. Irgendwas mit Sklaverei.«
»Ich verstehe Bahnhof.«
»Ich denke, er hat sein persönliches Trauma gemalt.«
»Das sieht man.«
»Wirklich?«
»In der Regel tritt Verlustangst ein, ist der Verlust erst einmal unumstößlich geworden.«
»Sie wollen sagen…«
»Ja, das wollte ich.«
»Versteh ich nicht. Wo ist Kansas?«
»Kansas ist überall.«
»Auf dem Bild…?«
»Wo sonst.«
»Und der Verlust?«
»Unumstößlich.«
»Wann?«
»The Civil War never ends.«
»Noch so ein Paradox.«
Aus Träumen herauftauchend, eine Aufgabe festhaltend, die sich zum Gedanken einerseits, zum Bild andererseits verfestigt, ohne schon zu verfestigt zu erscheinen. Auch bleibt es ungewiss, ob das, was da als Aufgabe heraufdämmert, als deine Aufgabe begriffen werden soll oder als eine, deren Ausführung, durch wen auch immer, in den Raum gestellt wurde – was ihre Dringlichkeit keineswegs geringer, nur eben anonym werden ließe: diese Aufgabe knüpft sich auf unbegriffene Weise an die Zahl vierundzwanzig, genauer, an das Bild oder die vage bildhafte Vorstellung, an der das Meiste assoziiertes Gefühl bleibt, von ebenso vielen, vorerst leer blickenden Rahmen, die den Halb-, Viertel- und Nicht-mehr-Schläfer durchgeistert. Was die Aufgabe angeht, so lässt sie sich leicht formulieren, obwohl du das immer wieder hinausschiebst, vielleicht, weil es dir vorkommt, als gerate das Formulieren hier leicht auf Abwege oder decke mit kräftigen Lettern gerade das zu, was gesagt werden müsste, um dem Erträumten gerecht zu werden. Doch in Wahrheit bleibt es wie alles begründungslos.
Vierundzwanzig Bilder, lautet die Aufgabe, hätten das wechselnde Antlitz einer – dir übrigens unbekannten – Person vorzustellen, die, aus ihrem Alltagsleben herausgeholt, auf eine kurze, lange Reise in den verordneten Tod geschickt wird
der ›sie erwartet‹, wie man so sagt, mit einem jener rätselhaften Ausdrücke, die sich um diese grausigen Prozeduren gebildet haben, während es doch so ist, dass sie ihn erwartet, aber so, wie ihn Menschen erwarten, wenn sie genötigt werden, die Spanne zwischen zwei Ungewissheiten auszufüllen, ohne dass es etwas zu tun gäbe, in dem sie Vergessen fänden oder auch nur die Art von Ungewissheit, die dem Leben, dem einfachen, wirklichen Leben gemäß wäre, weil es nun einmal ist, wie es ist, selbst dann, wenn jemand unter die Räuber und Vergewaltiger fällt.
Vierundzwanzigmal also das Schweißtuch der Veronika, abgenommen einem jungen, seiner Auslöschung entgegenreisenden Mädchen, dessen Traumnamen du vergessen hast, was seltsam ist, weil der Traum ihn eigens herbeischaffte, als sei da noch etwas ausgespart geblieben, das um keinen Preis ausgespart werden durfte, während das Gesicht –
Ganz einfach, könntest du dir sagen: 6 x 4, das Problem des Würfels, der in die Ebene drängt. Doch so einfach lässt das Problem sich nicht aus der Welt schaffen. Warum auch. Ein Problem hat ein Recht zu existieren, etwa wie ein Mensch, ein Baum, ein Vogel, ein Rosinenhügel oder, deinethalben, ein Rosmarinstrauch. Das Problem des vierundzwanzigmal leeren Rahmens lässt sich schwer formulieren, die Frage, warum es existieren sollte, nimmt daher ungebührlichen Raum ein, eine Zeitlang kommt es dem Viertel- oder Achtelträumer so vor, als bestehe Deckungsgleichheit zwischen Problem und Frage, doch schon schiebt das Problem sich wieder nach vorn, leer, wuchtig, wenn er nicht aufpasst, erschlägt es ihn vor dem Aufwachen. Du versuchst dir die Reihe der Passionsrahmen vorzustellen, das geht wohl nicht anders als dadurch, dass du sie mit Inhalten füllst
diese junge Frau, zweidimensional auch sie, die sich sachte ablöst von ihrem Grund und vorbeischwebt, wirkt nicht verzweifelt, eher jenseits der Verzweiflung, besäße sie Augen, so sähe man gleich, wie es um sie steht, nun gut, sie besitzt welche und man sieht, wie es um sie steht, aber nur für den Augenblick dieses gedanklichen Zugriffs, lockert er sich, so verschwinden sie und man sieht nichts oder, besser vielleicht, seltsam wenig, denn nichts zu sehen ist nicht so einfach, das gilt für jeden Zustand, gleichgültig ob Wach- oder Schlaf- oder Traum-. Ob es etwas zu sehen gibt oder nicht, bestimmt nicht der Träumer. Er bestimmt nur die Auswahl. Bestimmt er sie? Nun, nicht wirklich, er fährt mit dem Stift hin und her, unterstreicht dies, lässt jenes dahingestellt sein, er träumt ja nicht bewusst, er gleitet.
nein, das geht nicht, es geht wirklich nicht, der Weltknoten, der dich hervorgebracht hat, ist nicht auf bestimmte Gehirne beschränkt, er ist nicht randscharf, denkst du, nun ganz du selbst, aufrecht, ein wenig schläfrig noch, das ist der entscheidende Punkt: er sitzt in den Übergängen und jeder Versuch, ihn von außen zu fassen, lässt ihn herein. Lässt ihn herein. Vermutlich ist das der Grund für Gedankenphobien. Die Leute fürchten die Ansteckung und lassen sich allerhand einfallen, um ihr zu entgehen. Ob’s hilft, weiß nur die Zukunft. Das Wissen der Zukunft ist unbegrenzt, jedenfalls liegen seine Grenzen nicht dort, wo man sie gerade vermutet. Dennoch: du weiß schon, dass du niemals mehr wissen wirst als jetzt. Du weißt überhaupt mancherlei.
Man kann sich einem Gedanken verweigern. Einem bestimmten? Ohne ihn bestimmt zu haben? Wie gründlich muss man einen Gedanken kennen, um ihn verweigern zu können? Ist ein Gedanke, den man in- und auswendig kennt, noch zu verweigern? An welcher Schwelle?
Man kann den Ort unkenntlich machen, an dem er, erst einmal in der Welt, sich unweigerlich einstellen würde. Doch das gelingt nur unvollkommen. Der Gedanke wird diesen Ort weiterhin umkreisen, eine einsame Dohle, die Menschen durch ihr Gekrächze erschreckt. Die Einsamkeit der Gedanken... worin besteht sie? In der Einsamkeit, mit der bezahlt, wer sie denkt? Das wäre unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, die Menschen lieben an ihresgleichen die Einsamkeit und werden, Zaungäste, die sie sind, davon angezogen, sie bewundern die Posen und ahmen sie nach, wo sie können. Nur die Einsamen gebärden sich, als seien sie Mittelpunkt eines Pulks. Tronka zum Beispiel … Gibt es Gedankenträger? Gibt es Menschen, die man nur totschlagen müsste, um einen Gedanken … oder zerschlagen, um ihn herauszulassen? Geheimdienste etwa sind Maschinen zum Herauslassen von Gedanken, vor allem solcher, die ihr Träger ungern herauslässt. Jedenfalls muss man nachhelfen, damit die Quelle sprudelt, den Zapfen hineintreiben, irgendeinen, aber es gibt schon spezielle. Geheimdienste, heißt es, sind zynisch in ihren Methoden, die Ergebnisse sind es vermutlich auch: da liegt der Fund und er lebt, jedenfalls atmet er noch. An einem toten Gedanken ist niemandem gelegen. Sein Nutzen ist, vorsichtig gesprochen, ›begrenzt‹.
Dieser dicht vor einem Menschen aufgerissene Tod... wie soll das gehen? Kann einer, aus der Ruhe eines vorsichtig angebrochenen Nachmittags kommend, in gewisser Weise sicher in ihr navigierend, kann so einer die, sagen wir, schreckgeweitete Muße aufbringen, sich in das Mysterium zu versenken? Offenbar nicht. Allein die Rede vom Mysterium wird, sagen wir, dem Gegenstand nicht gerecht, sagen wir, sie verfehlt ihn drastisch. Doch der Rede vom Gegenstand geht es nicht besser, sagen wir, sie objektiviert zynischerweise, was nicht objektiviert werden kann, weil die Objektivierung zweifellos selbst eine Art Hinrichtung, eine verweigerte Anteilnahme... sagen wir also, auch dieses Wort, wie die ganze Kette, ist falsch. Denn Anteilnahme, das wäre doch, als könne eine solche Erfahrung sich mitteilen, als sei sie nicht die streng verschlossene Frucht eines Lebens, das vor allem zurückweicht, was weiter lebt, als sei
Eine Zahl hilft, sie ist ein Erzeuger. Was sie erzeugt, steht in den Sternen. Was in den Sternen steht, lächelt dich an. Was dich anlächelt, nun, das bringt dich in Fahrt. Beweise dich! Nicht jede Zahl lächelt, eine lächelnde Zahl unter so vielen gleichgültigen ist, als Fund, unwahrscheinlich genug, um zu bedeuten, ganz ohne Bedeutung, ohne weiteres. Nimm sie hin! Nimm sie! Besseres wirst du nicht finden. Andere Zahlen liegen starr und verbogen im Gelände, ausgeglüht, könnte man sagen, gekrümmt von Bränden, die deine Vorstellungskraft überfordern
als sei, wer dabei war, auch irgendwie beteiligt gewesen, ein Teil des Brandes, ein Stück niedergebrannten Feuers, das man umschleicht, als bräche es hinterrücks wieder aus, unfähig, Rede und Antwort zu stehen, unfähig, Fragen hervorzulocken, die nicht schon die Antwort
der Gedanke, der langsam zu brennen beginnt
der Archipel
Duro, der Mann im Schatten, der gern Lichtwerfer wäre, kennt die Scheinwerfer nicht, die im Dunkeln auf ihn gerichtet sind. Denn Duro ist ein Mann des Scheins, der Lockerste unter allen Pyramidenbewohnern, die niemand sich krawattenfrei vorstellen kann, obwohl gerade das die Wahrheit wäre, nichts als die Wahrheit, die reine Wahrheit, die nackte … nackt, lehrt Duro, können nur Körper sein, die Wahrheit geht züchtig gewandet, man kommt nicht an sie heran. Das liegt daran, dass sie für jeden, dem es gelänge, eine herbe Enttäuschung bereithält, und zwar für jeden eine andere.
Auf diese Formel ist er stolz.
Seine Wahrheit heißt Konni. Zu ihr
schlich Duro, den Dolch im Gewande,
in stockdunkler Nacht, in der alle Bilder der Ausstellung grau sind, selbst dann, wenn der junge Künstler, den Kopf voller eingeschlafener Energie, in einer Ecke sitzt und nicht weggehen will. Duro bemerkt ihn wohl. Doch betrachtet er den Mann im Stuhl als Teil des Mobiliars und steigt, ihn nicht weiter beachtend, über die ausgestreckten Beine hinweg. Ein Fehler. Er bleibt nicht der einzige in dieser Nacht der Nächte.
Und fiel kein einziges Wort.
Warum auch? Konni begreift, dass es im gegebenen Fall triebhafter Unzucht besser ist, die Klappe zu halten, und ahnt verschwommen den Grund. In jener Nacht –
in jener Nacht aus Geräusch
ist ihr ein florilegium furens ins Bett gekrochen, ein Alien mit Armen und Beinen und einem am Überfluss gebauten, zugegeben handzahmen Glied, ein finsteres Gewimmel aus halb unterdrückten Klassikerzitaten, in denen die Wahrheit gegen die Nacktheit ankämpft – er könnte weder ausdrücken, auf welcher Seite er sich gerade befindet, noch, welche der beiden ihn peinlicher berührte. Dennoch hat er sich gründlich ausgedrückt in jener Nacht, so gründlich, dass Konni,
den Kopf oben
behaltend, ihn spontan in die Riege ihrer ersten Liebhaber stopft (es existieren noch eine zweite und dritte, doch weder die eine noch die andere kommt ihr für diesen Fall professoraler Fäulnis passend vor und sie entsorgt den Gedanken an sie ebenso rasch, so wie er aufkam).
Wenn du zum Weibe gehst, vergiss den Spiegel nicht.
Im Spiegel ist Duro sich unendlich ähnlich.
Der in Konnis Augen gespiegelte Mann ist ihm unendlich
zuwider.
Aus dieser Daseinsspannung erwachsen die größten Fehlleistungen.
Duro ist der Mann, der kommen und gehen will, wie es ihm passt.
Das lässt sich, nach Lage der Dinge, nur bei Nacht arrangieren.
Tagsüber stehen die beiden sich fern. Zwei aufeinander gerichtete Scheinwerfer ohne Strom.
Dass Konni und Duro liiert sind, ist ein Gerücht.
Duro kennt das Gerücht nicht. Es springt ihn an und er spricht
ihm ruhig ins Gesicht: ›Ich kenne dich nicht.‹
Gern wäre Duro Dompteur geworden, damals, vor aller Zeit, als er
von einem Leben beim Zirkus träumte. Das Leben der Galeristin ist
für ihn Zirkus.
Er ist der ideale Besucher.
In der Nacht gehört dieser Zirkus ihm.
Tagsüber stellt er die Abbuchungen auf seinem Konto unter die
Rubrik ›Aufwendungen f. Kultur‹. Er fühlt sich in der
Verantwortung für das kulturelle Leben der Stadt und Konni, das
empfindet er con brio, ist darin ein winziges, aber
unersetzliches Rad. Dazu, dass es sich dreht, möchte er das Seine
beitragen.
Was ist das Seine?
Konni, das sagt ihm ein feiner weißer Strahl, dreht sich nur um
sich selbst.
Bestürzt wäre er, drehte diese kleine Welt sich um ihn.
Das träumen viele. Duro träumt, sein Kopf, eine trockene, begehbare 360-Grad-Maske, sei eine Zuflucht für jedermann. Er träumt, er selbst wäre jedermann in diesem Kopf, dem alle erschreckenden Züge des Totenkopfs fehlen, obwohl Duro fühlt, dass das hier mit dem Tod zu tun hat, seinem vielleicht, aber nur auf ganz nebensächliche Weise, da der Tod so Vieler im Raum steht, so dass er nur einen der hinteren Ränge ergattern kann. Doch eigentlich verschwindet er spurlos in der Bewegung, die durch die Anwesenheit der Vielen erzeugt wird.
Nein, keine durchgehende Bewegung: Bewegtheit erfüllt den Raum der Vorstellung, die hier gegeben wird. Duro, gebannt, wie nur der Traum einen bannt, bemerkt die Ausgänge links und rechts, doch sie haben nichts zu bedeuten und führen nirgendwo hin. Dieser begehbare Kopf … offenkundig der seine, erfüllt von Jedermannsgedanken, hineingestellt in eine Jedermannswelt, es schmerzt nicht, er merkt, dass er keine Eigentumsrechte geltend zu machen wünscht und wundert sich, Traumwesen, das er ist, ein klein wenig über sich selbst. Diese Verwunderung … sie reicht nicht aus, um als Handlung durchzugehen, der Traum besitzt keine Handlung, nur Zonen größerer und geringerer Intensität, er schillert sozusagen in allen Farben des anonymen Ich, gleich wird Duro erwachen und dankbar, mit einem schmerzhaften Stich, sein Eigentum in Empfang nehmen, um es zu verschwenden, ja, zu verschwenden: da liegt es, ein halb zerbrochenes Gefäß, aus dem sich eine gelbliche Flüssigkeit ergießt, halb auf den Boden, halb auf…
Noch ist es nicht so weit. Was eben noch Bühne war, ist jetzt Erscheinung. Projektion, in kahler Landschaft Hof haltend könnte der Titel des Gemäldes lauten, ein unregistrierter Dalí, von keinem Auguren erkannt, von ihm, Duro aus dem schmutzigsten Winkel der Galerie ans Licht gezogen. Wer ist Konni, dass sie den Dalí vor den Leuten versteckt und ihnen das Gewische unbekannter Leute zum Kauf anbietet? Beruhigend, dass sein überaus geräumiger Kopf Eingang in die Welt des Meisters gefunden hat, nur ein Banause würde da Ich, Ich! rufen, stattdessen fehlen die Worte, doch kaum gedacht, löst sich eines, der weißen Taube vergleichbar, er vernimmt das Rauschen der Schwingen:
Unsympathisch, verschlagen, im Grunde ein grüner Junge mit Vaterkomplex –: Vic weiß Bescheid. Nichts Neues unter der Sonne. Aufmerksam notiert Konni Vics Signale an Duro, die er ausschlägt, seit sie einander umrunden. In Vics HASSBÜCHERN (durchnummeriert von 1 bis – aktuell – 10) läuft Duro als Mittler des Unheils durch, als einer, an dessen Händen Verrat klebt: Verrat aller Art, unspezifiziert im Grunde, bereit, alles zugrunde zu richten, was sie anfassen.
Hellseherin Vic oder: Wie man sich angefasst fühlt, ohne angefasst worden zu sein.
Duro ist süchtig nach Projekten, die, kaum beschlossen, zu lahmen beginnen. Die neue Galerie ist so ein Projekt. Konni, die nicht versteht, was an ihrem Low-Budget-Konzept falsch war, zappelt im Netz der Pläne. Die neu bezogene Galerie ist sündhaft teuer und Konnis Geldmangel wie immer chronisch.
Konni regelt ihre Welt über Liebhaber. Der aktuelle Favorit liebt die Kunst, geläufig redet er, wenn die Lichter angehen und die Besucher strömen, über die großformatigen Bilder des unbekannten Künstlers, der bislang nicht aufgekreuzt ist, Lot I bis XIII, ganz ohne Honorar, aber mit Innensicht, wie Duro, der sich auffällig im Hintergrund hält, maliziös seiner Nachbarin gegenüber bemerkt. Tagsüber sitzt der Neue in der Bibliothek der Pyramide und arbeitet, solange das Fach ihn noch zu schneiden beliebt, an dem Werk, das ihn in die erste Reihe der Ethnologen katapultieren wird: The Concept of Shame. Auch der deutsche Titel steht bereits fest: Scham.
Das war einmal. Duro, untergefasst wie in Hauffs Märchen, weiß nicht, wie ihm geschieht. Der BMW müsste zum TÜV, aber wo zum Teufel steckt er dort draußen im Trubel der Ruhrstadt? Der Bibliotheksplatz ist seit Tagen verwaist. Eine Studentin, mit der Frage nach den Grimm-Brüdern konfrontiert, notiert in der Prüfung: Sagenhafte Gestalten aus der Vorzeit.
Warum jetzt? Gerade jetzt?
Es ist immer gerade. Dieser krumme Hund…
Kaputt steht der BMW in einer der vielen Kreuz- und Querstraßen, die den Reiz dieser Stadt bedeuten. Duro, geheilt, zuckt mit den Achseln. Scheiße. Pjotr Antonowitsch besucht seine Ex. Eine offene Rechnung, die bezahlt werden will. Wiederkehr unbestimmt.
Es ist diese Rechnung, die das Fass explodieren lässt.
Zur Phänomenologie dieser Rechnung ist viel geschrieben
worden.
Konni rauscht durch die Pyramide.
Iris’ Blick leuchtet auf.
Und trollt sich.
Was zum Beispiel macht den Studenten B angenehm? Er kommt gelegentlich in die Pyramide, er ›interessiert sich‹. Die Universität der Zukunft gibt ihm Bemerkungen ein, die andere als Zynismen abtun würden. Tronka, der ihn seit langem kennt, bemerkt etwas darin, was er nicht zu benennen wüsste, verspürte er das Bedürfnis, es zu benennen, was nicht der Fall ist. Auf seine unauffällige Art findet B sich an den Schaltern, dort, wo es ein kleines Extrapensum zu bewältigen gilt, wo eine Hilfstätigkeit winkt, eine Sonderbeziehung sich auftut. Nein, er strotzt nicht von Leistungsbereitschaft, das fiele anders auf. Er ist der Typ, der gern dabeisteht oder ‑sitzt, wenn ›etwas Vernünftiges‹ geschieht. Also wirkt er – im Gegensatz zu den Kommilitonen, die, alles in allem, nicht unvernünftig wirken – vernünftig: da liegt die Differenz. B wirkt, bei aller Vernünftigkeit, unvernünftig, als treibe ihn ein geheimer Mechanismus der Selbstzerstörung oder, vorsichtiger ausgedrückt, der Selbstverhinderung an.
Tronka, in der Position des Älteren-und-Erfahreneren, möchte ihn gern fragen, warum er sich mit Lust selbst im Weg steht. Seltsamerweise überkommt ihn der Impuls immer dann, wenn der andere schon gegangen ist. In dessen Gegenwart scheinen sich solche Reden zu verbieten, sie wirken ungehörig, unpassend, vielleicht sogar unerhört. Studienplanung ist Bs Stärke, er hätte drei unterschiedliche Studiengänge an verschiedenen Universitäten belegen können, ohne sich zu verausgaben.
Die Pyramide erfüllt ihn mit Scheu, vielleicht mit Abscheu, wie sie Parteigänger eines vergangenen Regimes gegenüber dem neuen Machthaber empfinden, der ihnen wider Willen imponiert und dem sie sich, vom Machtbezirk magisch angezogen, bereits andienen. Gut möglich, dass er auch das nicht bemerkt, vielleicht ist er nur auf der Hut vor sich selbst und dem harschen Urteil, das er von dort zu erwarten hätte.
in Bs Wortschatz liegen beide obenauf, als empfange er verschlüsselte Nachrichten von einem offiziell verschollenen U-Boot, das in fernen Weltmeeren kreuzt und zwar nur Weniges, aber immer Bedeutsames zu berichten weiß. B, ein junger Mann, auf den Tag fast so alt wie der Staat, dessen Bürger sie sind, überspringt die Hürde zur Vergangenheit spielend. Wo andere stranden, weil die Erinnerung sie einholt oder sie kompensieren müssen, dass es für sie nichts zu erinnern gibt, stößt er fast nach Belieben vor und zurück: meistens, so scheint es Tronka, mit Gewinn.
Erstens: es ist undenkbar für ihn, nicht zu studieren, das Elternhaus lässt es nicht zu. Zweitens: es ist undenkbar für ihn, zielstrebig zu studieren, denn das hieße den Willen des Vaters zu erfüllen. Drittens: es ist gut denkbar, nicht zu studieren, sehr gut denkbar sogar, man muss darüber nachdenken. Viertens: es ist gut denkbar, zu studieren und danach etwas anderes zu machen, etwas ganz anderes. Das, immerhin, brächte Sinn ins Leben. Fünftens: es ist denkbar, zu studieren und nicht zu studieren, die erwartete Leistung zu verweigern und damit aufzufallen. Sechstens: es ist denkbar, aber nicht auszudenken, dass einer wie er sich der gängigen Lehre auf Gedeih und Verderb ausliefert.
Der letzte Punkt vor allem gibt zu denken. Sollte es sein, dass dieser junge Mann etwas weiß, was seine Dozenten, weil sie’s verdrängt, vielleicht auch verschlafen haben oder aus lauter Konformismus zu lehren vergessen, nicht oder nicht mehr wissen? Vielleicht, weil es sich mit ihrer Spiegel-Lektüre nicht verträgt oder weil sie sich vor den Attacken rabiater K-Gruppen fürchten oder weil sie einst von der revolutionären Studentenschaft auf ihre Stellen gespült wurden und sich seither in Gesinnungsgewahrsam befinden? Klar und gerade kann sich das Gegen-Wissen, mit dem B punktet, nicht aussprechen. Das wäre vielleicht auch zuviel verlangt. Da es nicht gelehrt wird, nimmt es nirgends die Form des Gelehrten und Geklärten an. Abgerissen, unkoordiniert, assoziativ steigt es in seine Rede, die ansonsten sanft bleibt, mit einem leisen Krähen darin, einem gedämpften Hahnschrei, der herauswill und nicht weiß wohin.
Nur: worin besteht dieses Gegen-Wissen? Worin kann es bestehen? Beharrt es trotzig auf älteren Wissenschaftslagen? Woher diese Informiertheit? Es kann doch nicht sein, dass ein Student etwas weiß, was seine Professoren vergessen haben. Nein, das kann nicht sein, so zu denken führt unmittelbar in die Sackgasse. Andererseits: B ist eine Leseratte, immer unterwegs im verzweigten Abwassersystem der Bibliotheken, dort, wo das Rauschen vergangener Wissensstände ans Ohr schlägt und sich auf Grund des allgemeinen Dunkels die Wahrnehmung schärft. Nicht zu vergessen das Stöbern in Antiquariaten, als exzessiver Sport betrieben: hier lagern in dichten Reihen die vierziger und fünfziger Jahre, schon die frühen Sechziger mit ihren helleren und bunteren Einbänden wirken unseriös, da zeitnah.
Kein Zweifel: Bs so altklug wirkender Kopf beherbergt einen Antiquariatsnarren, den die Mentalität seiner Mitmenschen langweilt und der auf dem Stand zu sein sich konsequent weigert.
Durch zu sein mit dem Vergangenen – wie stellt man das an?
B erzählt nicht, wenn erzählen berichten heißt. Er deutet an, setzt voraus, bezieht sich. Er ist die Nachricht im Augenblick des Überbrachtwerdens. Das ist alles andere als amüsant. Dennoch spricht er lang und gern, als spreche er über Amüsantes. Vielleicht amüsiert er sich, zu Tode vielleicht, weil alles so langweilig ist, vielleicht, weil der innere Reichtum ihm nichts anderes eingibt, vielleicht, weil er den Epochenblick nicht ablegen kann, wissend, dass er in einer Ära der billigen Vergnügungen lebt und seine Zeit versäumen würde, wenn er es darauf anlegte, dem Vergnügen auszuweichen. Andererseits –
Das Vergnügen der anderen zieht ihn zu sehr an, als dass er Spaß haben könnte, wirklichen Spaß, der nicht nach links oder rechts blickt, weil er sich unaufhaltsam entrollt. B ist ein Mann des mageren Spaßes, der wendig nach links und rechts blickt, um den der anderen nicht zu versäumen. Dennoch erstaunt, aus seinem Mund einen Satz zu hören, den man eher von Bierfahrern oder Auto-Testern erwartet hätte:
Geht sie denn ab? Wirklich? Und wenn ja, wohin? Stürzt sie wie eine Lawine zu Tal, hierhin und dahin, den einen oder anderen Einzelgänger erschlagend, begrabend, mit sich fortreißend, bis sie am Dorfrand zu stehen kommt, in sinnloser Höflichkeit, da die Bewohner alle geflohen sind und nun mit einer gewissen Enttäuschung in ihre Häuser zurückkehren, wo alles an seinem Platz steht und geringschätzig auf die Eigentümer herunterblickt, die es wegen einer solchen Lappalie, aus reiner Furcht, im Stich gelassen haben?
B sagt solche Sätze, ohne sich innerlich von der Stelle zu rühren, er wartet still ab, was geschieht, wenn die Dynamik schwillt, als vergnüge er sich am Blick in die rasenden Speichen, wenn andere aufdrehen. Er bittet sie förmlich aufzudrehen, nein, er schafft ihrem Wunsch aufzudrehen ein Ambiente, in dem er sich künstlich entfalten kann, so klein oder unvorhanden er auch gewesen sein mag. Als betrete mit ihm die Devise den Raum: Lasst zwei, vier, hundert Titanen um mich sein. Und sie schafft es im Handumdrehen. Wo eben noch Entspannung herrschte, ›Entspannung pur‹, wie die Werbesprache das nennt, trägt jeder erbittert an seinem Los und an dem der anderen, der Zeit und des Universums und nicht zuletzt, denn auch das muss gesagt werden, am Los der Mutter, dem schwersten von allen.
Nur B geht es gut, er ist mit sich im Reinen und lächelt. Leichtsein ist alles.
Eike benützt das Projekt, das ist dir seit langem klar. Er benützt es, um an Frauen heranzukommen. Konzentrierter als andere hält er sich an die Tagesregel, weil, wie er unumwunden bekennt, sie maximale Ausbeute verspricht. Keine Pflicht könnte stark genug sein, ihn vom Hereinschauen abzuhalten. Nur bei Unpässlichkeit verdrückt er sich. Ist das verwerflich? Besteht nicht – irgendwie – darin der Sinn des Projekts? Männer an Frauen, Frauen an Männer, Frauen an Frauen, Männer an Männer. Ein schöner Sinn ist das.
Somit wäre Fu, wäre das Fu-Projekt nichts weiter als eine Kontaktbörse? Dürrobst hat es früh geahnt. Nein, nichts hat er geahnt: er hat es einfach vorausgesetzt. Vorausgesetzt, er habe richtig vorausgesetzt: was wäre er, Dürrobst, weiter als ein windiger Denunziant? Und weiter. Was wäre der dem Projekt gewogene Rektor anderes als ein spezieller … Investor? (Der Gedanke würde ihn, wie du ihn kennst, nicht weiter stören, aber er stört dich.) Und was bitte, wäre die Pyramide, was wäre die Gesellschaft, speziell unter diesem Gesichtspunkt betrachtet? Eine Kontaktbörse, nichts weiter als eine Kontaktbörse.
Und wenn es die meisten Menschen so sähen: es ergibt keinen Sinn.
Kein Zweifel, die VeränderBar ist eine Kontaktbörse. Kein Zweifel auch: sie ist ein Instrument der Beobachtung und der Erprobung unvertrauter Verhaltensweisen, eine Experimentierstube der Gesellschaft, eine optimierte Umwelt für die neue Gesellschaft, eine Gesellschaft im Werden – so ist sie angelegt und so soll sie wirken, vorausgesetzt, die ihr zugrunde liegende Theorie hält den Zusammenstoß mit der experimentellen Wirklichkeit aus.
Was stört dich an Eikes Verhalten?
Es untergräbt das Projekt.
Wodurch? Durch Gesinnung.
Eikes Gesinnung ist niedrig.
Also hinge das Schicksal des Projekts von der Gesinnung seiner
Teilnehmer ab? Es gäbe in diesen Dingen eine niedrige und eine hohe
Gesinnung? Wo in deinen Papieren steht das? Nirgends. Warum wird es
dir wichtig? Weil ein Gefühl es dir sagt. Ab wann wurde es dir
wichtig? Nun … schieb das auf. Und: Ist das nicht dein
Problem? Könnte es sein…?
Könnte es sein, dass du dem Projekt nicht gewachsen bist?
(Diese Frage klingt unergiebig.)
Worin zeigt sich Eikes Verhalten? Hat jemand sich beschwert?
Noch hat sich niemand beschwert. Außer vielsagenden Blicken,
einem Schulterzucken hier und da hast du nichts notiert.
Warum solltest du Wert auf nonverbale Signale legen, wenn doch die
Sprache frei hat? Ist das angemessen? Weshalb bist du beunruhigt,
wenn das, was dich beunruhigt, niemandem über die Lippen geht? Wenn
es doch…
Wenn es der Rede nicht wert ist?
Den Menschen niemals als Objekt, vielmehr stets als Subjekt… Der Satz prangt, was immer du anfasst, über deinen Handlungen (jedenfalls bist du dir dessen ungefähr sicher). Er steht für hohe Gesinnung. Sollte Eike ihn nicht –? Gerade Eike? Schon der Gedanke ist absurd. Andererseits: Wie behandelt man den Anderen als Subjekt? In diesen Dingen? Kant sagt: Man schließt mit ihm einen Vertrag. Den Vertrag haben alle Projektteilnehmer unterschrieben, eingeschlossen Eike.
Was macht Eike falsch? (Etwas muss er doch falsch machen, wo läge sonst das Problem?) Er sammelt Frauen. Er sammelt Geschlechtsakte. Er nummeriert seine Erfolge, penibel dokumentiert er sie in einem kleinen schwarzen Heft, du selbst hast es zu Gesicht bekommen. Die schwarzen Hefte… Eike ist süchtig.
Süchtig danach, Liebe zu machen? Wer wollte das messen, solange einer sich an die Regeln hält? Nein, Eikes Sucht gilt der Beute. Er ist ein Jäger, sein Spezialgebiet ist die nächtliche Pirsch. Der Fuchs hat sich in den Supermarkt eingeschlichen und plündert die Fleischtheke. Die aufgerissene Ware streut um ihn her, Blut rinnt ihm von den Lefzen und an geht das Licht: verblüfft stehen sie einander gegenüber, der Räuber und der Verwalter, der Dieb und der … Haltet den Dieb! Bist du der Haltet-den-Dieb? Wann hättest du dir diesen Job ausgesucht? Ein Scheiß-Job, würde Teuschner grinsen, einen Scheiß-Job hast du dir da ausgesucht, schau, dass du ihn loswirst. Recht hätte er.
Was ist Gesinnung? Nun das ist … das wäre … warum fragst du dich
das? Verfügst du über keine? Vermisst du an der Stelle etwas? Wie fühlt
diese Stelle sich an? Feucht? Trocken? Weich? Sehr weich? Oder eher
hart? Eher undurchlässig? Vermisst du nichts? Fragst du dich ratlos,
woher sie kommt, die berühmte Gesinnung? Welche Gesinnung hegst du
gegenüber diesem … Eike? Warum der Vorname? Was hat dir dieser Mensch
angetan, dass er in deiner Vorstellung ganz und gar Vorname geworden
ist? Gesinnung, das ist … was dir in den Sinn kommt, sobald du die Augen
öffnest und deine Umwelt wahrnimmst. Du könntest sie
falschnehmen, was immer das bedeuten würde, aber du ziehst es
vor, sie wahrzunehmen, die Wahrheit über sie aus deinen sensorischen
Abenteuern herauszuziehen: So ist es. Nichts ist so. Es ist deine
Gesinnung, die spricht. Sie legt dir eine Welt vor und du zeichnest sie
ab: ein bürokratischer Vorgang zwischen dir und dir, ein Vertrag im
Morgengrauen, dem viele, viele folgen, ohne dass ihr beide davon
Aufhebens machen würdet. Eike sieht die Welt, wie er sie sieht. Er hat einen Vertrag, in dem
steht, wie sie sich anfühlt, welcher Umgang mit ihr sich empfiehlt und
welchen Platz die Frauen in ihr einnehmen. Willst du seine Handlungen
verstehen, musst du dich in seinen Vertrag einlesen. Er ist, anders als
andere, kein offenes Skript für dich, kein Buch in deiner Sprache, schon
die Zeichen kommen dir fremdartig vor, du musst dich erinnern … woran?
Woran erinnert dich diese Schrift? Lag sie auch dir einmal vor? Wann
lag sie dir vor? Hast du die Unterschrift verweigert? Oder ruht dieser
Vertrag in den Kellern deines Bewusstseins und die Begegnung mit Eike
holt ihn heraus? Real, ganz und gar real ist dieser switch – du hast, einmal
aufmerksam geworden, keinerlei Mühe damit, innerhalb deines Weltrasters
die untere Linie zu aktivieren. Du musst dich nicht großartig
einfühlen. Es ist alles vorhanden, was du brauchst, um zu verstehen, du
musst nur … umschalten. Die umschaltende Instanz nennst du Befremden.
Eikes Gesinnung befremdet dich, sie befremdet andere, sie befremdet
allgemein, sie ist ein Auslöser des Nachdenkens über diese Person.
Was soll schon dabei herauskommen? Angenommen aber, es handelt sich beim Projekt um einen Club der edlen
Gesinnungen, um einen Kreis Wohlgesonnener, zusammengekommen, um einmal mehr den
befreiten Menschen aus seiner Mitte heraus zu gebären – wobei vom Gebären gerade
nicht die Rede ist, da alles in der eigenen Generation spielt und spielen soll
–, dann handelt es sich vielleicht – mit Eike als Augenöffner – um einen
Hokuspokus und nichts weiter? Nichts weiter … so dass Eike der einzige im
Kreis wäre, der sich einen realistischen Blick auf das Treiben bewahrt hätte,
wie die Formel in so einem Fall lauten müsste, der einzige, und diese sehr
überschaubare Welt wäre auf diese Weise: sein Eigentum? Jedenfalls hätte er weit
mehr Rechte an ihr als sie an ihm. Er hätte sich etwas angeeignet, ganz recht,
was die alte Eigentumsordnung, jedenfalls in der Theorie, hinter sich lassen
soll, überwinden, wie es im Jargon der Progressiven heißt, das Eigentum am
Geschlecht, genauer: am Geschlechtsleben des anderen, Kants Objekt des
Ehevertrags, das ›Worumwillen‹ der Zivilisation. Unter all den Bemühten wäre er
der Eine, der herzhaft zugreift. Das lässt Zweifel aufkommen, ob tatsächlich die
anderen so lauter sind, wie sie daherkommen, solange man den Protokollen der
VeränderBar traut. Keiner von ihnen ist als unbeschriebenes Blatt in das
Experiment gegangen. Im Gegenteil, sie alle sind, genau betrachtet, Enttäuschte,
Artisten des zweiten Anlaufs: Die Wissenschaft muss es richten, die
Wissenschaft wird es richten. Sie kommen auch nicht, wie Fus ursprüngliche
Klientel, aus der bürgerlichen Ehehölle mit ihrer scheinintakten Fassade und all
dem Unrat dahinter: diese Welt hatten sie und ihre Vorbilder schon ein Jahrzehnt
früher hinter sich gelassen. Eigentlich kennen sie sie nur noch vom Hörensagen,
als mit Erinnerungsbrocken unterlegtes Schreckbild, dazu auserkoren, sie bei der
Stange zu halten, sobald das eigene Elend sie übermannt. Sie alle sind auf der
Suche nach dem verlorenen Geschlecht, dem eigenen und dem anderen, da wäre es
schon erstaunlich, wenn sich nicht Gier einmischte, um bei sich bietender
Gelegenheit überhand zu nehmen. Es gibt für diese Dinge, die du da in vornehmer Sprache notierst, rüdere
Ausdrücke, weit rüdere Ausdrücke, man kann nicht sagen, sie wären
ungebräuchlich, ganz und gar nicht, in Wirklichkeit sind sie die gebräuchlichen,
gebräuchlicher jedenfalls als die Suada, welche die Welt der Projekte dafür
bereitstellt. Du bräuchtest nur das Fenster zu öffnen und schon flögen sie
herein. Du musst sie bloß zulassen und ihr Summen und Brummen erfüllt die Luft.
Die Welt ist rüde und Eike, nun ja, er ist ein Rüde, in des Wortes mehrfacher
Bedeutung, so etwas stößt überall auf Interesse. Dumm wäre es anzunehmen, in ihm
hättest du den einzigen Tabubrecher an Bord, klug hingegen, die Tatsache des
Tabubruchs zu notieren, sie bezeugt das Tabu, von dem bisher nicht die Rede war,
von dem einfach nicht die Rede sein darf, wenn… Ist er ein Wurm? Der Wurm in der Parade edler Menschen, die nur
das eine wollen: alles richtig zu machen? Das also wäre seine
Aufgabe: dafür zu sorgen, dass auch diese Bäume nicht in den Himmel
wachsen? Dass alles so bleibt, wie es ist? Ist das überhaupt eine
Aufgabe? Dem Wurm kann das egal sein, er weiß von keiner Aufgabe, er
lebt sein Leben, seines gegen das der anderen. Halten sie es etwa
anders? Gewiss nicht. Ganz gewiss nicht.
All diese Frauen, die, es lebhaft abstreitend, auf den Besamer
warten, schließlich warten sie nicht, sie sind selbst auf der
Pirsch, sie sind, wie Eike, undercover unterwegs, Agentinnen
eines Unterbewusstseins, das es so, wie die Freudianer es
konstruierten, mit Sicherheit gar nicht gibt, was seine
Wirkungsmacht, wie die eines Zaubertranks, wunderbarerweise nicht im
geringsten unterminiert, ein Gaukelspiel verdrängter Gedanken, aber
was besagt schon ein Kusch! Nicht viel und doch wieder alles:
Es ist klug, diese Gedanken zu denken, es ist unklug, sie
auszusprechen, es ist klug, zu zeigen, dass es sie gibt, es ist
unklug zu zeigen, dass man sie denkt, es ist klug, sie im Modus des
›Es könnte sein‹ zu halten, es ist unklug, den Modus zu
wechseln, es sei denn, die Situation überwältigt alle Beteiligten,
und so weiter, und so fort… Es ist klug, das Unterbewusstsein,
nein, es ist klug, eines zu besitzen, es ist Frauenklugheit, die auf
den Rüden wartet, um ihm zu antworten: So nicht! Und mit dir schon
gar nicht. Es sei denn… Es sei denn, du lernst es, dich zu
benehmen. Dann allerdings… Was soll schon werden? Etwas Wirkliches?
Etwas, das zählt? Ein Köter bist du und kommst nicht in Betracht.
Zähle du nur weiter.
ist eine Aufgabe, eine unter anderen, aber doch etwas
Spezielles, etwas ganz Spezielles, wie die Scheidungsraten diskret andeuten,
hinter denen die üblichen Beziehungsdramen lagern. Sie geht leicht schief – wie
die Sprache in ihrer allgegenwärtigen Gemeinheit auszudrücken nicht unterlässt,
ist das Schiefe bereits im Gang angelegt, der da praktiziert wird, um genau zu
sein, in der Gangart: alle Erziehung zur Aufrichtigkeit enthält diese
fundamentale Unaufrichtigkeit, dass sie dem zu Erziehenden die Aufrichtigkeit
verwehren will, die seinem Typus eignet, und dabei rigoros den Zugang zu den
eigenen Hintergedanken samt zugehörigen Empfindungen versperrt. Was soll schon
dabei herauskommen, wenn der Engel den Teufel erzieht? Ein Engel-Teufel-Spiel, was
sonst. Die Verwandlung des ›Partners‹ in eine Handpuppe, ein Spielzeug, achtlos
fortzuwerfen, sobald das Spiel langweilig wurde, das heißt, wenn die Umwandlung
vollzogen ist, küsst alle Teufel wach, innerhalb und außerhalb der eigenen
Brust: da tanzen sie ihren Tango, werfen lüsterne Blicke, Formulare des ewig
blitzenden Warum nicht wir? – die Welt ist offen, lass die Stickluft
heraus, lass mich aus. Aber das ist banal. Im Projekt gibt es keine Erziehung, stattdessen:
ewigen Wechsel. Wie lange? Bis zu welcher Grenze? Der Fehler, falls es denn
einer wäre, steckt im Gruppenbewusstsein. All diese Leute, die ihre Unterschrift
am Eingang geleistet haben, teilen ein Geheimnis, sie bilden, und zwar vom
Moment des Eintritts an, eine verschworene Gemeinschaft, noch unwissend, wer und
vor allem was da auf sie zukommen wird: sie erwarten Einweisung, das
unumgängliche Gewusst-wie, ohne das alle ratlos herumstünden und schließlich
unverrichteter Dinge wieder nach Hause gingen. Wenn aber die Regeln in Fleisch
und Blut übergingen, wenn sie die Mitspieler kennengelernt, wenn sie miteinander
erst einmal durch sind, wenn die Vertrautheit wächst, dann, ja dann
wachsen die Regeln der Freiheit erneut zu jenem Prokrustes-Bett zusammen, das
sie alle fürchten. Das Projekt, heißt das, verwechselt den Aufbruch in die
Freiheit mit der Freiheit selbst. Siehst du das jetzt richtig? Siehst du das
jetzt endlich richtig? Oder ist auch das nur eine perspektivische
Täuschung? Wen soll sie täuschen? Eike, so scheint es, täuscht sie nicht. Wie
immer man sein Benehmen taxiert, er kommt auf seine Kosten. Aber
vielleicht liegt seine Täuschung darin, dass er am Experiment gar
nicht teilnimmt, ein blinder Passagier, der zwar mit an Bord ist,
aber als Unerkannter. Nun, wenn das so ist, dann ging die Sache für
ihn gründlich schief. Ein Eike ist schnell erkannt. Die Frage lautet
eher, ob es ihn stört.
