Der Spalt, in einen ungesteuerten Fluss von Gedanken eingelassen: eine Reihe von gleichzeitig, als drehe einer an den Lamellen einer Jalousie, sich öffnenden Schlitzen lässt die Gedanken aufleuchten, bevor sie auseinanderbrechen, zerbröckeln, zerkrümeln und nach und nach aus dem ausscheiden, was du wie andere vor dir und neben dir ›Wachbewusstsein‹ nennst.
Erster Eindruck: sie leuchten auf und verschwinden. Zweiter Eindruck: sie klammern sich, um das Bild der Jalousie weiterzuführen, an die Lamellen und werden durch eine Kraft weggedreht, die eine Zeitlang mit sich verhandeln lässt, aber letzten Endes siegt. Angenommen also, es sind Gedanken – und Gedanken sollten es sein, zwingend auseinander hervorgehende Gedanken mit starken Anteilen von Wirklichkeit, so wie sie im Erwachen zergehen –, dann bezeichnet das als Aufleuchten empfundene Sich-Zusammendrängen den Augenblick, in dem sie zerfallen und zerfallend in ein Feuerwerk münden, also, um es drastisch auszudrücken, sinnlos verpulvert werden.
Die Figuren des Feuerwerks verblassen rasch und entschwinden … scheinbar spurlos. Aber nur: scheinbar. In einem leeren, noch unbestimmten Sinn bleiben sie weiter anwesend, bleiben für diesen Tag, vielleicht nur für seine ersten Minuten oder Stunden, jedenfalls lang genug, um dem Erwachenden eine Art innerer Orientierung zu geben, die durch die kraftvoll nach vorn drängende Ordnung des Raumes und der darin befindlichen Dinge rasch zurückgedrängt, doch nicht völlig beseitigt wird.
Sie bedeuten nichts. Mit ihnen zieht Bedeutung ein.
Loch. Hohlraum, verschlossener, unzugänglicher, verborgener, unvermutet zutage tretender, als störend, als widerwärtig wahrgenommener oder empfundener Nicht-Ort. Bresche. Instrument der Neugier, Blickfang. Möglicher, erweiterbarer, künftiger oder scheinbarer, Illusionen nährender Weg ins Freie, Ausblick auf was auch immer, leere Stelle, schwarze, versiegelte, glanzüberspielte Fläche mit fächerförmig auseinanderlaufenden Rändern, randlos also, aber nicht unbegrenzt, schwebender Fleck in der Landschaft. Es liegt dir vor Augen, es entzieht sich der Betrachtung und fordert sie heraus, es stellt sich dar, ohne dass du wüsstest, was sich so darstellt, ob es sich darstellt oder ob es sich nicht doch um etwas handelt, das einfach abwest, falls so etwas möglich sein sollte.
Bewusstseinskrater. Immer hast du gewusst, dass es das gibt, mehr als einmal hast du den Versuch unternommen, es zu beschreiben, aber ebenso oft hast du ihn unwirsch abgebrochen. Er ist eher klein, von unbestimmter Größe, er erweckt wirklich nicht den Eindruck, tief zu sein, eher flach, schwarz, mit einem flimmernden Rand, der überall auseinander strebt und nirgends in sich zurückläuft, er ruft Befremden hervor, gebremst durch die Überlegung, dass diese schwarze oder gleichsam schwarze Fläche nicht wirklich existiert, nicht in dieser Form und vielleicht überhaupt nicht. Es könnte eine Halluzination sein. Dazu könnte stimmen, dass es nur gelegentlich vor das innere Auge tritt, ohne dass du zu sagen vermagst, wann es das erste Mal geschah. Andererseits: Was taugt eine Hypothese, die eine wirkliche Unwirklichkeit zum Verschwinden bringt, indem sie ein Wort davorsetzt? Was bedeutet der Drang, die Öffnung mit einem Wort zu versiegeln?