Nein, es stört ihn nicht. Das meint: es stört ihn nicht
wirklich. Es stört ihn insofern, als die Tarnung, das Streben nach
Unerkanntsein zum Wesen der Pirsch gehört, so wie es zum großen
Jäger gehört, dass man seine Trophäen bewundert. Es stört ihn,
erkannt zu werden, es stört ihn, unerkannt sein Wesen zu treiben.
Darin besteht seine Störung: keineswegs ist er der Typus, der mit
sich im Reinen wäre. Überdies stört er selbst: er stört dich, er
stört dich sehr. Es stört dich, dass einer wie er in deinem Revier
wildert.
Sei genau. Lehnst du die Person Eike B. ab? Wirklich oder gefühlt?
Ehrlich gesagt: weder-noch. Du empfindest sogar – in Grenzen –
Sympathie für ihn. Würdest du tiefer graben, so würdest du
feststellen, dass auf dem Grunde eures – zugegeben: losen –
Umgangs der perverse Wunsch, von diesem Individuum verstanden zu
werden, zutage träte: warum? Weil er zu ist, nicht
zugeknöpft, nicht verschlossen, aber unzugänglich im Gehäuse
seiner primären Einstellungen, aus denen er sich durch nichts und
niemanden herauslocken lässt – ein Spötter, der in seiner Haut
mit sich allein ist und von diesem Wissen keine Sekunde abweicht.
Aber vielleicht überschätzt du ihn gerade darin. Die Art und
Weise, wie er Liz umstreicht, lässt die Mär vom großen Jäger im
Handumdrehen zerfallen.
Gerade damit wird er zur Gefahr für das Projekt.
Mutters Groll plus Vaters Schmerz = Eikes Hass. Auf wen?
So kann man es sagen.
Welches Gespräch?
Wohin fallen Worte, wenn keiner sie aufgreift?
Er ist misstrauisch.
Eike hingegen hat kein Problem damit, Hiero
Was spricht gegen einen Roman, der »Muntepan« heißt?
Eike sagt:
Würden alle Bücher schreiben, dann würde sie keiner lesen.
Wer keinen Unterschied macht, gibt es den überhaupt?
Er sagt: Ich bin keiner. Ich bin viele.
(Das sagt er nicht, aber er denkt es.
Er sagt: Ich habe nichts zu lehren.
Ich gebe wieder.
Du bist das bittere Brot der Stunde, das keiner ablehnt.
Du bist der Weinberg des Herrn, in dem ich mich täglich tummle. Du weißt, wer ich bin, du teilst dieses Wissen mit jedem, nur
nicht mit mir, wofür ich dir Dank weiß. Du weist über mich hinaus, großer Zeiger ins Nichts, zu Recht,
denn diese Zukunft, auf die du dich richtest, sie ist nicht für mich
und meinesgleichen, sie ist für alle, die keiner Zukunft bedürftig
sind, die sie zu beziehen wünschen, als handle es sich um eine neue
Wohnung und das Problem bestünde darin, das alte Mobiliar in sie
hinüberzuschaffen.
Du bist der Ursprung und das Ziel meines Ehrgeizes, der mich
zwingt wirklich zu sein. Ohne dich wäre ich weniger wirklich, fast
nichts, träumend würde ich meine Tage verdämmern, ein Ärgernis
und ein Ungeheuer, ein Wesen ohne Kontur. Du verleihst mir Schärfe.
Du hast meine Wenigkeit als Dompteur über diese Wesen gesetzt,
dafür weiß ich dir mit Rührung versetzten Dank, dem der bittere
Beigeschmack auf die Sprünge hilft, denn ein Dank, der den Herrn
nicht spürt, ist nicht mehr als Hohn, den Weiten entgegengeworfen,
als hätten sie dafür Verwendung, was aber nicht der Fall ist.
Nicht Werk, nicht Schicksal, nein, Dasein, von Tag zu Tag und
hinaus über jeden Tag, diesen und jeden, der kommt: darin liegt
deine Kraft und Herrlichkeit, dein einfaches Sosein, Erfahrung
ohnegleichen und ein Mysterium ohne Mitte, das uns verhext. Wie leben in einer Welt, die unentwegt die Bedingungen ihrer
Existenz hervorbringt und vernichtet, gleich einem Taschenspieler,
der seine Tricks durch Vorzeigen unwirksam macht und keine Sekunde
lang aufhört, das Publikum damit hinters Licht zu führen? Du bist
die Frage, die Antwort und das Gegebene, das sich begibt, sobald ich
die Hand ausstrecke, als sei ich einer, der bewirkt.
Sei reell! Ich bitte dich, sei reell! Nichts wird von dir erwartet
als das. Brücke bist du, über die ich hinüber ins Land der
Erwartungen wandere, also sei reell! (Nicht um meiner Erwartungen
willen, behüte, sondern um aller anderen willen, beteiligt oder
nicht, denn ihre Erwartungen sind es, die den meinigen Festigkeit und
ein Gesicht verleihen, so dass ich, angesichts der kommenden
Katastrophe, ruhig schlafen kann, ganz als befände ich mich
unterdessen auf einer Siegerstraße und nichts könnte meinen finalen
Einlauf verhindern.) Welche Zukunft zu geben bist du bereit? Du weißt, unter der
Zukunft der Menschheit macht es die Wissenschaft nicht. Was sie
Wahrheit nennt, unter der Vorspiegelung, ihr zu dienen, ist eine
schweigsame Herrin, die mit Versprechungen lockt, welche andere in
sie hineingelegt haben. Welche anderen? Andere eben, nicht diese,
nicht jene, sondern immer andere, jetzt und immerdar andere. Wärest
du bereit, unter ihnen zu wählen? Auf wen fiele deine Wahl?
Prometheus, endlich die Fackel in Händen, fühlt sich an den
Felsen geschmiedet: herbes Los. Ein Bild, leicht aufzulösen, nicht
von mir, nicht jetzt, ich will den Knoten des Daseins nicht lösen,
jetzt nicht, nicht morgen. Übermorgen löst sich vielleicht, was ich
nicht wissen will, ganz von allein, vibrierend in deinem Namen. Das
wäre mein Triumph.
Diese Menschen … du führst sie in Versuchung, so wie du mich in
Versuchung geführt hast. Wie anders könnten sie es auf den Versuch
ankommen lassen? Das Andere versuchend erproben sie, wer sie sind.
Sie erscheinen sich anders, der Schein ist das Reelle, das ihnen
Profil verleiht. Profil vor wem? Vor was? Vor dem Unbekannten, das
sie auch sind, schon in Ermanglung anderer Kandidaten.
Angenommen, du beruhtest auf falschen Prämissen – pfeif auf die
Prämissen! Was wäre das für ein Projekt, das sich nicht seine
eigene Wirklichkeit schüfe? Sobald die Möglichkeit aufscheint,
findet sich auch der Mut, sich ihr anzuvertrauen. Irgendein Mut
findet sich immer. Unter den Bedingungen des Lebens gibt es keine
falschen Prämissen. Wo das Leben nicht hinreicht, existiert kein
Projekt. Es zergeht aus Unfähigkeit zu vergehen, denn um zu
vergehen, bräuchte es selbst ein Leben.
Nein, du bist nicht das Leben, aber du gibst ihm die Richtung auf
das Gericht, das du mit dir führst wie einst die Boten der Großen
Revolution die Guillotine: verhüllt, ein black cube, ruhend
auf dem Vordeck des Schiffes, das sie den Ufern der neuen Welt
entgegentrug.
Wenn alle mit allen ins Bett gehen, wo bleibt dann die Geschichte?
Das Ende der Geschichte ist nicht das Ende der Geschichten.
Ist das noch Geschichte? Ich denke nicht. Es ist etwas danach.
Das Experiment überschreibt die Regel.
Was also hätte ich zu sagen?
Die Zeit der Duelle ist nicht mehr. Hat sich mein Bedürfnis gewandelt? Keineswegs. Welches Bedürfnis könnte Elisabeth
angewandelt haben? Das Bedürfnis, die durchgestrichene Hure zu
geben? Erwachsenen Sex zu haben? Darüber kann ich nichts sagen. Mutmaßen will ich nicht, nicht in diesem Fall.
Das ginge mir wider die Natur. Wenn ich mich aber bescheide,
dann kommen mir solche Gedanken: Ist es möglich, in einer Ehe mit Leckebusch erwachsenen
Sex zu haben? Offensichtlich nicht. Leckebusch mag sich für
einen Aufklärer halten, aber im Bett ist er ein Versager. Woher ich
das weiß? Man merkt es ihr an.
Wenn Elisabeth ihr gemeinsames Bett mit Leckebusch verlässt,
um meines zu teilen, dann liegt das, und zwar ausschließlich,
daran, dass sie bei mir findet, was sie bei ihm sucht (oder einmal
gesucht hat, bevor sie es aufgab). Alles andere wäre widersinnig.
Andererseits: was heißt widersinnig? Zwischen mir und Leckebusch kann eine Strecke von hundert Liebhabern liegen, was geht’s mich an? Rebelliert mein Feingefühl? Welches Feingefühl? Ich fülle die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft: ich bin ganz Gegenwart. Ich bin die Gegenwart ganz. Jedenfalls in sexueller Hinsicht. Wer will, kann den Sinn, der uns zusammenbringt, subjektiv
nennen. Ich sage nur: meinetwegen. Schließlich ist alle Lust subjektiv.
Reflexion Wer ist Elisabeth? Ich kann es nicht einmal denken, geschweige denn annehmen.
Heißt das … ja sicher, genau das heißt es. Die Instanz, welche
die Trennung vollzieht, nenne ich Ich. Das Ich trennt die Welt:
Alles, was ich begehre, nenne ich das andere Geschlecht. Ich
bin nicht schwul, nun gut, das schränkt den Radius ein, aber egal.
Alles egal. Alles, was ich nicht begehre, ist egal. Alles, was egal
ist, nenne ich: nicht wirklich. Demnach besteht meine Welt aus dem,
Elisabeth ist wirklich. Momentan ist sie meine
Wirklichkeit. Soll heißen, wenn ich mich auf sie konzentriere (was
ich muss), dann versinkt, was wirklich sein könnte. Das heißt
natürlich: ich bin für sie maximal attraktiv. Da ist nichts, was
zwischen uns stünde. Wenn sie das nicht realisiert … was dann?
Nun, das ist nicht denkbar, jetzt nicht denkbar (Sex ist
Gegenwart, reine Gegenwart), also auszuschließen. Genau darin liegt
die Spannung, die man Erwartung nennt.
Ich nenne sie: Gewissheitsspannung.
(Jetzt brüllen sie wieder, unisono, chormäßig, von den
Hauswänden, scheinbar lautlos. Zum Schein lautlos. Zum Schein andersherum. Nazis raus.
Und die blöden Nazis hocken in ihren Löchern und kommen und kommen und kommen nicht raus. Patt. Wo sie wohl stecken? Unglaublich. Ein Volk von Nazis, das sich duckt und so tut, als habe
es nichts gehört. Nicht zucken, Nachbar. Du bist nicht gemeint. Noch
nicht… Mit dir beschäftigen wir uns morgen. Du bist keiner? Du
findest das unerhört? Warum die Aufregung? Warum so blass um die
Lippen? Erwischt? Erwischt! Gezeichnet: die kollektiven Derwische.) Not my way, Johnny – Wie ein erwachsener Mensch, sexuell unreif geblieben, bei bestimmten Wörtern oder Gesten ins Zittern gerät, so gerät der Mensch der Scham, auf bestimmte Gegebenheiten angesprochen, unweigerlich in Bedrängnis: Schweiß bricht aus seinen Poren, Rost blüht aus seiner Stimme, er fühlt den Zwang zu übergehen, was eigentlich gesagt werden müsste, und herauszuschreien, was endlich gesagt werden müsste, obwohl es unendlich besser ist, es sich zu verkneifen. Der Mensch der Scham ist verkniffen. Er fühlt sich besser, als er ist. Er fühlt sich schlechter, als er es zugibt. Warum fühlt er überhaupt sich? Er sollte fühlen, was alle fühlen, aber er fühlt sich. Scham isoliert. Soll er denn fühlen? Ja, er soll. Darin besteht das Gesetz der Scham: Fühle! Fühle dich! Du sollst wissen, wie es sich anfühlt. Du sollst wissen, wie es ist, wenn man sich schuldig fühlt. Wie, du bist dir keiner Schuld bewusst? Darin liegt deine Schuld, deine unermessliche Schuld, deine Schuld ohne Ende, weil du ihr den Anfang verweigerst. Nur der Anfang gibt Hoffnung aufs Ende. Nimm ihn an! Du musst sie fühlen lernen, tief in dir, erst dann bist du ohne Schuld. Warum weigerst du dich? Was in dir weigert sich? Da ist etwas Dunkles, Unaufgelöstes in dir, das dir eingibt, dir geschehe irgendein Unrecht. Ist es nicht so? Ist dir ein Unrecht geschehen? Willst du das Unrecht, das anderen widerfuhr, so einfach aus deinem Bewusstsein verbannen? Nein, das nicht? Das verstehen wir nicht. Wer A sagt und B verweigert, ist ein Lügner. Sage nicht, du hättest es nicht gewusst. Es ist eine Lüge. Was, du hast es gewusst? Lüge. Nichts hast du gewusst, sonst könntest du dich jetzt nicht so sträuben. Was willst du denn gewusst haben? Ganz recht: Das alles lag vor deiner Zeit. Daraus also ziehst du Entlastung? Wer Entlastung braucht, wie tief steckt der in der Scheiße? Du steckst ganz schön in der Scheiße. Doch eigentlich steckt die Scheiße in dir. Hol’ sie heraus! Entledige dich ihrer. Schrei es heraus: »Scheiße!« Brüll endlich: »Raus!« Du bist der Mensch der Scham, gestern wart ihr wenige, du und deinesgleichen, heute seid ihr viele und morgen gehört euch… Siehst du, so geht das. Schon würgt dich die Scham.
Die Deutschen leben in einer Fäkalkultur. Sie finden scheiße, was damals geschehen ist, sie haben aus der Fäkalie ein Adverb gezogen, das macht ihnen keiner nach. Jedenfalls nicht so schnell, auf dieses Alleinstellungsmerkmal legen sie Wert. Was ist deutsch? Sehr einfach: es scheiße zu finden. Nichts geht leichter als Deutschsein: Finde es scheiße und du befindest dich mittendrin. Nicht wenige bemühen dafür die heilige Dreizahl: scheiße scheiße scheiße. Sie schrecken vor nichts zurück. Darin gleichen sie ihren Vorfahren, jedenfalls denen, die vor nichts zurückschreckten. Und darum geht es schließlich: aversive Mimesis, Nachspielen im Modus des Abscheus. Da staunen Sie! Es will Ihnen nicht zu Kopf? Ich will’s Ihnen glauben. An diesem Knochen habe ich selbst lang genagt.
Das reicht ja bis ins Psychosomatische. Meine ganze Umgebung hat es am Darm. Eine Manifestation, wenn Sie mich fragen. Der deutsche Darm stranguliert sie alle. Wenn ich das so sagen darf. Die Mitgardschlange vermutlich. Darf man das so sagen? Ich weiß es nicht. Es ist ja schon ein bisschen geschmacklos. Und irgendwie auch scheiße gegenüber den Opfern. Ich finde Schweigen manchmal richtig. Man kann nicht zu allem schweigen, das ist auch richtig, aber Sprache ist auch Macht und wer zu allem etwas zu sagen hat, der bringt sich zwanghaft in eine Machtposition, die ihm nicht zusteht. Eigentlich steht sie niemandem zu. Die Deutschen müssen lernen, dass Deutschsein nichts Besonderes bedeutet, darin besteht ihre spezielle Lektion. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Jedenfalls wüsste ich nicht wie. Aber vielleicht sehen Sie eine Lösung. Ophoff
Wenn mir mein Körper nicht mehr sagt, wann ich aufhören muss, dann sollte ich Hilfe in Anspruch nehmen. So schwer ist das gar nicht. Am besten geht das, wenn alle Seiten ihren Stolz ein wenig zurückschrauben. Ich glaube, ich kann das beurteilen, weil ich schon Fälle gesehen habe, ich meine jetzt, das ging da ins Existenzielle. Da wieder herauszukommen ist gar nicht so einfach. Dürrobst
Sie meinen: Deutschsein auf Krankenkasse? Ophoff
So in der Art. Ich würde das jetzt nicht ironisieren. Wobei man als Kassenpatientin sich nicht so … in der idealen Position befindet, das gebe ich gerne zu. Aber nach meiner Auffassung ist das auch gar nicht nötig. Wichtig ist, dass man etwas dagegen macht, zum Beispiel auf Demos oder in Schreibprojekten, ja in Schreibprojekten, das hat eine ganz schön befreiende Wirkung. Wow. Man lernt dann auch zu seiner Schuld zu stehen. Du meinst Verantwortung? Ich meine schon auch Schuld. Schreiben heißt ja begreifen, was man sich schuldig ist. Jeder steht in seiner Schuld, das ist ganz richtig, aber durch das Schreiben begreift man dann auch, dass alle bei allen ›in der Schuld stehen‹, ich finde das einen ganz niedlichen Ausdruck, der wirklich beschreibt, worum es geht. Wer alles scheiße findet, der hat ja kein wirkliches Verhältnis zu seiner Mitwelt. Eigentlich existiert er doch gar nicht. Wenn’s darum geht. Das macht die Toten auch nicht lebendig. Argloser
Sie wollen Tote erwecken, mein junger Freund? Das nenne ich mutig. Mit wissenschaftlicher Prosa werden Sie das nicht erreichen. Sie gehören zu den Deutschen, die gern ungeschehen machen wollen, was nun einmal geschehen ist. Sehen Sie sich vor! Das ist ein Impuls, den die Scham eingibt. Sie wollen die Scheiße vom Tisch haben. Das klingt ziemlich ordinär, aber es bringt die Sache auf den Punkt. Sehen Sie sich vor: Sie sind auf der Suche nach dem Sündenbock. Haben Sie ihn erst gefunden, fühlen Sie sich auf wundersame Weise erleichtert. Und der fa- -schismus? Argloser
-tale Zirkel beginnt von vorn. Die Verortung der Schuld beim politischen Gegner dient der Infantilisierung des Konflikts, in dem der Einzelne steht und den er nicht mit sich austragen möchte. Er will nicht fremde Schuld tragen, auch dann nicht, wenn sie, per Verwandtschaft, per Zugehörigkeit an ihn herangetragen wird. Frei von Makel – das will er sein, so will er zumindest scheinen, deshalb geht der Makel ihm nach, ein eingebildeter Makel erstens, weil die Einbildung ihn hegt und pflegt, bis er sie beherrscht, zweitens, weil er eingebildet macht: kein Makel ist wie dieser, der mich beherrscht, er hebt mich heraus aus der Menge der Erscheinungen, er macht mich sichtbar. Sichtbar, das will ich sein, das war mein Begehr seit jeher, jetzt bin ich’s und es soll falsch sein? Was kann daran falsch sein, dass einer wie ich sichtbar wird? Bin ich nicht singulär? Bin ich nicht zutiefst davon überzeugt, dass niemand mir das Wasser reichen kann? Zeugt nicht auch die Verruchtheit der Verwandtschaft von Erwählung? Nun gut, Erwählung ist vielleicht das falsche Wort, sagen wir: Außerordentlichkeit. Wenn ich außerordentlich bin, wer sind dann die Ordentlichen? Die Dummen, ganz recht, an denen die Verantwortung für das Geschehene klebt, ohne dass sie sich ihrer erwehren können. Wollen Sie’s denn? Oh ja, sie leiden, ohne zu leiden, sie rufen im Chor: ›Ich war’s nicht!‹ und sind es, gerade in ihrer Gesamtheit, doch. Warum sonst glichen sie ihren Väter und Müttern aufs Haar? Sie alle sind eine Brut: der Schoß, aus dem das kroch, der Schoß und das, was aus ihm kroch und wieder Schoß wurde, der sie gebar. Sie sind der ewige Spießer. Wenn ich also einen Makel trage, dann den, mit ihnen verwandt zu sein. Abkömmling von Spießern, Sohn, Enkel, Bruder, Vater von Spießern, Spießerbrut eben, aus gleichem Schoß, aber in ihm bereits rebellierend, ans Licht getreten als Rebell: Mutter war anders. Solange ich denken kann, war sie nicht imstande, sich aus der Spießer-Umklammerung zu lösen, sie selbst zu sein, aufrecht und frei, aber sie war anders. Zwischen Mutter und mir gab es immer einen starken Rapport.
Der Träger der Scham verabscheut das Parteiensystem, das ihn umzingelt und ihn seiner Erwähltheit beraubt. Wohin er blickt, gewahrt er nur eine Partei: die der Spießer. PDH (Partei der Herrschenden) – so nennt er sie, so kennt er sie, denn er kennt nichts anderes. An ihr arbeitet er sich ab. Auf sie schaut er herunter, als sei’s der eigene Abgrund, aus dem ihm das Bild des ewigen Spießers entgegenblinkt. Der Träger der Scham ist männlich. Seine Freundin krault ihn: Schäme dich nicht! Du bist wunderbar. Doch praktisch findet sie seine Scham schon. Das Vergangene ist furchtbar, aber es hat seine Strafe bekommen: es ist vergangen. Ist es nicht furchtbar, immer davon reden zu müssen? Wer redet vom Unrecht, das mir geschah? Auch ich bin aus diesem Schoß gekrochen und es war kein Zuckerschlecken. Ist das nicht furchtbar? Der Furchtbare war mein Vater. Nun, wenn das so ist: Da hast du ein Unrecht, das du wieder gut machen kannst. Ich bin deine Aufgabe. Hast du das nicht gewusst? Ich werde auf dich warten, wie je eine Frau auf einen Mann wartete: aber als Aufgabe. Mein Los zu ändern, darin besteht deine Aufgabe. Eine Jahrhundert-Aufgabe. Nein, ich werde nicht warten. Wo immer du mich vermutest, werde ich schon gewesen sein. Ich bin schon weiter. Wir alle sind ein Stück weitergekommen. Findest du nicht? Siehst du, ich bin ein Stück weiter als du. Du musst nachlegen, wenn du mich erreichen willst. Du stehst mir im Weg. Den Satz kannst du dir merken. Du wirst ihn noch oft zu hören bekommen. So redet die Freundin der Scham. Und siehe, es geschehen Zeichen und Wunder: Die Bankenwelt kracht ein und funkelt wie nie zuvor, das Privateigentum sammelt sich in den Taschen des Staates und fließt in Projekte diesseits und jenseits des Traums, jenseits der Menschheit, wie die Frommen zu tuscheln und die Progressiven ihnen bald nachzuplappern beginnen, die Welt wird ärmer und reicher, ärmer an Geist und reicher an Gelegenheiten, die Armut wächst und mit ihr die Gewissheit, ihr entrinnen zu können, die Geldsumme wächst und mit ihr die Schulden, der Reichtum wächst und mit ihm das Bewusstsein, besser zu sein als die vorausgegangene Menschheit, ausgenommen die Opfer. Nur die Quote, die einsame Quote am Horizont bleibt unerfüllt wie die Liebe, wie der Hass, wie die Gerechtigkeit, wie der lange Zorn, wie die Angst vor dem angekündigten Untergang, wie der Traum vom besseren Leben, wieviele ihn auch zu leben sich tagtäglich anschicken.
B: Du weißt –
A ist schuld.
A ist sich keiner Schuld bewusst.
A: Ich habe da einen Vorschlag.
B (zu A): Schämst du dich nicht?
A, B und C empfinden keine Scham.
»Sieh jene Kraniche in großem Bogen« –
(1) Der tote Fluss Abseits, vorbei / »Hat der Deutsche lange genug ›Arschloch‹ gebrüllt, bebt er vor dem Wort ›Rektum‹ zurück.«
»Was witzig ist, bestimme ich. Klugscheißer. Das mein’ ich ernst.« »Scheiß auf die Prinzipien.«
»Scheißkerle. Scheißweiber. Scheißstudium. Scheißklausur. Scheißhaus. Scheißwindeln. Scheißlektüre. Scheißfilm. Scheißabend. Scheißklamotten. Scheißarbeit. Scheißmanieren. Scheißangst. Scheißegal. Scheißfritten. Scheißfraß. Scheißbude. Scheißvermieter. Scheißbetrieb. Scheißgehalt. Scheißbetroffen. Scheißlangsam. Scheißprogramm. Scheißgeld. Scheißkälte. Scheißverkehr. Scheißsport. Scheißrendite. Scheißzinsen. Scheißhunger. Scheißbedürfnis.«
»Wenn einer Scheiße baut und sich weigert, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dann ist er ein Scheißkerl.«
»Ich fühl mich sooo beschissen.«
»Wie beschissen ist das denn?«
»Frag mich, wer so ’n Scheiß erfindet.«
»Deine Scheißgarantie kannst du dir in deinen beschissenen Scheiß-Hintern schieben. Wenn irgendeine Scheiße passiert, steckst du mit deinem Scheiß-Arsch bis zum Hals in der Scheiße. Systemkonformität ist die von Menschen, die nicht anecken wollen, bevorzugte
Weise anzuecken. – Der Satz ist nicht so paradox, wie es auf den ersten Blick
aussehen könnte, da ›anecken‹ eine bloße Metapher und daher unterschiedlich
auslegbar ist. Nun wäre es immer misslich, eine Definition auf eine Metapher zu
gründen, lägen in diesem Fall nicht besondere Gründe vor, die das Verfahren
rechtfertigen könnten. Ich persönlich habe deren drei gefunden: 1) Ob ein Mensch konform ist (oder geht), liegt stets im Auge des
Betrachters. Kein Mensch genügt sich als Betrachter seiner selbst, daher kann
kein Mensch ein klares Bewusstsein des ihm eigenen Konformismus besitzen. 2) Die Konformität eines Menschen liegt in seinen Beweggründen. Wer sie nicht
kennt, kann schlechterdings nichts über diesen Gegenstand aussagen. Nun ist es
aber zutiefst unwahrscheinlich, dass einer über die Beweggründe eines anderen
vollständig im Bilde sein könnte, selbst wenn er davon ausgeht, dass der andere
ihn darüber hinreichend aufgeklärt hat. Denn er kann (a) die Möglichkeit nicht
ausschließen, vom anderen getäuscht oder bewusst im Unklaren gelassen worden zu
sein, und er kann (b) nicht vollständig ausschließen, dass er den anderen in dem
einen oder anderen Punkt, vielleicht sogar in einem Hauptpunkt, missverstanden
hat und dadurch einen wesentlichen Aspekt seines Handelns nicht überblickt. 3) Kein Mensch kann das System, dessen Teil er ist und zu dem er sich nolens
volens verhalten muss, vollständig überblicken. Er kann sich also auch nicht
vollständig gefügig verhalten (jedenfalls was das System im Ganzen angeht). Vor allem der dritte Punkt ist bedeutsam, weil er die Möglichkeit eröffnet,
dass einer, der sich in allen seinen Handlungen durch das Urteil seiner Umgebung
leiten lässt, sich eben dadurch sowohl als Konformist als auch als Nonkonformist
ausweist, ersteres deshalb, weil er seine unmittelbare Umgebung mit dem System
gleichsetzt, letzteres, weil er in dieser Hinsicht empfindlich irren kann – sei
es, dass er sich in einer Umgebung von Nonkonformisten bewegt, sei es, dass der
Konformismus seiner Umgebung auf falschen Annahmen über das System beruht. Er
dürfte also, von einer höheren Warte aus betrachtet, in jedem Fall anecken,
genauso übrigens wie jemand, der danach strebt, sich dem System als solchem
gegenüber konform zu verhalten, dabei jedoch die Anpassung an die unmittelbare
Umgebung und ihre Überzeugungen vernachlässigt. Denn letztere ist doch stets
auch Teil des Systems und daher keineswegs zu vernachlässigen. Gesetzt den Fall, er bewegt sich in einer Umgebung, die, wie er selbst,
bestrebt ist, sich in allen Punkten dem System als Ganzen gegenüber konform zu
verhalten, also etwa so, wie Börsenzocker sich in vorauseilendem Gehorsam
gegenüber den Bewegungen des Marktes üben, dann bleibt doch der Umstand, dass er
sich als Mensch in demselben Ausmaße gezwungen sieht, Abstriche an seinen in der
Form von Überzeugungen eine gewisse Mitgegenwart erwirkenden persönlichen
Prägungen vorzunehmen. Denn kein Mensch gleicht doch derjenigen Person, die er vor
einer Handvoll Jahren darstellte. Ebenso gleicht kein System in einem späteren
Stadium aufs Haar demjenigen, das es einmal war. In dieser Hinsicht führt der
Satz ›Das System hat sich nicht geändert‹ stets mit einiger Sicherheit in die
Irre. Bekanntlich besitzt jedes System eine Umwelt. Es unterliegt also, sofern es
auf Selbsterhaltung angelegt ist, den Gesetzen der Anpassung. Individuelle
Prägungen wiederum dienen, indem sie das Selbst repräsentieren, der
Selbsterhaltung, gleichsam den Markenkern der Person. Daher können sie nicht
nach Belieben ausgetauscht werden. Dennoch gibt es auch hier subkutane
Entwicklungen, also Anpassungsvorgänge, die allerdings ein eigenes Zentrum und
einen eigenen Entwicklungsmodus ihr eigen nennen. Man stelle sich im
Gedankenexperiment vor, ein Individuum X erreiche zum Zeitpunkt t10 sein
Systemkonformitätsmaximum, also weitestgehende Angepasstheit –: damit ist
klar, dass es sich von diesem Zeitpunkt an, die Persönlichkeitsentwicklung
eingerechnet, nur verschlechtern kann, so dass unweigerlich der Zeitpunkt t35
näherrückt, in dem als Verwendungs- respektive Verhaltensoptimum seine
Ausmusterung ansteht. Allerdings wäre hierbei vorauszusetzen, dass sich sowohl das System als auch
die Persönlichkeit vom Zeitpunkt t10 an einsinnig fortbewegen (wobei es nicht
auf die jeweils besondere Richtung ankommt, die beide einschlagen). Was in träge
dahinplätschernden Zeitläufen durchaus vorkommen kann. Allerdings sollte man
sich einer solchen Entwicklung nicht allzu sicher sein. Das Schicksal der Menschheit im Ganzen wie
das des Einzelnen scheint unter dem Motto zu stehen: Etwas passiert immer. Ob
es, meist im Nachhinein, sich als vorhersehbar ausweist oder zu den absolut
unvorhersehbaren Singularitäten gerechnet werden muss, sollte dabei als nachrangig
gelten. Was bedeuten diese Überlegungen für das Dasein des Systemkonformen? Zunächst
einmal: Das Bewusstsein, systemkonform zu handeln, sofern es im Einzelnen
anzutreffen ist, greift entweder zu früh oder zu spät – zu früh, insofern die
Intention der Existenz stets vorauseilt, das anvisierte Maximum daher stets noch
in der Zukunft liegt, zu spät, insofern eine Sicherheit des Besitzes auf dem
Feld nicht zu erreichen ist und das Vollgefühl der Angepasstheit bereits den
Ansatz der Dekadenz in sich trägt. Wirklich angepasst ist daher im Glücksfall
nur derjenige, der sich für unangepasst hält oder an die Konformität oder
Nonkonformität seines Handelns und seiner Existenz keinerlei Gedanken
verschwendet. An dieser Stelle scheint ein Seitenblick auf die Alltagsprofile von
Politikern angebracht, an deren Karrieren sich vielleicht am unverhülltesten das
Wechselspiel von Anpassung und Erfolg ablesen lässt. Einer, der sein
Politikerdasein als reiner Systemkonformist beginnt (oder auch nur als solcher
wahrgenommen wird), hat wenig Chancen, als erfolgversprechende Person in
Erscheinung zu treten und damit eine der Bedingungen für den Aufstieg in höhere
Positionen zu erfüllen. Der Grund liegt auf der Hand: Er würde, nach Jahren des
Aufstiegs, sein Angepasstheitsmaximum bereits weit hinter sich gelassen haben.
Im schlimmsten anzunehmenden Fall wäre er damit genau zu dem Zeitpunkt
›ausgebrannt‹, zu dem er in eine verantwortliche Stellung einrücken könnte. Eine
Politikerkarriere auf dieser Basis dürfte also stets dem Zufall einer speziellen
Konstellation geschuldet sein. Solche Zufälle gibt es zuhauf, daher ist der
Anblick toter Politikerseelen in hohen und höchsten Ämtern keine Seltenheit. Wer daraus allerdings den Schluss ziehen wollte, wirklich erfolgreiche
Politiker seien durch die Bank Nonkonformisten oder verfügten zumindest über die
allseits nachgefragten Ecken und Kanten, die sie befähigten, gegen die
Konkurrenz zu bestehen, der hätte den vorgetragenen Sachverhalt nicht wirklich
begriffen. Ein Politiker, der in ein hohes Amt befördert oder gewählt wird, hat
idealiter zu diesem Zeitpunkt auch sein Angepasstheitsmaximum erreicht. Falls
nicht, haben seine Förderer sich eben in ihm getäuscht und jedermann muss mit den
Folgen leben. Nonkonformismus ist der Politikerkarriere nur in zwei Phasen
dienlich: zu Beginn, da er ein unausgeschöpftes Entwicklungspotential verheißt,
gegen Ende, da er gewöhnlich mit einem nachlassenden Willen zur Macht
einhergeht und die Ablösung im Amt beziehungsweise den Übergang ins private
Leben erleichtert. Nur der vollendete Konformist will die volle Macht und nichts als sie.
Dieses häufig unbeachtete Axiom wird dadurch verdunkelt, dass die pathologischen
Fälle der Weltgeschichte es angeblich ebenso widerlegen wie die Beobachtung,
dass der öffentlich bekundete Wille zur totalen Machtablösung sich in der
Mehrheit der Fälle als Wille zum radikalen Systemwechsel geriert. Doch auch in
dieser Hinsicht ist mehr Schein als Sein im Spiel. Was in der Politik ›Systemwechsel‹ heißt, beschränkt sich in der Regel auf
ein, zwei Elemente innerhalb bestimmter Teilsysteme, äußerstenfalls auf deren
Auswechslung in toto. Die Folgen für die Betroffenen, gelegentlich auch
für die Gesamtheit der Regierten, können durchaus beträchtlich sein. Über das
Ausmaß an Systemkonformität derer hingegen, die an den Stellschrauben drehen,
sagt das wenig bis gar nichts aus. Es kann gerade der Wille nicht anzuecken
sein, der sie zu ihrem Tun beflügelt, ganz nach dem Motto: Einer (oder eine)
musste es tun. Dann wird genau diese Weise anzuecken (eine ›anstehende‹
Änderung im System durchzusetzen) zum Markenzeichen der Person, ›deren Zeit
gekommen war‹, deren Handeln ›an der Zeit war‹ etc. Rückblickend, heißt das,
entpuppt sich gerade eine solche Person als Inkarnation des Systems, als eine
seiner Überlebens- oder Selbstheilungsfinten. Was wenig plausibel wäre, bestünde
nicht eine tiefe Übereinstimmung zwischen ihren persönlichen Motiven und dem,
was das System in diesem Moment ausmacht – immer vorausgesetzt, man betrachtet
das System nicht als statisches, sondern als dynamisches, sich entsprechend den
Erfordernissen wandelndes Gebilde. Was die pathologischen Fälle angeht, so können sie der hier exponierten These
eher als Belegstücke dienen. Denn nirgendwo zeigt sich das sogenannte Allgemeine
der Verhältnisse deutlicher als in den sogenannten Pathologien. In ihnen erhebt
sich das furchtbare Antlitz der Systemkonformität ohne Sinn und Verstand,
jedenfalls in der Bedeutung, die letzterem in der zweckmäßigen und ethisch
verträglichen Gestaltung der menschlichen Dinge zukommt. Der Konformist, dem es
an elementarer Urteilskraft gebricht und der sich deshalb phantastischen, aber
sozial abgesicherten Überzeugungen verpflichtet fühlt, ist das politische
Schreckbild schlechthin. Allerdings gibt es eine spezifische Pathologie des
Politischen, die stets in Betracht gezogen werden sollte, sobald sich
Machtfragen in den Vordergrund drängen. Wer Politik gestalten will, dem darf das
Leiden an der Politik nicht fremd sein. Er muss es tief in sich aufgenommen
haben, um damit jonglieren zu können, mehr, er muss es selbst repräsentieren, um
jenen Sog zu erzeugen, der ihn nach und nach mit den nötigen Parteigängern und
Gefolgsleuten versorgt. In diesem Bereich scheint der Satz ›Gleiches wird durch
Gleiches erzeugt‹ tatsächlich eine gewisse Berechtigung zu besitzen. Was in der Politik überlebensgroß in Erscheinung tritt, das
lässt sich im bürgerlichen Leben an allen Ecken und Enden beobachten. Der
optimal Angepasste ist der, der von keiner Anpassung weiß. Wer sich ängstlich um
Anpassung bemüht, hat zumeist das System nicht begriffen und ahmt nur einzelne
Züge desselben, meist an Personen, die er bewundert, nach. Wer sich forsch als
Nonkonformist in Szene setzt, handelt in den allermeisten Fällen aus dem
konformistischsten aller Gründe: er will bewundert werden. Ob es ihm gelingt,
hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem davon, ob dasjenige, was ihn
von den anderen abheben soll, also zum Beispiel eine grelle Frisur oder ein
Benehmen jenseits der bürgerlichen Anstandsgrenzen, einem Erfolgscode folgt und
damit dem Anspruch auf Erkennbarkeit genügt, oder ob es unmittelbar der
Lächerlichkeit anheimfällt, die ihm, aus einiger Distanz betrachtet, in jedem
Fall eignet. In dieser Hinsicht bleibt selbst der bei seinesgleichen
erfolgreiche Schein-Nonkonformist ein armer Tropf. Das hindert, wie man sah,
auch in Gefahr geratene Volksparteien nicht daran, seine Dienste in Anspruch zu
nehmen oder bei Gelegenheit sogar um seine Gnade zu winseln. Das Problem des Schein-Nonkonformismus ist eng mit dem der Werbung
verschwistert. Wer etwas kauft, nicht, weil er es benötigt, sondern um sich von
anderen zu unterscheiden, i.e. weil er es nötig hat, der kauft sich damit
Nonkonformität, das heißt, er verlegt den Nonkonformismus in den Kauf selbst.
Der Kaufakt als Urgeste der Waren- und Konsumgesellschaft taugt an sich weder
als Ausweis von Konformismus noch von Nonkonformismus. Als sinnlose Geste, als
reiner Kaufakt kann er Konformismus zum Ausdruck bringen, muss es aber nicht.
Denn auch das Gegenteil ist denkbar: Kaufen als kritische Geste gibt der
Sinnlosigkeit einen guten Sinn, jedenfalls nach dem Willen der Akteure. Dieser
Sinn übersteigt einerseits den Kauf-Sinn, andererseits bleibt er ihm verhaftet.
Wer kauft, der kauft, er mag sich dabei denken, was er will. Wer das eine tut und das andere dabei denkt, dem attestiert die Gesellschaft
gern ein gespaltenes Bewusstsein. Zu Recht: Wenn du Konsumgegner bist, dann
enthalte dich gefälligst des Konsums. Wie allgemein bekannt, ist das sogar in
Gesellschaften nicht so einfach, in denen es wenig zu konsumieren gibt. Wenn der
Erwerb schwierig wird, sei es auf Grund eines herrschenden Mangels oder
künstlicher, vom Gesetzgeber geschaffener Hindernisse, sei es vermöge eines
Tabusystems, das für Enthaltsamkeit sorgen soll, steigt in der Regel seine
Bedeutung, weil die Begehrlichkeit mit dem Aufwand wächst und mit dem Objekt des
Begehrens auch die Mittel und Wege, an es zu gelangen, ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken. Unvermeidlich gerät daher, wer den Akt des Kaufens mit
zusätzlicher Bedeutung auflädt, in die Falle des Fetischismus. Kritikfetischist und Konsumfetischist sind aus ein und demselben Holz. Um das
zu beobachten genügt es, die erweiterte Szene in Betracht zu ziehen. Beide haben
Vorsorge getroffen, damit ihr Handeln nicht unbemerkt bleibt. Dafür sorgt im
einen Fall die Anwesenheit eines Kamerateams, im anderen die begleitende
Propaganda-Arbeit. Worin die Vorsorge im Einzelnen besteht, ist nicht so
wichtig. Bedeutsam ist nur, dass es sich in allen Fällen um das Aufstellen von
Spiegeln handelt, i.e. von Elementen der Selbstbetrachtung. Wenn zum Beispiel
eine Gemeinschaft von Schönheitsjüngern politische Schönheit dadurch
definiert, dass sie gesellschaftliche Gesten imitiert, um durch eine
übertriebene Art der Zurschaustellung das System ad absurdum zu führen,
dann achtet sie sorgfältig darauf, nicht selbst durch die sogenannte Botschaft
aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verdrängt zu werden. Ein Analytiker sollte
folglich die Aufmerksamkeitsmaschine im Blick haben, um die begleitende Absicht
oder den Zweck der Botschaft zu verstehen. Häufig fällt dabei der Exposition des
eigenen Körpers eine hervorstechende Rolle zu. Gut beobachten lässt sich das
bei den sogenannten ›Femen‹, den Protestiererinnen der entblößten Brust. Wer auf
dem hier gefragten Feld nichts zu bieten hat, bevorzugt eher andere Formen des
Protests. Der Fetischismus verhält sich zum Konformismus wie der Witz zu der in ihm
verborgenen Sachaussage. Er negiert ihn durch Nullität und bestätigt dadurch
seine Unausweichlichkeit. Böte er einen gangbaren Weg, ihm zu entgehen, so
verwandelte er sich auf der Stelle in ein sinn- und ernsthaftes Weltverhältnis.
Fetischisten sind Konformisten. Sie haben vor der Dynamik, die jedem
System eignet, die Waffen gestreckt und zelebrieren es als glorifizierte
Wiederkehr des Gleichen. In ihren Augen hat nicht das System sich ihrer
bemächtigt, vielmehr sie sich seiner, da ja die Form der Aneignung ganz die ihre
ist. In gewisser Weise kreiert jede Systemtheorie einen Fetisch, weil sie den
Tausenden oder Millionen Krabbelbewegungen wirklicher Lebewesen, die das System
realiter ausmachen und weitertragen, ein Schema substituiert, dem sie die
magische Fähigkeit der Selbstbewegung zuschreibt, obwohl es nur in der Theorie
existiert. An dieser Stelle sei eine Unterscheidung versucht: Bloßer (reiner)
Konformismus versus Systemkonformismus (Konformität). Bloßer
Konformismus als die zwanghafte Weise, nicht anecken zu wollen, verhält sich zur
Konformität wie das Tabu zum Katechismus. In beiden Fällen ist das eigentliche
Ziel die Vermeidung des Regelbruchs. Im ersten Fall wird es durch
Unsichtbarmachung des zu Meidenden, im zweiten Fall durch explizite und
moralisierende Zurschaustellung angestrebt. Der wahrhaft konforme Mensch kann
ohne Selbstwiderspruch den obersten Ankläger oder den Revolutionär geben und es
sogar sein. Hauptsache er schleudert die Bannflüche, vor denen der bloße
Konformist sich in eine Art Trance-Leben flüchtet, weil sie ihn schaudern
lassen. Diese Differenz wird im Allgemeinen leicht übersehen. Das liegt daran,
dass Systemkonformität, anders als bloßer Konformismus, keine allgemeine Agenda
besitzt. Der Grund dafür ist eindeutig. Sie will nicht im System überleben,
sondern das System gestalten. Dazu muss sie es benennen, als wäre es ein
anderes. Anders ausgedrückt: Sie muss Mittel und Wege finden, eine Differenz zu
erschaffen, die nur durch dieses konforme Subjekt und seine Mitstreiter beiseite
geschafft werden kann. Um ein Beispiel zu geben: Lenins Oktoberrevolution ist
nicht die Russische Revolution, sondern allenfalls eine Episode. In ihr
vollzieht sich die Aneignung der Revolution durch das Subjekt Lenin, das sich
darauf spezialisiert hat, die Differenz offenzuhalten, bis es selbst an die
Spitze des Zuges tritt. Lenins Konformität ist die des Berufsrevolutionärs, der
darauf angewiesen ist, dass es, auf welche Weise auch immer, zur Revolution
kommt. Hat das System diesen Punkt erreicht, dann ist es seins – mit anderen
Worten: dann kennt er sich aus. Es gibt einen (bloßen) Konformismus der Tat und einen des Leidens. Bei
ersterem fällt es hin und wieder schwer, die Grenze zu dem zu bestimmen, was
hier Konformität genannt wird. Wer in einer bestimmten Situation konform handelt
oder aus bloßem Konformismus, bleibt unter den Zeitgenossen häufig strittig und
bietet, privat und öffentlich, Stoff für unendliche Interpretationen. Die
klassische Figur des (bloßen) Konformisten der Tat ist die des Denunzianten, der
aus abstrakter Angst vor Tabuverletzung damit beginnt, selbst engste Mitmenschen
der Überschreitung roter Linien zu bezichtigen und damit das vom Tabu
erschaffene Loch in seiner Wahrnehmung mit mehr oder weniger erfundenen Feinden
zu füllen. Als wirkliche oder eingebildete ›Fehl‹Handlungen des anderen kann er
all jene Handlungsoptionen benennen, die ihm selbst nicht zur Verfügung stehen,
weil er sie sich täglich verbieten muss. Ist das Tabu ein Denktabu, dann dringt
er mehr oder weniger tief in die Gedankenwelt des anderen ein, ohne den fälligen
Tribut an Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und Motivverstehen zu entrichten.
Im Ernstfall genügen zwei, drei hingeworfene Sätze des anderen, und er weiß
Bescheid. Worüber? Über alles. Woher? Aus dem eigenen Inneren, woher sonst! Was
ist dieses Innere? Nichts anderes als der vom Tabu ummantelte Ideenraum, den er
mit seinen Mitmenschen teilt. Wenn ein Politiker, der seine Stunde – sein ›Zeitfenster‹ – gekommen sieht,
den auszuschaltenden Gegner markiert, dann verhält er sich äußerlich betrachtet
ganz analog, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Optionen des anderen
mehr oder weniger sorgfältig für sich selbst erwogen und verworfen hat. Folglich
ist der Gegner für ihn kein Verworfener, sondern ein alter ego – ein
zweites Ich, dessen praktische Bekämpfung sich logischerweise aus der einmal
gefällten Entscheidung ergibt. Natürlich ist es praktisch, ihn den Konformisten,
den eigenen Parteigängern oder der Meute zum Fraß vorzuwerfen, indem man ihn für
verworfen erklärt, aber das ist reine Propaganda und keiner ernsthaften
Betrachtung wert. Der Konformismus des Leidens bedarf einer eigenen Untersuchung. Der Große Denunziant hat beschlossen, dem Treiben der Zunft ein Ende zu setzen, und die Treibjagd beginnt. Sie beginnt (nach bewährtem Muster, würden ein paar Veteranen des Gewerbes nicken) mit einem Artikel im Wochenblatt für das gehobene Bürgertum, manche sagen, für die gehobene Braue, doch dieser Unterschied bleibt rein theoretischer Natur, solange die Deutschlehrer des Landes aus ihm den Stoff für den nächsten Besinnungsaufsatz destillieren und deshalb in Treue fest zum Abonnentenstamm zählen.
Gewiss: kartographiert. So wie Leckebusch Gutachten erstellt, wann immer er in die Tasten greift, so erstellt der Große Denunziant, wann immer er sich der Sprache bedient, Karten – jede neu, jede ein bisschen anders, doch insgesamt ähneln sie einander sehr, so dass, wer einmal auf einer sich zu orientieren gelernt hat, mit Leichtigkeit sich auch auf den Folgekarten zurechtfindet: Geheimnis des ungeheuren Erfolgs, der an diesen Fingern klebt, seit sie sich zum ersten Mal herabgesenkt haben, um Gedanken auf einem Stück Papier zu fixieren, das heißt echte, patentierte Gedanken in jenen Zustand der Betäubung zu versetzen, in dem sie spielend, selbst durch unkundige Hände, von einem Untergrund auf den nächsten übertragen werden können.
Der Große Denunziant hat beschlossen, dem Treiben der Zunft ein Ende zu setzen, und die Treibjegd beginnt. Sie beginnt (nach bewährtem Muster, würden ein paar Veteranen des Gewerbes nicken) mit einem Artikel im Wochenblatt für das gehobene Bürgertum, manche sagen, für die gehobene Braue, doch dieser Unterschied bleibt rein theoretischer Natur, solange die Deutschlehrer des Landes aus ihm den Stoff für den nächsten Besinnungsaufsatz destillieren und deshalb in Treue fest zum Abonnentenstamm zählen. Um eine Breitseite abzufeuern, muss ein Schlachtschiff Silhouette zeigen. An diesem Mittwoch im Mai sind alle an den Geschützen: von der Chefredakteurin über den Wissenschaftsredakteur und den Feuilletonchef bis hinunter zu den Laufburschen des Meinungs-Hickhacks, den Kontrolleuren der einlaufenden Leserbriefe; auch ein paar zufällig an Bord befindliche Historiker lassen den Feldstecher schweifen. Nur der Meister selbst lässt sich vertreten und erwartet das Geschützgrollen aus sicherer Entfernung von Land. Der Meister ist unpässlich. In seinem mit Büchern vollgestopften Büro starrt er auf den Bildschirm, auf dem Zeichenhaftes erscheint. Die Linke, zur Faust geballt, liegt auf dem Schreibtisch, lose, wie achtlos hingeworfen, während die Rechte mit bestürzender Gelenkigkeit Buchstabenreihen hämmert, angesichts derer die Welt aufhorchen wird, denn sie künden vom Lärm dieser Welt, als werde er hier, an diesem Gerät, von diesem hageren Körper erstmals vernommen und kartographiert. Gewiss: kartographiert. So wie Leckebusch Gutachten erstellt, wann immer er in die Tasten greift, so erstellt der Große Denunziant, wann immer er sich der Sprache bedient, Karten – jede neu, jede ein bisschen anders, doch insgesamt ähneln sie einander sehr, so dass, wer einmal auf einer sich zu orientieren gelernt hat, mit Leichtigkeit sich auch auf den Folgekarten zurechtfindet: Geheimnis des ungeheuren Erfolgs, der an diesen Fingern klebt, seit sie sich zum ersten Mal herabgesenkt haben, um Gedanken auf einem Stück Papier zu fixieren, das heißt echte, patentierte Gedanken in jenen Zustand der Betäubung zu versetzen, in dem sie spielend, selbst durch unkundige Hände, von einem Untergrund auf den nächsten übertragen werden können.
Wer ihm gegenwärtig über die Schulter blickte, könnte erstaunt ausrufen: Kenne ich! Das ist doch, das ist doch…! – »Was wird’s schon sein!« soll der Große Denunziant, die Karte faltend, bei solchen Gelegenheiten sein Gegenüber entmutigen, er verfügt über seine Geheimnisse mit serenissimushafter Grandezza, ein vorsichtig alternder Duodezfürst auf den Schlachtfeldern der Moderne, auch er der Gezeichneten einer, auch er trägt das Mal der … Erwählung, anders wäre er nicht in diese Position, sagen wir, aufgestiegen, wenngleich das Wort ›Aufstieg‹, selbst mit dem Zusatz ›kometenhaft‹ ausgestattet, seiner Bahn nicht gerecht wird, sie gewissermaßen bürgerlich denunziert, und bürgerlich … das, nun ja, gehört zu den Geheimnissen.
Wer ihm gegenwärtig über die Schulter blickte, könnte erstaunt ausrufen: Kenne ich! Das ist doch, das ist doch…! – »Was wird’s schon sein!« soll der Große Denunziant, die Karte faltend, bei solchen Gelegenheiten sein Gegenüber entmutigen, er verfügt über seine Geheimnisse mit serenissimushafter Grandezza, ein vorsichtig alternder Duodezfürst auf den Schlachtfeldern der Moderne, auch er der Gezeichneten einer, auch er trägt das Mal der … Erwählung, anders wäre er nicht in diese Position, sagen wir, aufgestiegen, wenngleich das Wort ›Aufstieg‹, selbst mit dem Zusatz ›kometenhaft‹ ausgestattet, seiner Bahn nicht gerecht wird, sie gewissermaßen bürgerlich denunziert, und bürgerlich … das, nun ja, gehört zu den Geheimnissen.
Definiere den Punkt deiner maximalen Verletzlichkeit und dein Feind, dein wirklicher Feind wird ihn über kurz oder lang ins Visier nehmen. Wer daraus schließt, es komme darauf an, keine Feinde zu haben, hat die Lektion nur zur Hälfte begriffen. Die Stelle, auf der das Lindenblatt lag, ist gut für alle Feindschaft der Welt, keine ›Gegnerschaften‹, bei denen die Klingen gekreuzt und gewonnene wie verlorene Runden pünktlich, samt Punktzahl, angezeigt werden – wirkliche Feindschaft bleibt subkutan, sie nähert sich in der Maske der Freundschaft, des Ausgleichs, selbst der Versöhnung. In der Mehrzahl der Fälle allerdings bevorzugt sie die Farbe der Gleichgültigkeit, das atlantische Grau, das Wolfsgrau der U-Boote, hinter dem der nasse Tod auf seine Gelegenheit wartet, das Stumpfgrau der leichten und schweren Kreuzer, pünktlich am Horizont erscheinend, sobald die Würfel gefallen sind und die Stunde der finalen Entscheidung naht, selbst wenn die Zeit der Zerstörung den Akteuren lang werden sollte.
Der Meister übt, wie andere vor und nach ihm, seinen Zauber diskret, mit jenem winzigen Zusatz an Ironie, die seinen Schriften völlig zu fehlen scheint, erst recht seinen öffentlichen Auftritten, bei denen er ein leicht gequältes Pathos bevorzugt. Wer ihn kennt, wer ihn wirklich kennt, weiß, er ist anders. Die Kunde von seinem Anderssein erfüllt die Welt, soweit sie mit ihm sympathisiert. Auf Sympathisantentum, auf kollektive Sym- und Antipathie ist seine Herrschaft gegründet. Jedes Buch, das von ihm auf den Markt kommt, beliefert Freund wie Feind: den einen mit wohlfeilen Argumenten, den anderen mit ebenso wohlfeilen Widerlegungen, die sich aus der Sache selbst ergeben, soll heißen, offensichtlich im Gedankengang bereits angelegt sind. Nicht das Argument zählt, sondern der Affekt, der sich seiner bemächtigt. Wer, wie zum Beispiel Argloser, das nicht versteht, wer die Skala der Erregungen nicht parat zu haben scheint, der kommt so wenig in Betracht, dass er das Grau der Kanonen, pardon, für ein Zeichen mangelnder Überzeugungskraft hält und sich vergebens fragt, warum die Kollegen gerade um diese Bücher soviel Aufhebens machen. Leckebusch allerdings, der Mann aus dem Osten, kennt seine Pappenheimer und geht den Schützlingen des Meisters, wann immer es sich einrichten lässt, aus dem Weg. Der Meister übt, wie andere vor und nach ihm, seinen Zauber diskret, mit jenem winzigen Zusatz an Ironie, die seinen Schriften völlig zu fehlen scheint, erst recht seinen öffentlichen Auftritten, bei denen er ein leicht gequältes Pathos bevorzugt. Wer ihn kennt, wer ihn wirklich kennt, weiß, er ist anders. Die Kunde von seinem Anderssein erfüllt die Welt, soweit sie mit ihm sympathisiert. Auf Sympathisantentum, auf kollektive Sym- und Antipathie ist seine Herrschaft gegründet. Jedes Buch, das von ihm auf den Markt kommt, beliefert Freund wie Feind: den einen mit wohlfeilen Argumenten, den anderen mit ebenso wohlfeilen Widerlegungen, die sich aus der Sache selbst ergeben, soll heißen, offensichtlich im Gedankengang bereits angelegt sind. Nicht das Argument zählt, sondern der Affekt, der sich seiner bemächtigt. Wer, wie zum Beispiel Argloser, das nicht versteht, wer die Skala der Erregungen nicht parat zu haben scheint, der kommt so wenig in Betracht, dass er das Grau der Kanonen, pardon, für ein Zeichen mangelnder Überzeugungskraft hält und sich vergebens fragt, warum die Kollegen gerade um diese Bücher soviel Aufhebens machen. Leckebusch allerdings, der Mann aus dem Osten, kennt seine Pappenheimer und geht den Schützlingen des Meisters, wann immer es sich einrichten lässt, aus dem Weg. Genau genommen liegen 4 Kampfungetüme einander gegenüber, jedes in punkto Feuerkraft Dritten gegenüber in der Position ungezügelter, sprich: das absolute Grauen streifender Überlegenheit. Zusammen bilden sie das magische Quadrat wechselseitiger Vernichtung. Kein anderer Zweck hat sie zusammengeführt, der eine bannt sie in ihre Positionen und diktiert jede ihrer Bewegungen. In diesem Geviert macht sich eine Asymmetrie bemerkbar: die 2x2 Einheiten treffen im rechten Winkel aufeinander, was zur Folge hat, dass auf die erste Breitseite des Großen Denunzianten hin allein die vorderen Geschütztürme des Gegners zum Einsatz kommen, zu ungenau, zu tentativ, um Schaden anzurichten, wohingegen sich die verteilte Mannschaft des Großen Steuermanns präzise Salve für Salve an die andere Seite heranarbeitet, um nach kurzem Einschießen Treffer auf Treffer zu setzen – eine einseitige Demonstration, wie der Maat zum Kellner bemerkt, der Schweigen bewahrt, das rituelle Schweigen der Mituntergehenden, die nicht gemeint sind, aber bis ans Ende gebraucht werden –
Liebe deine Feinde…! Der Große Denunziant kennt den Spruch aus frühen Messdiener-Zeiten. Er hat großen Eindruck auf ihn gemacht. Er seinerseits hat ein erfülltes Forscherleben darauf verwendet, verschiedene Lesarten an sich und anderen zu erproben. Eine Variante, die er eine Zeitlang bevorzugte, lautet: Liebe DEINE Feinde! Er hat sie lange vertreten, aber schließlich doch verworfen, weil die Einschränkung des Liebesgebots auf eine handverlesene Feindesschar allzu offen dessen universalen Geltungsanspruch aushebelt. Verworfen wurde auch die Variante ›Liebe deine FEINDE!‹, die exklusiv Liebe und Feindschaft miteinander verbindet, als liege in letzterer ein kostbarer Schatz, den ausschließlich Liebe zu heben imstande sei. Das mag für ein Nonnenleben taugen, aber nicht für die emanzipierte Gesellschaft. Erst die kommunikationstheoretische Auflösung war seiner Auffassung nach geeignet, Ruhe in das schwere Geschäft der Deutung zu bringen und die ersehnte Diskurshoheit in greifbare Nähe zu rücken: Lass deine Feinde reden! Nur nicht immer und überall. Bestimme du den Ort der Auseinandersetzung – einmal räumlich, das versteht sich von selbst, dann medial, durch sorgsame Scheidung legitimer von illegitimen Austragungsorganen, also solchen, die ein anständiger Mensch nicht zur Kenntnis zu nehmen braucht, schließlich ›diskurslogisch‹ – er liebt derlei Wörter, sie sind das Gleitmittel, das seine Rede zum Fließen bringt wie das für gewöhnlich eingetrocknete Blut Christi zu Brügge –, indem du die Sinngebung der Auseinandersetzung an dich ziehst: Feindschaft darf gewährt werden, sofern sie dem Ausgang des Gemeinwesens aus der selbstverschuldeten Barbarei dient, der Verdunkelung des Humanen, die sich nie und nimmer auf die Jahre der Mordbrennerei beschränken lässt, sondern als ›umgreifender‹ Horizont das Tun und Lassen der Bürger rahmt.
steht in großen roten Lettern quer aufs Pflaster gesprüht,
über das der so Apostrophierte seit Jahr und Tag dem Treppchen zum Kollegienhaus
entgegenschreitet, um in seinen Vorlesungen den neuesten Stand der Faschismusforschung an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben … von Jahr zu Jahr
stärker verstrickt und verwoben in ein Nachdenklichkeitsmuster, das sich
anfänglich kaum, mit der Zeit immer deutlicher vom Schreiben und Reden der
Zeitgenossen entfernt. Hölzchen, der nach einer Vortragsreise vor einem gemischten Kollegenkreis darüber Bericht erstattet, befindet, die studentische Pflastermalerei habe in diesem Fall die
Grenze des Tunlichen überschritten, aber: »Wer sich so weit vorwagt, hat das
Recht auf Schonung verwirkt, er ist Freiwild aus eigenem Entschluss.« Ist das so? Die Historiker der Pyramide sind alle versammelt und wild… Hölzchen fühlt sich geschmeichelt.
Hölzchen bleibt bei seinem Leisten. So wird das nichts mit Tacheles. Dass sich ihre Wege noch
nicht gekreuzt haben, liegt daran, dass einer den anderen bislang zu buchen
versäumt hat. Warum? Aus Scheu, aus falschem Respekt, aus Klugheit: Leckebusch ahnt,
dass aus ihrer Begegnung Abneigung aufzüngeln würde. Das muss nicht sein. Der
Archipel ist zwar klein, aber geräumig. Man kann sich aus dem Weg gehen,
solange der Wille dazu vorhanden ist.
Leckebusch bewundert das üppig wachsende Œuvre des Großen Denunzianten.
Spötter behaupten, es bestünde zu achtzig Prozent aus den Gedanken anderer –
keine schlechte Quote angesichts der sonst üblichen Wiederkäuereien, doch schwer
vereinbar mit dem Ruf des Vordenkers, der ihm nun einmal vorauseilt. Tatsache
ist: es besteht weitgehend – ob zu achtzig Prozent, sei dahingestellt – aus der
Wiedergabe von Wiedergaben von Gedanken, die andere dankenswerterweise vor ihm
angefertigt haben, also aus Tertiärgedanken in kritischer Absicht, wodurch sich
alles ändert. Der Große Denunziant hat das Perpetuum mobile der Kritik zwar
nicht erfunden, aber für seine Zwecke perfektioniert. Seine Gedanken, kaum
angedacht, sind kritische Gedanken, seine Referate sind kritische Referate, die
Ausfälle, zu denen er neigt, sind kritische Ausfälle… Was immer der Große Denunziant in seinem
breiten akademischen Leben von sich gibt, ist Kritik. Soll heißen, es nimmt die
Kritik, die ihm begegnen könnte, kritisch vorweg und unterzieht sie einer
kritischen Revision. Leckebusch, seinerseits darauf trainiert, das ›Genuine‹ im
fremden Text zu erkennen und, wider alle fatalen Tendenzen, seine Trotz-allem-›Legitimität‹ herauszuarbeiten, steht dem Verfahren ›nicht unkritisch‹ gegenüber. Hin und
wieder stößt es ihm sauer auf. Dennoch: er wäre der Letzte, der Deutungsmaschine des
anderen mangelnde Effizienz zu bescheinigen. Leckebusch bewundert, zum dritten, den unerschütterlichen Ruf, den der Große Denunziant sich damit im Lauf der Jahrzehnte erworben hat. Ein verlässlicher, zumindest von der Mehrzahl der Mittler zwischen Wissenschaft und Politik für unabdingbar gehaltener Wegweiser in die Gesellschaft der Zukunft wäre auch er gern geworden. Der Große Denunziant hat ihm – und ein paar Dutzend mehr – diese Möglichkeit genommen, er hat allen, die nach ihm kamen, eine Nase gedreht, so dass ihnen nur das Nachsehen bleibt. So ein Lob ist bereits seiner grammatischen Konstruktion nach doppelsinnig, um nicht zu sagen doppelzüngig, es wird unter Kollegen nicht ohne Häme verbreitet. Im übrigen bleibt sein Sinn unklar, was immer man von der Sache halten mag. Allein es hat Gewicht: ein Mann, ohne dessen Bücher und Tagungsauftritte die Republik eine andere wäre, ist ein Brocken, zumindest das, man lebt leichter, solange er einem nicht auf die Füße fällt. Da der ersehnte Posten nun einmal besetzt ist, muss Leckebusch sich mit der Rolle des gefühlten Zweiten begnügen. Sie leidet traditionell unter Mehrfachbesetzung und lädt zu phantastischen Rivalitäten ein. Einer dieser ewigen Zweiten ist Killus, die wandelnde Ikone der vergleichenden
Faschismusforschung. Leckebusch betrachtet seinen Aufstieg mit einer Mischung
aus Herablassung und Argwohn. Er wittert in ihm den verwandten Ehrgeiz,
verwandte Energie, überdies eine ähnliche Weise, dem Leben aus dem Weg zu gehen
und sich auf die Vorlage von Zwischenberichten aus dem Forscherdasein zu
konzentrieren. Die des anderen sind ebenso adrett, ebenso nüchtern respektvoll,
ebenso eloquent und ebenso schneidend geschrieben wie die eigenen. Auch sie
dienen dem Zweck öffentlicher Belehrung und lassen damit die Grenzen des bloßen
Fachgesprächs hinter sich. Jedes neu erscheinende Buch, jeder öffentliche
Auftritt, das weiß Leckebusch, könnte den anderen auf der Skala der allgemeinen
Beachtung in unerreichbare Höhen katapultieren.
Umso erstaunter und ein wenig verwirrt lässt ihn ein Artikel zurück, den sein
Assistent ihm ausgeschnitten auf den Schreibtisch gelegt hat, direkt neben die
von der Sekretärin vorbereitete Post, mit einem schlanken Ausrufezeichen am Rande
versehen: Dynamit! Kein Zweifel: durch die journalistische Fratze
schimmert etwas hindurch, was ihn an sein früheres Leben erinnert. Falls nur ein
Bruchteil dessen stimmt, was da steht, dann, ja dann scheint Killus mit seiner
jüngsten Publikation eine jener roten Linien überschritten zu haben, jenseits
derer der Große Denunziant, sagen wir, in Tätigkeit zu treten pflegt. Zwar ist
von Killus in dem Artikel nur am Rande die Rede. Aber bereits das kann als
Drohzeichen gelesen werden.
In welches Glied? Das der
Historikerzunft? Seit wann ist dafür der Große Denunziant zuständig? Zurück ins
Glied der Partei? Welche Partei wäre da gemeint? Über diese Partei, die da unversehens ins Spiel kommt, hätte er gern mehr gewusst, er kennt sie nicht, kennt sie nur zu gut, allerdings hätte er gedacht,
ihrem alleinseligmachenden Walten entronnen zu sein, seit sich die Pforten des libertären
Westens für ihn geöffnet hatten. Kann sich einer so täuschen? Andererseits ist er nicht naiv. Auch Leckebusch weiß, innerhalb welcher Grenzen er sich
schreibend bewegt. Es ist nur so… Es ist einfach so, dass er bisher
geglaubt hat, er selbst, zusammen mit seinesgleichen, gehöre der Klasse von
Personen an, welche diese Grenzen bestimmt, autonom, wenngleich nicht ohne
Tuchfühlung mit der Gesellschaft und ihren Lenkungsbedürfnissen, also
verantwortungsvoll und verantwortungsbewusst – bewusst, ja gewiss, wie
sonst ließe das Geschäft der Kritik sich betreiben? Er, Leckebusch, zählt sich
zwar nicht, wie der andere, zu den kritischen Kritikern. Aber auch sein Urteil
ist nicht allein kritisch geschärft, wie die von ihm vertretene Disziplin es
selbstverständlich verlangt. Auch sein Urteil dient, nicht anders als das des
Großen Denunzianten – und Killus’ –, der kritischen Schärfung aller
Begriffe und damit dem gesellschaftlichen Guten, dem allgemeinen Zweck, von Kant
auch Endzweck genannt (den Zusatz ›der Geschichte‹ schenken wir uns, denn er
versteht sich einerseits von selbst, andererseits nicht mehr als
selbstverständlicher Orientierungsrahmen aller Gedanken, ›so sich mit dem
vernünftigen – oder doch vernunftkonformen – Gang der Menschheit
befassen‹). ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Wenn also der Große Denunziant warnend seine Stimme erhebt, dann wäre, bei
Einhaltung aller Regeln, ›allemal‹ – wie der zünftige Ausdruck lautet – davon auszugehen, dass er als einer von ihnen, gleichsam als ihr Sprachrohr, das gesellschaftliche Wächteramt versieht, weil
die Logik des Gemeinwesens es nun einmal von ihnen verlangt. Es im Fall der
Fälle nicht zu tun wäre schließlich, das Wort dreimal gewendet und wieder
zurückgeholt, passiver, vielleicht sogar, im Fall klammheimlicher Zustimmung… Da steht das Wort, umringt von allerlei anderen Wörtern,
unfreundlichen und garstigen, mitten im Zeitungstext, und ist nicht mehr
wegzuwischen. Killus ein Revisionist? Aber das ist Irrsinn, liebe Leute, merkt ihr
nicht, was hier gespielt wird? Da steht das Wort, umringt von allerlei anderen Wörtern,
unfreundlichen und garstigen, mitten im Zeitungstext, und ist nicht mehr
wegzuwischen.
Killus ein Revisionist? Aber das ist Irrsinn, liebe Leute, merkt ihr
nicht, was hier gespielt wird? Immer hat Leckebusch, ost-gewitzt, diese Art des Angriffs unsäglich gefunden. Im Ostenbedeutet die Formel, dass einer es wagt, die Errungenschaften der Großen
Revolution, in Ost und West, die Ergebnisse des Großen Krieges in Frage
zu stellen, soll heißen, wider allen Comment an die Offenheit der sogenannten
Deutschen Frage, vulgo: Teilung des Landes zu erinnern, womöglich in den Motiven
der von den Siegermächten verhängten Westverschiebung des östlichen Nachbarn
herumzustochern oder – horribile dictu – ›ansatzweise‹ das Leid der Bombennächte
und der Vertriebenen zu thematisieren, obwohl es sich aus streng kodifizierten
Gründen der nationalen Scham nicht gehört. Da keiner dergleichen wagt –
jedenfalls nicht in seinen Kreisen, nicht in seiner Altersgruppe oder
darunter –, handelt es sich … handelt es sich – Leckebusch spürt den
beginnenden Schweiß auf der Stirn – um einen Passepartout-Vorwurf, erhoben, um
gesellschaftliche Schädlinge auszusondern und auf den Mist zu befördern. Dem Großen Denunzianten ist es, zum Entzücken progressiver Kreise, gelungen,
mit einem Griff in die Mottenkiste der Theorie beide Kurven zu einer zu
bündeln: Worin besteht eigentlich dieser ›Prozess der
Zivilisation‹? Gute Frage. Die Auskunft des Großen Denunzianten lautet: in der langsamen, stetigen Niederringung des Feindes. Der Theoretiker des Kónsenses erteilt sie durch die Blume: die Dickleibigkeit seiner Bücher, die aus solchen Niederringungen bestehen, deutet die Lösung an (selbstverständlich durch die Kraft des überlegenen Arguments).
Eine simple Frage hat der Große Denunziant übersehen: Wie zivilisiert darf sich eine Zivilisation nennen, die ganz und gar auf diese Formel gestellt wird? Leckebusch hat da seine lebensgeschichtlich unterfütterten Zweifel. Mehrfach hat er darüber bereits in der Vorlesung gesprochen. Immerhin handelt es sich um seine Heimstrecke, überdies – da lächelt der Philosoph, gern würde er unergründlich lächeln, doch diesen Vorteil hat die Maskenbildnerin Natur ihm versagt – um eine propagandistisch motivierte Begriffsvertauschung, die aufzulösen zu den simpleren, aber darum nicht minder wirkungsvollen Nebeneffekten seiner beruflichen Tätigkeit
gehört. Ginge es bei der Aufklärungsarbeit des Großen Denunzianten mit rechten Dingen zu, dann, so Leckebusch im kleinen Kreis, müsste er auf der Stelle die willkürliche Vertauschung von ›Prozess‹ und Progress beenden – dem vielfüßigen, unaufhaltsamen, leider immer wieder gewaltsam unterbrochenen und zum Leidwesen ganzer Kulturen zeitweilig richtungslosen Fortwimmeln der Zivilisation auf dem Menschheitsweg der Gesittung und, man muss es leider wohl hinzufügen, obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, der Technik. Es ist Rosstäuscherei, die haltlos zwischen ›Naturvorgang‹ und ›Gerichtsverfahren‹ changierende Vokabel ›Prozess‹ in einer Weise mit programmatischer Bedeutung aufzuladen, die bloß geeignet ist, eine Generation verantwortungsloser, auf den Aufklärungsgang der Geschichte vertrauender Ankläger heranzuziehen. Denn:
Regelmäßig bittet Leckebusch seine Studenten,
sich diese Formel zu merken – »Da haben Sie die Idee des Fortschritts in
nuce« –, nicht etwa, weil sie ihm an sich besonders wichtig erschiene,
sondern weil sie die einst geliebte Floskel vom ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ ebenso abgestanden erscheinen lässt wie die vom ›Untergang des Abendlandes‹ in der, sagen wir, Konsumgesellschaft, den nur ein Abendländer beklagen kann, in dessen Gemüt sich unstatthafterweise ein geographischer Begriff und ein welthistorischer Traum miteinander verquickt haben, während die Menschen auf der Straße davon unbeeindruckt ihren wirklichen Geschäften nachgehen.
Den Vergleich hebt er sich für das gesellige Zusammensein mit den Studenten auf. Anlässlich eines solchen Abends wurde auch die Formel geboren, mit der er Friedenwanger zum Stirnrunzeln zwingt:
Dem Großen Denunzianten ist es, zum Entzücken progressiver Kreise, gelungen,
mit einem Griff in die Mottenkiste der Theorie beide Kurven zu einer zu
bündeln: Worin besteht eigentlich dieser ›Prozess der
Zivilisation‹? Gute Frage. Die Auskunft des Großen Denunzianten lautet: in der langsamen, stetigen Niederringung des Feindes. Der Theoretiker des Kónsenses erteilt sie durch die Blume: die Dickleibigkeit seiner Bücher, die aus solchen Niederringungen bestehen, deutet die Lösung an (selbstverständlich durch die Kraft des überlegenen Arguments).
Eine simple Frage hat der Große Denunziant übersehen: Wie zivilisiert darf sich eine Zivilisation nennen, die ganz und gar auf diese Formel gestellt wird? Leckebusch hat da seine lebensgeschichtlich unterfütterten Zweifel. Mehrfach hat er darüber bereits in der Vorlesung gesprochen. Immerhin handelt es sich um seine Heimstrecke, überdies – da lächelt der Philosoph, gern würde er unergründlich lächeln, doch diesen Vorteil hat die Maskenbildnerin Natur ihm versagt – um eine propagandistisch motivierte Begriffsvertauschung, die aufzulösen zu den simpleren, aber darum nicht minder wirkungsvollen Nebeneffekten seiner beruflichen Tätigkeit
gehört. Ginge es bei der Aufklärungsarbeit des Großen Denunzianten mit rechten Dingen zu, dann, so Leckebusch im kleinen Kreis, müsste er auf der Stelle die willkürliche Vertauschung von ›Prozess‹ und Progress beenden – dem vielfüßigen, unaufhaltsamen, leider immer wieder gewaltsam unterbrochenen und zum Leidwesen ganzer Kulturen zeitweilig richtungslosen Fortwimmeln der Zivilisation auf dem Menschheitsweg der Gesittung und, man muss es leider wohl hinzufügen, obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, der Technik. Es ist Rosstäuscherei, die haltlos zwischen ›Naturvorgang‹ und ›Gerichtsverfahren‹ changierende Vokabel ›Prozess‹ in einer Weise mit programmatischer Bedeutung aufzuladen, die bloß geeignet ist, eine Generation verantwortungsloser, auf den Aufklärungsgang der Geschichte vertrauender Ankläger heranzuziehen. Denn:
Regelmäßig bittet Leckebusch seine Studenten,
sich diese Formel zu merken – »Da haben Sie die Idee des Fortschritts in
nuce« –, nicht etwa, weil sie ihm an sich besonders wichtig erschiene,
sondern weil sie die einst geliebte Floskel vom ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ ebenso abgestanden erscheinen lässt wie die vom ›Untergang des Abendlandes‹ in der, sagen wir, Konsumgesellschaft, den nur ein Abendländer beklagen kann, in dessen Gemüt sich unstatthafterweise ein geographischer Begriff und ein welthistorischer Traum miteinander verquickt haben, während die Menschen auf der Straße davon unbeeindruckt ihren wirklichen Geschäften nachgehen.
Den Vergleich hebt er sich für das gesellige Zusammensein mit den Studenten auf. Anlässlich eines solchen Abends wurde auch die Formel geboren, mit der er Friedenwanger zum Stirnrunzeln zwingt:
Das klingt, wie Materialisten der
linken Hand gern anmerken, entsetzlich materialistisch, ist aber
erfahrungsgesättigte Wahrheit und nichts weiter. Vom ›menschlichen Antlitz‹
sprechen mit Vorliebe Apparate, die unten herum foltern und es nicht ungern sehen, wenn
das Antlitz sich ein wenig verzerrt, doch nicht zu sehr, da die
›gesamtgesellschaftliche‹ Aufgabe des freiheitsliebenden Pöbels nach dem Willen seiner Oberen darin besteht, sich nichts anmerken zu lassen.
Umgekehrt gilt: Wer für den Erwerb eines automobilen Einheitsmodells, vom
Volksmund liebevoll ›Trabi‹ genannt, zwölf oder fünfzehn Jahre Wartezeit
veranschlagt, der lebt bekanntlich im Sozialismus mit allzumenschlichem Antlitz
und sollte nicht einmal im Traum daran denken, ihn zu verlassen (es sei denn, er
kalkulierte einen mehrjährigen Gefängnisaufenthalt mit der Aussicht auf Freikauf
durch den Klassenfeind gleich mit ein). Der Große Denunziant geht dort ein und
aus, jedenfalls in Gedanken und Worten, man könnte meinen, er betreibe
einen Gesichtsverleih, weil sein Gesicht auf so vielen Veranstaltungspostern
prangt, auf denen Systemüberschreitung so einfach vonstatten geht wie das
Umfüllen von Wasser aus einem Glas in ein anderes. Leckebusch, unwirsch, verhalten, zweifelnd, nervös, greift nach dem Diktiergerät und spricht in dem verhaltenen, leicht quietschigen Ton, den er selbst für unwürdig hält, wenn er ihn unvermittelt anfällt, weil die Sekretärin den Hörer allzu nahe an seinem Ohr aus der Hand legt, um einen neuen Auftrag entgegen zu nehmen, aufs Band: Selbstverständlich ist Leckebusch sich darüber im klaren, dass diese rein logische Weise, an die bewusste Sache heranzugehen, gerade angesichts der bewussten Sache zum Scheitern verurteilt ist. Doch im Herzen denkt er (und steht damit nicht allein, Killus zum Beispiel, wenn er nicht irrt, sieht das ganz ähnlich), dass ein toter Feind allenfalls noch als Bettvorleger taugt und Manövern, die dazu dienen, ihn künstlich am Leben zu halten, um einen auf Dauer gestellten Kampf gegen ihn zu führen, eine moralische Unsauberkeit anhaftet, ein feiner Staub, der sich, berührt, zu verschmieren beginnt, so dass derjenige, von dem die Berührung ausgeht, sich unwillkürlich zu schämen beginnt. So etwas spricht man nicht aus, die Wahrnehmung als solche ist schambehaftet, man trägt sie mit sich herum, bei manchen scheint sie sich zu verflüchtigen, manche brechen, scheinbar anlasslos, Jahre später in Schmähungen der Personen aus, denen sie diese Erfahrung verdanken. Doch natürlich gibt es, neben dem reinen Machtaspekt, noch einen zweiten, vielleicht entscheidenden – Leckebusch lässt das Diktiergerät sinken, weil er weiß, dass hier das Erfolgsmodell des Großen Denunzianten in Sicht kommt –, den der öffentlichen Moral, die ebenfalls mit Schambesetzungen arbeitet, um zu verhindern, dass die besiegten Kräfte ein weiteres Mal erstarken (oder sich auch nur zu sammeln Gelegenheit finden): die Moral bedarf des zivilisatorischen Fortschritts nicht – oder nur in geringem Maße –, weil sie an den einfachen Anstand der Menschen appelliert, der sich unabdingbar aus konservativen Beständen nährt. Anständig ist, wer weiß, was sich gehört, und danach verfährt. Anstand, das ist das fleischgewordene Regelwerk der Zivilisation, ihr eisener Bestand sozusagen, der anschlägt, wenn irgendwo ein Unrecht geschieht und eine Spur davon ins eigene Wohn- oder auch nur Hinterzimmer führt: Damit will ich nichts zu tun haben. Und wenn doch? Dann ist es an der Zeit zu kämpfen, und sei es nur um den guten eigenen Ruf. Und wenn der gute eigene Ruf durch ein Geschehen unwiderruflich in Mitleidenschaft gezogen wurde? Wenn draußen, wenngleich in abgeschwächter Form, die Formel gilt: mitgefangen, mitgehangen? Dann kann es, religiös gesprochen, selbst für Nachgeborene bloß darum gehen, Buße zu leisten. Wird allerdings der religiöse Ausweg versperrt, etwa dadurch, dass eine progressive Weltsicht die Religion als Miturheberin des Urverbrechens vor den Richterstuhl der Vernunft zieht, dann … sitzt die Vernunft in einer selbstgebastelten Falle, weil die ›herkömmlichen Moralbegriffe‹ aufgehoben und keine anderen in Sicht sind, es sei denn solche der Vor dem Wort fürchtet sich Leckebusch. Er weiß, dass sein Gebrauch stigmatisiert. Wer sich seiner bedient, darf auf den Beifall ›gewisser Kreise‹ rechnen und damit, dass sich automatisch die Türen der feinen Gesellschaft vor ihm schließen. Die feine Gesellschaft, in der, neben den materiellen, die Glücksgüter der geistigen Welt zur Ausschüttung gelangen – das persönliche Ansehen, das einer genießt, sein Ruf in der akademischen Welt, die Prominenz des ›führenden Intellektuellen‹ –, hegt keine festen Ansichten, aber sie entscheidet darüber, welche Ansichten ›gesetzt‹ sind, ›auf dem Tisch liegen‹ oder wie die Ausdrücke heißen mögen, die den Sachverhalt umreißen, aber nicht wirklich beschreiben. An diesem Tisch sitzt der Große Denunziant und verteilt die Karten.
Woran denkst du? Alles geht. Elisabeth/Tronka sind eingeschriebene Fu-Praktiker und
nutzen den Pool für ihre Zwecke. Tronka geht bei Leckebuschs ein und aus. Das war zur Assistentenzeit so und daran hat sich nichts geändert. Einmal Assistent =
immer Assistent. Das schließt die Beziehung zur Gattin des
Professors ein.
Wann immer Elisabeth ein Auge auf Tronka geworfen haben mag:
über die Anfänge der Affäre weißt du nichts. Als möglicher
Hinweis wäre zu deuten: das (fast) jedermann sichtbare Wechselbad
der Behandlungen, von völliger Missachtung bis hin zu
überraschenden Gunstbeweisen. Dazu zählen:
Gemeinsame Kinobesuche (hin und wieder); Spaziergänge zu zweit (anfangs selten, dann häufiger),
um ›den Kopf klar zu kriegen‹; die niemals endende Sorge um die Tochter: Sie beinhaltet kleine Aufträge an
Tronka, deren er sich mit Eifer entledigt. Schwierigkeit: du bist kein unbeteiligter Beobachter. Diesmal
nicht. Elisabeth gehört dir. Mögliche Auflösung der Schwierigkeit: Eifersuchtsanalyse,
samt allen Zweideutigkeiten, die ein solcher Versuch mit sich bringt. Allwissend ist er nicht, der Herr Tronka. Speziell Elisabeths
Eheleben bleibt ihm ein Buch mit sieben Siegeln – was ihn nicht
weiter kümmert, da Ehe, wie er sagt, für alle und niemand da ist
und nichts zu bedeuten hat, Betonung auf nichts, denn
natürlich weiß er um die mythischen Mächte, die den Menschen
heimsuchen, sobald er sich in die Fänge der Institutionen begibt,
die bei Hegel und allen reaktionären Geistern, die auf ihn folgen,
die natürlichen heißen: ―Was an der Ehe natürlich sein soll, das müssen Sie mir schon
erklären. Nein, Naturphilosoph Starck kann es nicht. Ihm steht ein Buchstabe
im Weg, der allerchristlichste von allen, das falsche c. Deshalb
spricht er von naturgegebenen Ordnungen am liebsten dann, wenn er
sicher sein kann, dass keiner der Kollegen ihm zuhört.
Mag sein, mag nicht sein. Diese Freigekauften reden merkwürdiges
Zeug.
In Tronkas Augen ist die Ehe ein juristischer Hokuspokus, eine Abmachung
ohne Substanz, das Ergebnis eines Schacherns um Zugriffs- und
Erbrechte, eine Art Trickbetrug, um an Geld zu gelangen, das man
nicht selbst verdient hat (»In beiderlei Gestalt!«). Die Kinder?
Welche Kinder? Um sie, davon ist er mehr denn je überzeugt, geht es
bei alledem am allerwenigsten.
Tief im Herzen fühlt Tronka, seit die Affäre Pida ihn quält, in
der es um Treue, Treue, nichts als Treue geht, den Spagat
zwischen seinen – keineswegs zynisch gemeinten – Äußerungen und
dem, was ihm von seiner Beziehung bleibt, etwas, das er in seiner Not
als ›weiblich‹ deklariert, weil er es anders nicht zu fassen
vermag: Pida ist weiblich. Ja was denn sonst? Gute Frage.