Du ›besitzt‹ eine Vorstellung. Komischer Besitz. Er kommt mit, er ist überall dabei, aber er verblasst und bedarf der Auffrischung. Was immer du gesehen hast, in welches blinde Loch auch immer du gestarrt haben magst, du möchtest es wiedersehen. Nicht immer, nicht jederzeit. In gewissen Momenten scheint das Begehren dringlich zu werden. Doch auf Zuruf gelingt hier nichts. Das innere Auge folgt seinen eigenen Regeln. Es öffnet sich selten. Ist es immer da? Schwer zu sagen. Ist es überhaupt ›da‹? Komische Frage: wo wäre es sonst? Was wäre es sonst? Ein bloßes ›Bild‹? Eine Redefigur, erfunden, um darüber hinwegzuhelfen, dass keiner so genau weiß, wovon er redet, sobald er zu reden beginnt? Ein Auge zuviel? Ein Ärgernis für alle, die da glauben einfach zu sehen und sehen zu lassen? Ein vorgestelltes Auge, das eine Vorstellung gibt (schließlich ist es das Auge)?
(›Glauben zu sehen‹: Wenn das so einfach wäre.)
Ein Loch, sagst du, es macht sich bemerkbar (die Sache mit dem Auge legst du vorerst beiseite), kein wirkliches Loch, sagst du, kein Riss in einem Gewebe, der neue Oberflächen hervorbringt, keine Vertiefung, nichts ›Materielles‹. Woher weißt du das alles? Nichts von dem, was du vorbringst, ist gewiss. Nichts von dem, was du sagst, ist greifbar. Greifbar ist der geringste Teil der Welt. Der Rest bleibt ›ungreifbar‹. Das hier unterbricht die Vorstellungsreihe, die dein Sehen begleitet, anreichert, gliedert, belebt, verständigt – eine zweite Oberfläche unter der ersten, der gestaltbaren Oberfläche der Dinge, eine Fläche ohne Volumen, in das sich eindringen ließe. Ein Loch im Bewusstsein also, kein ›Filmriss‹, eher ›Teil des Films‹.
Einsicht? Wird nicht gewährt. Es entzieht sich. Wem entzieht es sich? Dir? Bist du dir sicher? Doch wohl nicht. Mit dir hat das alles nichts zu schaffen. Jedenfalls kommt es so bei dir an. Ist es überhaupt vorhanden? Schon, ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht (die ›Halluzination‹ spukt in deinem Hinterkopf). Wer weiß so etwas? Ist es ein Gegenstand? Etwas, auf das du jederzeit zurückkommen kannst? Offenbar nicht. Offenbart es sich also (von Zeit zu Zeit)? Offenbar nicht. Es fehlt die Eröffnung. Was dann? Es bleibt, was es ist: rätselhaft, ohne Rätsel zu sein. Irgendwann, auf einem langen inneren Gang, bist du ihm begegnet und seither verfolgt es dich. Ja, es verfolgt dich. Wie lange besteht es schon? Bestand es schon immer? Entstand es irgendwann, von dir unbemerkt, in einem Winkel deines Bewusstseins? Ein seltsames Bewusstsein attestierst du dir da.
Als wäre es eine Jacke, die früher oder später ein Loch bekommt.
Umschlossen vom Fluss, unzugänglich, als liege es außerhalb, zugänglich, als liege es innerhalb des Bewusstseins, selbsterhaltend inmitten der beständigen Unruhe, lose Pupille, vibrierend, als sei es im Nu verschwunden, als banne nur eine schnell vergehende Aufmerksamkeit es an diesen Ort: aber welchen? Eine Hohnfigur – so (und dann wieder anders) kommt es dir vor. Wer höhnt, wer (oder was) wird verhöhnt? Das scheint ›nicht ermittelbar‹. Diese Figur wurde nicht erdacht. Sie denkt nicht, aber sie saugt am Denken. Saugt sie es aus? Ja, in gewisser Weise: ja. Entzieht es dem Leben? Dem ›wirklichen‹ –? So wird es sein. Zu welchem ›Ende‹? Was endet, verlangsamt, verdünnt sich, sobald sie ihre Kraft ausspielt? Was beginnt, verstetigt, verstärkt sich? Was hält sich abseits, bleibt unbetroffen, macht weiter, geht weiter, als habe sich nichts...