Er könnte sie sich stellen oder auch nicht, er könnte sie mit der
Phrase beantworten, die in den stillen Gedanken vieler Männer just
zu seiner Zeit zu reifen beginnt: »Alles Mögliche, aber im
weiblichen Deutungsraum.« Das wäre dann, alles in allem, auch die
Deutung Pidas, die für ihre Handlungsweise ebenso vehement ihre
Weiblichkeit reklamiert, wie sie jeden angedeuteten Versuch, sie
darauf zurückzuführen (zu ›reduzieren‹), als Angriff auf sich
und ihr Geschlecht zurückweist (eine Einstellung, der sie immer
wieder, vor allem in leidenschaftlichen Szenen, wortreich Ausdruck
verleiht). So empfindet Tronka, zurückgeworfen auf psychische
Ressourcen, die ›in der Philosophie nichts zu suchen haben‹,
gerade nicht: Pidas nicht weiter qualifizierbare Weiblichkeit
entgrenzt sich ihm mit derselben mathematischen Konsequenz wie das
auseinanderstrebende Universum, von dem einige Astrophysiker
halsstarrig behaupten, es ziehe sich in Wirklichkeit zusammen. Beide
Vorstellungen hält er für plausibel, jede für sich und beide
gemeinsam als Teil eines unbegriffenen Zusammenhangs, den es schon
aus dem Grunde geben muss, weil es ›da draußen‹ etwas gibt, mit
dem man jederzeit rechnen muss. Elisabeth, davon weiß er sich überzeugt, ist promisk wie ein
Mann, ohne Hintergedanken, dem Vorgang selbst zugetan, sie lacht,
nicht nur im Herzen, über ›gebundene‹, sklavisch dem Geschlecht
ergebene Weiblichkeit, so wie sie Leckebusch verlacht, den schütteren
Fafner, der über seinen eingebildeten Schätzen brütet und
unauffällig die Ausgänge bewacht, als hätte die Bewachte nicht
längst Wege nach draußen gefunden, von denen einer wie er sich
nicht einmal träumen lässt, so leicht und angenehm gleitet es sich
auf ihnen dahin. Leckebusch also wäre der Drache Ehe, der seine
Flügel über die Frau breitet, sie zur Weiblichkeit verdammt und ihr
den Zugang zu den Ressourcen der Lust abschneidet, unfähig zu
begreifen, dass er ein für allemal sich damit in der Beziehung die
Hörner aufsetzt, blind dafür, dass er und kein anderer das
Labyrinth ausrollt, in dem seine Wünsche und sein Anspruch auf
Happiness mit einer gnadenlos zu nennenden Konsequenz verloren
gehen. Leckebuschs Blindheit, davon schwärmt Tronka voll seherischer
Gewissheit, steht unverrückbar wie gewachsener Fels in der
Lebensbrandung.
Soviel zu Tronka.
Die korrekte Beantwortung der Frage: ›Ist Elisabeth promisk?‹
stellt keine rednerische Aufgabe dar.
Erste Annäherung: Promiskuität setzt eine gewisse
Wahllosigkeit voraus. Schwierigkeit: Gehört Stabilität zur Wahl? Oder beschränkt sich
der Vorgang der Wahl auf den Wahlakt ohne alle Rücksicht auf das,
was auf ihn folgt?
Merke: Bei einer Person, die nach Lust und Laune vögelt, ist
dieser Aspekt ersichtlich nicht gegeben.
Promiscus (lat.) = gewöhnlich, gemischt, alltäglich. Ein Alltagsgeschöpf ist E ganz sicher nicht.
Sind ›Lust und Laune‹, wie von E praktiziert, Fu?
Damit sind wir im Thema.
Fu, das bedeutet: die Aufhebung der Promiskuitätsschranke.
Was ist darunter zu verstehen?
Also gut:
… die Promiskuitätsschranke erhebt sich im Gehirn, genauer
gesagt im Labyrinth der dem Begehren verhafteten Gedanken genau dort,
wo sie alle auf einen Punkt hinzustreben scheinen (Betonung auf
›scheinen‹, denn in Wahrheit ist es ein Meer, vielgestaltiger und
umfassender als das von Marken durchzogene Land), sie scheint der
Scham verwandt und ist es sicher auch ein Stück weit, aber sie
deutet auch auf das schiere Gegenteil, die Erwartung von
Schwierigkeiten, enormen Schwierigkeiten, sorgfältig unterteilt in
ethische, rechtliche und alltagspraktische, wobei die schwierigste
aller Schwierigkeiten, die antizipierte Enttäuschung des Partners,
ausgespart bleibt, die in diesem Fall ja wirklicher Ent-Täuschung
entspricht, der weggeräumten Illusion, man selbst sei zu dem
imstande, was der Psyche des Partners leider versagt bleibt, zur
reinen Konzentration auf den ausgewählten Anderen, und damit dem
Fortfall der sichersten Stütze der eigenen… uswusw. Denkspruch Die Aufhebung der Promiskuitätsschranke bedeutet die Aufhebung
der Partnerillusion unter den Bedingungen reiner, i.e. unvermischter
Lust.
absolut!): Nein. Was macht dich da Nein, Freunde sind diese beiden nicht. Wie auch? Aus ihrer
›Beziehung‹ ist Leckebusch nicht zu entfernen: als Gatte,
Ex-Vorgesetzter, Vorbild, Spottbild, Gegeninstanz, Ratgeber,
Beziehungsinhaber, Freund, Gutachtenschreiber, Sesam-öffne-dich der
Beziehungswelt ist er immerfort mit von der Partie, ein Feind für
alle Fälle, der Drache Fafner, der den Schatz bewacht, halb bewusst
und halb bewusstlos, und Tronka … nein, kein Siegfried verkehrt in
dieser Höhle, obwohl…
Von dieser Schöpfung (die er selbst ist) weiß Tronka nichts.
Also weiß er auch nichts von dem Recht, das Elisabeth auf ihn
besitzt. Keiner sagt es ihm, nicht einmal er selbst. Überhaupt sagt
er sich selbst wenig. Er ist froh, dass ihn das Gefühl beruflicher
Befriedigung über die Untiefen der Existenz hinwegträgt.
Pida rumort. Man kann es nicht anders sagen, es ist eine Tatsache.
Bröckchen für Bröckchen setzt sich ihr Tronkas Befriedigung in das Gefühl um, abgeschnitten zu sein: von sich, von ihren
Freunden & Freuden, von allem, was Leben lebenswert macht.
Sie hat begonnen, das hereinkommende Geld mit beiden Händen
auszugeben, als wolle sie künstlich den Zustand der Beengtheit
wieder herstellen, in dem die Erwartung einer glanzvollen Zukunft den
strahlenden Mittelpunkt ihrer beider Existenz darstellte.
Jedenfalls bildet sie sich das ein. Es handelt sich um eine Phantasie post
eventum, eine nie dagewesene Vergangenheit, wie Tronka bei sich
notiert, der sich hütet, ihr zu widersprechen, nicht, weil er ihre
Gegenrede fürchtet, sondern weil es das Gebäude ihrer Beziehung
augenblicklich zum Einsturz brächte … auch das eine Phantasie,
allerdings eine, die ihre Nahrung aus der Zukunft bezieht, einer sehr
luftigen Zukunft, die in ebendiesen Tagen eine unzerreißbare
Substanz ausbildet, gleichsam aus-sintert, so dass er jetzt,
pragmatisch gesprochen, einer zweifachen Zukunft entgegen lebt: einer
ins Immergleiche verlängerten, von Karriere-Lichtpunkten erhellten
Gegenwart und einer radikalen Disruption, einem Höllensturz
ohnegleichen, an dessen Ausgang sonderbarer- und ersehnterweise
Befreiung winkt. Elisabeths Brocken heißt Leckebusch. Keine Freiheit, die
sie sich nimmt (und sie nimmt sich alle Freiheiten), kann schließlich
darüber hinwegtäuschen, dass er … einfach da ist und damit etwas
in ihr Leben hineinträgt, was ohne ihn nicht da wäre: fast
eine Plattitüde wie das meiste, was Menschen im Leben behelligt,
aber eben nur fast, um eine Haaresbreite daneben und damit, unter
dämonologischem Gesichtspunkt gesehen, eine Monstrosität, ein
Ausfluss des Bösen – soweit geht das nächtliche Bewusstsein
bisweilen –, etwas, das auf lange Sicht in Ordnung gebracht werden
muss, obwohl es selbst zweifellos die Ordnung repräsentiert, eine
über jeden Zweifel erhabene Normalität, in der sie ebenso ein- und
ausgeht wie die gemeinsame Tochter, die zwar instinktiv fühlt, dass
zwischen den Eltern etwas nicht stimmt, es aber – dieses knistrige
Unbestimmte – in ihrem persönlichen Universum auf den Status von
Flausen herabgestuft hat, in denen sie gern der Mutter Beistand
leisten würde, fände sie Elisabeth nicht, zumindest in bestimmten
Momenten, so schrecklich kapriziös, dass an diesem Kap der guten
Hoffnung immer wieder die besten Vorsätze scheiterten: schließlich
ist es das Vorrecht der Jugend, kapriziös zu sein und
Mutter-Tochter-Konkurrenz auf diesem Feld selten erwünscht.
Verbündet… Wer ist verbündet? Förmliche Bündnisse gibt es,
oberflächliche, scheinbare, trügerische, daneben, darunter oder
dahinter versteckte, von deren Existenz im Normalfall die Verbündeten
selbst das Wenigste wissen, ein Hauch muss genügen, gelegentlich
auch ein unguter Anhauch, denn nicht jeder Verbündete ist, als
Person und überhaupt betrachtet, genehm. Pida zum Beispiel, das
verraten die Protokolle, ist Elisabeth ganz und gar nicht angenehm,
es wäre spannend zu sehen, ob sie Pida ins Haus lassen würde,
verfiele Tronka einmal auf den abgründigen Gedanken, sie
mitzubringen, was zum Glück noch niemals der Fall war – … ein garstig Weib: bloß Frauen dürfen, in einer dem
Frauenaufbruch verpflichteten Gesellschaft, ohne Zögern solche
Urteile fällen. Es ist nicht Elisabeths Art zu zögern, jedenfalls
dann nicht, wenn es um Urteile über Menschen geht, und ihr Urteil
über Pida steht fest, fester als mancher euklidische Satz, an den
sie sich mühsam, wenn die Rede darauf kommt, aus der Schulzeit
erinnert, wie überhaupt die von der Psyche gefällten Urteile
harscher ausfallen als die rationalen Fundamente der gesicherten
Welt, in der es Technikern unbenommen ist, über die Grenzen des
Sonnensystems vorzustoßen, während sie bei der Wahl einer
Parteivorsitzenden kollabiert. Pida, das springt Elisabeth aus der
Erscheinung an, ist ver-rückt in jenem sehr einfachen, sehr
plastischen Sinn, den das Wort schon andeutet: sie ist nymphoman.
Weiß Tronka davon? Gelegentlich huscht ihr der Vorsatz durch den
Kopf, es ihm zu sagen – er ist nun einmal ihr Vertrauter und hätte
ein Recht darauf, gäbe es da nicht das Menschenrecht auf Blindheit,
ein hohes Gut, das, einmal auf die Waage gelegt, alle anderen
aussticht.
Das ist die Pida nicht, die ich gekannt.
Was ist anders an Pida, nun, da sie anders ist? Elisabeth könnte
es Tronka mit ein paar Sätzen erklären, sie selbst tickt durchaus
nicht so, aber sie hat die andere längst durchschaut hat, und
eigentlich könnte Tronka es selbst, wäre er so frei es zu wollen.
Frei ist er in anderer Hinsicht. Da er, auf unauffällige Weise,
Elisabeths Vertrauter geworden ist, ohne dass sie ihn je ins
Vertrauen gezogen hätte, blickt er auf Leckebusch, als könnte er
ihn, sollte die Situation es verlangen, jederzeit mit einem
Degenstich durchbohren: Verachtung mischt sich darin mit einem Gefühl
der Überlegenheit, das sich nur zum geringeren Teil aus
theoretischen Dispositionen speist und keineswegs den gewaltigen
Respekt mindert, der sich seit seiner Assistentenzeit eher gemehrt
hat, denn erst langsam hat er die aus vielerlei Verbindungen
resultierende Machtfülle des Älteren zu überblicken gelernt, gegen
die gehalten er allenfalls die marginale Existenz eines Buntspechts
im philosophischen Blätterwald vorweisen kann. Manchmal überrascht
ihn jetzt der jungenhafte Zug, mit dem Leckebusch dergleichen
Unterschiede zwischen ihnen wegzuwischen weiß. Unwillentlich fühlt
er sich geehrt durch den unverstellten Zutritt, den ihm der andere zu seinen Gedankengängen gewährt, und schämt sich seiner Hintergedanken.
Elisabeth dagegen sieht den Betrogenen. Nicht, weil Pida sexuell ihrer Wege
geht, sondern weil sie um ihn ein Netz aus Desinformationen gewoben hat, dessen
einziger Zweck darin besteht, ihr schlechtes Gewissen vor ihm zu verbergen und
ihm im Gegenzug eines zu verschaffen. Das sieht man, das fühlt man, dazu muss
Tronka nicht reden, nicht mit ihr, die ohnehin wenig auf die Bekenntnisse
anderer gibt. Ein Tronka hat kein schlechtes Gewissen. Er mag fehlbar sein, aber
nicht ängstlich gegenüber einer Instanz, die mehr von ihm weiß, als er selbst
sich eingestehen möchte. Wenn ihn dennoch Schuldgefühle durchzittern, dann
deshalb, weil Pida einen Feuerring um sich geschaffen hat, der sie ebenso
unzugänglich wie in den Augen Dritter begehrenswert erscheinen lässt. Ist’s
möglich, die Geliebte mit den Augen des Dritten zu sehen, den man irgendwo in
der Kulisse wittert? Ist’s möglich, die Augen des Dritten mit sich herumzutragen
und mit ihnen die umgebende Welt zu mustern, während der eigene Blick gesenkt
bleibt und sich jeden Urteils enthält? Und falls es möglich ist, auf welche
Weise wäre es dann wohl möglich, das geschmacklose Doppelspiel zu beenden und die gerupfte Einheit der
Person wieder herzustellen? Elisabeth empfindet den Reiz der Aufgabe. Es kann nicht schlecht sein, dieser Pida eine kleine Lektion zu
erteilen. So weit, so gut. Tronka ist nicht der Mann, sich durch das
Abenteuer einer Nacht verstören zu lassen. Ebensowenig Elisabeth die
Frau, die mit Verstörung rechnet, vor allem dann, wenn sie sie auf
ihre Rechnung nehmen soll. Und doch ist gerade das… … geschehen.
Starkes Gefühl der Unfähigkeit, das Malheur einer Nacht zu
rekonstruieren, das auf das Leben zweier dir nahestehender Personen
ausstrahlt. Nicht Resignation ist die Wurzel dieses Gefühls, sondern
Stärke. Du fühlst dich stark, doch nicht zu stark, deine Stärke
bleibt auf der sicheren Seite, sie bleibt auf der Hut vor dieser …
Blutspur, die sich ins Dunkel zieht, in eine Landschaft mit
Tieren, deren Anblick der Künstler dir, gnädig oder nicht,
vorenthält.
Vorteil dieser Vermutung: sie achtet auf Symmetrie der Motive und
schiebt Tronka alle Schuld dieser Welt zu, die Schuld des Versagers,
die Schuld des Verräters, die Schuld des Defekten, der sich gegen
die Erfüllung seines tiefsten Wunsches sperrt, aus Abhängigkeit, einfach krank.
* Elisabeth geht makellos aus der Sache hervor.
Hurtenschwang und Liebermaus, zwei brave Historiker-Kollegen aus der Provinz,
müssen die volle Wucht des ersten Angriffs auf sich nehmen. Auch wenn er mehr
als Gewittergrollen daherkommt – sie wissen, auf die erste Salve wird die zweite
und dritte folgen, sie sind folglich alarmiert. Vermutlich wissen sie auch, dass
die Attacke nicht wirklich ihren Forschungen gilt, obwohl Eitelkeit und
Ängstlichkeit geeignete Kandidaten sind, so ein Wissen unter der Decke zu
halten, vor allem, wenn auf ihr in bunten, die Farben des Entrüstungsspektrums in
politischer Verkürzung zusammenfassenden Lettern das Wort ›Unerhört‹ gedruckt
steht. Denn es ist, nach ihrer Auffassung, als unerhörter Vorgang zu
bewerten, dass man sie einer Komplizenschaft bezichtigt, die der Sache nach nun
einmal nicht besteht. Und was nicht der Sache nach besteht, wie kann das
im Ernst jemand behaupten, ohne in einen Selbstwiderspruch zu verfallen?
Folglich muss, da jeder weiß, dass der Große Denunziant sich nie wiederspricht,
es sich hier um eine Verwechslung handeln. Natürlich kennen sie Killus, haben auf Fachtagungen
gelehrte Worte mit ihm gewechselt, Liebermaus hat sogar – »Ach Gott ja, das ist aber lange her!« – eine
distanziert wohlwollende Rezension über eins seiner Bücher
geschrieben –: doch in ihrer Seele, dort, wo es ernst wird, lehnen
sie ihn ab, Hölzchen würde sagen, aus Gründen des fehlenden
Stallgeruchs, sie selbst würden andere Wörter dafür benützen, ganz
andere, bis ins Christlich-Abendländische reichende, die simple
Wahrheit bliebe auch da auf der Strecke, denn Killus ist ihnen, ehrlich
gesagt, einfach zu schnell, sein Verstand geht allzu rasch durch die
Decke, genauer durch die ziselierte Käseglocke, unter der sie ihr
Forschergeschäft betreiben. Es stimmt ja auch: Killus denkt schnell. Sein scharfer Verstand
wildert bereits unter Schlussfolgerungen zweiten und dritten Grades, während
Hurtenschwang und Liebermaus, Athleten des Quellenstudiums ohne klaren
Abschluss, noch mit elementaren Definitionsschwierigkeiten kämpfen. Das kränkt.
Aus Kränkung erwächst Abneigung, aus Abneigung – nicht gleich, aber im Laufe der
Jahre – eine Sonderform der Gefolgschaft. Gefolgschaft wider Willen: so könnte
man sie nennen. Irgendwann haben Hurtenschwang und Liebermaus, jeder für sich,
jeder auf seine Weise begonnen, Sätze abzusondern, die mit seltsamen Floskeln
beginnen: »Killus würde jetzt sagen…«, »Ich möchte mich dem nicht anschließen,
aber Killus hat uns allen gezeigt…«, »Wäre ich Killus, würde ich folgendermaßen
argumentieren«, »Hat Killus nicht irgendwo geschrieben…«, »Auch ein Killus wird
uns nicht in diese Sackgasse locken…« »Das alles ist zwar fachlich hochgradig
anfechtbar, aber wir sollten es diskutieren…«, »Lassen wir uns doch mal
versuchsweise von Killus herausfordern…« Er hat sie
herausgefordert, das ist wahr. Doch wohin? Ins Freie? In die
Freiheit, weiter zu denken, als sie ursprünglich vorhatten? Als es
ihnen durch Herkunft und Naturell gegeben ist? Als es für ihr
geistig-moralisches Auskommen bekömmlich ist? Als es ihnen und ihrer
Hörerschaft nützt? Das ist nicht so einfach, schon gar nicht zu entscheiden, denn – Nicht die Quellenlage macht ihnen zu schaffen, sondern Entscheidungsschwäche.
Zu vertraut sind ihnen die politisch-kulturellen Abgründe – von den
geistig-moralischen Risiken ganz zu schweigen –, die nur darauf lauern, sie
zu verschlingen, gleichgültig, ob sie sich auf den Feldern der europäischen
Kolonialgeschichte oder der Nationalgeschichte der Deutschen bewegen, als dass
sie sich unbekümmert zu einer expliziten Lesart bekennen könnten. Ein paar
Genies unter ihren Altersgenossen sind auf den naheliegenden Ausweg verfallen zu
behaupten, es gebe gar keine Deutschen, habe sie nie gegeben, die ganze Nation
sei, wie ihre fatale Geschichte, ein ›Konstrukt‹ des neunzehnten Jahrhunderts,
das dekonstruiert gehöre, ja, de-konstruiert, als Ideologielieferant finsterer
Mächte enttarnt. Sie schreiben – grenzwertig, aber erfolgreich – mit Einsichten dieses
Kalibers Geschichtsgeschichte. Ihre
steile These hat Eingang in die Schulbücher gefunden, die Denkfabriken der
großen Parteien schleifen sie von Symposium zu Symposium, das Ausland staunt und
der eine oder andere Programmgestalter der BBC fragt sich angesichts der
galoppierenden Selbstabwicklung der krauts, ob in der hauseigenen
WW2-Filmproduktion nicht vielleicht doch etwas schief läuft –, doch
Hurtenschwang und Liebermaus betrachten sich nicht als Genies, eher als
Geschichtsbetroffene, und jenen zu folgen erschiene ihnen, wie vieles andere in
den ihnen vorliegenden Fachpublikationen, zu einfach. Diese Widerständigkeit hat
den beiden in der Gelehrtenwelt eine bescheidene Bekanntheit eingebracht, man
hält sie für seriöse Historiker alter Schule, fast könnte man sagen, für
Überbleibsel einer anderen Zeit, einer Zeit in der Zeit, falls es so
etwas gibt, aber auch dafür finden Historiker Lösungen. Hölzchen hat nichts gegen die beiden. Für ihn sind sie Leute vom anderen
Ufer, Vertreter der konservativen Fraktion: »Das geht schon in Ordnung. Ich
empfinde davor Respekt.« Welchen Respekt er vor ihnen empfindet, das allerdings
weiß kein Mensch, es bleibt sein Geheimnis. Du lauscht seiner Stimme nach und
findest sie emsig. ›Als Historiker‹ sieht er sich in der Pflicht, die Menschen
nach Stämmen und Fraktionen zu sortieren, er wäre sehr erstaunt, zöge jemand
diese Tätigkeit ernsthaft in Zweifel, etwa, indem er daran erinnerte, dass von
der Wahrheit, selbst der historischen, ein gewisser Sog ausgeht, vor dem nicht
Haltungen und Fraktionen zählen, sondern die ›vorbehaltlose‹ Bereitschaft zur
Anerkennung: »Das ist banal« würde er hektisch hervorstoßen, »natürlich müssen wir
Fakten anerkennen, sonst wären wir keine Historiker.« Die Flucht hinters Wir erlaubt ihm solche Manöver.
»Sind wir denn Historiker?«, müsste einer zurückfragen, es müsste schon
ein Historiker sein, damit der Anschlag gelänge, denn Leuten wie dir und mir
ziemt es nicht, ins Allerheiligste vorzudringen und Fragen des Wir zu erörtern: An diesem
kompakten Wir prallt alles
ab, was Hölzchens Sicht auf die akademische Welt von innen aufmischen könnte. Hölzchen hat nichts gegen die beiden. Für ihn sind sie Leute vom anderen
Ufer, Vertreter der konservativen Fraktion: »Das geht schon in Ordnung. Ich
empfinde davor Respekt.« Welchen Respekt er vor ihnen empfindet, das allerdings
weiß kein Mensch, es bleibt sein Geheimnis. Du lauscht seiner Stimme nach und
findest sie emsig. ›Als Historiker‹ sieht er sich in der Pflicht, die Menschen
nach Stämmen und Fraktionen zu sortieren, er wäre sehr erstaunt, zöge jemand
diese Tätigkeit ernsthaft in Zweifel, etwa, indem er daran erinnerte, dass von
der Wahrheit, selbst der historischen, ein gewisser Sog ausgeht, vor dem nicht
Haltungen und Fraktionen zählen, sondern die ›vorbehaltlose‹ Bereitschaft zur
Anerkennung: »Das ist banal« würde er hektisch hervorstoßen, »natürlich müssen wir
Fakten anerkennen, sonst wären wir keine Historiker.« Die Flucht hinters Wir erlaubt ihm solche Manöver.
»Sind wir denn Historiker?«, müsste einer zurückfragen, es müsste schon
ein Historiker sein, damit der Anschlag gelänge, denn Leuten wie dir und mir
ziemt es nicht, ins Allerheiligste vorzudringen und Fragen des Wir zu erörtern: An diesem
kompakten Wir prallt alles
ab, was Hölzchens Sicht auf die akademische Welt von innen aufmischen könnte. Eine vage erforschte Ethnie, ein ›Völkchen‹, bewohnen seine
Historiker diese Welt, erkennbar füreinander an ihren Gedanken, Worten,
Einstellungen, Publikationen, zuallererst jedoch an den auf Herkunft,
auf ›Stallgeruch‹ gegründeten Beziehungen, die sie unterhalten und die
darüber entscheiden, wer wirklich dazugehört und in welchem Teil
ihres Sonnensystems der Einzelne die ihm zugewiesenen Kreise dreht. Wie
allerdings der Große Denunziant, erkennbar kein Historiker, sondern
Soziologe mit großphilosophischer Attitüde, in dieses System eindringen
und sich in der Rolle des Gesetzgebers, Richters und Staatsanwalts in
Personalunion einnisten konnte, darüber schweigt sich Hölzchen an
diesem Morgen wie an jedem anderen aus, der noch folgt. Dabei wäre dies
die Frage der Fragen, denn Hölzchens System ist keineswegs, wie seine
Sprache es unterstellt, autonom. Friedenwanger wiehert. Das kommt selten vor, eher
liegt ihm der geschmeidige Duktus. Doch er kann, wie Insider wissen,
auch laut werden, vor allem hinter verschlossenen Türen.
Ungebremstes Gelächter steht sonst nicht auf seinem Programm. Wie immer bleibt der Drops
im Mundwinkel sichtbar. Der Einwurf amüsiert Friedenwanger.
Das könnte glatt über der Tür seines Dienstzimmers stehen, selbstredend unsichtbar, aber
erhaben genug, um ihm einen Teil der Beschwingtheit zu erhalten, die jedes Mal
einen Dämpfer bekommt, sobald er den Türrahmen passiert hat und ein leeres Blatt
Papier vor ihm auf dem Tisch liegt. Da greift man leicht zum Hörer,
besonders an einem Tag wie heute, einem Tag ohne besondere Vorkommnisse, solange die
Nahumgebung den Blick gefangen hält. Das Besondere findet draußen statt, im
Universum des Betriebs, und … irgendwer muss es begehen. Duro, der Ränkeschmied ohne
Fortune, hat die Neuigkeit bereits gehört und so schwatzen die beiden, als habe die
Göttin des Tratsches sie persönlich zusammengeführt: einer des anderen Feind,
aber in diesem Augenblick…
Was weiß Duro? Was weiß er besser? Es wäre zu bequem, ihn mit seinem eigenen Vokabular zu schlagen: Quatsch. Man muss auf der Hut sein. Was weiß ein Duro von Streicher, dem göttlichen Lutz C. Streicher (das C. unterstreicht
er diskret, dahinter verbirgt sich, zum Gaudium seiner Untergebenen, des
›Teams‹, wie er sie gönnerhaft nennt, der zweite Vorname und nom de
guerre Cato)? Industriehistoriker Lobbock, der öfter mit ihm telefoniert, macht sich seit langem den aufgeräumten Kopf und die
sprudelnde Gedankenproduktion des Unholds zunutze. Denn als solcher wird
Streicher in den liberalen Medien geführt, seit er, durch tödliche Langeweile
genarrt, von einem ehrbaren Lehrstuhl für Geschichte der frühen Neuzeit in die
Gedankenfabrik einer konservativ genannten Partei hinüberwechselte … nach
reiflicher Überlegung vielleicht – was geschähe im Archipel nicht nach reiflicher Überlegung –, doch vor allem aus Spaß: Sollen sie sehen, wie
sie damit zurechtkommen! Da steht ein Teil von ihnen beisammen: Friedenwanger, Duro, Lobbock, R… Sie alle, was wissen sie schon? Sie wissen nicht, sie repräsentieren ein Wissen – »Da ist schon ein Unterschied!« würde Tronka anmerken, der sich abseits hält und hier auch nicht gefragt wäre, eben zog er vorbei –, das Wissen fühlt sich bestens aufgehoben in ihrem Kreis, es lächelt ein wenig töricht in sich hinein, wie alle, denen geschmeichelt wird, ohne dass sie den Grund zu erkennen vermögen, aber finden, die schmeichelnde Seite habe doch recht. Dieses Wissen steht erst am Anfang, es hat noch viel vor sich, es will Karriere machen, dafür ist es schließlich da und beugt sich den Regularien. Lutz C. Streicher steht auf der Liste des Großen Denunzianten ganz oben, das wissen alle. Die älteren wissen den Grund – oder glauben sich dunkel zu erinnern –, die jüngeren machen das bashing mit, ohne lang zu fragen, einfach, weil es sich so gehört. Denn dass es sich so gehört, steht bereits außer Frage. Man fragt nicht, wenn etwas sich so gehört, nicht innerhalb des Clubs, dem man angehört. Clubregeln gelten unbedingt. Warum auch nicht, würde Streicher sagen. Er ist einer der ihren, ihr Fleisch und Blut, um ihrer Sünden willen vergossen und ausgeteilt an die Himmelsrichtungen, vier an der Zahl – es könnten auch acht oder dreizehn sein, niemand wäre an dieser Stelle pingelig, denn sie ist windig wie keine und es schickt sich nicht, länger als nötig an ihr zu verweilen. Er trägt den Namen und ist der Verdammten einer, einer wie alle: unmöglich, so ein Detail zu erwähnen, aber es steht hinter ihrer Stirn, unverrückbar. Ein leichtes Zucken angesichts eines Namens kann eine Karriere auslösen, es kann bewirken, dass Türen sich öffnen und wieder schließen, ganz entsprechend dem Zufall, der zum Kalkül drängt und jedes Mal aus ihm hervorgeht, als sei nichts gewesen. Warum das Ganze? Streicher schrieb einst ein paar Banalitäten, die – fast – jedem anderen mangels Aufmerksamkeit durchgegangen wären, und der Große Denunziant war zur Stelle, so wie er ihn jetzt wieder aufgespießt hat, beiläufig, grundlos, aus Wiederholungszwang. Er steht als vierter auf der Liste der Angegriffenen, der Flurkonvent tagt nicht ohne Grund. ―Also das mit dem Komplott finde ich jetzt übertrieben –. Der Einwurf stammt von Gaggauer, dem netten Gaggauer, der immer vorbeikommt, wenn keiner ihn braucht. So auch diesmal, er hat sein Pulver bereits verschossen und trollt sich. Guten Tag noch! Was soll von dem schon kommen? Sie alle neigen dazu, die Dinge ein wenig einfach zu sehen. Im akademischen Alltag, wie in jedem anderen,
werden Urteile ohne Richter gesprochen, in Abwesenheit des
Angeklagten und fernab aller Zeugen. Auch bleibt die Anklage, ebenso
wie das Strafmaß, in der Regel diffus. Ein Narr, wer glaubte, sie existierten nicht. Selten beruht das Urteil auf
Einsicht oder Respekt vor den Tatsachen. Worauf dann? Auf der Lust am
Denunzieren? Aber Denunzieren ist eine gerichtete Tätigkeit: man
schwärzt jemanden bei jemandem an und hofft auf einen
Vorteil für die eigene Person. Hingegen verfügt, wer den Stab bricht, über starke Gründe oder gar keine. Der Unterschied ist nicht so groß, wie man denken könnte. Auch im zweiten Fall bleiben die starken
Gründe im Spiel, sie werden bloß unangreifbar, denn niemand
bekommt sie zu Gesicht (schließlich existieren sie nicht). Man unterstellt sie blind, da der Mensch seine Gründe für solch ein Vorgehen haben muss. Man verurteilt einen Menschen nicht
grundlos. Man nicht, wohl aber A und Z, sie haben damit kein
Problem. Sie würden, falls nötig, es wieder tun, immer wieder,
solange noch ein Rest Atem in ihnen steckt, und jedes Mal würden
sie, sollte sie einer fragen, zu ihrer Rechtfertigung denselben Satz
vorbringen: Man verurteilt einen Menschen nicht grundlos. Also haben
sie doch ihre Gründe, sie müssen sie haben, schließlich verurteilen sie
diesen Menschen, und falls gerade keine Gründe zur Hand sind, wenn
jemand Auskunft begehrt, dann … dann … wiegen sie umso schwerer und es genügt ein Wiegen des Hauptes oder ein zuckender Mundwinkel, um anzudeuten:
Frag lieber nicht!
Was bedeutet das? Es bedeutet: Meine Person gegen
die des anderen. Du darfst dich entscheiden, ob du mir glauben willst
oder dem anderen, und da du weder von mir noch von ihm Gründe
erfahren wirst, die meine Einstellung rechtfertigen, musst du dich
zwischen ihm und mir entscheiden. Ich verfüge über
den Vorteil, anwesend zu sein, und zwar gerade jetzt, da du mich brauchst, weil
du etwas von mir willst, und sei es die Bestätigung einer flüchtigen
Sympathie. Also überlege dir deine Wahl gut. Überdies bin ich es – und
nicht der andere –, der den Stab bricht, also werde ich wohl
meine Gründe haben, gute Gründe, ziehst du sie in Zweifel, dann
brichst du den Stab über mich. Welches Recht hättest du,
über mich den Stab zu brechen? Keines, ganz recht. Kein einziges. Also bleibt dir nichts weiter übrig, als dich auf meine Seite zu
schlagen, es sei denn, du hältst dich heraus und wirst dadurch
für mich kenntlich … als einer, der gerade jetzt, da ich ihn ins Vertrauen gezogen habe, da ich ihn vertrauenswürdig fand, mir sein Vertrauen
entzieht. Das wäre was? Ganz recht: pure Niedertracht. Ich habe dir vertraut und du … wie erwiderst du mein Vertrauen? Du erweist dich als unwürdig.
Scher dich zum Teufel! Willst du das? Willst du das wirklich?
Natürlich nicht. Auch dir liegt viel daran, als vertrauenswürdige Person
zu gelten, im allgemeinen und gerade jetzt, in dieser Situation, da
du auf der Probe stehst. Du willst sie bestehen,
koste es, was es wolle. Nun ja, wenigstens beinahe… Das reicht, um
dem anderen weit entgegenzukommen, weiter jedenfalls, als es das
nüchterne Urteil erlauben würde, wäre es in dieser Situation
gefragt. Gefragt aber bist, wie gesagt, du.
Der Zweck von
Gemeinschaft besteht nicht darin, Zweifel zu säen, jedenfalls nicht
in Bezug auf sie selbst, sondern das schiere Gegenteil – die Gewissheit,
recht zu haben, einen gangbaren Weg gefunden zu haben, womöglich den
Königsweg, wer kann das wissen? Niemand vielleicht, aber die
Versuchung bleibt und sie erweist sich in vielen Fällen als übermächtig. … und führe mich nicht in
Versuchung: Bedeutet das nicht, dass aus der Gemeinschaft der
Gläubigen der Versucher hervorleuchtet? Aber gewiss doch. Er ist
zur Stelle, wenn man ihn braucht, er leuchtet auch nicht, er liebt das Unscheinbare,
er liebt das Flurgespräch: »Ich denke ja doch, dass…« Weniger
lässt sich nicht auftragen. Er liebt die flüchtige Ballung, an
deren Zusammensetzung sich später kaum einer erinnert. Wer hat was
gesagt? Darüber müsste ich jetzt nachdenken. Wer hat es gehört? Also
hören Sie, ich bin doch kein Spitzel, dass ich mir so etwas merke. Wofür
halten Sie mich? Sie glauben mir nicht? Fragen Sie den und den, der
war dabei, das kann ich bezeugen, der kann Ihnen vielleicht
weiterhelfen. Im übrigen: ich habe doch bloß gesagt, was jeder
wusste. Dazu stehe ich nach wie vor.
Nachdem bereits der Name gegen ihn zeugt: nein. Über Namen redet man nicht, das Unaussprechliche verfügt über eine
eigene Weise sich auszubreiten. Es bedarf der Rede nicht. Verfügte es über
Bewusstsein, es würde sie fürchten, weil die Kräfte der Auflösung –
›dissimulatio‹ – in ihr so überaus wirksam sind. Wer ist gewillt, für den Anderen immer die Hand ins Feuer zu legen? Das motorische Zusammenspiel einiger Gesichtsmuskeln entscheidet darüber, wie ein Mensch bei seinen Mitmenschen ankommt, somit über Wohl und Wehe, jedenfalls übers
private Lebensglück. Denn ›rein karrierremäßig‹ darf Streicher sich über nichts
beklagen. Im Gegenteil. Er ist der erste seines Geschlechts, der es zu
akademischen Würden gebracht hat. Im Kreis der Familie hingegen – die mit der des Stürmer-Herausgebers außer dem Namen, wie er beteuert, nicht das Geringste verbindet – ist er ein
Fremdling, dem man freundlich ins Gesicht redet, froh, ihm den
Rücken kehren zu können, denn der akademische Habitus bedeutet für diese
Handwerker und kleinen Angestellten Stress – jedenfalls in seiner Generation,
die nächste, eine Bildungsoffensive weiter, scheut sich nicht, ihre
neidgetränkte Missachtung der ›Abgehobenen‹ offen zur Schau zu tragen. Lutz C. Streicher, soviel ist sichtbar, verwandelt die menschliche Bürde des Aufsteigers in pure Energie: die einzige
Ausstrahlung, die ihm eignet.
Nachdem bereits der Name gegen ihn zeugt: nein. Über Namen redet man nicht, das Unaussprechliche verfügt über eine
eigene Weise sich auszubreiten. Es bedarf der Rede nicht. Verfügte es über
Bewusstsein, es würde sie fürchten, weil die Kräfte der Auflösung –
›dissimulatio‹ – in ihr so überaus wirksam sind. Auch menschlich nimmt er
gegen sich ein, besonders Zartbesaitete, die ihm einen Hang zum Grobianismus
attestieren, womöglich verführt durch seine Physiognomie, denn im persönlichen
Umgang lässt er sich, soweit bekannt, nichts zu Schulden kommen. Soweit bekannt,
soll heißen: Nobody is perfect. Doch so leicht kommt er nicht davon. Was
bei anderen die Unschuldsvermutung, ist bei ihm der Verdacht des Schlimmeren,
wenn nicht des Schlimmsten. Wer ist gewillt, für den Anderen immer die Hand ins Feuer zu legen? Das motorische Zusammenspiel einiger Gesichtsmuskeln entscheidet darüber, wie ein Mensch bei seinen Mitmenschen ankommt, somit über Wohl und Wehe, jedenfalls übers
private Lebensglück. Denn ›rein karrierremäßig‹ darf Streicher sich über nichts
beklagen. Im Gegenteil. Er ist der erste seines Geschlechts, der es zu
akademischen Würden gebracht hat. Im Kreis der Familie hingegen – die mit der des Stürmer-Herausgebers außer dem Namen, wie er beteuert, nicht das Geringste verbindet – ist er ein
Fremdling, dem man freundlich ins Gesicht redet, froh, ihm den
Rücken kehren zu können, denn der akademische Habitus bedeutet für diese
Handwerker und kleinen Angestellten Stress – jedenfalls in seiner Generation,
die nächste, eine Bildungsoffensive weiter, scheut sich nicht, ihre
neidgetränkte Missachtung der ›Abgehobenen‹ offen zur Schau zu tragen. Lutz C. Streicher, soviel ist sichtbar, verwandelt die menschliche Bürde des Aufsteigers in pure Energie: die einzige
Ausstrahlung, die ihm eignet. Lutz C.: Kettenraucher von Geblüt. Seither publiziert er dann und wann einen ›exzellenten‹ (Tilman) Aufsatz in einem der staatstragenden, daher bei progressiven Kulturträgern verhassten Medien. Was er sonst noch treibt, entzieht sich der allgemeinen Kenntnis. So etwas reizt natürlich die Phantasie. hast ihn nie gesehen – Alles in allem… … ist daher Lutz, wie Friedenwanger ihn aus boshafter Nahdistanz nennt, der ideale Kandidat, wenn’s darum geht, ein diskretes
Netzwerk von Möchtegern-Umstürzlern aus dem Aufklärer-Hut zu zaubern.
Was geht’s den Menschen an, was der andere von ihm hält und wessen er ihn
verdächtigt? Augenscheinlich nicht viel. Doch darüber weißt du zu wenig, um Einspruch erheben zu können, gesetzt selbst, es würde dich
jucken. Gehst du zum Feind, vergiss nicht, den Hut abzunehmen, bevor er
dir heruntergeschlagen wird: Benimmregel für Unterhändler zu
Zeiten, in denen Politik von Männern mit Hüten zelebriert wurde. Aber das wissen wir doch. Was wüssten wir nicht? Das Bedürfnis des Großen Denunzianten nach Feindschaft
ist unersättlich. Ein Defekt? Wenn ja, dann läge, wie stets, die
Ursache in der Kindheit. Einmal im Pipi-Alter auf der falschen Seite gestanden, es
ist nie mehr gutzumachen. Du hattest keine Chance, also nutze sie konsequent. Der Leitspruch Verlorener Generationen erklärt vieles,
wenngleich nicht alles.
Denkt so ein erwachsener Mensch? Offensichtlich will Psyche es so. Sich
ihrem Willen entgegenzustellen ist zwecklos. Man könnte sie eine tückische
kleine Hetzerin nennen, doch damit täte man ihrem komplexen Charakter Unrecht.
Es wäre auch psychefeindlich und da lugte er schon aus einem heraus, der Feind.
So ist der Große Denunziant, seit er eine öffentliche Rolle spielt, auf der
unendlichen Suche nach einer Welt von Feinden, die allesamt jenem temps
perdu entspringen, aus dem es für ihn kein Entrinnen gibt. Wo es für ihn
kein Entrinnen gibt, da soll auch kein anderer entrinnen. Alles andere wäre ja …
extrem. Die Nachricht, dass die Pyramide ihn in einem internen Papier zur
persona non grata erklärt hat, ereilt Streicher auf weichem
Nachmittags-Pfühl.
Wer hat Recht, wer Unrecht? Der Geist steht links: Ist das
so? Selbstredend hat auch Lutz C. als Linker begonnen. Die
Quellenarbeit des Historikers hat ihm, wie er gern und ausufernd zu
Protokoll gibt, die Augen geöffnet, doch eigentlich … eigentlich
hat ihn das Rad der öffentlich inszenierten Empörung, auf das er
sich unversehens gehoben fühlte, zurechtgerückt, man kann auch
sagen, seinen wahren Freunden zugeführt und damit in Gehaltsklassen
aufrücken lassen, von denen die beamteten Kollegen bloß träumen.
Nichts arbeitet so unablässig an der herablassenden Attitüde, die
ein Mensch sich gibt, wie das Geld auf seinem Konto, vor allem dann,
wenn der monatliche Zufluss gesichert erscheint. Das Steigen und
Sinken der Kontostände setzt sich unmittelbar in Habitus um, da kann
der moralische Mensch sich ausdrücken, wie er will.
Deshalb kommt es vielen Zeitgenossen so vor, als sei rechte Arroganz die
rechte, während ihr linkes Gegenstück bereits durch ihr bloßes
Vorhandensein andeute, dass hier etwas nicht stimmen kann. Das
Geld steht rechts: Die Ergänzung gehört zum Einmaleins der
geistigen Existenz, die ganz gut weiß, was Sache ist, auch
wenn sich immer wieder betuchte Schaulinke, meist aus dem
Erbenpool, in die eigenen Reihen spielen. Geld locker machen –
die einen versuchen es durch unablässige, meist verbale
Lockerungsarbeit, die anderen müssen die notwendigen Unterschriften
dazugeben, damit daraus etwas werden kann. Lutz, das wissen viele und
schweigen darüber, verfügt, bedingt durch seine Stellung, über
›nicht unbeträchtliche‹ Mittel, dazu bestimmt, auf diskreten
Wegen den akademischen Diskurs zu steuern: Tagungsgelder,
Editionsmittel, Exkursionsmittel, Projektmittel, Vortragshonorare,
hin und wieder gehört auch eine Zeitstelle irgendwo dazu. Nicht
selten teilt er sich die Verfügung mit anderen potenten, gern
ungenannt bleibenden Gebern. Auch das fördert Machtgefühl, das ihm
jetzt, gerade jetzt, zupass kommt:
Wer ist denn nun draußen, die oder ich? Da muss er herzhaft lachen, während er sich eine Zigarette
anzündet. Rein phänomenologisch betrachtet handelt es sich um eine Art von ansteckendem Husten, doch ist gerade niemand im Raum, bei dem er seine ansteckende Wirkung entfalten könnte. Alles zu seiner Zeit.