Aber das ist doch...? Warum drehst du dich nicht einfach um?
»Ich könnte es, ohne Zweifel. Doch dann ... nein, ich kann es nicht.«
Was du ›Loch‹ nennst … du könntest es ebenso ›Verdickung‹ oder
›Knoten‹ nennen: Das sind bloß Wörter, sie tun nichts zur Sache. Nenne
es Sache, nenne es Vorstellung … warum nicht Vorstellung? Was spricht
gegen Vorstellung? Dass du dir nichts vorstellst? Dass es sich dir
vorstellt? Oder, je nach Vorstellung, gerade nicht vorstellt? Dass es
sich in der Vorstellung zeigt? Sagen wir: Eine Vorstellung hat sich
gebildet. Von Zeit zu Zeit wird sie vorstellig, ohne dass du dich um
sie bemühtest. Fällt dir nichts auf? Nein. Oder doch, halt, da sie
ungefragt wiederkommt: Die Frage bleibt. Welche Frage? Nun, die Frage,
die sie in die Wirklichkeit ruft. Muss sie gerufen werden? Aber sicher.
Gäbe es nicht irgendwo einen Mangel an Wirklichkeit, wie und wo sollte
sie sich zeigen? Nun gut. Muss es unbedingt eine Frage sein, die sie ruft? Das
ist selbstredend so. Der Mangel, im Bewusstsein angekommen, wird zur
Frage: Was fehlt? Da immer alles Mögliche fehlt, sollte sie lauten: Was
fehlt noch? Was fehlt noch immer?
Es ist der Mangel, der die Frage
formt, ihr Farbe verleiht und Gewicht. Diese Frage hast du
vergessen. Sie ist nicht verschwunden, noch immer ruht sie abgedunkelt
in dir, kräftig genug, um von Zeit zu Zeit die Vorstellung aufzurufen,
die dich beschäftigt und, gib’s zu, ein wenig beunruhigt. So rasch geht
man sich auf den Leim: »Suche die Frage, die dir entfallen ist!« Eine
Falle, kein Zweifel, mit Krallen auf allen Seiten.
Weiter kommt,
wer zurückgeht, soll heißen:
Eine Tasche leert die andere.
Wenn aber die Frage verschwunden ist, ohne verschwunden zu sein,
dann ist die Vorstellung, so wie sie sich zeigt, ein
Erinnerungszeichen: eine Mahnung daran, dass die Frage noch immer
existiert und es wert ist, sich mit ihr zu befassen. Was könnte sie so
ins Abseits gedrängt haben? Eine Gefahr, die von ihr ausgeht? Jede
Frage, richtig gestellt und unnachsichtig verfolgt, kann tödlich sein.
Du hättest sie also weggeschafft, um dich zu retten? Möglich wäre es.
Folge der Möglichkeit! Alles fügt sich, als sei es seit jeher wirksam
gewesen. Sei wirksam! Folge der Eingebung! Die Eingebung sucht keinen
Grund, warum auch immer: Sie sucht die Tat. Am Anfang war die
Tat. Dass hier eine Untat geschah, tief innen, wo die Blicke
sparsamer werden, steht bereits außer Frage. Fruchtbar muss sie gewesen
sein, denn die Erinnerung findet nichts dabei, einmal diese, einmal
jene Spur zu legen und so an Stelle der einen, absolut verlässlichen
Vergangenheit eine Vielzahl unterschiedlicher, vielleicht nur
unterschiedlich gefärbter Vergangenheiten aufscheinen zu lassen, in
denen das Loch, das möglicherweise eine Schwärze ist oder eine dunkle
Fläche, eine Verdickung oder ein Knoten, immer neue Umgebungen
dekoriert, ohne von seiner flimmernden Konturlosigkeit etwas
einzubüßen. Das ist zweifellos eine Leistung. Manche würden sie
schöpferisch nennen.
Du nennst sie: die verzweifelte Spur.