Am Telefon: die Stimme aus dem Kanzleramt, vertraut, beinahe väterlich, das Mahlwerk erstaunlich genau auf den fernen Gesprächspartner eingestellt:
In diesen Tagen macht Hölzchen eine Wandlung durch – nicht gerade vom Saulus zum Paulus, das wäre, zumindest in diesem Fall, zu christlich gedacht. Auch braucht er die Rolle des Verfolgers nicht abzulegen, das wäre zu … voreilig, im Gegenteil: behände schlüpft er in sie hinein wie in ein bereitliegendes Mäntelchen, das höchstens an den Armen ein wenig zupft, aber sonst ganz in Ordnung ist. Lange nicht getragen: so könnte die stumme Kommunikation zwischen beiden lauten. Im Grunde sagt so ein Satz alles. Er müsste nur von allen verstanden werden. Unverstanden fühlt sich Hölzchen seit langem. Vielleicht nicht unverstanden, nicht wirklich jedenfalls, eher unbeachtet, obwohl er das vehement abstreiten würde. Wirklich wird er ja beachtet, das bringt seine Stellung mit sich, schon seine Dauerpräsenz in der Pyramide lässt etwas von der Würde ahnen, die ihm in der akademischen Welt zufließt. ›Würde‹ ist, zumindest in diesem Fall, ein seltsames Wort, vermutlich würde die Welt nicht ärmer, käme jemand auf die Idee, es aus dem Wortschatz zu streichen, ohnehin weiß keiner so genau, was es bedeutet.
… ist unermesslich – … ohne Stöckchen kein Hölzchen (so sieht man Hölzchen tagtäglich mit possierlichen Sprüngen oder mit Apportieren beschäftigt):
Ein Hölzchen-Problem muss possierlich sein: so denken die Kollegen. Auch deshalb fällt die Frau hinter seinem Rücken als Stichwortgeber fürs erste aus. Jedenfalls ist eine Abhängigkeit vom Ehepartner nichts Ungewöhnliches. Eher das Gegenteil. Im Kreis der Kollegen wird sie natürlich unter der Decke gehalten. (Beachte die Redensart: im ›Kreis der Kollegen‹)
Hetero Hölzchen trägt seine Abhängigkeit vor. Er macht es nicht ostentativ, er trägt nicht dick auf, aber er verhält sich doch so, dass jemand, der in diesen Dingen nicht ganz abgestumpft ist, aufhorchen muss. Genau gesagt, Hölzchen benützt seine Abhängigkeit dezent aber wirksam, um bestimmten Aussagen Weihe zu geben, so als würden sie durch den Verweis sakrosankt. Zum Beispiel sagt er, um die Abschottungspolitik der Europäischen Gemeinschaft zu verdammen:
Natürlich wäre der Nachsatz unter wirklichen Weltbürgern, also unter Kollegen, die allesamt, als Bürger der Gelehrtenrepublik, ein Patent auf Weltbürgerschaft erworben haben, überflüssig.
Gerade deshalb erfüllt er – den anderen fühlbar – gleich mehrere Funktionen. Erstens eine informative: Aha, er hat eine Frau, er spricht mit ihr ›auf Augenhöhe‹, wie das seit einiger Zeit heißt, er verständigt sich mit ihr über diese politischen Fragen, gemeinsam vertreten sie ein hohes ethisches Ideal (schließlich dient die Wagenburg, falls es sie denn gibt, angesichts argwöhnischer und tendenziell fremdenfeindlicher Wählerschichten bloß der Wiederwahl der Politiker). Zweitens eine performative: aus dem Umstand, dass seine Frau seine Gesinnung teilt, gewinnt Hölzchen eine innere Sicherheit, die, sagen wir, für sich selbst spricht. Genau besehen steht in solchen Gesprächen nicht die Überzeugung als solche auf dem Prüfstand, sondern das wissenschaftstheoretisch verbürgte Recht, ein Argument immer und immer wieder zu bezweifeln, sobald ein neues Argument in der Arena gesichtet wird: im Wissen um die Ansicht der ›integeren Frau‹ im Hintergrund verglüht es, einer Sternschnuppe gleich, bevor seine Kraft sich wirksam entfalten konnte. wachsen, so will es ein Gemeinplatz der Psychologie, auf einem Glied. Hölzchen, der ihn Wort für Wort unterschreibt – er taucht ständig in seinen Vorlesungen auf –, kann sich persönlich nicht daran erinnern, Frauen jemals verachtet zu haben – weder einzeln noch im Rudel, weder subtil noch brutal. Dadurch erhält der Satz das Gewicht einer fernen Gewissheit, unbetastbar durch persönliche Erfahrung und ähnlich erhaben wie der zweite oder dritte Lehrsatz der Thermodynamik. Hölzchen ›weiß‹, dass Frauen auf gefühlte oder auch bloß vermutete Verachtung ihres Geschlechts ›anspringen‹, er ist da ganz auf ihrer Seite, genauer, seine Sensibilität für ›Situationen‹ läuft der seiner Partnerinnen voraus, als müsse sie das Gelände sichern, damit ihr Fuß keinen Schaden nehme. Dasselbe Verfahren, angewandt auf eine banale Überzeugung wie die, Europa dürfe sich nicht gegen die Elendszuwanderung aus dem globalen Süden abschotten, verwandelt die ›Frau an seiner Seite‹ in eine Manifestation der hohen Frau, deren Gesinnung, unendlich kostbar durch das bergende Gefäß, auch diverse Opfer verlangen darf, Opfer an Komfort und Geschmeidigkeit, mit der undeutlichen Aussicht am Ende der Schlange auf das berühmte ›sacrificium intellectus‹, die Preisgabe des Intellekts, vielmehr der Verfahrensweise des Intellekts, gemeinhin ›Kritik‹ genannt, nach dem Motto: Kritisieren Sie meine Frau und Sie wissen schon, mit wem Sie sich schlagen müssen.
Würde Hölzchen sich schlagen? In einer Gesellschaft, die auf feinste Signale zu achten gewöhnt ist, kann eine solche Frage jahrelang unbeachtet in einem Winkel liegen, weil allein die Absicht, sie zu stellen, eine unzumutbare Belastung des Arbeitsklimas bedeuten würde. Es kommt aber der Tag, an dem sie sich zwischen die Schweigenden drängt, aus keinem anderen Grund als dem, dass ihre Zeit gekommen ist und sie sich ganz einfach stellt. Figuren einer sich selbst unbekannt bleibenden Lust, sich zu schlagen, der es am rechten Gegenstand fehlt. Angenommen, einer will sich auszeichnen, aber ohne ausreichenden Grund in der Sache – sei es, dass dort gerade business as usual angesagt ist, sei es, dass seine geistige Kapazität nicht genügt, um innerhalb seines Fachs neue Forschungswege zu erschließen –, angenommen, er muss sich auszeichnen, weil sein Verhältnis zur hohen Frau es ihm zwingend nahelegt, so drängt es ihn sich zu schlagen, wissend, dass es darauf nicht ankommt. Diesen Widerspruch aufzulösen ist nicht so einfach, nicht so einfach … will sagen, auf intellektuellem Wege unmöglich. Daher nimmt es die Form von Entladungen an, kleinen täglichen ›Verpuffungen‹, um es in der Sprache der Chemiker auszudrücken – Alleinstellungshandlungen zur Gesichtswahrung.
So sieht es aus. Dass einer wie Killus, bedrängt vom radikalen Narrensaum der Studentenschaft, neben der Zunft lebt (wie sonst sollte man seine zurückhaltende Kontaktpflege charakterisieren?), beschäftigt Hölzchen nachhaltig. Mehr als alles andere fürchtet er das Zum-Fall-Werden, – hier ist der Fall gegeben und der Geschlagene erweist sich in mehr als einer Hinsicht als sein stiller Held: ein Mann der Wissenschaft, der sich schlägt, ohne sich zu schlagen, zusammengeschraubt aus Distanz und Güte, aus Schärfe und fast heiterer Gelassenheit (wobei es sich verbietet, jene Schärfe analytisch zu nennen, eher synthetisch, weil sie ›den Gegner kennt‹ und unnachgiebig in seine Richtung drängt). Er hat ihn freundlich in seinem Büro empfangen, ohne Umschweife: einer, der zur Sache kommt, ohne den Gast groß merken zu lassen, wann und wo welche Türen aufgehen und welche gerade verschlossen bleiben. Spürt Hölzchens Frau die Abhängigkeit, die sich da anbahnt?
Wenn in den Tagen des anhebenden Massakers der Große Denunziant nach vorn geht, dann aktiviert er in den vielen Sancho Pansas, die das Land beherbergt, Hölzchen inbegriffen, ein von langer Hand implantiertes Programm. Geschlossenen Auges lösen sie sich aus ihren Verhaltungen und eilen der Schlacht entgegen, als sei das Gemetzel ihr verborgener, nun offenbar werdender Lebenszweck – eine Entladung, kaum vergleichbar den alltäglichen Inszenierungen des Psycho-Spiels, in dem zum Teufel geht, wer vom Teufel kommt, soll heißen, in dem die Stellung der Lebenspartner zueinander im Hintergrund über Grad und Art der Auffälligkeit entscheidet, die der Delinquent im Berufsleben an den Tag legt. Nein, Wer Hölzchens erste Beschreibung des Besuchs bei Killus noch im Ohr hat, reibt sich verwundert die Augen: Argloser war es, der sich da vorwagte. Was er gehört hat, schmeckt ihm nicht. Doch er schluckt es herunter. Jedenfalls geht er still seiner Wege. Er ist kein Historiker und kennt Hölzchens Suada aus dem Effeff. Aber er liest Killus seit Jahren und, wie er meint, mit Gewinn. Es will ihm nicht einleuchten, dass Killus unter die Romanschreiber gegangen sein soll. Andererseits: was heißt schon, ›sich hineinzuversetzen‹? Das kann auch eine Versuchsanordnung bedeuten – und nicht die schlechteste, wie ihm scheint. Wie war das mit dem geschichtlichen Horizont, in dem sich alles Handeln vollzieht? Wer zieht diesen Horizont? Ist es neuerdings nicht mehr üblich, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen? Gilt auch das in bestimmten Historikerkreisen bereits als anrüchig? Aber der Große Denunziant ist kein Historiker. Er ist Soziologe wie Argloser und in deren Motiven kennt er sich aus. [Auflösung]
Wann, denkt Streicher, wird die Elite begreifen, wie strunzeinfach die neue Linke einkassiert werden kann?
Reell am konservativen Gedanken sind die
Interessen. …ohne weiteren Zusatzstoff auf jedes einzelne Zigarettenpäckchen
gedruckt, garantiert das
Überleben der Tabakbranche für, sagen wir, die nächsten hundert
Jahre. Hat eigentlich jemand die Lektion begriffen? Wie es aussieht…
[Muss weiterverfolgt werden.] Es gibt sie, weil es Überzeugungen gibt.
Suche den Fehler. Nähern sich die Interessen den Überzeugungen, weichen die
Überzeugungen zurück.
Und wo bleiben wir? Tata!
Dieser eingebildete Abgrund … was ist das überhaupt?
Im Augenblick beschäftigt dich ein anderer Gedanke.
Was ist Scham? Verhaltenssteuerung unter Primaten.
Streicher ist klug. Nacktheit empfindet Streicher als unanständig. Die Gesellschaft,
die auszog sich auszuziehen, hat ihn seit jeher befremdet. In seinen
polemischen Schriften hat er für diesen Komplex das Schmähwort
›Freizeit‹ reserviert, den populären Zwilling der Freiheit – Die Vorstellung überfüllter Strände – ein Gräuel. Selbst die
ärztliche Aufforderung sich freizumachen stößt, wenngleich
er es nie zugeben würde, auf eine nur schwer zu überwindende
Barriere. Nachgeben? Hart bleiben? Natürlich gibt er nach. Anderes lässt der ständige Begleiter Krebsangst nicht
zu. Der tiefe Zusammenhang zwischen Nacktheit und Tod lässt
Streicher nicht ruhen, seit er sich zum ersten Mal vor einer Frau
entblößte, um Liebe zu machen, und dabei das prickelnde Empfinden,
im falschen Film zu sitzen, verspürte, der sich dann doch irgendwie
als der richtige erwies. Jedenfalls galt das, solange er lief, um
irgendwann abrupt zu enden.
Liebe machen aus Angst vor dem Tod: das macht Sinn, es besitzt
eine biologische Stimmigkeit, gegen die sich schwer ankommen lässt,
es sei denn, der Übertritt in die nackte Existenz ist mit allen
Zeichen des Todes drapiert und lässt für das, was kommt, nur das Bild der
Höllenfahrt zu. Doch so verklemmt ist Streicher nun wieder
nicht, um den Weg orthodoxen Horrors bis ans Ende zu gehen. Die
Mechanik des Lebens verdient Respekt. Auch das heißt konservativ
sein. Zum Weibe gehen, eine gutsherrliche Formel, kein
Zweifel, dennoch passt sie zu diesem Teil seiner Existenz wie … wie
… zum Teufel mit allen Vergleichen, das hier ist singulär.
Singulär … das erinnert ihn an etwas. Blowasser, der Mann ohne Rückgrat, hat in diesen Frühsommertagen Konjunktur. Zusammen mit Nassen, der endlich erwachsen werden muss, hat er einen Projektantrag laufen und man merkt es seiner Geschäftigkeit an. Ein einsamer Mensch, der sich nicht beklagen darf, so sehr haben die Umstände ihn gebettet. Doch wie er sich dreht und wendet, liegt er falsch. Auch mit Nassen liegt er falsch. Sie haben sich angefreundet, weil der Zweck die Mittel heiligt und beide sich auf der Suche nach einem Partner befanden: da genügt ein Gespräch in der Mensa und der Funke springt über. In der Pyramide ist Sympathie ein Gefahrgut, sie schwappt leicht über den Rand und verseucht das Gelände. Auch du findest die beiden sympathisch, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Was dir gefällt: der Hunger, den beide ausstrahlen, das Bedürfnis nach mehr – allerdings musst du, bei einigem Nachdenken, zugeben, dass das Bedürfnis nach mehr Wissen darin, rein quantitativ, nur einen verschwindenden Teil ausmacht, gelöst und genährt vom alles beherrschenden Bedürfnis nach Status, also nach Würde.
Würde, engl. ›dignity‹, die Werthaltigkeit des Menschen, etwas, das jedem Menschen qua Menschsein zukommen, zumindest, folgt man der kulturellen Regel, zugebilligt werden sollte: wie kommt es, dass das Verlangen nach mehr davon in bestimmten Menschen zu einer verzehrenden Leidenschaft anwächst? Blowasser, der Mann ohne Rückgrat, hat in diesen Frühsommertagen Konjunktur. Zusammen mit Nassen, der endlich erwachsen werden muss, hat er einen Projektantrag laufen und man merkt es seiner Geschäftigkeit an. Ein einsamer Mensch, der sich nicht beklagen darf, so sehr haben die Umstände ihn gebettet. Doch wie er sich dreht und wendet, liegt er falsch. Auch mit Nassen liegt er falsch. Sie haben sich angefreundet, weil der Zweck die Mittel heiligt und beide sich auf der Suche nach einem Partner befanden: da genügt ein Gespräch in der Mensa und der Funke springt über. In der Pyramide ist Sympathie ein Gefahrgut, sie schwappt leicht über den Rand und verseucht das Gelände. Auch du findest die beiden sympathisch, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Was dir gefällt: der Hunger, den beide ausstrahlen, das Bedürfnis nach mehr – allerdings musst du, bei einigem Nachdenken, zugeben, dass das Bedürfnis nach mehr Wissen darin, rein quantitativ, nur einen verschwindenden Teil ausmacht, gelöst und genährt vom alles beherrschenden Bedürfnis nach Status, also nach Würde. Würde, engl. ›dignity‹, die Werthaltigkeit des Menschen, etwas, das jedem Menschen qua Menschsein zukommen, zumindest, folgt man der kulturellen Regel, zugebilligt werden sollte: wie kommt es, dass das Verlangen nach mehr davon in bestimmten Menschen zu einer verzehrenden Leidenschaft anwächst? Das Verlangen nach mehr Würde setzt, wie jedes Verlangen, einen Mangel voraus. Wer sich unwürdig fühlt, mag sich darin wohlfühlen, aber wer sich ein bisschen würdig fühlt, den verlangt es, diesen unwürdigen Zustand zu beenden und mit wirklicher Würde aufzutrumpfen. Ist mehr Würde wirkliche Würde? Bläst das Verlangen nach ihr nicht automatisch die Unwürdigkeit auf, die tief gefühlte, den Ausgang des Begehrens? Könnte sein, könnte sein. Vermutlich ist es so.
Wie strahlt einer wie Blowasser, ein rundlicher Mensch, der nie aus dem Anzug zu kommen scheint, das Verlangen nach Würde aus? Blowassers Anwesenheit strafft die Kollegen. Sie müssen zeigen, was in ihnen steckt, peinlich darauf bedacht, seinem prüfenden Auge standzuhalten, das zur gleichen Zeit etwa auf der Fensterbank liegt, weil dort ein Staubfaden unter der Einwirkung eines Sonnenstrahls aufglimmt. Dass er sich mit Nassen zusammengetan hat, besitzt einen einfachen Grund: Nassen läuft. In ihm glüht der Wunsch sich zu beweisen. So wirkt er als eine Art Aushängeschild des Projekts, ohne dass Blowasser Druck aufbauen oder die Außendarstellung selbst in die Hand nehmen müsste. Blowasser braucht den Herold. Nachwuchs-Nassen hingegen benötigt den erwählten Meister, um sich an der verletzenden ›inhärenten‹ Ungleichheit der Partner abzuarbeiten. Beide brauchen das Projekt, um mehr zu sein. Mehr als was? Mehr als wer? Das ist die Frage … die das Paar (›Pärchen‹?) an seine Umgebung richtet.
(In jedem Vorrücker steckt ein Nachrücker. Raupe und Schmetterling. Beide wissen nichts übereinander und alles. Wie er steckt, der Heros zwanghafter Nachfolge, zwanghafter Verweigerung, zwanghaft verweigerter, zwanghaft zelebrierter Übereinstimmung, verrät fast alles über den Fortgang der Wissenschaft.) In der Fakultät verfügt Blowasser, anders als Friedenwanger, über kein ›Standing‹ (vermutlich, weil er ein paar Jahre jünger ist und ihm kein 68er Ruf vorausgeht. Fast alle Bälleverteiler im mühsam entzifferten akademischen Ränkespiel kommen aus dieser Personengruppe. Sie steht in engem Kontakt zur Politik und wird von den Medien auf Grund irgendwelcher assoziativer Kurzschlüsse mit gesellschaftlicher Sichtbarkeit versorgt). Positive Kehrseite: kaum jemand ist bisher mit Blowasser ›durch‹. Er gilt als charmanter Kollege – ›reizend‹, ›angenehm‹ – mit einer himmelweit offenen Zukunft und jedermann wünscht ihm, der offenen Zukunft sei Dank, nur das Beste.
Davon weiß die Pyramide noch nichts. Die Regel vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, erlaubt auch die Umkehrung – hier gilt einmal einer und die Umgebung liegt wieder daneben. Von solchen Verkennungen lebt die Gelehrtenrepublik. Will sagen, sie lebt gut davon, solange ihr die Talente nicht ausgehen und die Kommunikationshürden nach innen und außen ein anmutiges Kletterarsenal abgeben, auf dem jeder erproben kann, was an ihm ist. In der Fakultät verfügt Blowasser, anders als Friedenwanger, über kein ›Standing‹ (vermutlich, weil er ein paar Jahre jünger ist und ihm kein 68er Ruf vorausgeht. Fast alle Bälleverteiler im mühsam entzifferten akademischen Ränkespiel kommen aus dieser Personengruppe. Sie steht in engem Kontakt zur Politik und wird von den Medien auf Grund irgendwelcher assoziativer Kurzschlüsse mit gesellschaftlicher Sichtbarkeit versorgt). Positive Kehrseite: kaum jemand ist bisher mit Blowasser ›durch‹. Er gilt als charmanter Kollege – ›reizend‹, ›angenehm‹ – mit einer himmelweit offenen Zukunft und jedermann wünscht ihm, der offenen Zukunft sei Dank, nur das Beste.
Der Philosoph Steinschwafel, der große Steinschwafel, nach dem Geheimnis einer Karriere gefragt, die ihn so hoch hinaufgetragen hat, dass ihn die Zeitungen am Ende seines langen Wirkens als einen der großen Denker des Jahrhunderts feiern, soll irgendwann kurz und kryptisch geantwortet haben: »Nur die Besten.« Offenbar wollte er damit, den Vorteil des Greisen nutzend, andeuten, er habe sich von Anfang an nur mit den Besten abgegeben. Was voraussetzt, dass einer stets weiß, wo die Besten sich gerade aufhalten und wie man sie ansprechen muss. Nicht jeder, seufzt Blowasser, ist so beschlagen.
Wer das Beste will, braucht den Kontakt zu den Besten. Wer sind die Besten? Blowasser, der sich die Frage bisweilen beim Rasieren vorlegt, weiß es definitiv nicht. Genau aus diesem Grunde vertraut er der sozialen Auslese und pirscht sich an jeden heran, der es einmal, soll heißen für immer in die Medien geschafft hat – natürlich nicht in irgendwelche, sondern in die so genannten Leitmedien, denen die Aufgabe obliegt, der abgeschlagenen Konkurrenz Maßstäbe und Sprachregelungen an die Hand zu geben, so dass man in diesen Kreisen bereits anfängt, ihn hinter vorgehaltener Hand den ›Pirscher‹ zu nennen. Davon weiß die Pyramide noch nichts. Die Regel vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, kennt auch die Umkehrung: hier gilt einer und seine Umgebung liegt wieder daneben. Von solchen Verkennungen lebt die Gelehrtenrepublik. Will sagen, sie lebt gut davon, solange ihr die Talente nicht ausgehen und die Kommunikationshürden nach innen und außen ein anmutiges Kletterarsenal abgeben, auf dem jeder erproben kann, was an ihm ist. ist eine Fiktion, die der Gelehrten eine gelehrte Fiktion. Das zu behaupten braucht nicht viel Humor, es liegt, wo sonst, in der Sache begründet. Gedanken benötigen, um sich zu entfalten, freien Verkehr. Verkehr hingegen braucht Regeln, um frei zu fließen. Der Alltag ist durchsetzt von solchen je nach Denkart als klein oder groß empfundenen Paradoxien, die durch Training zwar nicht aus der Welt geschafft, aber praktisch aufgelöst werden können. Freiheit in der Bewegung ist keine natürliche Mitgift, sondern das Ergebnis unablässiger Übung. Wer, aus Unkenntnis oder Trotz oder anarchischem Übermut, die Regeln in Frage stellt, behindert, bis auf weiteres, den Verkehr. Wer sie nicht in Frage stellt, der behindert (na was wohl?) die freie Entfaltung – jedenfalls bis auf weiteres. Die Fiktion besteht darin, die Regeln so zu behandeln, als seien sie Luft, und sie dabei so zu respektieren, als seien sie gewachsener Fels, Basis aller Bewegung. Die gelehrte Fiktion besteht darin, zu behaupten, die Einhaltung der Regeln sei rational (nein: das Rationale). Rational ist, was aus sich selbst gilt. (Im Alltag entspricht der Respekt, den man ihnen zollt, dem des Wärters, der einen Löwenkäfig betritt: angstdurchsetzt und angstfrei in einem. Das geht eine Zeitlang gut, doch irgendwann versagen die Nerven und das Unheil nimmt seinen Lauf.)
(Die Republik der Geister besteht aus Köpfen, die Gelehrtenrepublik aus Vor- und Nachrückern. Der Geist will Beachtung, der Gelehrte will Schüler. Besser noch: er will Adepten. Die Kunst des Gelehrten bedarf der Stille: die eine Hälfte entfällt aufs Training, um fit zu bleiben, die andere auf Einweisung. Vor- und Nachrücker sind nicht getrennt zu betrachten, zusammen bilden sie die kleinste Einheit des Betriebs. Wer vor-, wer nachrückt, entscheidet das Los. In den Gremien wird gewürfelt, die Macht gehört dem, der die meisten Würfe bekommt. Der Vorrücker hat noch einen Wurf frei, der Nachrücker verfolgt das Spiel mit bebendem Blick. Er weiß, sein Lebensglück hängt daran.) Nein, Zerstörer sind Blowasser / Nassen nicht. Weder allein noch zusammen. Wenn sie zerstören, dann nur, was zerstört werden will, was allerorten bereits zerfällt; dass es durch ihr Zutun zerfällt, bezeugt bereits seine äußerste Fragilität. Auch die Republik der Geister zerfällt aus Mangel an Geistern. Die Gelehrtenrepublik, die so bestandsicher daherkommt, solange das allgemeine Bildungswesen ihr immer neue Mitglieder zuführt, sie unterliegt im Inneren einem Turnus, der aus Gelehrten im Lauf der Zeit Mitläufer werden lässt und aus Mitläufern Büchsenspanner, ungeachtet der Tatsache, dass säkulare Wissenschaft angesichts ihres Waffenarsenals ohne diese Spezies auskommen sollte. Blowasser und Nassen wissen nicht, dass sie ihr angehören, sie wissen nicht, wie strikt ihre Welt von der des Geistes geschieden ist, sie halten die Geistlosigkeit, die sie versprühen, für Geist, sie halten das Schicksal ihrer kleinen Welt in Händen und sich für groß. (Die Republik der Geister besteht aus Köpfen, die Gelehrtenrepublik aus Vor- und Nachrückern. Der Geist will Beachtung, der Gelehrte will Schüler. Besser noch: er will Adepten. Die Kunst des Gelehrten bedarf der Stille: die eine Hälfte entfällt aufs Training, um fit zu bleiben, die andere auf Einweisung. Vor- und Nachrücker sind nicht getrennt zu betrachten, zusammen bilden die kleinste Einheit des Betriebs. Wer vor-, wer nachrückt, entscheidet das Los. In den Gremien wird gewürfelt, die Macht gehört dem, der die meisten Würfe bekommt. Der Vorrücker hat noch einen Wurf frei, der Nachrücker verfolgt das Spiel mit bebendem Blick. Er weiß, sein Lebensglück hängt daran.) Nachhaltig blockiert die Illusion der Alterslosigkeit das Drei-Generationen-Modell der Gesellschaft, das, solange keine Ideologie sich einmischt, wechselseitigen Respekt verbürgt … mehr oder weniger. (Zwischen Vor- und Nachrücker herrscht kein Respekt, sondern Windstille. Stehen Entscheidungen an, kommt Sturm auf. Auch diese Metapher ist schief. Zwischen Vor- und Nachrückern herrscht die blanke Erwartung. Von Zeit zu Zeit geht sie in gespannte über und löst damit Krämpfe aus.) Nein, Zerstörer sind Blowasser / Nassen nicht. Weder allein noch zusammen. Wenn sie zerstören, dann nur, was zerstört werden will, was allerorten bereits zerfällt; dass es durch ihr Zutun zerfällt, bezeugt bereits seine äußerste Fragilität. Auch die Republik der Geister zerfällt aus Mangel an Geistern. Die Gelehrtenrepublik, die so bestandsicher daherkommt, solange das allgemeine Bildungswesen ihr immer neue Mitglieder zuführt, sie unterliegt im Inneren einem Turnus, der aus Gelehrten im Lauf der Zeit Mitläufer werden lässt und aus Mitläufern Büchsenspanner, ungeachtet der Tatsache, dass säkulare Wissenschaft angesichts ihres Waffenarsenals ohne diese Spezies auskommen sollte. Blowasser und Nassen wissen nicht, dass sie ihr angehören, sie wissen nicht, wie strikt ihre Welt von der des Geistes geschieden ist, sie halten die Geistlosigkeit, die sie versprühen, für Geist, sie halten das Schicksal ihrer kleinen Welt in Händen und sich für groß. Krämpfe? Welche Krämpfe? Krämpfe der Existenz. Krämpfe der fiebrigen, Krämpfe der enttäuschten Erwartung. Krämpfe des So-und-anders-Seins, Kollisionen des Vor- und Nachrückertums in ein und derselben Person, in Intrigen und Gemeinheiten endend, denen die Wissenschaft (das geheiligte Attachiertsein an die Mutter aller Erkenntnis und aller Karrieren) als Sternenmantel dient. Nassen und Blowasser wissen noch nicht… Was wissen sie noch nicht? Dass zwischen ihnen bald Todfeindschaft herrschen wird? Aber wer sagt denn, sie wären miteinander befreundet? Wer sagt denn, sie wären einander zugetan? Gleichgültig sind sie sich jedenfalls nicht. Zu persönlich wäre das Band, das sie zusammenhält, um so etwas zuzulassen, zu unpersönlich, als dass ihm mit Freundschaft gedient wäre. Es wäre, als Band, unerheblich. Aber unzerreißbar, solange der ausstehende Erfolg des gemeinsamen Projekts es rechtfertigt.
Was ist, sagt Blowasser, dieser Kill– ?
Nassen kommt ihm zu Hilfe. Und er hört sich um. Wo immer sich die Gelegenheit bietet: Nassen hört sich um. Bis irgendwann die ganze Fakultät weiß: da ist einer, der hört sich um. Wer hört sich um? Keine Ahnung. Eine Nebenfigur wie Nassen, unterhalb der Sichtbarkeit angesiedelt, genießt den Leidensvorteil, nicht beachtet zu werden. Argloser, der das Spiel durchschaut, beobachtet Nassen. Sieh an, die Ratte, geht es ihm durch den Kopf. Bloß ›in der Sache‹ weiß er nichts beizutragen. Das schwächt seine Position und bannt ihn auf den Beobachterposten. Einmal Argloser, immer argloser. Eine Republik zerstören – nichts geht leichter als das. Man nehme an… – ach was, man nehme die üblichen Ingredienzien, Feuer, Wasser, Luft, ein wenig Erde dazwischen, feuchte, warme Muttererde, das erhöht den Dampfgehalt der Luft, die wir alle atmen, und das ist gut für die Sache. Die Frage bleibt immer, wer zündelt, aber sie bleibt, alles in allem, unerheblich, ein Zundelfrieder findet sich immer. Auch Wassermann darf da nicht fehlen. No water, no fun. Selbstverständlich wäre kein Nassen der Welt in der Lage, die Republik der Gelehrten zu sprengen. Wer ist Nassen? Ein Nichts. Ein Nichts zuviel. Kein bloßes Nichts, ein Nichts zuviel. Die Botschaft muss von außen kommen und sie muss absolut sein. Wäre Hölzchen nicht Hölzchen – denn er ist nicht zwingend Hölzchen, und keineswegs immer –, so wäre er Wassermann. Soll heißen, er wäre der, für den seine Universität ihn hielt, als sie ihn einkaufte, und für den er sich selbst hält, jedenfalls in Momenten äußerster geistiger Klarheit. Wassermann kommt, wann immer die Zunft nach ihm verlangt, als habe er nur auf diesen Termin gewartet: prompt – er hat viele Termine –, er liefert ab, was sie von ihm erwartet, und verschwindet wieder in den Nebeln einer Existenz, die unter Kollegen als unergründlich gilt, weil er Fragen nach seinem Befinden, seinen Plänen oder gar seiner Einstellung zu Abwesenden konstant mit einem Lächeln beantwortet, dessen opake Verbindlichkeit sein Gegenüber über die Plumpheit grübeln lässt, zu der es sich gerade hat hinreißen lassen – ein Effekt übrigens, der bei Nassen nicht ankommt, was beim stets wachsamen Blowasser Zweifel an seiner akademischen Zukunft sät. Blowasser bewundert Wassermann maßlos. Es würde ihn nicht erstaunen, erführe er hier und jetzt, dass dieser sperrig-geschmeidige Mensch mit den klobigen Händen in einigen Monaten seine eigene Fernsehsendung moderieren darf. Noch befindet er sich im Gespräch mit Hölzchen, der selbst in der Pyramide Gaststatus genießt, aber, aus welchem Grunde auch immer, sich ›durchaus‹ als ebenso eitler wie innerlich bewegter Gastgeber fühlend, keinen Zentimeter von seiner Seite weicht. Wassermann hat das neue Buch des Kollegen Killus, dessen Erscheinen der Große Denunziant mit seinen unerschöpflichen Machtmitteln bis zum letzten Tag zu verhindern versuchte, bereits gelesen und möchte, wie er andeutet, gleich nachher, in seinem Vortrag, darüber einiges anmerken. Hölzchen, innerlich leicht beunruhigt, versichert ihm strahlend, nichts anderes werde an diesem etwas diesigen Nachmittag von ihm erwartet, »denn diese Dinge müssen besprochen werden, wir kommen darum nicht herum«. Wassermann lächelt – ein wenig mechanisch, wie es Hölzchen vorkommt, der froh ist, dass kein Dritter Zeuge seiner Bemerkung wurde –, er hat unter den sich versammelnden Hörern einen alten Freund, den Industriehistoriker Lobbock entdeckt und zieht sich mit ihm, den Kopf gesenkt und leicht zur Seite gedreht, in eine der hinteren Sitzreihen zurück. Mechanisch fahren seine Hände über die Seiten eines Notizhefts, das aufgeschlagen vor ihm liegt, und Hölzchen … Hölzchen möchte brennend gern in diesen Aufzeichnungen lesen, besser: gelesen haben, was alle gleich erwartet, denn im Grunde seines Herzens ist er ein ängstlicher Mensch und ›diese Dinge‹ treiben ihn, wie er das ausdrücken würde, um. Immerhin ist neben dem Dekan, wie er zu seiner Verwunderung feststellt, auch der Rektor erschienen und hält, die Hände jovial in die Hosentaschen vergraben und unauffällig die Nähe des Fensters ansteuernd, gewichtig im Hintergrund Hof.
Wer so redet, in Anwesenheit Starcks, des Philosophen, der durch die Reihen der Plaudernden pflügt, als wolle er sie zwingen, ihm ein paar ironische Gedanken nachzuwerfen, der muss wissen, welchen Kraftschluss er damit herstellt:
Nassen, ungewohnt schlagfertig, überdenkt die Kühnheit, von der er gerade noch nicht wusste, dass sie in ihm steckt und heraus will.
Starck … er bricht ab, nein, er verstummt, sein Blick sucht jene innere Ferne auf, die jeder Mensch kennt, aber nur einige aus eigener Anschauung.
Argloser betrachtet ihn von der Seite. Tronka, das sieht man selten, steht mit Friedenwanger zusammen und pflegt das Gespräch. Dieser Hund, denkt Friedenwanger, er hält sein Pulver trocken. Das macht nichts, ich werde ihm auf die Schliche kommen. Tronka ist notorisch unzuverlässig und dies hier ist die Zeit der Entscheidung. Aber sein Antifaschismus ist echt, ich weiß das von Nassen. Langsam wird er brauchbar, der junge Mann. Auch Leckebusch hat es sich, trotz fehlender Einladung, nicht nehmen lassen, der Veranstaltung beizuwohnen. Tatsächlich hat er etwas von einer Erscheinung, wie er da mit hängenden Schultern am Fenster steht und auf den von Stop&Go-Verkehr umschlossenen Park hinunterstarrt, als winke ihm von dort ein Stück unbewältigter Vergangenheit zu. Seit Elisabeth eine Stelle in der Pyramide angenommen hat, wirkt das Band zwischen ihnen in der Öffentlichkeit überdehnt. Peu à peu hat die Republik der Wörter die beiden zu Konkurrenten umgeschmiedet (ein etwas martialisches Wort, denn wie nicht anders zu erwarten, bewegt sich Elisabeth mit der Geschmeidigkeit eines Panthers inmitten ihrer neuen Kollegenschar), wenngleich der Professor und die Mitarbeiterin unterschiedliche Fächer repräsentieren. ―Ist Romanistik ein Fach? ―Ist das wichtig? Auch heute gleitet ihr apartes Hellgrau zwischen den gravitätischen Anzugträgern, als habe sie es darauf abgesehen, ungesehen gesehen zu werden – ein Kunststück, das umso schwerer wiegt, als sie nach wie vor die vibrierende Aufmerksamkeit der ›alten Säcke‹ auf sich zieht, von denen einige ihren ehelichen Weg von Anbeginn säumten: Dassler, der in diesem Ambiente natürlich fehlt (nie würde er zur Causa Killus ein Sterbenswort sagen, geschweige denn einer Veranstaltung beiwohnen, in der sie zur Verhandlung ansteht), aber Elisabeth jedesmal, wenn sie sich begegnen, eine seraphische Überhöflichkeit entgegenbringt, die sie schamlos genießt, Friedenwanger, das ›Stück Scheiße‹, als das ihn ein jüngerer Kollege ihr gegenüber vor einiger Zeit im Bett bezeichnete, Lobbock, das röchelnde Walross, Ruffmann und Rosshammer, unzertrennliche Schwätzer, bei denen der Charme nicht für beide gereicht hat, so dass sie irgendwann beschlossen haben, ihn abwechselnd aufzutragen, Reinmeier (»Reinmeier ist süß«), Hölzchen-auf-Stöckchen-Hölzchen, Phallobst Dürrobst und all die anderen. ―Wir sprechen uns später. Kommen Sie in mein Büro! Wie man eine Republik zerst- … Aber das wissen Sie ja schon. Sie werden sich – verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt
adressiere … überaus geschätzte Kolleginnen und Kollegen…
Sie werden sich gefragt haben – natürlich haben Sie sich gefragt,
geben Sie’s zu, ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an, Kollege
Reinmeier, Sie müssen es sich gefragt haben – aber
was nur? Was, zum Teufel, so müssen Sie sich gefragt haben,
drängt den Wassermann, uns eine Wasserstandsmeldung wie diese ins
Haus zu schicken, ungefragt, unerbeten: Will er womöglich eine
Anleitung liefern? Will er eine Erklärung abliefern für etwas, was
gerade unter unseren Augen geschieht, während wir doch denken, es
geschieht gerade etwas anderes? Oder will er uns etwas Historisches
erzählen, schließlich ist er Historiker, und Historiker … lieben
nun mal Historisches, es fällt schließlich in ihr Genre, und die
Zerstörung einer … Republik, nun, da muss man in der Geschichte
nicht lange suchen, nein, wirklich nicht lange… Apropos suchen:
›Suchen Sie nicht‹, hat mir mein alter Lehrer Prostitsch einmal
gesagt, ›finden Sie lieber, das geht angenehmer und dann
findet man dabei auch immer ein Stück von sich selbst‹. Ein Stück von sich selbst. Sehen Sie: die Geschichte, die ich Ihnen heute
erzählen möchte, sie enthält vielleicht mehr von mir… Warum ich
Ihnen das sage? Sehen Sie, Sie und ich, auch das wäre eine
Geschichte, die einmal erzählt werden will. Einstweilen ist es eine
Konstellation. Sie wissen schon, was eine Konstellation ist. Eine
Konstellation … was ist eine Konstellation? Verzeihung, da fällt
mir die Geschichte von diesem Austauschschüler in Amerika ein –
wir schicken Schüler nach Amerika, damit sie sich austauschen, ganz
recht –, dem Austauschschüler, der eines Nachts – oder am
späten Abend, ich mache es nicht so dramatisch – in eine offene
Garage eindringt, eine offene, gut ausgeleuchtete Garage, in der
vielleicht ein Auto herumsteht, vielleicht auch nicht, die Zeitungen
bleiben da ungenau, jedenfalls treibt ihn der Durst und eine Flasche
Coca Cola sticht ihm ins Auge, nichts natürlicher also für einen
Halbwüchsigen, als diesem Drang nachzugeben, ihm nachzugehen, ja
nachzugehen, und der Hausbesitzer erschießt ihn, denn er hält ihn
für einen Einbrecher, er erschießt ihn einfach… Dabei ist es doch
bloß ein Junge, der Durst hat, nicht die Spur von einem Einbrecher,
nicht die allergeringste Spur…
Das, sehen Sie, ist eine Konstellation. Es ist sogar, genau
genommen, unsere Konstellation, nur dass noch nicht feststeht, wer am
Ende dieses Abends erschossen in der Garage liegt. Ich möchte Sie
nicht verunsichern, nein, das möchte ich nicht, jedenfalls täte es
mir leid, falls das geschähe, aber Sie und ich, wir müssen schon
auch verstehen, wie es um uns steht. Wir befinden uns in einem
fremden Haus, aber wir wissen es nicht. Wir realisieren es
nicht. Denn es ist unser Haus, unser gemeinsames Haus, auf das wir
getrennte Eigentumsrechte erheben, teils aus Erwerbs-, teils aus
Bedarfsgründen, so jedenfalls steht es in unseren Verträgen, wir
müssen sie nur von Zeit zu Zeit studieren. Richtig studiert, ist
kein Konflikt so tragisch wie der zwischen dem Garagenbesitzer und
dem jungen Mann, der Lust auf eine Cola hat und sie sich dort holt,
wo er sie nicht zu Unrecht vermutet, wo er sie immer holt, wenn er
sich zu Hause weiß. Und wo wäre ein junger Mensch aus Düsseldorf mehr zu Hause als
in einer lauen Sommernacht in L.A.? Wir müssen
unsere Verträge studieren und tun’s nicht. Warum? Weil wir die
Schrift verloren haben.
Wir haben die Schrift verloren. Unsere Verträge sind null und
nichtig, denn wir können sie nicht mehr lesen. Einer dieser Verträge
– auf die anderen komme ich noch – besagt, dass wir nicht zusehen
dürfen, bei Schaden für unsere moralische Gesundheit – dass wir
nicht zusehen dürfen … Sie erinnern sich? Das alles ist nicht so lange her. Wir haben in diesem festen Gefüge aus
Sätzen gelebt, es wäre nicht nötig gewesen, sie zu Ende zu sprechen. Sie hatten
in unser aller Leben die Führung übernommen, sie sprachen sich selbst zu Ende,
wann immer wir dazu ansetzten, sie zu vollenden. Ich bemerke eine gewisse
Bewegung in Ihren Reihen. In der Tat, der Satz, den zu formulieren ich gerade
ansetze, den zu formulieren ich gerade angesetzt habe … ich werde ihn nicht zu
Ende sprechen … es scheint mir unsinnig, ja kontraproduktiv, ihn zu Ende zu
sprechen. Dieser Satz sät Unfriede. Darin besteht heute seine einzige
Funktion. Wobei ich das Heute nicht zu eng fassen möchte, es handelt sich um ein
moralisches Heute, dessen Grenzen sich nicht so leicht nachzeichnen lassen.
›Einmut zu Zwietracht‹: die Frage ist, ob wir uns das leisten können, ob wir uns
das leisten wollen auf lange Sicht, womöglich bereits auf kurze. Es fällt schwer, deutlich zu werden in einer Welt aus … ich
suche noch nach dem Wort und sage einstweilen: aus
Über-Deutlichkeiten. Über-deutlich ist, was keine Chance hat,
gedeutet zu werden, anständig gedeutet zu werden nach den uns
auferlegten Regeln des Verstehens, die über die Jahrhunderte
entwickelt wurden, um zu verstehen, was geschrieben steht. Sie
verstehen die Formel, ich verstehe sie, wir alle verstehen ganz gut,
was damit gemeint ist, wir meinen zu verstehen, was damit gemeint
ist, wir meinen zu verstehen
… damit beginnt die Misere, eine
Misere, denn es gibt noch andere. Deshalb schalte ich jetzt einen
Gang zurück, verlasse das Wir, den Wir-Modus, um es genauer zu
sagen, und verwandle mich, verkehrstechnisch gesprochen, in einen
Fußgänger. Das Areal eines Fußgängers, Sie wissen es, ist
begrenzt. Erwarten Sie daher nicht zu viel von mir. Die Nacht ist lau
und eine Garage … nein, ich schnüffle nicht gern in den
Habseligkeiten anderer. Ich schnüffle nicht. Wenn mir eine Tätigkeit
von Herzen zuwider ist, dann Schnüffelei. Ich denke, auch das musste
einmal gesagt werden. Sie erwarten von mir … was? Dass ich über ein Buch referiere, von dem Sie
annehmen, dass ich es gelesen habe, weil ich das kess behaupte? Ich bin mir aber
nicht sicher, dass wir beide, also Sie und ich, darunter ganz genau dasselbe
verstehen. Das Buch, das der Kollege Killus da vorgelegt hat, ist ein
zukunftsweisendes Buch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diese Zukunft
marschieren und ob ich in ihr ankommen wollte. Infolgedessen habe ich
unterwegs Marschpausen eingelegt und habe nachgedacht. Natürlich hat Killus das
Recht zu schreiben, was er will, so wie ich das Recht habe, darüber zu denken,
wie ich will. Es stehen so abartig viele Natürlichkeiten im Raum, wenn ich in
diesem Buch lese, dass ich mir denke: Warum hat er das eigentlich geschrieben?
Natürlich markiert der Rote Oktober den Beginn einer Welle von
Gewalttätigkeiten – in Wahrheit nicht einer, sondern immer neuer, immer
mächtigerer Wellen. Aber ist er deshalb die Mutter aller Grausamkeiten des
Jahrhunderts? Das will mir noch nicht in den Kopf. Natürlich haben die Kämpfer
aus dem Baltikum, sofern sie nicht direkt mit der reinen Lehre infiziert wurden,
ihre Untergangsängste nach Berlin und nach München getragen und in destruktive
Energie umgewandelt … aber was heißt das schon? Hat die antibürgerliche
Enthemmung nicht auch im Osten bereits viel früher eingesetzt, in den Schlachten bei
Gródek, wo der arme Sanitäter Trakl den Verstand verlor, bei Tarnopol oder Riga
oder wo-auch-immer, und liegt nicht auch hier eine der Ursachen für den über
Leichen gehenden Männlichkeitskult? Eine gewisse Sehnsucht nach
militärischer Ordnung lag überall in der Luft und Lenins Kommandosystem
orientierte sich gleichfalls daran. Das alles ist der Welt nicht so unbekannt,
wie Kollege Killus uns da suggerieren möchte. Natürlich steht der Weimarer Geist
links, zum Teil scharf links, das zu wissen bedarf es keiner übermäßigen
Verstehens-Anstrengung. So what? Natürlich nehmen da Vernichtungsphantasien
Fahrt auf, die dann auch in die Vernichtung der europäischen Juden
münden. Aber liegt gerade hier der einzig wahre Ursprung des totalen Grauens?
Wie gesagt, das will mir nicht in den Kopf, und ehrlich gesprochen, ich sehe den
Grund auch nicht ein. Kein Mensch verlangt von einem Gerichtspsychiater, sich in
die Gedankengänge des Delinquenten zu versetzen. Es genügt, wenn er sie benennt.
Alles andere wäre denn doch verstörend. Killus mutet mir etwas zu, wofür mein
Historikerhirn nicht geschaffen ist. Tut mir leid, wenn ich aus einer Lektüre
aussteige, die von mir verlangt, ich solle genau dies – oder doch zumindest
etwas in dieser Art – leisten. So. Damit habe ich gesagt, was Sie hören wollten. Betrachten Sie,
was jetzt kommt, als eine Art Postscriptum im Morgengrauen. Ich habe
eingangs gesagt, wir seien der Schrift nicht mehr mächtig, sie stehe
uns nicht mehr so zur Verfügung, wie sie es sein müsste, und darauf
wünsche ich doch noch einmal … sagen wir: einzugehen. Sagen wir
also, ein Historiker, ein respektiertes Mitglied der Zunft, kein
Newcomer, sondern einer, dem intensiv zuzuhören wir bereits über
Jahrzehnte gelernt haben, schreibt ein Buch: dann ist das zunächst
einmal ein Fachereignis. Jedenfalls lautet so die Regel. Ein paar von
den Spezialisten beugen sich darüber und klären die auf Anhieb
weniger mit der Thematik Befassten darüber auf, was ihrer Auffassung
nach davon zu halten sei. Sie können sich täuschen, sie dürfen
sich auch täuschen, jedenfalls der eine oder andere von ihnen, das
gehört zum Verfahren, das wächst sich aus. Es gibt in diesem Fall,
und darauf will ich hinaus, ein fachliches Prius. Was will ich sagen
… die Kriterien liegen bereit. Sie liegen nicht so bereit, dass nur
einer von uns zu kommen und den Daumen zu senken bräuchte, denn
diese Geste ließe es, wie soll ich das jetzt ausdrücken, am
gehörigen Respekt fehlen … ja, es gibt einen Respekt, der in der
Sache wurzelt, der ganz mit ihr verwoben ist, der zurückblickt auf
die erbrachte Leistung und den gemeinsamen Weg noch einmal
durchläuft, jedenfalls in Gedanken, in verkürzter Form, wir alle
sind endlich, aber doch gemeinsam. Wir leben, das soll der Titel
meines Vortrags andeuten, in einer Republik, früher sagte man: der
Geister, das schenken wir uns meistens, ich möchte eins draufsetzen
und sage: der freien Geister, nicht der Freigeister, das hätte dann
wieder einen anderen Klang und entspräche auch nicht der Wahrheit.
Die Wissenschaftsgemeinde – mich persönlich stört dieses plumpe
Wort – ist keine Gemeinde mit Gebetbuch und Orgelgesang, sondern
eine Republik mit Regeln und Rechten für den Einzelnen, ich setze
die Rechte in diesem Fall an die zweite Stelle, denn sie müssen
erworben werden, mühsam erworben… und zwar durch Beachtung der
Regeln, wie alle wissen, die diesen Prozess durchgemacht haben. Die
Schrift … sehen Sie, es ist die Schrift, die uns die Regeln an die
Hand gibt.
Was ich sagen will … Öffentlichkeit ist wichtig. Ich meine
jetzt nicht die Öffentlichkeit der hier Versammelten, die pars pro
toto für die Community stehen, ich spreche jetzt nicht über die
Community, sondern über das, was man einmal bürgerliche
Öffentlichkeit nannte und in dem sicher auch heute noch an der einen
oder anderen Ecke ein Stück bürgerlicher Anständigkeit aufblitzt –
aber in der Hauptsache ist es doch die Öffentlichkeit der
Berufsschreiber, deren Aufgabe darin besteht, den Politzirkus
auszuleuchten. Es sind Beleuchter, ja sicher, ein ehrenwerter Beruf,
wenn Sie mich fragen, ohne sie wären wir alle dümmer –
strunzdumm, was den Zustand der Republik angeht (und ich meine jetzt
die große, das verfasste Gemeinwesen, in dem wir alle unser
Auskommen als homines politici finden), aber es sind eben doch nur
Beleuchter, soll heißen, die Scheinwerfer, die sie in Anschlag
bringen, haben sich andere ausgedacht … und nicht nur ausgedacht,
weiß Gott nicht. Es ist eine alte Frage: Woher kommen die
Instrumente? Sie werden angeschafft. Ersparen Sie mir die Details,
aber: sie werden angeschafft. Und mitunter müssen sie lange halten.
Das ist einfach so. Wer also wissen will, was in unserem Fach
vorgeht, der sollte nicht die Beleuchter fragen, er kann es, aber er
sollte es tunlichst vermeiden, es sei denn, ihn interessieren die
Scheinwerfer.
Dann aber – Sie merken, ich taste mich langsam voran, es ist
unübersichtliches Gelände, in dem ich mich da bewege, glitschiges Gelände,
jedenfalls nach meinem Empfinden –, dann aber … ich meine, dann erhebt sich
doch, sobald einer von uns, keiner vom Fach, aber immerhin ein Kollege, in
dieses Medium geht, um, aus seiner Sicht, einen Übelstand anzuzeigen, dann
erhebt sich die ganz einfache Frage: Was sind seine Instrumente? Bringt er sie
mit oder bedient er sich eines der unter der Kuppel montierten Scheinwerfer?
Nochmals: Das ist die Frage, die sich mir angesichts seines Auftritts stellt.
Reden wir offen. Es geht nicht um Reputation, es geht um Macht. Dann aber erhebt
sich die nächste Frage: Wessen Macht? Welche Macht kommt hier ins Spiel? Wir
müssen uns dieser Frage stellen, sonst sind wir bereits verloren. Sehen Sie, ich
habe bisher das Thema des Buches ausgespart, das uns soviel Kummer bereitet, es
handelt von einem Bürgerkrieg, den wir bisher nur in Teilausschnitten zur
Kenntnis genommen haben, keinem Weltbürgerkrieg, wie einige ihn heute
wahrzunehmen meinen, vielmehr von einem historisch abgeschlossenen … Vorgang,
Großereignis, epochalen Ereignis meinetwegen, das mit der Oktoberrevolution in
Russland beginnt und mit der Zerschlagung der letzten faschistischen Inseln in
Europa endet, wobei man wiederum argumentieren könnte, es dauere bis heute an…
Dieser staatenübergreifende Bürgerkrieg, so argumentiert Killus und ich kann ihm
darin ein Stück weit folgen, ist erst dann komplett, will sagen, er kann erst
voll entbrennen, wenn sich eine zweite Bürgerkriegspartei konstituiert hat, die
sich der ersten, dem in Russland siegreichen und Europa bedrohenden
Bolschewismus, entgegenstellt, und das ist, soweit kennen wir das Szenario alle,
der Faschismus. Es ist nicht der bürgerliche Staat – aus einer Fülle von
Gründen, die hier zu erörtern ich unterlasse –, der bloß als Austragungsort
in Betracht kommt und von beiden Seiten solange destruiert wird, bis er in sich
zusammenfällt und die Bestien freilässt. Um auf die ›Untaten‹ der Regime zurückzukommen – ein merkwürdiges Wort, das
daran erinnert, wie positiv einmal Taten vermerkt wurden –, so
folgen sie, immer nach Killus, der Logik des Bürgerkrieges, sprich: der
Verähnlichung der Gegner in einer Brutalisierungsspirale. Das eigentlich
Spannende seines Buches besteht darin, den Leser spürbar nachvollziehen zu
lassen, wie aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft der Faschismus erwächst
… als eine Partei, die, im Gegensatz zum Bürgertum, die Herausforderung der
Revolution aufnimmt: das ist wirklich streckenweise atemberaubend und so noch
nicht – Entschuldigung, aber auch das gehört zum Bild –, so noch nicht
beschrieben worden. Bezeichnenderweise setzt hier dann der Widerstand ein. Wir
alle kennen die Schlacht, die in den Zeitungen tobt, und die Empörung, hinter
der in diesem Fall vielleicht mehr steckt als ein ehrenwerter moralischer
Affekt, hat es vor allem auf die allerdings sehr griffige Formel abgesehen, der
bolschewistische Klassenmord sei – als Schreckbild und Urbild – dem
nationalsozialistischen Rassenmord vorausgegangen und habe ihn, sagen wir,
motiviert. Darum geht es. Es klingt ein bisschen seltsam, wenn unbedarftere
Zeitgenossen sich darüber verbreiten, Killus wolle die Schuld am Holocaust den
Kommunisten, nein, das ist nicht richtig, dem Kommunismus in die Schuhe
schieben, die Schuld, wo es doch gerade sein Anlie-… Wenn dem so wäre,
dann stünde jeder Historiker, der das Zustandekommen von Gräueln beschreibt, im
Verdacht, sie dem jeweiligen Feind in die Schuhe schieben zu wollen. Das
Gegenteil ist der Fall … das Gegenteil ist der … Fall. Gerade darin besteht ja
das Skandalon. Worin es besteht, worin es im Einzelnen besteht, das muss, das
muss uns… Aber wir haben die Schrift vergessen, sie steht uns nicht mehr ZUR
VERFÜGUNG. Deshalb breche ich ab. Ich breche ab. Breche ich ab? Darf ich abbrechen? Sie merken, im Moment versuche ich das zu
praktizieren, von dem ich behaupte, es sei uns verloren gegangen, und lasse mir
von der Schrift die Regel geben. Und diese Schrift, sie sagt, sie sagt es
wirklich, ja, es ist möglich, es MUSS MÖGLICH SEIN, in anderen Begriffen als dem
der Schuld über dieses Ereignis, dieses … Unerträgliche zu … ich sage jetzt
nicht ›reden‹, ich sage ausdrücklich ›schreiben‹, denn es steht nun einmal da,
es steht geschrieben: ja, es ist möglich, vom Schreckbild zum Urbild
überzugehen, es ist menschenmöglich, und diese Menschen, sie hätten GENAU DIES
getan, ohne dass jetzt an dieser Stelle die Psychologie einsetzen würde, die so
fatal wirken kann. Die Psychologie, ich bitte die anwesenden Vertreter, mich zu
entschuldigen, die Psychologie hat etwas Entschuldigendes, wenn sie sich
dieser Dinge annimmt. Es graut uns an dieser Stelle vor ihr, es ist nicht gut,
wenn sie sich da herumtreibt, obwohl sie vieles aufklären hilft. Nein, WIR
wollen nicht, dass sie sich hier nützlich macht, denn dieser Nutzen ist
zweifelhaft, höchst zweifelhaft, wenn nicht eindeutig zweideutig. Vielleicht
spreche ich auch nur für mich, dann verbuchen Sie’s bitte unter dem Merkposten
›Idiosynkratisches‹. Aber ich glaube das nicht, ich will es nicht glauben. Und deswegen stehe ich hier vorn. Eigentlich, verehrte Anwesende, entwickelt Killus in diesem Buch eine
Kulturtheorie. Vielleicht irre ich mich, wenn ich ›Killus‹ sage, ich sollte mich
lieber ganz ans Buch halten, sola scriptura. Das Buch zählt. Aber diese
Umwidmung eines Schreckbildes in ein Urbild, denken Sie an den Schild der
Minerva, ist eigentlich ein Grundvorgang der Kultur, nicht einer, das ist das
tief Erschreckende, sondern aller Kultur. Dann hätte also Adorno Recht behalten
mit der Bemerkung, die uns alle einmal verstört hat, im Grunde, in ihrem Grunde,
sei alle Kultur Barbarei. Vielleicht bin ich ein bisschen langsam von Begriff,
das mag sein, aber manchmal kann das ein Vorteil sein, ich will das nicht
abstreiten. Ich bin erschrocken, als ich das las. Ich weiß nicht, wie Killus
darüber denkt, es scheint mir ganz überflüssig zu sein, so zu fragen, das
Geschriebene nötigt uns, so zu denken, es nötigt uns, wenn wir unser Fach
beherrschen, wenn wir unser Fach beherrschen wollen, und das geht weit über alle
›Objektivität‹ hinaus, die der Autor so beredt vom Fach einfordert. Die
Objektivität ist bekanntlich ein alter Hut, wir sind nun mal nicht objektiv,
kein Mensch ist objektiv, und jenseits des Menschen verirrt sich höchstens ein
Dichter. Nein, mit Objektivität erklärt sich das alles nicht. Mit Objektivität
führt man die Menschen hinters Licht. Das ist so. Wie stehe ich jetzt da? Mir ist, als hätte ich in Schleim
gebadet. Nein, das ist keine Referenz an Herrn Zirkuleit, der zum
Glück nicht da ist, ich leide an keinem Männlichkeitstrauma, ich
wünsche auch nicht geheilt zu werden (obwohl das Syndrom sich
dadurch natürlich verschärfen ließe), ich denke weiter und stelle
die Frage: Gibt es ein Leben nach der Kultur? Ich sage ausdrücklich
nicht: nach der Barbarei, das wäre nach dem, was wir gerade erfahren
hätten, eine unzulässige Verharmlosung, weil sie die Kultur als
Ausweg erscheinen ließe, was sie nicht ist, was sie ersichtlich …
nicht leisten kann. Was kommt nach der Kultur? Was kann nach ihr noch
kommen? Wenn uns vor ihr graut, weil sie uns zwingt, uns schuldig zu
fühlen, dann fühlen wir uns auch schuldig, wenn wir sie verneinen
oder, noch perfider gedacht: verleugnen. Denn Kulturverleugner waren
ja jene da. Sie halten das Terrain besetzt, wenn Sie verstehen. So,
jetzt höre ich auf, um Ihr Verständnis zu werben, weil ich selbst
von jetzt an eigentlich nichts mehr verstehe – vielleicht war auch
schon mein bisheriges Verstehen bloß eine Simulation. Niemand sollte
sich da allzu sicher sein. Wir können aus dem Bild der Welt, das wir in uns tragen, nichts
herausbrechen. Wir können es auch nicht willkürlich schönen, denn sobald wir das
machen wollen, haben wir es bereits getan und wir tragen zwei Bilder in
uns. Das wäre, nach allem, was wir wissen, gar nicht gut. Trotzdem ist es gerade
das, was wir praktisch zu jeder Zeit tun. Dieses Paradox hat mir bisher noch
niemand erklärt. Jemand muss kein Massenmörder sein, um in den Sog eines
Vernichtungsgeschehens zu geraten, das über alle Grenzen strahlt. Jemand kann
weiterhin Gedichte schreiben, Pamphlete verfassen, in einem Nebensatz die
Vernichtung – ja: Vernichtung – des Bürgertums fordern, als sei das eine
Lappalie, die weder mich noch meinen Bankdirektor etwas angeht, und im
Kämmerchen an einer Übersetzung von Prousts À la recherche du temps perdu
basteln, um dem sensibleren Ich ein wenig Auslauf zu verschaffen. Man kann das
alles, die Schwierigkeiten dabei sind nicht größer als anderswo. Aber man kann
auch anders. Man kann ganz anders. Was aber auf diesem Weg
verlorengeht, ist die Rechtfertigung. Es soll ja immer noch
Mitmenschen geben, die das unter Lenin einsetzende Morden mitsamt
seinen späteren grausigen Höhepunkten für gerechtfertigt halten,
weil in ihren Gehirnen die Schaffung einer neuen Welt nun einmal
höher rangiert als ein paar Millionen Menschenleben. All das
läuft unter uns herum. Und seien wir ehrlich – bis zu dem
Punkt, an dem es schmerzt: in dem Betreff sind viele von uns
gebrannte Kinder. Und jetzt sehen wir, was die feindliche
Entgegensetzung bewirkt. Sie setzt das Gewaltmem frei. Gewaltmeme sind, viele wissen das, diese Bilder erlittener oder
erlebter Gewalt, die sich jedem einbrennen, der einmal mit ihnen in
Kontakt kam. Das Schlimmste daran ist: auch die Sprache wird
kontaminiert. Die Sprache ist ja, wem sag’ ichs, das unerlässliche
Organ des Denkens und damit, ich lasse den Ausdruck mal stehen, der
Vernunft. Einmal kontaminiert, wird sie unerreichbar für die Einrede
der Vernunft. Auch sie funktioniert dann, als handle es sich um ein
Bild, das nicht weggeht. An dieser Vorstellung laboriere ich. Ich
stelle mir vor, wie diese Vorstellungen in Einzelnen platzen und wie
diese Einzelnen sich formieren, sich eine … rigide soziale
Struktur geben, während sie in den Anderen nebenan das Umgekehrte
bewirken: die stumme Vereinzelung, die Not des atomisierten
Individuums, dem von ideologisch sattelfesten Kritikern dann zu allem
Überfluss das Narrenkostüm ›bürgerlich‹ umgehängt wird. Und damit komme
ich nicht zurecht. Die Vorstellung überschreitet das Denkgewohnte,
jedenfalls das, was ich mir für gewöhnlich zumute… die Redlichkeit vor dem Feind. Wassermann, sich ihm todesmutig entgegenwerfend, fühlt sich künstlich gebremst und landet, wie so viele vor und nach ihm, beim Verwirrspiel, dem Glücksspiel der Verlierer. Wen will er verwirren? Sich selbst: zuallererst sich selbst. Nein, er will sein Auditorium nicht verwirren, die Argloser, Blowasser, Hölzchen, Lobbock, Ruffmann, Starck, Reinmeier, Tronka, Friedenwanger, sie alle, die ihm eine Fahrkarte spendiert haben, um ihnen über die bewusste Klippe zu helfen, die Sagbarkeitsklippe – … denn eine unerklärliche Sprachlosigkeit hat sich ihrer bemächtigt, sie sind in der Sache gefordert und können und können sich nicht zu ihr äußern. Die elende Sache … vielmehr das Elend der ›sachlichen Auseinandersetzung‹, während draußen, in der ›breiten Öffentlichkeit‹ der vier, fünf ›führenden‹ Kommentatoren des Geistesgeschehens, des gestrengen Wächterrats der nation of shame & culture, der Orkan tobt und den fruchtbaren Küstenstreifen, auf dem sie ihre Gurken ziehen, zu verwüsten droht, das Elend der erforderlichen und also geforderten Auseinandersetzung überfordert sie, es steht ihnen, als Überforderung, ins Gesicht geschrieben, und sie ducken sich weg… Warum? Was geht vor hinter diesen Stirnen? Frage sie! Gerade noch auskunftsbereite, auskunftssüchtige Individuen und jetzt … lebende Sprechautomaten, ewig die gleichen Sätze widerkäuend, du musst nur den Schalter finden und … drücken. Mehr ist nicht vonnöten. Aber vielleicht übertreibst du. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine einfache, redliche Meinung, hinter der nichts weiter zu stecken braucht als ein kleiner Explosivkörper, ein Knall-Köpfchen, das sie heraustreibt. Ein kleines helles Knall-Köpfchen, das wird es sein. Wassermann, priesterlicher Gemeinde-Dompteur in unalltäglicher Lage, hat sich
der Aufgabe mit Bravour … entledigt. Applaus! Dieser extreme Spannungsaufbau –
Applaus! Der Trick mit der sich entziehenden Schrift – Chapeau! Das ethische
Dilemma, die Qual der Sprachwahl – fein ziseliert und heruntergebrochen auf ein
Auditorium, das daran gewöhnt ist, geistferne Differenzierungen auf die Spitze
zu treiben. Wo warst du, Adam? Nun, ich war hier… Warten Sie, ich kann Ihnen
die Stelle gleich zeigen, lassen Sie mich … nun, ich finde jetzt nicht, lassen
Sie uns später darüber… Warum, lieber Wassermann, können Sie uns nicht in
klaren und deutlichen Worten mitteilen: Tut mir leid, über den Menschen mit
Namen Killus ist ein Bann verhängt worden, ein furchtbarer Bann, den zu
brechen eine gewisse Portion Furchtlosigkeit erfordern würde, die ich leider
nicht aufzubringen vermag… Ich kann nicht vorurteilslos über dieses Buch reden.
Warum das so ist? Keine Ahnung. Es ist verhängt. Ehrlich gesagt, ich
konnte es nicht einmal vorurteilslos lesen. Wenn ich es überhaupt lesen konnte,
dann mit diesem Mix aus Abscheu und Faszination durch das Böse, also
gewissermaßen durch die Finger. Man ist nicht Historiker, wenn man durch die
Finger liest. Man ist nicht einmal Wissenschaftler, man mutiert zum Luftikus im
eigenen Haus, man kann auch keine Gründe dafür beibringen, denn das würde
voraussetzen, dass einer zwischen dem, was da steht, und dem, was er
herausliest, einen Unterschied zu konstatieren imstande wäre – woher? Mit
welchen Mitteln? Mit den einfachsten natürlich … aber der Bann ist stärker.
Hölzchen –
Hölzchen, dem Vortrag lauschend: ein Nägel kauender, auf seinem Stuhl umherrutschender Herr mittleren Alters, zwischen den Modi ›erstarrter‹ und ›unsteter Blick‹ wechselnd – ein-, zweimal drehte er sich sogar in voller Breite um, als gelte es, das ganze Kollegen-Rund summarisch ins Auge zu fassen –, im Großen und Ganzen jedoch den Eindruck erweckend, als lausche er angespannt, allerdings nicht auf das Gesagte, sondern … auf Schwingungen in einem bestimmten Frequenzbereich, in dem die Vortragsstimme, neben der ersten, eine zweite Botschaft versendet, die der Merker in ihm eifrig mitzuschreiben sich müht –: aber halt, das stimmt nicht, eher hört er, als müsse er das, was da auf ihn eindringt, passieren lassen, überhören, was ihm nur unvollständig gelingt oder, sagen wir, unter inneren Windungen… Vielleicht trügt auch dieser Eindruck und er verhält sich wie jemand, der Verantwortung für das gerade Vorgetragene trägt und auszuloten versucht, ob er sie übernehmen darf: dann allerdings, dann darf er froh sein, dass seine Gattin, die das Verhalten nur allzu gut dechiffrieren könnte, augenblicklich nicht an seiner Seite weilt, denn wie der Volksmund sagt, Aufträge sind zu verkraften, Verachtung von höherer Stelle kaum.
Gleich hinter ihm sitzt Frau Leckebusch und es geht ihr: gut. Leckebusch, sich des Schuhwerks entledigend, schielt hinüber zu
Elisabeth, die auf der Anrichte klappert. Eigentlich eine
prachtvolle Frau, geht es ihm durch den Kopf –
Als Mann unter Männern fühlt er sich, seit er denken kann, fehl
am Platz, fehl auf dem Platz, wenn er an seine kurze
Fußballer-Karriere zurückdenkt, nicht ›krass fehl‹, so dass es
sich jemals gelohnt hätte, psychologischen Rat einzuholen, eher
leise schwingt da, kaum hörbar, eine Saite in ihm, die diesen
Mannschaftsrummel, hinter dem noch anderes, ganz anderes steht, der
Ablehnung preisgibt – … preisgibt, ja, das ist das richtige
Wort. Auch jener Fremdgedanke verfällt, kaum gedacht, der Preisgabe:
ein Dumpfprodukt, der männlichen Kollektivkehle entspringend, das
sich pünktlich zu Wort meldet, sobald … Not am Mann ist. Es wäre
schon spannend zu beobachten, ob eine distinguierte Frau wie
Elisabeth darauf anspringt; vermutlich spränge sie darauf an, sie
wäre, für diesen Augenblick, wie jede Frau, so wie er, ihm
Raum gebend, für einen Augenblick jeder Mann wäre, schöbe
sich nicht augenblicklich ein Vorhang über die Szene, so dass er,
sich lose als Teil dieses fremden Kollektiv-Ichs gewahrend, einem
Schattenboxer ähnlich sieht, um kein obszöneres Wort zu benützen.
Gibt es das: alle Frauen, alle Männer – oder,
noch umstandsloser: Frauen, Männer? Natürlich nicht. Es handelt sich
um Pseudokollektive, Dutzend-Schöpfungen der plattesten,
phantasielosesten Einbildung. Eigentlich stehen sie wie Dampfpfeifen
aus der menschlichen Rede heraus, denn darin besteht ihre Aufgabe:
Dampf abzulassen, wenn der Druck im Kessel steigt, gleichgültig, aus
welchem Grund. Eine prachtvolle Frau ist eine prachtvolle Frau:
ein Schema, das sich aus der Wirklichkeit schält und eine Welt der
Verwandlungen mit sich führt, der anonymen Begierden und ihrer
fratzenhaften Erfüllung, der in der Wirklichkeit so wenig
entspricht, dass einer von ihr kaum mehr zurückbehält als eine
einsame Socke, gegen das Licht gehalten: Komik.
Leckebusch ist indigniert. Wenn schon Wassermann, wie dann er? Wie
Wassermann den Pranger auf die Bühne geschleppt, vor aller Augen
aufgebaut und sich daran präsentiert hat, um sich, nach allen Seiten
sichernd, gleich wieder von ihm zu lösen, das hat ihm, praktisch vom
ersten Satz an, ein unangenehmes Gefühl verursacht, ein Wehen, ein
Ziehen, einen Einfluss von Erinnerungsmaterial, das peinlich entsorgt
zu haben zu seinen Stabilisatoren zählt; andernfalls wüsste er
überhaupt nicht, wie er die Stunden am Katheder durchstehen
sollte: unauffällig die Reihen des Auditoriums mit Blicken
durchstreifend, unablässig auf der Suche nach Zuträgern der
›Firma‹, wie der Jargon der mental Ausgestiegenen die wuchernde
Krake nennt, die drüben jedes gesellschaftliche Leben
erstickt – eine Phrase, gewiss, in der aber doch das Wahre
mitschwingt, dass du daran langsam, aber sicher erstickst: du, der
Einzelne, das denkende Wesen, das nichts so begehrlich einsaugt wie
die Luft der Freiheit, das herrliche Odium des offenen, durch nichts
zu ersetzenden Wortes auf der Spur des Geistes, der weht, wann er
will –, ein Wort, das bei den Kollegen ein unterdrücktes
Grinsen erzeugt, mit dem er leben kann, gut leben kann, blendend,
solange nur die Sache besteht, Bestand hat, denn darum geht es
zuallerletzt: Bestand.
Die Unnahbare. Die Göttin. Das Idol. Die Angepasste, die ihre
Krallen ausfährt.
Die Unnahbare. Die Göttin. Das Idol. Die Angepasste, die ihre
Krallen ausfährt.
Jäh, die Rolle: da ist sie und der andere füllt sie aus. Wie hätte
Leckebusch, neben Wassermann tretend, das Thema Killus angepackt? Er ist
kein Fachhistoriker, aber im Entscheidenden hat Elisabeth recht: Darum geht’s
nicht. Das Überhaupt hätte, sich erhebend, die wesentlichen Sätze
hinzufügen müssen: auf die Gefahr hin, nach Mitternacht vor verschlossener
Haustür zu nächtigen. Wäre diese Gefahr real? Elisabeth der Zensor? Was weiß
Elisabeth ––? Hier knirscht es, das Gebiss, es knirscht vernehmlich, Leckebusch
weiß nicht, wie weit so ein Geräusch trägt, er will es nicht wissen. Soll es
hinaus. Um eine solide Schlüsselangst auszubilden, braucht einer
Man nennt das ein Dispositiv. Das Dispositiv des Philosophen
Leckebusch, sein Selbstauftrag lautet: Kämpfe gegen deine
fünf Begleiter, indem du sie akzeptierst. Wie akzeptiert man das
Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit? Nun, das kommt auf die Form
der Akzeptanz an. Eine Person wie Leckebusch, durchdrungen vom
Bewusstsein der eigenen Würde, nicht zu reden von der Wichtigkeit,
mit der sie meistens, wie auch in seinem Fall, verwechselt wird,
bevorzugt die Form der objektivierenden Nichtidentifikation: Den
kenne ich gut. Der soll ich sein? Wer sagt das? Wer wagt es, mir das
ins Gesicht zu sagen? Dafür gibt es einen Kandidaten: die Ehefrau, Dritten gegenüber unter
Aufsetzung eines ehrlichen, die Wichtigkeit des Gesagten für mich und die Welt
dick unterstreichenden Gesichtsausdrucks als ›meine Partnerin‹ tituliert. Warum
ist das wichtig? Haben sie einen deal miteinander? Welcher deal
zum Beispiel fesselt Leckebusch an Elisabeth? Was wollen die beiden miteinander?
Eine Bank ausrauben? Eine gründen? Beides wäre, heute wie damals, in
ihrer gesellschaftlichen Position nicht sonderlich empfehlenswert, auch wenn
solche Fälle es immer wieder in die Schlagzeilen schaffen. Ausschließen lässt
sich im Leben nichts, selbst für den entlegenen Fall, dass nur Narren es in Erwägung zögen. Der deal, der die beiden verbindet, ist nicht so leicht auszumachen.
Vielleicht dieser: einander (und, paarweise auftrumpfend, gegenüber jedem
Dritten, der es wagen würde, der Sache näherzutreten) vergessen zu machen, was
mit einem nicht stimmt: Elisabeths Nymphomanie etwa oder Leckebuschs unziemliche
Ängstlichkeit als eine Quelle von Fehlern, wie sie typischerweise entstehen,
wenn jemand etwas ihm möglicherweise Peinliches um jeden Preis vermeiden möchte.
Natürlich hat die kluge Elisabeth diesen Zug an ihm vom ersten Moment an
registriert. Aus irgendeinem Grund könnte sie davon gerührt worden sein,
vielleicht, weil dieser handsame Streber sein Leiden gar so persönlich nahm,
unfähig, dem einfachsten Realismus eine Stätte in seinem Herzen zu geben, der
ihm sagen musste, dass dies das gewöhnlichste Leiden von allen ist und nur
Psychopathen sich davon ausnehmen, obwohl bei ihnen der Haufen dessen, was sie
zu verbergen trachten, sich am höchsten türmt. Leckebusch wiederum, mit seinem
distanzierten Verhältnis zur Sexualität, die ihm stets als eine fremde
Sache dazwischenkommt, wenn er gerade im Begriff steht, eines der Welträtsel
zu knacken, die seine Vorgänger ihm absichtsvoll auf den Weg gestreut haben (denn
einmal muss doch der Messias kommen und mit ihm der Paraklet, der alle Wunden
des Denkens schließt), wäre, schon auf Grund des Sinnlosigkeitsverdachtes,
habituell völlig unfähig, den exklusiven ›Besitz der Geschlechtseigenschaften‹
einer Frau für sich zu reklamieren. Es hätte ihn also nichts gekostet –
Ehefrau ist, wer alles vom anderen weiß, aber nur zu Zeiten, und
dann wohldosiert, davon Gebrauch macht. Öffnet sie ihre Schleusen
ungebremst, dann … dann … ist es vorbei mit der
Partnerschafts-Herrlichkeit und das Wettrennen nach dem Ausgang hat
begonnen. Über welche Distanz wird es gehen? Zu diesem Zeitpunkt
weiß das noch keiner.
Es ist leichter, den Schlüssel zum Universum in Händen zu
halten, als den zum eigenen Haushalt sicher verwahrt zu wissen. Darin
besteht, juvenil gesprochen, die Quintessenz dieses Gesprächs,
dessen Verlauf Leckebusch doch überrascht hat, wenngleich nicht zu
sehr: immer hat er gewusst, dass aus dieser Ecke einmal etwas kommen
würde, dass die Freiheit der Bewegung in den privaten Verästelungen,
denen sie ihre Unbeschwertheit verdankt, geborgt war, eine Lizenz auf
Zeit, die nun abläuft. Die klassische Paarung von Schönheit und
Geist kann nicht anders, sie scheitert daran, dass die Schönheit
auch in geistigen Belangen schön sein will und der Geist in
physicis zumindest nicht hässlich genannt werden mag, sondern
auch dort mit geistigem Auge betrachtet zu werden wünscht.
Zweifellos gehört es zur erweiterten Physik des Geistes, einen
geschätzten Kollegen zu sich nach Hause einzuladen, wann immer ihm der Sinn danach steht. Bei diesem hier war es, nach dem
Auftritt im Großen Hörsaal, angesichts der unübersehbaren Reaktion
der versammelten Fakultät zwingend geboten und Elisabeth weiß
das. Was sie da treibt, untergräbt seine Statur, vom
zweifelzernagten Selbstbild ganz zu schweigen. Es nimmt die Zusage
zurück, mit der sie ihn einst geködert hat. Kann er das zulassen?
Offenbar nicht. Muss er es zulassen? Offenbar. Wenn er es aber
zulassen muss: Was folgt daraus? Philosophisch gesprochen: Kann er
zulassen, dass eine Sendung wie die seinige im Räderwerk der
privaten Beziehung zermahlen wird? Eigentlich nicht. Dennoch ist er
Zeuge dessen, dass dieser Prozess gerade begonnen hat. Und es ist
nicht das Zeugesein, das dem Vorgang seine verhängnisvolle Dimension
verleiht. Wie immer er es dreht, er ist Täter in diesem Spiel,
Mittäter zumindest, samt Güterabwägung und allem, was zum
Tätersein dazugehört, das Bewusstsein der Schuld inklusive. Kann es sein, dass die durch die Feuilletons der Republik tourende Causa
Killus gerade seine Ehe mordet? Ein bisschen unwirklich ist das schon,
überaus unwirklich, um ehrlich zu sein, so unwirklich, dass er noch immer nicht
weiß, ob bei ihm nun der Groschen gefallen ist oder irgendwo klemmt und es der
Nacharbeit bedarf, um das kostbare Stück aus seiner Zwangslage zu befreien. Er
möchte sich an die Stirn tippen, aber er fürchtet, Elisabeth könnte das vollends
in den falschen Hals bekommen, und was dann geschieht – Heute, beschließt Leckebusch, ist genug geschehen.
Blowasser ist mit dem Gießen fertig. Er bleibt aber der Blumenpracht zugewandt. Blowasser blowassert. Tronka hat da etwas gesagt. Blowasser wandert. Von Fenster zu Fenster. Hebt den Blick, aber
blickt nicht hinaus. Sucht das Licht, aber es stört. Etwas stört. Es
hat das Volumen einer Fliege, mag sein, ihre Unruhe, mag sein, ihr
Gewicht. Aber es ist keine Fliege. Es rumort in ihm. Was ihn stört? Er
weiß es nicht. Er hat gut geschlafen, er hat gut gegessen und jetzt
das. Die Brüsseler Tochter, auf der Durchreise zum neuen Studienort
kurz bei ihm abgestiegen, hat ihn beim Frühstück gefragt, was man
Killus vorwirft und er hat’s ihr erklärt. Keine große Sache. Nori ist
so zauberhaft … nebenbei ein kluges Mädchen und die Welt der
Wissenschaft, von der sie träumt, ist noch weit. Lieber hätte Blowi gesehen, sie würde etwas
Handfestes studieren, aber ihre Entscheidung nötigt ihm vollsten
Respekt ab und mit Tronka, dem hiesigen Kollegen von der Philosophie,
versteht er sich blendend. Blowasser versteht Killus. Blowasser versteht,
was er getan hat. Killus ist weiter gegangen. Hat einen Schritt vor den
andern gesetzt, konsequent, überzeugt, zweifelnd, ohne stehen zu
bleiben, kurzfristig vielleicht, um Luft zu holen, das steht jedem
frei, aber ein Buch geht aus dem anderen hervor wie … aus dem anderen.
Killus ist l’homme qui marche. Blowi hat Giacomettis Bronzefigur
bewundert – Fondation Vojéra, Paris 14 –, zwar nur ein Abguss,
aber die dürre Gestalt tigert durch sein Gehirn, wann immer er nach
einer Metapher für den Wissenschaftler sucht, der sich eines einfachen
Problems annimmt und nach jeder Lösung, die er findet, stoisch dem
Fragenfächer folgt, der sich aus ihr ergibt, bis … dieses ›bis‹ gab es
bisher nicht, nicht in dieser Bewegung ad ultimum, solange das
Herz mitmacht oder Freund Alzheimer nicht die Fäden aufnimmt, um sie
unauffällig ins Nichts zu entsorgen. Killus’ ›bis‹-Register hört sich so an:
bis das Auto vor der Haustür abgefackelt wird, bis der
privat eher scheue Forscher mit Schrammen an Kinn und Schläfe von einem
abendlichen Lokalbesuch nach Hause zurückkehrt, bis die
prominenten Duzfreunde in tiefes Schweigen versinken und der Strom der
Einladungen zum nächsten Symposium versiegt, bis die beliebten
Talk-Moderatoren im Kreis ihrer Gäste sich seiner ›umstrittenen‹
Persönlichkeit annehmen, bis sein hageres Konterfei, eingelegt
in ein subtiles Balkengeflecht, auf der Titelseite eines
Nachrichtenmagazin erscheint, ganz als sei er bereits gelyncht oder als
handle es sich um eine Aufforderung… Will er das? Soll so ein
Blowasser enden? Die Frage bedarf keiner Antwort. Blowasser hat das Bibliotheksexemplar des fatalen Buches, das den
Absturz bewirkt hat, auf dem Schreibtisch liegen, es liegt dort seit
geraumer Zeit, er müsste das Leihdatum nachsehen, aber ihm kommt es so
vor, als liege es dort seit Jahren. Ein paar Kollegen, an Renommee ihm
weit voraus, haben es kritisch in allerlei Zeitschriften besprochen,
sich in Interviewform darüber verbreitet und Bedenken gestäubt, als
entströme ihm ein Schwefelgeruch. Doch das Buch, dieses Buch, das
einzige Exemplar, über das die Pyramide verfügt, liegt auf Blowassers
Schreibtisch, eingestaubt, gleichwohl noch erkennbar, er müsste es einmal
wieder zur Hand nehmen. Niemand, weder Kollege noch Student, hat während all der Zeit danach
verlangt. Auch kein Nassen. Blowasser hat es gelesen. Gründlich gelesen, Seite um
Seite, keineswegs bloß kursorisch, wie die aneignende Lektüre
wissenschaftlicher Werke es eigentlich gebietet. Das war ein Fehler.
Einlullen hat er sich lassen vom Rhythmus der Sätze, ist den
geschliffenen Perioden mit Wohlgefallen gefolgt, wusste gleich, das
hier ist eine Summe und zugleich die Spitze eines Pfeils, gerichtet auf
das black hole des Jahrhunderts und damit aller
Geschichtswissenschaft, das absolut Unerklärliche, alle nachgeschobenen
Erklärungen in sich Aufsaugende und zum Verschwinden Bringende: Killus
will es erklären, er will diese Arbeit, die nun einmal getan werden
muss, zum Abschluss bringen. Der Holocaust, in den Forschungsanfängen
noch als ›Endlösung der Judenfrage‹ oder, angesichts des
Unaussprechlichen, als grenzenlos absurde, des präzisierenden Genitivs
unbedürftige ›Endlösung‹ gegenwärtig, ist das Zentrum seiner
Lebensanstrengung, jeder niedergeschriebene Satz hat ihn ein Stückchen
näher an diesen Gegenstand herangetrieben und nun… Lässt sich ein Buch, das von aller Welt verdammt wird,
vorurteilsfrei lesen? Natürlich nicht. Keine Lektüre entgeht dem
Vorurteil; wenn sich mehrere kreuzen – hier das Vorurteil zugunsten des
Verfassers und das durch den Großen Denunzianten in die Welt
gebrachte –, dann blitzt es kräftig und die Welt setzt sich durch:
›nicht vergleichbar‹, die einst von Killus, wem sonst, theoretisch
unterfütterte Standardformel für die fabrikmäßige Ermordung der Juden
Europas, hat sich als Schlinge um seinen Hals gelegt und keine Macht
der Welt kann sie dort wieder entfernen, schon gar kein gelehrtes
Kopfschütteln in einem privaten Wolkenkuckucksheim. Dazu ist sie durch
allzu viele Köpfe gewandert und hat dort Spuren hinterlassen, Spuren
der Aufgebrachtheit und des Abscheus, des aufgebrochenen Leides und des
unauslöschlichen, auf geringste erinnerungspolitische Abweichungen
achtenden Argwohns, als dass diese Sache gerade in Blowassers
Kopf zurechtgerückt werden könnte, obwohl er begriffen hat, dass wie so
oft, wenn sich politischer Wille in den Gang der Wissenschaft mischt,
hier ein täuschender Gebrauch vorliegt, der sich ›sehr wohl‹ mit guten
Argumenten entkräften ließe. Denn das hat ihn die Lektüre gelehrt: ein
Killus ›setzt‹ nichts ›gleich‹, schon gar nicht ›einfach‹, er stellt
Zusammenhänge her, er konstruiert Affinitäten und Kausalitäten, er
unterscheidet sich darin um kein Gran von seinen Vorgängern und
Konkurrenten, mit einer gewaltigen Ausnahme – Aber wo liegt die Ausnahme? Blowasser wankt, sobald er in dieses
Gleis einfährt, die Weiche rumpelt gewaltig, Wissenssteine, eingebettet in
den Verdauungstrakt, geben knirschend Laut, andeutend, dass hier
eine Mauer errichtet wurde, eine Brandmauer in den
Köpfen, die bisher so nicht existierte… Ein whitewashing
des totalitären Erbes ist da im Gange, es genügt sich nicht an den
Fakten, es will den besiegten hässlichen Zwilling direkt aus den Weiten
des Weltall auf die Erde gefallen wissen, bezuglos reine Gestalt des Bösen,
eine düster-bizarre, dem Verstand nirgends zugängliche Scheinwelt,
erleuchtet von den Höllenfeuern von Auschwitz und
Majdanek von Ewigkeit zu Ewigkeit, ein NS ganz ohne S… War das gestern so Stand der
Forschung? Benommen schüttelt Blowasser den Kopf. Er fühlt sich der Lösung
ganz nahe, doch die Brandmauer hält, sie hält, was sie
verspricht, weil, so suggeriert es ein Springteufel, der gleich wieder
verschwunden ist, sie verspricht, was sie hält. Blowasseeer!… – er brüsselt ein bissel herum, macht sich
fremd, als ginge es gleich vom Acker. Was soll das: ›fremd machen‹? Was will
uns der Ausdruck sagen? Blowasser wühlt im Schlamm. Blowassowitz,
Blowatschow, Blowater, Blowanz die Wanze, Blofanz… Irgendwo im Kopf
sitzt der beißfaule Intellekt und hört sich das an. Beide Füße im
Wasser, das monotone Klatschen der Tücher im Ohr: Wo bin ich? Wo hinein
bin ich da geraten? Das hier, zwischen den Ohren, ist eine Sache des
Ortes. An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit … undenkbar.
Nicht mit ihm. Be-dräng-nis, das ist das Wort. Nichts Persönliches, aber: von Ohr zu Ohr.
Wenn ich zwischen den Ohren ein Zelt aufschlage und es baut sich
Druck auf, es bläst gewaltig hinein, wo sitze ich dann? Im Freien?
Weit gefehlt. Es wäre besser, ich säße im Freien.
Aber das lässt sich fürs erste nicht machen.
Unfrei: Was ist das?
Was ist das, was mich unter Druck hält? Ein Gedanke? Ein Gedanke
wäre machtvoll genug…? Das ist kein Gedanke.
Was dann? Etwas zwischen den Ohren. Ich-bin-kein-Schisser. Really? Neben ihm, dreihundert Kilometer entfernt, schreibt der Große
Denunziant in seiner Zelle: Dieses Land erlebt gerade ein präzedenzloses
sozialkulturelles Rollback. Dass seine Bewohner davon im Alltag so wenig
bemerken, zeigt dem mit diesen Prozessen Vertrauten, wie weit der Prozess der Deterioration bereits gediehen
ist. Wohlgemerkt: Es handelt sich um keinen linearen Prozess im Sinne eines
pervertierten Fortschritts. Stattdessen kann, mit
einigen Vorbehalten, konstatiert werden: das Land kehrt zu seinen
Ausgangspositionen zurück. Das ist bitter für die leidenschaftlichen
Gralshüter des Fortschritts, deren es draußen im Lande – und an den
Universitäten – nicht wenige gibt.
Es entspricht der Aufgabe progressiver Intelligenz, Regressionstendenzen, wo immer sie sich
blicken lassen, schonungslos offenzulegen und sich nicht von
öffentlichen Bekundungen einer wohlfeilen Liberalität einlullen zu
lassen, die in der Sache nichts weiter bedeutet als die
Propaganda-Verpackung eines auf Repressionskurs befindlichen Systems.
Zu diesem Kurs zählt, dass die akademische
Geschichtsschreibung hierzulande, ohnehin mehrheitlich ein konservativer Block,
zusehends in den Bann von Kräften gerät, die ein weiteres Mal in
der Geschichte den Bruch mit den Traditionen der Aufklärung
vorantreiben und so das Land aus dem westlichen Wertegefüge
herauslösen wollen. Der deutsche Sonderweg, der endgültig verlassen
schien, feiert in den Schriften der Killus, Hurtenschwang,
Liebermaus, Streicher fröhliche Urstände.
Diesem Befund gilt es
sich zu stellen. Unter dem Deckmantel der Restitution einer
objektivistischen, dem eurozentrischen Prussianismus Rankes
verpflichteten Geschichtsschreibung greifen die Handlanger der
Reaktion zu ihrem bewährtesten Mittel: der Diffamierung der
emanzipatorischen Kräfte der Vergangenheit als Wegbereiter und williger Helfer des
historischen Stalinismus und seiner ›beispiellosen Verbrechen‹.
Die Verhöhnung der Opfer, in diesen Texten allgegenwärtig, ist
daher nur eine Seite der Medaille. Eine weitere wäre darin zu
konstatieren, dass hier dem Weltverbrechen des Holocausts ein
weiteres Mal widerfährt, was bisher nur unter dem Siegel der äußersten
Rechten außerhalb der sittlich erlaubten Diskurse an Unsäglichem
fabriziert wurde, diesmal allerdings aus der Mitte der Gesellschaft
und ihrer akademischen Wortführer heraus, offenkundig im Vertrauen
darauf, Gehör zu finden und Menschen zu instrumentalisieren, die
seitens der technokratischen Intelligenz gern als Leistungsträger
der Wirtschaft und damit im weiteren Sinn auch der bürgerlichen
Society stilisiert werden. Das Bestürzende der Lage besteht darin, dass hier, zum ersten
Mal in der kurzen Geschichte des Landes nach dem Kulturbruch, eine
Regierung, von der nach sorgfältiger Analyse angenommen werden muss,
dass sie sich des konservativen Mäntelchens bedient, um ihre
revisionistischen Ziele zu verschleiern, und akademisch-theoretischer
Revisionismus im Gewand der ›neuen‹ Geschichtsschreibung in einer
Zangenbewegung zusammenwirken, um, nennen wir die Sache bei ihrem
wirklichen Namen, den Weltkrieg gegen das sozialistische Lager in
Szene zu setzen, von dem aggressive Nato-Strategen im Verein mit den
Falken des US-militärisch-industriellen Komplexes offenbar zu
träumen nie aufgehört haben. Ein solcher Krieg kann nach Lage der
Dinge nur als Krieg gegen die Menschheit verstanden werden. Daher
handelt es sich um ein Gebot elementarer Menschlichkeit, den Schleier
jeglicher Schein-Objektivität zu zerreißen und mit allen öffentlich
verfügbaren Mitteln zu sagen, was ist.
Objektivität, die
verfügt, statt den Bann zu lösen, unter dem alles historische
Geschehen steht, dient, abgesehen von einem falsch verstandenen,
fetischhaft zelebrierten Wissenschaftsethos, der Unterdrückung des Menschen in der Gesamtheit seiner emanzipatorischen Bezüge. Sie zählt zu den Instrumenten des Todes und sollte
daher von denen, die es angeht, bereits im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb zerbrochen
werden. was hätte Blowasser dieser Suada, gesetzt, sie geriete ihm im Moment
ihres Entstehens unter die Augen, entgegenzusetzen? Nichts. Weniger als
nichts: sein Widerstand, falls er sich irgendwo regte, verwandelte sich
nach den ersten Sätzen … nein, nicht in Zustimmung, soweit reicht der
Bonus des Großen Denunzianten nicht, selbst in gesunde Skepsis nicht,
auch das nicht, vielmehr… … in etwas, sagen wir (hol’ ruhig das imaginierte Wir zur
Hilfe, das hier ist zu groß für eine Person), in etwas
Unpersönliches, das ihn anfällt, ein Zwischending von Mensch und
Tier, ein organisches Beben… Es gibt keine richtigen, ebenso wirk-
wie behutsamen Wörter für das, was in diesem Augenblick in ihm
vorginge und seine Verwandlung in ein fliehendes Tier bewirkte – … ein vor dem Machtanspruch dieser Sprache fliehendes Tier, das
seinen Herrn fand, den Verfolger ohne Wenn und Aber, dem entkommen zu
wollen von Aberwitz zeugt; nicht, dass die Fluchtbewegung darum
weniger reell genannt werden müsste, aber sie dient bloß der
Ermattung des Lebenstriebs, der Vorbereitung der Kapitulation vor dem
Unausweichlichen, dem organischen Schauspiel der in Etappen sich
vollziehenden Kapitulation… … die nie vollständig ausfällt, da das Tier nicht den ganzen
Menschen füllt, in dem immer Raum bleibt für den unerklärlichen
Widerspruch, Sklave eines als kritisches Bewusstsein getarnten
Wahnsystems zu sein und sein intellektueller Widerpart,
Austragungsort einer subkutanen Gegnerschaft, die bei ihren
Bocksprüngen von niemandem erwischt werden möchte, von keinem
Kollegen, keinem Angehörigen des Milieus, in dem ein Blowasser sich
bewegt, wenn er nicht im Dienst ist, auch nicht von sich selbst, denn
ein Blowasser … darf um keinen Preis mit jener Kloake in Verbindung gebracht
werden, die da heißt: rechtes Denken, rechte Gesinnung, reaktionäre
Bestrebungen, vor allem letztere, denn was im Menschen, der einen
akademischen Ehrgeiz in sich trägt, wäre nicht in irgendeiner Weise
Bestrebung? Welcher Denkimpuls betriebe nicht die Revision irgendeines
Dogmas? Welcher neue, noch unverbrauchte Gedanke, der aufblitzt, wäre
in seinen Konsequenzen ausreichend überschaubar, um die Hand dafür ins
Feuer legen zu können, dass kein Fädchen, kein Stäubchen von
einer tückischen Seele mit dem da in Verbindung gebracht werden
könnte? Gerade das treibt den Preis in die Höhe. lautet, dass ein nicht
kontaminiertes Denken nichts weiter darstellt als eine Chimaira,
ein trügerisches Fabelwesen, wie ihm Tronka in jener unvergesslichen
Nacht wortreich auseinandergesetzt hat, dass jeder Gedanke ein Übergang
ist, eine Brücke auf dem Weg in unübersichtliches Gelände, und dass es
daher besser, jedenfalls sicherer ist zu parieren, als sich dem Risiko
auszuliefern, auf freier Wildbahn gehetzt und zur Strecke gebracht zu
werden. Denn der Große Denunziant steckt in vielen, er hat sich ihrer
Reflexe bemächtigt und erzeugt nach Belieben … Schuld. Schuld
aber, tief vergrabene, polymorph-perverse, anlasslos aktivierbare
Schuld, das sieht Blowasser ganz illusionsfrei,
Und er legt die Hand an die Wange, als liege darin eine Bestätigung des Gesagten. Nicht allein das, sein ganzer Körper ist
bemüht, Bejahung zu zeigen, nicht in diese Falle zu laufen,
von der ihm nur undeutliche Kunde geworden ist und von der er
instinktiv annimmt, sie würde auch in seinem Fall zuschnappen, könnte er
sich entschließen, den Ring des Schweigens zu durchbrechen und die
simple Frage zu stellen, auf die irgendwo die ganze Sache hinausläuft –
wenn nicht heute, dann morgen, wenn nicht morgen, dann übermorgen,
wenn nicht übermorgen, dann zu irgendeiner anderen Zeit: Und wenn
Killus doch Recht hätte? Dennoch … auch Tronka imponiert der Große
Denunziant, auch ihm imponiert sein ausgebreitetes Wissen, auch ihm
der ungeheure Fleiß, mit dem er seine unermüdlichen Lektüren in
immer neue Publikationen zu gießen weiß, und natürlich imponiert
Tronka das Prestige, dieses Ding an sich der akademischen Welt, das hier
einen aus der Reihe seiner Lieblinge gefunden hat, von denen es
nimmer lässt.
Doch Blowasser bleibt stumm und so verläuft sich die Welle im
Wohnzimmer der Empfindungen, das zwar den Sturm im Wasserglas
zulässt, aber nicht die heroische Auseinandersetzung mit dem
Gegenstand der Epoche, der düster im Hintergrund aller
Positionierungen steht und, eingewickelt in den ungeheuren
Phrasenreichtum seiner Ausleger, schweigt.
Und sie strähnt ihr langlanges Haar, schwarz wie die glühende Nacht. Hier, gleich nebenan? Ohne ihn? Da
muss Blowasser doch mächtig schlucken. Hat er nicht neulich
gestreut, er wolle im nächsten Semester zu Killus eine Vorlesung
aufnehmen, weil »da mal jemand ran muss und es langsam Zeit wird«?
Weil »einmal in diese Angelegenheit Klarheit kommen muss«? Wem
eigentlich? Nassen? No. Friedenwanger? Könnte sein. Dürrobst?
Eher unwahrscheinlich. Den hätte er behalten.
Annabell? Zur Tür hinaus, er hat es kaum bemerkt. In ihrem Beisein, so seine Empfindung, kommt er eher wenig zu Wort. Dabei hinterlässt sie das penetrante Gefühl, er habe zu
viel gesagt.
Wie löchrig ist Friedenwanger? Sehr. Mehr noch: er setzt seine
Indiskretionen gezielt. Friedenwanger ist ein Kretin. So etwas sagt
einem keiner ins Gesicht, es wird übermittelt. Wozu gibt es Dritte?
Friedenwanger ist ein Kretin.
Friedenwanger war’s. Sein Intimfeind von altersher.
Betriebsgeheimnis dynamischer Gesellschaften: Die Furchtlosigkeit der Massen. Über den Zusammenhang von Tabu und Furcht: Das Tabu erzeugt Furcht und macht furchtlos (Hierarchie-Paradox).
Qualifizierte Massen teilen, d.h. stückeln die Massenpsyche. Ein stilles Massaker, never ending. Wissenschaft heute ist eine Angelegenheit intelligenter Massen. Rationale Blindheit = leere Distanz. Friedenwanger ein Kretin?
Du solltest eine Liste der Themen anfertigen, mit denen Teuschner
›jetzt nichts anfangen‹ kann. Sie würde Erstaunliches zutage
fördern. Du hättest bereits vor Jahren damit anfangen sollen. Jetzt
ist es fast zu spät. Mag sein, Teuschner ist ein Kretin, es sprechen
gute Gründe dafür, es so zu sehen. Aber er verfügt über ein
erstaunlich waches Urteil – sowohl, ›was die Kollegenschaft
angeht‹, um es etwas unscharf zu formulieren, als auch über die
gesellschaftlichen Themen, deren aktuellen Stand er täglich seiner
Standardzeitung entnimmt.
Nimm Teuschner: Es laufen viele Nimmichs auf diesen
Fluren herum, worin besteht die Einzigartigkeit gerade Teuschners?
Worin die Einzigartigkeit dieses elenden Täuschers? Worin
gründet die Einzigartigkeit dieser Stätte? Die Einzigartigkeit
einer Stadt, eines Landes, eines Ereignisses, einer Ereignisfolge,
eines Gewitters? Einzigartigkeit ist keine Eigenschaft, sie ist eine Lizenz. Die Einzigartigkeit Teuschners besteht darin, einzigartig zu sein.
Jeder weitere Bestimmungsversuch prallt an ihm ab. Ein Teuschner kann
tun und lassen, was ihm beliebt, es hindert ihn keiner daran, und
sollte es einer jemals versuchen, so würde er rasch merken: Das ist
nicht so einfach.
Einzigartig ist die Fähigkeit, trotz schwerster Bedenken
weiterzumachen. Insofern ist jeder Mensch einzigartig. Es muss jedoch
etwas hinzukommen: die Leichtigkeit des Gelingens. Der menschliche
Handlungsimpuls erlahmt, nach einer kurzen Phase des Aufbäumens, sobald
das umgebende Element klumpt. Solange die Moral stimmt, ist die
Welt in Ordnung, schlägt der Handelnde gegen sie aus, wird sie zur
undurchdringlichen Masse. Teuschners Welt ist ›in Ordnung‹.
Wer mit der Moral kein Problem hat, muss deshalb kein Immoralist
sein. Teuschner zum Beispiel (warum fällt dir immer wieder dieser
Stümper ein?) ist ein begeisterter Interpret des kategorischen
Imperativs. Er findet, Kant sei nicht ›zu rigoros‹ in seinen
Anwendungen, also zum Beispiel dem absoluten Lügenverbot, sondern
erliege einem Selbstmissverständnis, denn:
Teuschner lügt also, wenn er den Mund aufmacht, er hat kein
Problem mit der Wahrheit, er hat kein Problem mit der Lüge, bloß
als großer Lügner will er nicht gelten, das lehnt er ab. Er will
einfach durchkommen, denn:
Warum erzählt er das? Warum erzählt er dir das? Seine Frau sitzt am
Tisch, sie schaut ihn an, ihr Gesicht ist so ausdruckslos, dass du
weißt: diese Suada kennt sie, damit ist sie durch. Er erzählt es
dir, weil er keinerlei Selbstverhältnis besitzt. Er könnte von sich in
der dritten Person reden, er würde es nicht einmal merken. Teuschner blickt man nicht ins Gesicht. Man schaut ihm über die
Schulter. Was sieht man da? Nun, zum einen eine no-problem-Welt,
eine Welt, in der sich jeder Knoten mit Leichtigkeit löst, man muss
lernen, auf seine Schnürsenkel aufzupassen, sonst steht man bald barfuß
da und er lacht einen an:
Nein, es fehlt nichts. Was sollte schon fehlen? Zum anderen: eine dünne Welt, überzeichnet in den
Konturen, scharfgestellt und stark vereinfacht, aber nicht
unplausibel, nein, ganz und gar nicht unplausibel, im Gegenteil: eine
plausible Welt, einer mag davon halten, was er will.
In einer solchen Welt kann niemand leben. Sie wurde auch nicht
dafür geschaffen. Sie dient einzig dem Zweck, Teuschner das
Überleben zu sichern. Sie ist sein Gegenüber. Trittst du in sein
Blickfeld, nimmt sie dich auf, wirst du Teil dieses Gegenübers. Du
wirst Teil einer selbsterklärenden Welt. Wie geht das? Erstens: das
Zeitgefühl kommt dir abhanden, stattdessen wächst das Bedürfnis, rasch
auf die Uhr zu sehen. Einmal muss das hier doch ein Ende haben.
Aber wann?
Zweitens: du verstehst dein Problem nicht. Hattest du eines?
Sicher? Man lässt sich nicht ins Haus eines Kollegen einladen, weil
man ein Problem verfolgt. Man folgt der Einladung, weil man neugierig ist:
Was mag er bezwecken? Ein neues Projekt? Das hätte, nach allem, was
du bereits über seine Projekte weißt, etwas Erheiterndes, geradezu
Rührendes … alles, nur das nicht. Was dann? Will er dir
imponieren? Wahrscheinlich findet er, so ein gastliches Haus brauche Gäste,
vielleicht findet seine Gattin das auch, und zufällig fiel die Wahl
auf dich.
So sitzt ihr zwei da, bis unter die Arme in eure Sessel versunken – die
Hausfrau hat sich inzwischen davongemacht –, und pflegt, na was wohl:
Konversation. Aber diesmal hat Teuschner sich viel vorgenommen, er laviert, er
macht Umwege, er kurvt herum und plötzlich, urplötzlich, kommt er
auf den Punkt.
Da sitzt dieser Kretin und hat eine Meinung zu Killus.
Offenbar reizt ihn die Nähe zur Gefahr. Jedenfalls reitet ihn das
Bedürfnis, sich irgendjemandem gegenüber zu ›outen‹ und dieser jemand
darfst, nach Lage der Dinge, du sein. Vermutlich hält er dich für
unbedenklich genug, um die Kontrolle zu behalten, die ›Lufthoheit über
das Gesagte‹, wie die pressegewandten Kollegen das auszudrücken
pflegen. Aber aus irgendeinem Grund muss er dich doch für durchlässig
halten, für ›semipermeabel‹, es sei denn, er bevorzugt, zumindest in
diesem Fall, einen toten Briefkasten. Du weißt nicht, welche Variante
dich mehr ärgern soll, und kommst ihm daher versuchsweise auf halbem
Weg entgegen.
Will er streiten? Willst du streiten? Was gibt es da zu streiten?
Hast du das bezweifelt? Was sollte er sonst sein, betrachtet mit
dem Auge dieses Forschungsapathikers, dem der Ruf des schlafenden
Riesentalents vorausgeht – »leider hört man so wenig von ihm« –,
des Tricksers und Täuschers, des hässlichen Schwans, der in jeder
Pfütze zu gründeln gelernt hat, des notorischen
Unter-den-Tisch-Fallenlassers?
Jede Confessio beginnt mit einer Klarstellung.
Jeder Bekennende spricht in erster Linie von sich. Wie lange kennst du Killus? Sehr lange. Er gehört in die Reihe
derer, die deine Welt bebildert haben, eine alterslose Figur.
Jedenfalls kannst du dich nicht daran erinnern, je über sein
biologisches Alter spekuliert zu haben – so sehr sprach aus ihm die
Epoche, in die du ungefragt hineingewachsen bist. Wäre der Ausdruck
nicht mit Geringschätzung behaftet, du würdest beteuern, ein Gutteil
seiner Forschungen zum Faschismus tapezierte die Wände deiner
Mit-Existenz als denkender Zeitgenosse. Jetzt noch fällt es dir schwer
zu denken: hoppla, er lebt doch, irgendwer, einer wie du und ich, lehrt
irgendwo, ein paar Kilometer entfernt, unter diesem Namen … das ist
eigentlich unvorstellbar. Ganz anders Teuschner, fachfremd wie
du: ihn beschäftigt der Kerl hinter den Büchern, Aufstieg und
Fall des Severin K., auch wenn er sich darüber seltsam illusionäre
Vorstellungen macht, denn er vertraut vollständig dem Gerücht. Das Killus-Gerücht: eine unfromme Legende, gewoben aus Spekulationen
über ein Familienvermögen, das Unabhängigkeit im Materiellen verbürgt,
stille Grundlage der ›Tendenz zum Sonderweg‹ – ein Zunft-Scherz, der
seine Herkunft aus Boshaftigkeit und Unvermögen nur lose
verbirgt –, aus wilden Kombinationen, betreffend ein dichtes
Netzwerk sensibler Freundschaften, die den krassen Außenseiter in
einem anderen Licht zeigen sollen, weidlich hinausposaunt vom
Großen Denunzianten samt Anhang, und schließlich –
Teuschner, der Unbrauchbare, ist besessen von der fixen Idee des
Gebrauchtwerdens. Eine Handvoll weiterer meldet sich pünktlich,
sobald er in Fahrt gerät. Das Umsortieren von Kollegen in Fächer
seines Gutdünkens nimmt darin einen der vorderen Plätze ein. Und selbstverständlich sieht er außerhalb seiner Disziplin überall Hermeneuten am Werk. Aus psychologischer Sicht ist das verständlich, da er seit Jahren aus unerfindlichen Gründen seinen Anteil an der hermeneutischen Literatur verweigert. Gerissen wie irgendein Gauner spielt er die Komödie der Suche nach einer neuen Auslegungspraxis, die, seiner bescheidenen, aber starrsinnig festgehaltenen Auffassung nach, noch kaum in Umrissen existiert: unterwegs nach verkappten Hermeneuten jenseits der Fachgrenzen, die es anders machen, anders als die geballte Kollegenschaft, die von ihm Beiträge erwartet.
Teuschner windet sich weiter. Und ein zweites Mal dreht er das
Gespräch, um auf den Punkt zu kommen, eine Pointe, die er sich in
seinen stillen Stunden überlegt hat und als deren Empfänger, vielleicht
auch nur Testperson, er dich auserkoren hat – gewiss, es kommt nicht
oft vor, dass er einen Pyramidenbewohner in sein üppig wucherndes Heim
einlädt, um die Weltlage zu besprechen. Es platzt ein wenig
unvermittelt aus ihm heraus, sein Babyface bekommt in diesem Augenblick
etwas Versonnenes, so sehr ist ihm damit ernst.
Was der Wassermann da ausgeführt habe –: bei allem Respekt vor
dem Kollegen, das sei doch Unsinn gewesen, »der übliche Unsinn«,
verwässert und mit Scheinproblemen überlastet, ohne »Killus’ Ansatz
auch nur ansatzweise« gerecht zu werden. Dieser Ansatz, ja, über den
müsse man reden, wenn es schon sonst niemand tue … aus durchsichtigen
Gründen übrigens, die zu thematisieren sich eigentlich nicht lohne,
weil die Positionen der Beteiligten seit Ewigkeiten bekannt seien … das
eingeschliffene Ideologen-Spiel … womit er, dies nebenbei, nichts gegen
den Großen Denunzianten gesagt haben wolle, dessen Aussagen, wie von
ihm nicht anders zu erwarten, auf einem klaren Wertefundament stünden.
Nur komme es in diesem Fall eben auf die Differenz an, den kleinen
Unterschied, der dem großen gelegentlich durchaus den Garaus zu machen
in der Lage sei… Killus’ Ansatz, um einmal Tacheles zu reden, bestehe
einfach nicht darin, das Vernichtungsprogramm der Nazis zu
erklären, auch nicht, es verstehen zu wollen, weder objektiv noch, horribile dictu, affirmativ, was »ja ganz absurd« klänge und überhaupt keinen Sinn ergäbe … das zu behaupten sei schlicht
und einfach unterkomplex … was Killus vorschwebe, sei vielmehr ganz
offensichtlich, das Verstehen zu erklären: ein quasi
transzendentales Unterfangen, insofern stimme das mit dem Philosophen
ja, aber so zu reden sei unerheblich, es sei sogar unwissenschaftlich,
da es das schlichte Faktum ausklammere, dass es im Grunde immer um
transzendentale Fragen gehe, sobald der Mechanismus der Verständigung,
menschlicher wie vormenschlicher, und damit des sozialen Handelns
tiefenberührt sei, was bei größeren Eruptionen des
Zusammenlebens allemal vorausgesetzt werden könne –
Alles, was dann zu passieren pflege, sei ja in der Regel
hinreichend gut, meist könne man sagen: blendend erforscht, dafür
sorge schon die Sensationsgier der Menschen und ihr verständliches
Bedürfnis, Schuld zu verorten, aber eben nicht in den Bereich
hinein, an dem Killus in seinem speziellen Fall gelegen gewesen sei,
einfach deshalb, weil sich das Geschehen zu diesem einsamen Grad an
Ungeheuerlichkeit erhoben habe, der auch die Suche nach dem Grund in
eine ganz andere Dimension verschiebe – Er ist ein wenig durcheinandergeraten mit all seinen Jas, der Gute; immerhin wollte er dir etwas anderes erklären, jedenfalls kam es dir zwischenzeitlich so vor. Er scheint es selbst zu bemerken, er räuspert sich, wie in solchen Fällen üblich, und wendet sich ab.
Er scheint den Faden wieder gefunden zu haben. Den roten Faden, denn ein anderer käme hier nicht in Betracht. So also redet Teuschner. Redet er so vor Studenten? Das zu wissen
wäre nicht schlecht. Es würde erlauben, den Teuschner-Effekt
dorthin zu verfolgen, wo er die nächste Generation prägt, falls
›prägen‹ das dafür angemessene Wort ist. Teuschner
Ist das alles? Nein. Teuschner
Was du nicht weißt:
All diese Überlegungen durchlaufen dein Gehirn wie der Blitz. Das
Aufschreiben verzerrt sie, es bringt eine falsche Art der
Verdeutlichung hinein. Was bezweckst du damit, dass du sie
verschriftlichst? Vor wem glaubst du dich von Teuschner distanzieren
zu müssen? Vor dir? Vor anderen? Vor bestimmten anderen? Welcher
geheime Beichtspiegel wird da jäh in dir wirksam? Sie alle stehen im Bann des Großen Denunzianten, das ist wahr. Aber
beantwortet das die Frage? Nein! Du könntest einen von ihnen fragen, egal wen,
und lachend würde er dir antworten:
Du könntest einen von ihnen fragen, ob er sich für ›eher rechts‹
halte, und er würde dich, die Stirn runzelnd, als einen Denunzianten
betrachten, der ihm ans Leder will.
Auffällig immerhin: die Asymmetrie der Antworten.
Denk’ an ein Koordinatensystem, das in einem bestimmten Bereich
eine Verzerrung aufweist: die Linien führen nicht gerade durch ihn
hindurch, sondern sind, wie die Gitterstangen eines demolierten
Gefängnisfensters, auseinander gebogen. Es scheint Gewalt im Spiel
zu sein, eine Gewalt, die durch dieses System hindurchgegangen
ist wie der Ausbruchsversuch eines Häftlings. Wir wissen nicht, ob der Häftling
sich befreien konnte, ob es überhaupt einen Häftling gab, aber
die Koordinaten – oder was die Leute dafür halten – stimmen
nicht mehr, sie haben ihre Bedeutung verloren … nicht ganz, nicht
vollständig: sie winken eine zweite Art der Orientierung herbei, ein
Denken in Kurven, in Ausbuchtungen, in Ausflüchten, um der
Sprache ein wenig Leine zu geben, denn hier haben wir die Region
eines Geschehens, welches stärker ist als … vielleicht nicht alle,
aber immerhin die Art von Vernunft, die für die Erstellung des
Koordinatensystems verantwortlich zeichnet und von der Überzeugung
geleitet wurde, dass mit ihm die Erfassung eines Phänomens (oder
Phänomenbereichs) gelungen sei.
Die Erziehung des Rüden
Eikes Vaterkomplex ist legendär.
Das ist nicht so einfach.
Eike hasst den Vater.
Er hasst ihn, wie dieser sich hassen würde,
litte er nicht unter dem Groll der Mutter,
sondern trüge ihn gegen sich selbst
aus Solidarität mit der Frau
an seiner Seite.
Einig worüber? Über die Welt da draußen.
Welche Welt? Eine Welt aus Geschichten.
Eike kennt die Welt aus Geschichten.
Eike lehnt Tronka ab.
Das Gespräch an sich.
Das Gespräch außer sich.
Das Gespräch der anderen.
Das Gespräch als Bereicherung.
Er bereichert sich an gefallenen Worten, als fielen sie ihm zu.
Das sind so Fragen.
Sobald keiner hinsieht, greift Eike zu.
Er ist ein Nascher.
Er ist ein elender Nascher.
Beantwortet das die Frage?
Sein Misstrauen deckt den Raum der Zuversicht ab.
Politik spielt im Raum der Zuversicht.
Demnach deckt er sie ab.
oft und ausgiebig anzuschwärzen. Warum?
Ist Eike weniger Freund? Keineswegs.
Eike ist niemandes Freund.
In seinen Augen ist Hiero ein Niemand.
Zeig ihn mir!
Vielleicht hast du Grips. Mag sein, ich will das nicht untersuchen.
Aber Verstand? Wer hat schon Verstand? Ich kenne keinen.
von Kants Verstand?
die anderen würden es nicht. Dabei redest du dasselbe Zeug wie alle anderen auch. Dein Verstand? Dein Verstand befiehlt dir, dich nicht zu weit von der Herde zu entfernen. Das ist dein ›Mut‹.
Eike ist überzeugt: Dieser Roman macht ihn berühmt.
Eike will berühmt sein.
Eike ist überzeugt: Berühmtheit hat ihren Preis.
Diesen Preis will er nicht zahlen.
Eike hasst die Berühmten.
Er will vergessen werden.
Das kann er haben.
Wer gegen das Vergessen angeht, der vergisst viel. Das ist ganz normal.
Man kann nicht alle Muskeln auf einmal spannen.
Ich selbst bin einer, den man vergisst.
Ich werde gewesen sein und keine Spur hinterlassen haben,
es sei denn, ich lege eine.
Ich kann das.
Aber darf ich das auch?
Würden alle Professor, dann gäbe es kein Wissen.
Würden alle Politiker, dann gäbe es nichts zu regieren.
Würden alle Priester, dann gäbe es nichts zu glauben.
Alle menschlichen Dinge hängen an diesen vier Wörtern:
Es gibt einen Unterschied.
So denkt Eike.
Nein, denkt Eike, den gibt es nicht.
Mache ich einen Unterschied? Nein.
Folglich gibt es mich auch nicht.
Ich bin einer der vielen, die keinen Unterschied machen.
Quod licet Jovi non licet bovi.
Eike ist Lateiner. So etwas, findet er, macht einen Unterschied.
Das, findet er, ist keine frohe Botschaft.
Eike vergisst schnell.
Ich will alle sein.
Ich will wie alle sein.
Ich will nicht auffallen.
Das ist meine Art aufzufallen.
Er will es nicht denken, aber es denkt sich.)
Ich vermittle Wissen.
Wirkliches Wissen ist niemandes Wissen.
Ich will niemand sein.
Dieser oder ein anderer.
Es sind nicht meine Gedanken, die ich vermittle.
Wenn ich wiedergebe, denke ich da überhaupt?
Ich denke mir meinen Teil.
Ich stelle ihn daneben.
Aber nur in Gedanken. Sage:
Muss ich mehr dazu sagen? Ich denke nicht.
Besser die Boote verbrannt als die Zunge.
Erwachen. Das zerschmetterte Gesetz gilt.
Was ist dann die Geschichte?
Ist das die Geschichte?
Ist das das Ende der Geschichte?
Auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Das Ende der Geschichten ist
nicht das Ende der Geschichte.
Am Anfang der Geschichte treibt das Geschlecht die Geschlechter
hervor.
Alle Geschichte ist Geschlechtergeschichte.
Am Ende der Geschichte treiben die Geschlechter das Geschlecht vor
sich her.
Was kommt nach der Geschichte? Etwas zwischen Geschichte und
Nicht-Geschichte.
Die einen haben gesiegt und die anderen haben gewonnen. Oder
umgekehrt.
Gesiegt haben die, die das Sagen haben.
Gewonnen haben die, die etwas zu sagen haben.
Ist das der Sinn der Geschichte? Aber das ist Un-Sinn.
Wenn ich mit deiner Frau ins Bett gehe, weil das Experiment es
verlangt, dann habe ich gewonnen.
Es ist dein Experiment, also habe ich gewonnen.
Es ist deine Frau, irgendwann hast du also gesiegt.
Der Sieg ist die Bedingung der Niederlage.
Das Experiment ist auf Sand gebaut: auf Diskretion.
Ich sage nicht, was ich weiß, und du sagst nicht, was du siehst:
Darauf läuft es hinaus.
Wer verlangt das? Die Frau, die zwischen uns steht.
Sie will Erfahrungen machen. Das ist verständlich.
Hiero träumt
Hat das einer durchdacht? Hat das
mal wirklich einer durchdacht?
Wenn vom Geschlecht bloß der actus purus
übrig bleibt, was bleibt dann? Der ›Mann‹ und die Hure.
Wenn der ›Mann‹ die
Hure durchstreicht, undenkbar macht (oder den Gedanken daran nur als unbegreiflichen Unfall
seiner löchrigen Natur zulassen darf), wo zum Teufel bleibt dann die Frau?
Verschwunden.
Hat sich Leckebuschs Bedürfnis gewandelt? Keineswegs.
Konkret: Hat sich Elisabeths Bedürfnis gewandelt?
Ich weiß es nicht.
Leckebusch?
Was weiß der schon.
Hatte sie vorher keinen?
Insofern … ist es
gerechtfertigt, so zu denken.
– Quatsch: Ich finde sie begehrenswert, sie mich.
Was daran ist subjektiv? Es ist streng symmetrisch,
also objektiv. Ich würde jedem die Fresse polieren, der sie
begehrenswert findet. Ich würde jedem die Fresse polieren, der sie
nicht begehrenswert findet. Natürlich nur in Gedanken, das versteht
sich von selbst. Entscheidend ist, dass sie den Weg zu mir
findet. Findet sie ihn nicht, muss ich sie in die
Null zurückverwandeln, die sie war, bevor sie meinen Appetit
entfachte. Ist das subjektiv? Ist das radikal subjektiv? Es ist
radikal. Es ist radikaler Sex.
Das Begehren, das mich begehrt.
Liegt darin eine
unzulässige Verdopplung?
Nein, keineswegs. Es entspricht meinem Weltbegriff.
Die Welt ist alles, was mich begehrt. Ich bin das wählende Begehren, ich
weigere mich, Objekt einer Wahl zu sein. Ließe ich die Wahl zu, die mich
verwirft, dann wäre ich … spuck’s aus, Hiero, spuck’s aus: Bewohner zweier
Welten, also ein laufender Widerspruch, also unglücklich. In der einen begehrt, in
der anderen … verworfen. Wer mich verwirft, der negiert mich. Ich kann nicht
zulassen, negiert zu werden, das liegt … vollkommen außerhalb meiner
Möglichkeiten.
was wirklich, und dem, was unwirklich ist.
Guido, sich die Butter aufs Brot streichend, wendet sich zu Hiero:
Hiero, mühsam beherrscht:
(Guido, das Messer ins Marmeladenglas
tauchend, nicht sicher, ob so ein Satz, laut und entschieden
gesprochen, nicht den sofortigen Bruch bedeutet. Den will er nicht.
Nein, den will er nicht. Jetzt nicht … und überhaupt. Es wäre
Versagen.)
Dürrobst
Nassen
Nassen
Ophoff
Nassen
Nassen
Argloser schreibt
Argloser legt nach
C: Er hat’s vergessen.
B: Was denn?
C: Darüber will ich jetzt nicht reden.
B: Ich auch nicht.
C: Darüber kann man nicht einfach reden.
B (zu C): Wie hält er das aus?
A: Okay, ich war’s. Genügt euch das? Was wollt ihr?
B & C: Wir?
A: Wer sonst?
B: Ganz recht. Wer sonst.
C: Er hat es vergessen.
B: Er will es vergessen.
A: Ich habe es nicht vergessen.
C: Was denn? Dann sag’s uns.
A: Was wollt ihr hören?
B: Wir? Du fragst uns –?
C: Wir wollen nichts hören. Was könntest du uns schon sagen?
B: Worüber willst du denn reden?
C: Also gut, wenn’s dir dann besser geht.
A: Ich kann nicht.
B: Warum nicht?
A: Ich weiß nicht.
B & C: Er weiß es nicht.
B: Du hast also vergessen, was du getan hast?
A: Nein, habe ich nicht.
B: Dann sag’s doch. Los, spuck es aus.
A: Warum? Was habe ich euch getan?
C: Uns? Das fragst du uns?
B: Wir sind ganz Ohr.
A: Ich weiß nicht, was ihr wollt.
C: Wetten, du weißt es? Wetten, du weißt es?
B: So naiv kann keiner sein.
C: Vielleicht doch. Weiß man’s?
A: Ich weiß, was ihr wollt.
B: Schau an, unser kleiner Naiver.
C: Komm schon, wir haben dich trotzdem gern. Weißt du das nicht?
B: Nicht doch. Er hat’s vergessen.
B und C erinnern ihn daran.
A fühlt sich schuldig.
B und C sind zufrieden.
B und C mokieren sich über ihn.
A empfindet Scham.
B und C sind zufrieden.
B: Er hat da einen Vorschlag.
C (zu A): Ich an deiner Stelle wäre da vorsichtig.
A: Das verstehe ich nicht.
C: Das glauben wir dir sogar.
A: Was willst du damit sagen?
C: Ich? Vielleicht willst du uns etwas sagen.
B: Komm, sag’s schon.
A: Worauf wollt ihr hinaus?
C: Stell’s leiser. Wir verstehen dich ja.
B: Was nichts an der Sache ändert.
C: Was nichts an der Sache ändert.
A: Sagt mal, spinnt ihr?
B: Jetzt wird’s unappetitlich.
C: Du könntest in dich gehen.
B: Wir werfen dir ja nichts vor.
A: Dann ist ja alles in Ordnung.
B: Ist es nicht.
A: Und warum nicht?
B: Das musst du dir schon selbst sagen.
C: Das wäre das Mindeste.
A: Was ist jetzt mit meinem Vorschlag? Wollt ihr ihn hören?
C: Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
B: Du hast es vergessen, stimmt’s?
A: Ich habe nichts vergessen.
B: Du weiß es also.
A: Ich weiß alles.
B: Er weiß es.
C: Und es macht dir nichts aus?
A: Nein. Sollte es das?
B: Uns macht es aber etwas aus.
C (zu A): Was weißt du denn?
A: Keine Ahnung. Was wollt ihr denn wissen?
C: Das solltest du dir selbst sagen.
A: Sag’s mir. Ich weiß jetzt nicht, was du meinst.
C: Das solltest du aber.
A: Warum?
B: Weil es unser Verhältnis betrifft.
C: Gib dir keine Mühe. Er kapiert’s nicht.
B: Das scheint mir auch so.
C: Das war’s dann.
B: Auf diesere Basis kann man nicht arbeiten.
C: (zu A): Lass deinen Vorschlag stecken.
B: Ein andermal vielleicht.
A: Ihr könnt doch nicht…?
C: Doch. Können wir.
B: Und jetzt lass uns –
A: Wie recht du hast. Ich schäme mich.
B: Wie recht habe ich denn?
A: Ich meine einfach: Du hast recht. Ja, ich schäme mich.
B: Warum eigentlich? Was hast du getan?
A: Ich stehe zu meiner Schuld.
B: Das kann jeder.
A: Das verstehe ich nicht.
B: Jeder kann behaupten, er stehe zu dem und dem. Beweise es!
A: Gern. Und wie?
C: Das finde ich jetzt schamlos.
B: Du verlangst von uns, dass wir…?
A: Ich verlange nichts.
C: Das ist auch das Mindeste. Vielleicht verlangen wir ja etwas.
A: Nur zu. Ich höre.
C: Wir verlangen … sagen wir … ein gewisses Minimum an Scham. Ist das zuviel verlangt? Ist das schamlos? Los, sag schon: Ist das schamlos?
A: Das sagt doch niemand.
B & C: Das genügt uns nicht.
A: Was dann?
B & C: Es geht nicht um uns.
A: Da habt ihr verdammt nochmal recht.
B: Willst du uns beleidigen?
C: Willst du sagen, es geht uns nichts an?
B: So einfach kommst du nicht davon.
A: Ich will nicht davonkommen. Ich wüsste nicht, warum ich davonkommen sollte.
C: Bist jetzt du das Opfer?
B: Schau, das Selbstmitleid.
C: Selbstmitleid? Der ist doch stolz drauf. Der kann gar nicht anders.
B: Der würde es wieder tun.
A: Das ist nicht wahr.
B: Leugnen kann jeder.
A: Ich leugne nichts.
B: Das kann jeder behaupten. Wenn du meinst, damit kommst du durch, hast du dich getäuscht.
A: Was soll ich deiner Meinung nach tun?
B: Das ist schon der falsche Ansatz.
A: Ich würde gern alles richtig tun und schon ist alles falsch.
C: Da hast du recht.
A: So läuft das nicht.
B: Da hast du auch recht.
C: Wieso hast eigentlich du immer recht?
B: Mir würde das zu denken geben.
B (zu C): Ihm offenbar nicht.
C: Hat doch keinen Zweck.
B: Reden wir von etwas anderem.
C: Was hast du für Pläne?
B: Weiß nicht. Wir könnten ja…
A: Dont’t worry.
B: Kotz dich aus.
A: Be happy. Ich bin dabei.
C: Wobei, wenn man fragen darf?
A: Stell dich nicht so.
B: Scham ist das Mindeste.
A: Ich würde sagen: Das Minimum.
C: Was soll das heißen?
A: Drunter geht nichts. Jeder von uns sollte das wissen.
B: Ich fühle mich schuldig.
A: Leugnen wäre zwecklos.
B: Es wäre unerträglich.
C: Sind hier Leugner im Raum?
B: Lauter Zerknirschte.
A: Ich würde es gern ungeschehen machen.
B: Ich auch.
A: Es ist unerträglich.
B: Das ist es.
A: Was können wir machen?
B: Es geht nicht um uns.
C: Um was dann?
B: Wir müssen uns zurücknehmen.
C: Wie soll das gehen?
A: Wir dürfen keine Ausflüchte gebrauchen.
B: Wir müssen aufrichtig sein.
A: Wir müssen den Schaden aus der Welt schaffen.
B: Wir müssen begreifen, dass der Schaden unermesslich ist.
A: Wir müssen die Schuld annehmen.
C: Ihr bereut alles?
A: Alles. Du nicht?
C: Ihr nehmt alles auf euch?
B: Rückhaltlos. Alles andere wäre das falsche Signal.
C: Eine Frage der Ehre?
A: Nein. Eine Frage der Scham.
C: Das finde ich gut. Das finde ich richtig gut.
B: Wir stehen das gemeinsam durch.
C: Das will ich hoffen.
B: Hast du Zweifel?
C: Ich vertraue euch.
B: Du vertraust uns?
C: Ihr macht das gut.
B: Ich verstehe deine Rede nicht.
C: Ich meine, ihr macht eure Sache gut.
A: Wir machen was?
C: Ich sage nur: Ihr macht das gut. Wenn euch das nicht gefällt: auch gut. Dann habe ich mich eben getäuscht.
B: So kommst du aus dieser Sache nicht raus.
C: Habe ich das gesagt? Habe ich das gesagt?
A: Klang gerade so.
C: Sucht ihr jetzt einen Sündenbock oder so?
A: Wieso das denn?
C: Ohne mich.
A: Du schließt dich aus?
C: Ich schließe nichts aus.
A: You son of a bitch.
B: Kennst du das?
C: Was meinst du?
B: Man hat nichts getan und fühlt sich schuldig.
B: Man fühlt sich am Pranger.
C: Man fühlt sich ausgeliefert.
B: Man kann nichts tun.
C: Man schämt sich so sehr.
C: Man kann tun, was man will, aber es ändert nichts.
A: Was soll sich schon ändern?
B: Gute Frage. Was soll sich eigentlich ändern?
C: Zum Beispiel will ich morgens aufwachen und wieder in den Spiegel schauen können.
A: Kannst du das nicht?
C: Nein.
A: Dann kauf dir einen anderen.
C: Das ist zynisch.
A: Das ist zynisch? Du meinst, das ist zynisch? Ich will dir etwas sagen: Was ihr hier aufführt, ist zynisch. Es ist zum Fremdschämen.
B: Wieso das denn? Ich verstehe Bahnhof.
C: Dann tu’s doch.
A: Was soll ich –?
C: Schäm dich. Würde dir gut bekommen.
B: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir stehen das gemeinsam durch.
A: Ohne mich. Ich steige aus. Ihr seid Heuchler.
B: Sind wir nicht. Wer gibt dir das Recht –?
A: Habe ich Recht oder nicht?
B: Natürlich nicht.
A: Dann beweist es.
A & B: Wir sollen was?
A: Ich sagte: Beweist es.
B: Das ist schamlos.
A: Dann beweise es.
B: Das ist irre.
A: Irre oder nicht. Bis zum Beweis des Gegenteils bleib’ ich dabei: Ihr seid Heuchler. Schämt euch!
C: Wir uns schämen? Wofür?
A: Habt ihr’s vergessen? Dann kann ich euch auch nicht helfen.
B: Wir brauchen deine Hilfe nicht.
C: Wir haben keinen Grund, uns zu schämen.
A: Schämt euch!
B & C: Unglaublich! Unerhört! Schmarotzer!
B: Schäm dich!
A verlangt, dass B und C Scham bekunden.
B bekundet Scham.
C greift A an.
A und B verlangen Maßnahmen gegen C.
A: Das verändert alles.
B: Wie meinst du das?
A: Das hätte nicht passieren dürfen.
C: Es ist aber passiert.
A: Du gibst es zu?
C: Ich gebe nichts zu.
A: Das ist ein Fehler.
B: Mit dem Zugeben ist es nicht getan.
C: Wie meinst du das.
A: Mir scheint, er hat es begriffen.
C: Mir scheint, du hast nichts begriffen.
A: Vielleicht mehr, als ihr denkt.
B: Bist du dir da so sicher?
A: Und woran denkst du?
B: Ich denke, dass ein radikaler Schnitt nötig ist. Man muss sich von der Vergangenheit lossagen.
A: Ihr solltet euch schämen.
B: Vielleicht hast du recht. Vielleicht geht der Weg durch die Scham. Ja, ich schäme mich. Ich schäme mich so sehr, dass ich denke, das hier ist nur ein wüster Traum.
C: Dann wach auf. Merkst du nicht, dass er mit uns spielt?
B: Ja und? Ich habe meinen Weg gefunden und ich werde ihn gehen.
A: Ich denke, du hast die richtige Einstellung.
C: Mir scheint, du hast einen Extra-Zugriff auf die Vergangenheit.
A: Ich habe meine Lektion gelernt.
C: Und worin besteht diese Lektion?
A: Komm runter. Wir sitzen alle in einem Boot.
C: Das du gerade zum Kentern bringst.
A: Das ich gerade zu steuern versuche.
C: Der große Steuermann! Mir kommen die Lachtränen. Wir sollen uns dir anvertrauen, stimmt’s?
A: Warum nicht?
B zu C: Die Scham hat eine reinigende Kraft. Du solltest dich schämen.
C: Ihr solltet euch schämen. Der Trickreiche und der Trottel. Ein schönes Paar, das ihr abgebt.
B: Das nimmst du zurück.
C: Ich denke nicht daran.
A: Das Spiel ist aus.
C: Im Gegenteil: Dein Spiel ist aus und wir alle gehen unserer Wege.
B: Damit wirst du nicht durchkommen.
A: Wir werden die Öffentlichkeit mobilisieren.
B: Wir werden dich fertigmachen.
A: Worauf du dich verlassen kannst.
der schwarze Fluss, der, deinem Blick entzogen,
nach Westen strömt, nimmt mit, was dir entfiel.
Wenn Leben tötet, dann geschieht es hier.
an den Stätten der hypermodernen /
Erregung, gespeist /
vom Millionen-Abfluss der Haushalte, aus /
Industrie=Einleitungen /
ohne Ende, ausgerollt über /
die graue Steppe: das Rinnsal.
Betonfurche, halb verwittert, das klaffende V der Verlierer /
umfängt die Flut und trägt /
sie fort, nur fort, denn im Fall der Fälle /
ist Fortsein alles. Fluss ohne Ufer, Fluss ohne Wiederkehr: so /
ist es nicht. 100 Jahre Industriekultur haben den Blick /
geschärft. Entsorgung ist alles. Entsorger säumen /
den Weg,
7 Kläranlagen, 7 Perlen im schwarzen /
Strom, vollbringen den täglichen Hokuspokus: Ab- zu Brauch- /
Wasser, Wasser zu /
Wein, Mein zu Dein und alles wieder von vorn.
Wer verliert, hat /
schon gewonnen.
»Quorks, Sie sind ein…«
»Vorsicht!«
»Wieso? Ist er kein Rechter?«
»Du sagst es.«
»So oder so, beschissen fühlt man sich immer.«
»Gezielte Regelverletzung. Fühlt sich besser an. Irgendwie.«
»Darum geht’s doch. Alles ist irgendwie.«
»Irgendwie Scheiße.«
»Scheiße mit Lust.«
»Scheiß drauf. Ich will leben.«
»Sag ich doch, Klugscheißer.«
»Hör endlich mit dem Scheiß auf.«
»Warum eigentlich? Die Scheiße hört doch nie auf.«
»Schon Scheiße, wenn einem so ein Scheißkonzept die ganze Richtung versaut.«
»Was meinst du jetzt damit?«
»Mit der Scheißverantwortung beginnt doch die ganze Scheiße.«
»Also das find ich jetzt…«
»Scheiß auf den Kompromiss.«
»Dann kotz es aus.«
»Darum geht’s nicht.«
»Frag mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil dich die Scheiße nichts angeht.«
»Das Ding issowas von Scheiße.«
»Sag ich doch.«
»Wenn uns der Scheiß um die Ohren fliegt, dann war’s das.«
»Ach nee. Und wem willst du das verklickern?«
»Das isja die Scheiße.«
»Also mach deinen Scheißjob und jammernich so beschissen rum.«
Und das meine ich scheißernst.«
Wie weit muss einer sich vorwagen, um als Freiwild zu enden?
Wie
studentisch gebärden Studenten sich, die ihre Professoren wie Freiwild vor
sich her scheuchen?
In welcher Tradition steht denn das?
Wie eigen ist
ein unermüdlich um sich selbst kreisender Hölzchen, der sich offenbar nicht für
gefährdet hält?
Darüber muss gestritten werden.
Wie heißt das Wort?
Tacheles.
Ja, sie sind wild…
wild entschlossen … Tacheles zu reden.Leckebusch bewundert den Großen Denunzianten
Steinschwafels
Double
Leckebuschs Hauspatriarch heißt, wie jeder
wissen kann, Steinschwafel. Er war’s, der Leckebusch an seine Fakultät geholt und damit all das ›verbrannt‹ hat, was unter anderen Sternen eventuell möglich gewesen wäre. Zwischen dem älteren
Steinschwafel (›ein Glücksfall für das konservative Establishment‹) und dem
Großen Denunzianten (›Vordenker der Bürgergesellschaft‹) herrscht ewige Fehde. Sie haben sie, in Sammelbände abgefüllt, der Welt zur Begutachtung vorgelegt und die akademische Welt studiert
ihre Kontroverse mit derselben Inbrunst wie, sagen wir, die zwischen
Cartesianern und Newtonianern im aufsteigenden achtzehnten Jahrhundert.
Der Dreh- und Angelpunkt
ZURÜCK INS GLIED!
Zwischenbetrachtung
Revisionist ist, wer den
Prozess der Zivilisation zurückdrehen willWer wen?
Wovon spricht dieser Mensch?
Zivilisation und Gesittung, sie
sind im Grunde eins
Revisionist ist, wer Güter durch Ideen ersetzen will
Zwischenbetrachtung
Revisionist ist, wer den
Prozess der Zivilisation zurückdrehen willWer wen?
Wovon spricht dieser Mensch?
Zivilisation und Gesittung, sie
sind im Grunde eins
Revisionist ist, wer Güter durch Ideen ersetzen will
Progress gegen Prozess auszutauschen bedeutet, der Vergangenheit (und großen Teilen der Gegenwart) den Krieg zu erklären. Wie erklärt man dem, was nun einmal vergangen und deshalb nicht mehr vorhanden ist, den Krieg? Ganz einfach, man stellt sich auf die Seite des siegreichen Prinzips. Aber das ist eine Tautologie! Wenigstens etwas in dieser Art. Denn entweder enthält sein Sieg einen zivilisatorischen Fortschritt, dann hat die Vergangenheit sich in diesem Punkte erledigt – Friede ihrer Asche! –, oder er wäre, unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Zivilisationsgewinns betrachtet, unerheblich oder sogar schädlich, dann bliebe, immerhin, noch der Machtaspekt als solcher: Hier und heute sehen wir die Sache so.
Ach, alles Mögliche.
Das wäre?
Elisabeth/Tronka: Geht das?
Für wen?
Für dich oder für sie?
Unter dem Gesichtspunkt…
Lüge. Alles Lüge.Merkposten
Sein Markenzeichen: oft (und gern) schießt er in solchen Fällen über das Ziel hinaus.
Aber die Tochter mag ihn, er
darf ihr den Kopf waschen, ihr Dinge sagen, mit denen ihr Mutter
›nicht kommen dürfte‹ etc.
Ist Tronka demnach ›brauchbar‹?
Teils –
teils.Black Box (1)
Kinder sind auch Erwachsene. Sie wissen es nur noch nicht.
Detail
eine gewisse Wahllosigkeit = Abwesenheit von
Stabilität bezüglich der einmal getroffenen Wahl.
Eine ›einmal
getroffene Wahl‹ zielt ja wohl auf das Moment der Dauer. Insofern
ist in der Sprache selbst die Dauer der einmal getroffenen
Wahl als Merkmal gegeben.
Frage
Ist das richtig? Nicht alles, was ›ersichtlich‹ so ist, hält
einer weitergehenden Betrachtung stand.
so sicher?Die Verbündeten (1)
… die tiefe, aus allen Poren strahlende Befriedigung, den
Kabalen der Fakultät entronnen zu sein und seine Professur erbeutet
zu haben, hat ihn aufgewertet, Elisabeth blickt auf ihn wie auf eine
gelungene Kreation, auf die sie ein wenig stolz sein kann. Stolz
wartet bekanntlich nicht, er ist schon da, wenn man beschließt, ihm
die Tür zu öffnen, er ist der Wunschinhalt, der dem Wunsch
vorangeht.
Kleiner Einwand
Wie kann einer froh darüber sein, ein Gefühl
der Befriedigung zu empfinden? Liegt hier nicht eine petitio principii vor? Und trotzdem geschieht es…
Im gedankengespeisten Universum der Gefühle ist immer noch Platz für
eine kleine Reflexion, vielleicht sogar Reflexion der Reflexion, es
muss ja nicht gleich ein Hochbau zusammenkommen, der einstürzen wird,
ist seine Zeit erst einmal gekommen. Die Verbündeten (1)
Befreiung wovon?
Von Pida?
Aber – oh boy – das ist
widersinnig. Jeden Tag kann er diese Befreiung haben, sofern ihn danach
gelüstet. Wozu die Zukunft einschalten? Nun … aus keinem anderen Grund als dem, dass sie die Zukunft ist, unifarben, groß-strahlend / groß-düster, dies aber, vielfädig, vielmustrig, allseits verflochten, Gegenwart. Kann man eine Gegenwart verlassen, die sich bis an den Horizont und darüber hinaus krümmt, ohne dass irgendwo ein anderer Grund, eine andere Lebensformation sichtbar würde? Offensichtlich nicht. Andererseits wäre zu fragen, woher gerade Pida die Macht zuwächst, als realissima diese Welt mit einem Heben der Braue zu dirigieren? Sehr einfach: darin besteht ja gerade das Mysterium der Nähe, das nicht dadurch außer Kraft gesetzt wird, dass sich die andere Seite der Nähe verweigert, denn offenkundig sind daran zwei Arten der Nähe beteiligt, die Verweigerung nimmt eine davon in Anspruch, während sie die andere, abgeschnittene, schmerzhaft, als Wunde sozusagen, offenhält: Es steht in ihrer (und nur in ihrer) Macht, den Schmerz zu stillen, und zwar von einer Minute zur anderen, in jenem ›Sogleich‹, aus dem die Psyche einen Großteil ihrer täglichen Energie bezieht. Wie ein wartender Patient, der sich in der Gewissheit wiegt, ›gleich‹ dranzukommen, während Stunde um Stunde verrinnt, in denen der Arzt, nur für Momente sichtbar, in unbegreiflicher Abgeschottetheit seinen Obliegenheiten folgt, weiß sich auch Tronka, nicht anders als ein misshandelter Esel, in einer durch alle Abweisung hindurchschimmernden Gegen-Gegenwart angenommen, denn schließlich könnte auch Pida sich jederzeit umwenden und gehen, es wäre sozusagen das Natürliche, denn schließlich hat sie die Leinen gekappt, doch daran ist, wie es scheint, nicht zu denken.
Die Verbündeten (2)
Black Box (2)
Das ist ein Fabeltier aus einem andern Land.Nachtgehölz
weil er auf ein Krebsgeflecht traf,
weil Tronka in jener Nacht, beglückt, aber weit entfernt von
jeglicher Euphorie, in den Schatten Fafners trat, des Unbesiegten,
von den Göttern zum Abschuss Freigegebenen, seiner kommenden
Aufgabe, die ihn hier als Unwürdigen vorfand und … brandmarkte.
Feuer? Wo ist Feuer?
Wer nicht weiss, wie ihm geschieht, wie soll der sich wehren?
hier liegt ihre große Schwäche. Hurtenmaus und Lieberschwang verwalten ein schweres Erbe
Warum diese beiden und und keine anderen?
Nomen est Omen
Doch
in diesem Fall…
Lobbock hat recht, findet er.
Duro der Fisch, schießt es ihm durch den Kopf, während die Mundwinkel sich rektifizieren. Kalt und wendig, mit Starrsinn, besser: Starrunsinn behaftet. Gleich nachher muss er es aufschreiben, man vergisst so vieles. Die besten Einfälle
bleiben auf dem Flur zurück, der sie ausspucken half.
Gerade kommt Argloser vorbei und Blowassers
Schatten, selbst er, kreuzt das Spiel der Vormittagssonne auf der innenliegenden
Wand.Nihil fit sine causa
Ein Flurkonvent mehr
Den Stab brechen
Wenn eine Gruppe von Menschen über einen der
ihren den Stab bricht – sei es, dass sie ihn aus ihren Reihen
ausschließt, sei es, dass sie von ihm verlassen wurde und
nachkartet –, dann bedarf sie dafür keiner Gründe,
jedenfalls außer den üblichen. Schuldig ist immer der Abtrünnige.
Einer fällt vom Glauben ab und ist schon gerichtet. Woran glaubt die
Gruppe? Zunächst und vor allem: an sich selbst. Wo Gruppen sich
zusammentun, da herrscht bereits Gemeinschaft, und sie herrscht dort,
wo sie schwer zu vertreiben ist: in den Köpfen.
Ist Streicher sympathisch?
Ist Streicher sympathisch?
Worin es besteht?
Keine Ahnung. Ist das
wichtig?Dossier-Sätze, das Subalterne streifend
Währenddessen kamen einige wenige, aber politisch einflussreiche Zeitgenossen
auf ihn zu, um ihn in ihre Mitte zu nehmen. Persönlich kennst du Streicher nicht –
Woher die Kunde?
Tilman D., Assistent bei Streicher, Studienfreund.
Kombination von David-Poster + Expander, damals nicht begriffen. Mann mit dem
ansteckenden Lachen. Wohin es ihn verschlagen hat? Wie sorglos du mit
Freundschaften umgehst.Kurz, eine der Zwischenfiguren, bei denen Wissenschaft rasch in ›performance‹
übergeht und oft genug aufhört, Wissenschaft zu sein, bevor eine jener ›überragenden‹
Leistungen vorliegt, die den persönlichen Ruf – und die damit einhergehenden Allüren – rechtfertigen könnten.
Aha!
Zwar taugt Streicher nicht ernsthaft zum Rädelsführer. Wohl aber ist er der Typ, dessen Nennung der Verschwörung einen Hauch von Plausibilität anhängen
könnte – zumindest in Kreisen, denen er als Hypertoniker erinnerlich ist und in
denen sich irgendwann einmal das aus dubiosen Quellen gespeiste Bild eines
konservativen Revoluzzers festgesetzt hat. Aus diesem und keinem anderen Grund dürfte er auf der vom Großen Denunzianten herausgegebenen Liste stehen.
Über Feindschaft
So betrachtet,
zelebriert der Große Denunziant Politik mit alten Hüten. Er fegt sie aus
Regalen, von denen man kaum noch wusste, dass sie existieren.
Dann ruft er »Hoppla!« und hebt sie auf. Im Aufheben, den
Staub von ihnen wischend, geht er aufs…
Die Generation Aber-das-wissen-wir-doch kämpft gegen einen
untergegangenen Feind. Er hielt Thingstunde in ihren aufbrechenden Herzchen, bevor er sich aus der Geschichte verabschiedete: with a bang not a whimper. Bekanntlich ist das Gemüt des kindlichen Menschen außerordentlich aufnahmefähig. Vieles geht
hinein, das sich später nur schwer wieder herausklopfen lässt. Auch der Große
Denunziant gibt sich zugeknöpft, kommt die Rede auf kindliche Prägungen.
Legendär sein Ausspruch in kleiner Runde: Hätte es mich so
gegeben, gäbe es mich heute so nicht. Das entfernt sich nicht
weit vom weniger brillanten Ich war das nicht. Allerdings wahrt es den
Anspruch auf die Integrität der Person durch ein dazwischengeschobenes
›so‹. Soll heißen, es war so, aber so war ich
nicht. Wer sonst? Streicher vielleicht? Soso. Aber damals lebte Streicher
noch gar nicht. Aha! Er also, er wäre so gewesen, hätte ihn nicht die ominöse Gnade der späten Geburt vor dem biographischen Webfehler
bewahrt. Nein, meine Damen und Herren, es existiert keine Gnade der späten Geburt, es darf sie nicht geben. Ergo ist Streicher, unser Streicher, der Feind.
Streicher lacht
Er hätte noch einen Vortrag ›in Vorbereitung‹: den kann er sich
dann wohl schenken. Von Zeit zu Zeit kommt er gern in die Pyramide,
es juckt ihn, das Häufchen alter
Kollegen wiederzusehen und ihre zwischen Vertrautheit und Bestürzung
umherirrenden Gesichter zu studieren. Vor allem aber genießt er die
Scheu der Jüngeren, aus deren Augen ihm das Bild des Großen Satans
entgegenblinkt: So also sieht er aus, der Herr der Tiefe, von dem
bekannt ist, dass er Zugang zu den höchsten Kreisen der Republik
genießt.
In diesen Tagen…
Hölzchens Anspruch auf Würde
Hat Hölzchen Würde?
Wenn ja, warum setzt er sie dann täglich aufs Spiel?zur
Erinnerung
Das Ehemodell ist (noch immer!) an dieser wie an vielen anderen Stellen selbsterklärend: Heiraten heißt, die Fassade der Unabhängigkeit zu errichten, ohne die, ganz traditionell, der heterosexuell geprägte Mann ein von seinen Geschlechtsgenossen kalt lächelnd beiseite geschobenes Leichtgewicht bleibt. Das wissen auch die Hetero-Feinde und deshalb intervenieren sie just hier.
Frauenverachtung und Frauenverehrung
Der apportierende Hölzchen, der hüpfende Hölzchen:
Mag sein, mag nicht sein.
Welche Maßnahmen mag sie ergreifen?
Gleichgültig welche: das Schema von Spannung und Entladung ist aktiviert.
das hier ist kein Spiel –
es ist eine Zwangsveranstaltung erster Güte: die häusliche Partner-Konstellation tritt zurück, vor ihrem Hintergrund entfaltet sich die Wunderblume der Freund-Feindschaft, des Wissens, zu welchem Haufen man gehört (dem großen) und wer nicht dazugehört, heute nicht, morgen nicht, nimmermehr – ein scharf umrandetes Wir kommt da zum Vorschein, nur noch sehr entfernt der verschwommenen Generations- und Forschergemeinschaft verwandt, der sich verpflichtet fühlt, wer sich einfach kein Leben im Abseits vorstellen kann. Eine Schmähgemeinschaft, die den Gegner im Leibe hat und daher weiß, wie er tickt, so dass sie die im Raum schwirrenden, nie ganz eindeutigen, nie ganz schlüssigen Bezichtigungen nach Bedarf und Belieben auffüllen kann. ›Nach Bedarf und Belieben‹ soll heißen: gemäß dem Wunschpotential gebundener Seelen, die es nicht nötig haben, erst in Bücher zu blicken, um zu wissen, was darin geschrieben steht und warum der Einzelne in der Pflicht steht, es mit allen Mitteln, verbal und nonverbal, zu bekämpfen.
Natürlich hat der Sozialismus auf seinem Weg unfassbare Massenverbrechen … keine Frage, darüber sind wir uns einig, darum kann es jetzt wirklich nicht gehen, Genosse Stalin, keine Frage, selbst Lenin, das ist gar keine Frage, wer meint, darum müsse es heute gehen, wo lebt der überhaupt? Nein, worum es geht, das ist doch die ganz einfache Frage: Lassen wir es zu, dass unser Bild der Epoche verwässert wird, bis alle irgendwie schuldig sind und die Urschuld – ja, ich spreche jetzt ganz bewusst so – die Urschuld liegt im Roten Oktober, weil dort alles anfängt? Kann das unser Bild der Epoche sein? Ich weiß, Solschenizyn behauptet das ja seit langem, aber wer ist Solschenizyn? Ein ehemaliger Sträfling, ein subjektiv Gezeichneter, ein verbitterter Mensch… Das ist seine Perspektive. Darf das unsere sein? Dürfen wir so reden? Ich meine: nein. Killus verlangt vom Historiker, er müsse objektiv sein. Also seien wir objektiv. Die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen sind nicht ableitbar, sie
sind singulär. Punkt, Ende aus, Schluss der Debatte.
Frage:
Hast du während deiner Zeit in der Pyramide einen einzigen Wissenschaftler kennengelernt? Sicher, die Frage klingt krass, aber einmal musst du sie stellen. Einen Wissenschaftler ohne Zusatz, allein der Wahrheit, das heißt seinem Forschungsgegenstand zugewandt und verpflichtet?
Die klare Antwort ist: nein. Sie alle, die Friedenwanger, Leckebusch, Starck, Hölzchen, Tronka, Dürrobst, Wassermann pflegen ihre Obsessionen, soll heißen, ein versteckter Groll, eine geheime Lebensschwierigkeit treibt sie um, lässt sie Botschaften empfangen, die andernorts ungehört verhallen würden, hier jedoch auf einen Hallraum treffen, der sie hundert-, ja tausendfach verstärkt und ihnen, wie verzwickt auch immer, eine gemeinsame Richtung weist.
Scheinbar gibt jemand wie der Rektor mit seinen tumben, zur allgemeinen Erheiterung dienenden Ansprachen sie vor, während er doch bloß den Anwandlungen des Niemandskollektivs Ausdruck verleiht, das in jedem von ihnen haust. Offenbar besitzt der Große Denunziant die Fähigkeit, mit diesem Niemandskollektiv unmittelbar zu kommunizieren, etwa so, wie ein Klavierspieler mit einem Konzertflügel Zwiesprache hält, den er nie vorher in seinem Leben gesehen, geschweige denn gehört hat, nur dass hier überhaupt kein direkter Kontakt vonnöten erscheint.
Damit kommst du zu der Frage (oder sie zu dir): Was machst du hier überhaupt?
Lässig steuert Streicher das Cabrio durch die kurze,
verkehrsreiche Straße der Eintracht. Mit seinen Gedanken weilt er im Lande Irrgendwo.
Die Massenbasis der Linken … lindgrün. Träume einer Sommernacht. Save the planet.
Die Propagandamaschine der Linken ist effizient, aber lückenhaft.
Wir können das besser.
Man müsste uns einfach nur lassen.
Einfach nur lassen.
Warum denn nicht?
Der Rest…? Eindämmungsprosa, containment prose … umwogt und umwoben vom
Vorwurf der Reaktion … wie viele Menschen im Lande mögen uns
hassen … der Sprache wegen … es gäbe sie gar nicht, sähe sich das Kapital nicht genötigt, den Attacken
seiner Kritiker mit abwehrbereiter Faust entgegenzutreten.
Nötigung … Nötigung … sie existiert vielleicht nur in den eigenen
Köpfen. Auf alle Fälle lohnt es, den Gedanken durchzuspielen.
Angenommen, ein Automobilunternehmen würde seinen gewaltigen
Werbeetat in gesellschaftliche Projekte stecken, die sich das Ende
des Ölzeitalters, die Wiederkehr des Lastenfahrrads und freie
Geschlechtswahl zum Ziel gesetzt hätten?
Was würde geschehen? Die
Begeisterung des Publikums fände keine Grenzen. Rauschhafte
Umsatzsteigerung! Rendite ohne Ende! Und eine düpierte Konkurrenz,
behaftet mit dem Makel alten, ganz alten Denkens, hoffnungslos
abgeschlagen, als hätte sie, wie seinerzeit der Ostblock, den
Übergang zur selbsttragenden Karosserie verschlafen. Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben.
Eine vorurteilslos geführte Wirtschaft, die Grenzen der
politischen Geographie sprengend, wäre vielleicht weniger darauf
erpicht, die notorischen Weltverbesserer an den Pranger zu stellen,
als sie für sich einzunehmen. Ein Jahrhundertsatz –
Auch Autofahren ist tödlich. Essen ist tödlich (Hungern auch).
Skifahren ist tödlich. Segelfliegen ist tödlich.
Schusswaffengebrauch … halt! Hier nähern wir uns dem Ende des
Paradoxons und es wird ernst. Spaß beiseite! Der Mensch liebt das in
allen Dingen schlummernde Risiko. Man muss es ihm nur bewusst machen.
Da liegt es nahe abzugreifen, was der Markt an Bewusstseinsdrogen
enthält, gleichgültig, für wen sie bestimmt sind und welcher Feind
damit nach Absicht ihrer Verkäufer markiert werden soll.
Und das wäre nur der Anfang.
Streicher kommt der Sache näher
Es gibt uns, weil es Interessen gibt.
Absolut gilt das nicht.
Die Überzeugungen weichen zurück, aber nur bis zu einem schwer
bestimmbaren Punkt. Danach nähern sie sich den Interessen
asymptotisch (›… kommen in der Realität an‹).
Das alte Spiel.
Entwirf ein neues.
Sobald die Interessen die Überzeugungen übernehmen, und zwar in
Bausch und Bogen, fällt der Anpassungsdruck von den Überzeugten ab und sie haben
frei, zu tun und zu lassen, was sie für richtig halten.
Falsch. Das besorgen die Interessen.
Die Überzeugten benötigen eine Funktion. Sie benötigen einen
Feind.
Wirf ihnen den Feind vor und sie stürzen sich in erbarmungsloser
Wut auf ihn.
Sie haben nur diese Chance.
Wirf ihnen jeden vor, der dir lästig wird, und sie werden diese
Drecksarbeit für dich erledigen.Drecksarbeit braucht Dreck
Der Dreck der bereinigten Interessen ist ihr Wachpersonal von
gestern. Vorneweg: die scharfen Hunde der Publizistik.
Bist du ein scharfer Hund?
Warst du ein scharfer Hund?
Hin und wieder. Das System hält das fest.
›Die bereinigten Interessen‹ … wie klingt das? Irgendwie sicher. Eine sichere
Bank. Gleich daneben, im Morast dümpelnd: die bad bank der faulen Kredite … das entsorgte
Glaubenssystem der Rechten. Haltbarkeitsdatum überschritten.
Weggekippt wie eine Ladung fauler Nüsse.
Drecksarbeit braucht Dreck.
Und wenn die faule Rechte irgendwann recht bekäme? Wenn der Weg des reinen Profits in den Abgrund führte? Wäre sie dann die neue Linke? Oder bloß eine Weltuntergangspartei mehr? Auf alle Fälle eine Partei zuviel im System, angespien von den Rechtgläubigen aller Fraktionen, man könnte ihr eine neue Staatssicherheit auf den Hals hetzen und die braven Bürger fänden es ganz normal.
Eigentlich erschreckend, wie wenig dich der Gedanke erschreckt.
Das Spiel, wenn es denn irgendwann gespielt werden sollte, wäre ein Spiel um den Abgrund: den Abgrund in dir, in mir, in allen, im System. Ja sicher, auch das System besitzt seinen Abgrund. Man kennt ihn nicht, noch nicht, er ist verschlossen und versiegelt, aber irgendwann tut er sich auf.
Am Ende verzehrt jedes System sich selbst.
Ist das ein konservativer Gedanke?
Oder ein rechter?
Bad thought.
Lutz, du bist ein Narr.
Eine in alle Richtungen ausgreifende Gesellschaft wäre –
spuck’s aus! – richtungslos.
Wie das Universum? Wie das Universum!
Eine solche Gesellschaft ist nicht vorstellbar.
Jede Gesellschaft nimmt eine Richtung.
Eine?
Viele.
Viele, die sich zu einer vereinigen.
Diese eine gilt es zu finden.
Was ist mit all den anderen Richtungen, in die sich die
Gesellschaft nicht bewegt?
Diese ungenutzten Richtungen, sind sie nicht existent? Nicht für
diese Gesellschaft?
Oder werden sie brutal ausgeschlossen?
Werden sie unterdrückt?
Welche Macht ist da zugange?
Welche Ohnmacht ist da zugange?
An dieser Stelle kommt das Tabu ins Spiel.
Das Tabu ist eine sanfte und furchtbare Macht.
Eine Macht wie keine andere.
Das Tabu verschließt den Abgrund.
Der Abgrund, das sind die versagten Richtungen.Aus Streichers Kladde
Was ist das Tabu? Die vergesellschaftete Scham.
Die Gesellschaft nimmt den natürlichen Gesellschaftsimpuls in
ihre Regie. Das nennt man Kultur.
Pack schämt sich, Pack verträgt sich: das gilt dann nicht
mehr.
Wer das Tabu verletzt, der ist draußen.
Je schamfreier die Gesellschaft, desto weiter – und mächtiger –
spannt sich das Tabu.
Bild: das Tabu als stählerne Kuppel über dem schamfreien Raum.
Sie schließt seinen Horizont und sichert ihn ab.
Der schamfreie Mensch ist der Mensch, der sich weigert, Tier zu
sein.
Schamfreiheit ist der Mehrzahl der Menschen unerreichbar. Doch die
Natur gestattet Ausnahmen. Erkläre die Ausnahme zur Regel und du
treibst alle anderen in die Lüge.
Lebenslüge Nummer eins: den natürlichen Menschen Lügen zu
strafen.
Die Schamfreiheit der Vielen ist der Tod der schambasierten Moral.
Das überantwortet sie dem Tabu und denen, die darüber frei
verfügen: den wirklich Schamfreien, i.e. den Schamlosen.
Schamlosigkeit ist eine Bizarrerie der Natur.
Unter der Kuppel sind die Schamlosen Führer. Sie weisen den
Weg.
Das nackte Interesse ist schamlos.
Ein Mann der Scham
Die Erfindung des Feindes
Die reiche Fracht des Bewusstseins
Die Hälften passen nicht
Fürs erste: er gibt sich würdevoll, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Das Vorbild Friedenwanger, obzwar negativ ›konnotiert‹, schimmert überall durch, vermutlich weil er, als falscher Platzhirsch, zwanghaft zum Vorbild nicht taugt.
Wer aber, sag mir…
Wer aber, sag mir…
Die Republik der Geister
Und glaubte kein einziges Wort
Wie zerstört man eine Republik?
Das Wort bleibt ihm zwischen den Lippen hängen. Argloser beobachtet ihn scharf.
Blowasser übt den kill switch. Die ultimative Form, Schweigen zu verhängen, während der andere fortredet. Doch niemand spricht. Nolens volens bewegt sein Mund sich weiter.Wassermann betritt den Raum
Belustigt, mit einem Gran Empörung in Blick und Stimme, hat er sie angeblinzelt, als sie ihn von ihrer neuen Lebensaufgabe in Kenntnis setzte. Elisabeth, an schneidende Ironie von seiner Seite gewöhnt, war überrascht und fast ein bisschen enttäuscht. Hatte sie in letzter Zeit irgendein Toleranzedikt übersehen, das ihn zur Mäßigung zwang? Mag sein! Sie kam nicht darauf und geht ihm seither unauffällig aus dem Weg, wobei sie mit einer sie selbst überraschenden Genugtuung die verstohlenen, bisweilen zu Fragezeichen sich krümmenden Blicke sammelt, die auf sie zu werfen er überhaupt nicht zu unterdrücken gedenkt.
Wassermann spricht
So also sieht sie aus,
Reden wir über den Bann.
Wir? Welches Wir fühlt sich da angesprochen?
Rundheraus geantwortet: Keines.
ein Fremdgedanke, ein Fremdkörper, ein Ball, mit dem er jetzt spielen
könnte, so wie er, als einstiges Mitglied einer Jugendmannschaft,
spielen gelernt hat: annehmen, dribbeln, abgeben, – so
denken Männer über Frauen, so sehen sie gelegentlich selbst die
eigene an, das soll vorkommen, das soll –
Mehr Luft!
Dass sie einmal knapp werden sollte…!
Wenn Wassermann ein Narr ist, was ist dann er? Ein Schelm. Du
sollst dich nicht vergleichen.Schulterzucken
Schulterzucken
Schlüsselangst
Wer nicht schweigen kann, muss reden
Vielleicht bist du Luft, vielleicht ist es dir bisher nicht aufgefallen, aber von dieser, gerade von dieser Person möchtest du es nicht erfahren.
Du erfährst es aber und musst dich dieser Erfahrung stellen. Wie stellt man sich einer Erfahrung, die einen annulliert?
Ganz einfach: man stellt sich neben sie. Wie stellt man sich neben eine Erfahrung?
Man spaltet sie ab. Das klingt kompliziert, aber es geht ganz einfach, zum Beispiel durch Negation: Nein, das meint sie nicht so.
Sie meint es aber so und irgendwann sickert die Information durch. Was dann? Ganz einfach: Nein, das … das bin nicht ich. Sie mag mich zwar meinen, aber der Platz, auf den sie deutet, ist leer. Ich jedenfalls halte mich dort nicht auf. Die Sache betrifft mich nicht.
Sie betrifft dich aber und irgendwann sickert auch diese Information durch. Was dann?Je später der Abend
Wiedumir
Er sagt: diese Frau behandelt mich wie Luft.
Er sagt es nicht so, aber er meint es so.
Wie behandelt man Luft?
Niemand behandelt Luft. Luft ist da oder sie ist nicht da. Nimm sie weg und es ist aus mit dir.
Also nimm dich weg.
Aber das ist flapsig gesagt.
Redet man so mit einem Freund?
Das kommt auf die Freundschaft an.
Inwiefern ist Blowasser Tronkas Freund?
Sie haben sich angefreundet – so, wie die Pyramide das zulässt.
Blowasser hat sich aufs Erraten spezialisiert. Da er Menschen berufsbedingt nur ausschnitt- und abschnittweise zu Gesicht bekommt, liest er Dinge in sie hinein, die er nicht wissen kann. Zum Beispiel war er sich eben noch sicher, über Tronkas sexuelle Orientierung im Bilde zu sein. Jetzt ist er schwankend geworden.
Leiden? An einer Frau? Das klingt ... befriedigend.
Nori
Killus die Fliege
Safe Space
Das Buch:
Was nun…?
Auch die Welt der Wissenschaft untersteht dem Gesetz der Ausnahme
Geschlagen, nicht gefangen
Befangen: Was ist das?
Unter Druck: Was ist das?Wider die rechte Republik!
Fussnote zum WeltgeschehenWider die rechte Republik!
Fußnote zum Weltgeschehen
(= Zeitgeschichtliche Dokumente XII)Hand aufs Herz –
Die Wahrheit, die reine, zutiefst verfängliche Wahrheit
Blowasser schweigt
Voilà, er hätte, sich an ihr versuchend, in Tronka
einen Seelenverwandten gefunden. Die einzige Überlegung, die Tronka
bewegt, falls er, selten genug, dem Komplex Killus einen Bruchteil
seiner kostbaren Aufmerksamkeit widmet, lautet: Können seine allzu
hochmütigen Gegner ihn widerlegen? Wie ist Killus zu widerlegen?
Alles, was der Große Denunziant in dieser Angelegenheit geschrieben
hat, ist Krepp – sorgsam geriffelt und pathetisch verklausuliert,
aber in seiner Machart leicht zu durchschauen, akademische
Wegwerfware, nüchtern berechnet auf die leichtgläubigen Gemüter
der Journaille, die noch seinen hinfälligsten Produktionen eine
perverse Aufmerksamkeit widmet, die, würde sie den wirklichen
Fortschritten der Wissenschaft folgen, eine andere Bevölkerung
zur Folge hätte, mit der in mehr als einer Hinsicht zu rechnen wäre,
während sie so immer nur eine leicht auszurechnende Größe auf dem
Schachbrett der Mächtigen bildet. Ohne Blitz und Donner
Eine Konferenz über Killus?
Aus Blowassers Aufzeichnungen
Unter den Graden des Ernstes ist der versonnene vielleicht nicht
der spannendste, aber derjenige, der den Anderen am ehesten an der
Entstehung eines Gedankens, weitab vom Kampf um Anerkennung oder
Durchsetzung, teilhaben lässt.
So weit, so gut.
Woran
entzünden sich Rachegelüste am einfachsten? Genau: am bereits besiegten
und am Ende durch die Gunst der Umstände dennoch siegreichen Gegner. Als Staat
ist das revolutionäre Russland besiegt, aber nicht als Revolution. Das
historisch kontingente Kriegsgeschehen setzt Lenins unwahrscheinliche
Chance frei und er nutzt sie, sagen wir, perfekt. Anders im
revolutionären Berlin, wo mit pathetischer Geste bloß ein paar
administrative Hebel umgelegt werden, nachdem der Kaiser abgerauscht
ist, aber eben doch nicht so sehr anders, dass nicht die revolutionäre
Bedrohung bliebe… Die deutsche Oktoberrevolution spukt, als
ausgebliebene, weiter in den Köpfen. Das ist ja tausendmal beschrieben
worden. Alles, was Killus im Detail auflistet, die Ordnungsbesessenheit
der Revolutionsfeinde, ihre Fixierung auf die Grausamkeiten der
Revolutionäre – bei völliger Ausblendung der Grausamkeit in den eigenen
Reihen –, ihr wachsendes revolutionäres Selbstbewusstsein, das nun
selbst einen neuen Staat fordert, aber einen, der den ältesten
Versprechungen des Staates endlich Genüge leisten soll, ist
einerseits als Reaktion verständlich, aber dieses Verständnis hinkt, es
hinkt in der Tat, wenn es nicht die in den Erschütterungen
aufscheinende Präsenz des Leviathan in Rechnung stellt, die eben höher
anzusetzen ist als alle Vernunft – höher oder tiefer, das gibt sich
nichts –, die formende, bewusstseinsverzerrende Gewalt einer
mentalen Tiefeninstanz, die im eingeregelten Staat sozusagen auf Eis
gelegt ist. Es ist ja kein Wunder, dass Schmitt in diesen Jahren so
besessen ist von Hobbes’ etwas nüchtern geratener Konstruktion des
Leviathan und dass er damit zum Star-Theoretiker der Rechten wird,
während die Nationalsozialisten gar nicht so viel mit ihm anfangen
können … wie sollten sie auch? Er nimmt ihnen ja mit seinen
juristischen Formeln die Butter vom Brot. So lange der NS revolutionär
bleibt, so lange bleiben die Rachegelüste des Leviathan in ihm
lebendig. Das soll ja, mit dem existierenden Staat als Beute,
zwischendurch etwas nachgelassen haben, nicht im Sinne der Humanität,
sondern im Sinne der Verrechtlichung des Unrechts, siehe Nürnberg ’35,
aber im Krieg, im Krieg ist der Fanatismus wieder gefragt, und zwar
über jedes bisherige Maß hinaus: er wird schließlich zum Instrument der
Kriegsführung. Das ist ja der Sinn des totalen Krieges. Der Teuschner-Effekt
Zwischenfrage: Sind deine Kollegen ›links‹?
Woher die Asymmetrie?
Sicher hat das politische Koordinatensystem, in dem deine Kollegen
sich bewegen, im Laufe von zirka zweihundert Jahren Erstellungs-
und Auslegungshistorie noch nie zu den zuverlässigsten gehört. Eine
Zuverlässigkeit, die sich an der Sitzverteilung der nationalen
Parlamente orientiert, kann naturgemäß nicht höher sein als die
des parlamentarischen Systems selbst. Sie orientiert sich (hübsches
Wortspiel, nicht wahr?) an seinen Höhen und Tiefen, am Schlingerkurs
der Nationen, um es nüchtern zu formulieren, denn Trunkenheit ist
das gemeinsame Erkennungszeichen aller Staatsschiffe, die auf dem Ozean
der Massenerregungen kreuzen.