Du gehst der Frage nach. Wo führt sie hin? Was erfährst du über sie,
während sie dich führt? Spricht sie mit dir? Worüber spricht sie mit
dir? Über den Mangel, der dir durch sie bewusst wird? Besser wäre, sie
führte dich schweigend an den Ort der Tat. Doch das würde voraussetzen,
dass sie ihn auf irgendeine Weise enthält. Das ist
seltsam, denn sie ist, alles in allem, leer. Bekanntlich lautet die Frage: Was fehlt? –
Und? Was fehlt? Du weißt es nicht… Welche Untat kann sich so tief in
dich eingegraben haben, dass alles sie verdeckt? Sagen wir: eine
Niemandstat. Niemand hat dir angetan, was dir angetan wurde. Wurde dir
etwas angetan? Bist nicht du am Ende der Täter? Nein? Warum? Das
müsstest du wissen? Warum solltest gerade du das wissen? Frage das
Opfer! Bist du das Opfer? Du kennst die Tat nicht und willst Opfer
sein? Auf welchen Verdacht hin? Was fehlt dir denn? Wenn du nicht
wissen kannst, was dir fehlt oder was dir zugefügt wurde, wie willst du
dann Opfer sein? Andererseits: Nenne dich Täter und es fehlt die Tat.
Die Verwandlung einer Frage in einen Verdacht erschafft keine Tat. Also
doch Opfer? Du betrittst die Täter-Opfer-Welt und sie ist leer. Die
Leere täuscht: Diese Welt ist dicht. Die Täter-Opfer-Relation duldet
keine Leere, sie duldet keine anderen Götter. Wer nicht für sie ist,
der ist gegen sie. Wen sie nicht ausschließt, den schließt sie ein. Die
Tat ist Vorwand: Suche den Täter! Suche das Opfer!
Mysterium der Schuld: die lückenlose Beziehung (dichte Relation).
Die Welt zwischen Täter und Opfer (du bist nichts von beidem) ist dicht. Wie kommt einer wie du in sie hinein? Sehr einfach: überhaupt nicht. Es sei denn … du bist schon drin. Wie kann etwas drinnen sein und davon getrennt? Diese Frage beschäftigt dich. Ein Modell dafür wäre dein Körper. Steckst du in ihm? Dann komm doch heraus! Du bist schon draußen? Du bist ganz bei… was auch immer? Dann geh doch in ihn hinein! Siehst du, das kannst du nicht. Wie immer drinnen du bist, du bist draußen. Wie immer draußen du bist, du bist drinnen. Wäre also die Schuldwelt, deine Schuldwelt, so etwas wie dein sozialer Körper? Aber sie steckt in dir, tief genug, dass du sie kaum vors Bewusstsein bekommst. An ihr läge es herauszukommen. Sie müsste dich begreifen und du sie. Nichts davon ist der Fall. Nein, nicht sie ist der soziale Körper. Sie ist bloß … sagen wir … mit ihm verständigt. Worüber sind die beiden verständigt? Über dich. Wie verständigen sie sich? Ganz einfach: über deinen Kopf hinweg… Der Ort der Schuld ist die Horizontale. Probiere den aufrechten Gang und sie weicht. Nein, warte… Das ist bloß eine Phantasie. Eine Machtphantasie, machtlos wie irgendeine. Niemand steht gegen die Schuld auf, es sei denn, er wäre bereit, sich von ihr erdrücken zu lassen. Bist du bereit? Wo Täter- und Opferrolle vorab vergeben sind, da steigt die Schuld rasch ins Unermessliche. Warum? Die Schuld aller, von wenigen Privilegierten abgesehen, ist niemandes Schuld. Sie ist allgemein.
Zwei Räume: Du kannst die Tür zwischen ihnen in zwei Richtungen passieren. Welche Richtung du nimmst, steht dir frei. Das stimmt im Prinzip, aber nicht in der Realität. Da ist etwas, das deine Wahl beschränkt. Immer befindest du dich auf einer Seite, auf dieser, auf jener, wie es dir beliebt, du kannst bleiben, du kannst wechseln, dorthin meinetwegen, wo der Pfeffer wächst, aber die Frage bleibt: Willst du das? Willst du das wirklich? Gut, du willst auf die andere Seite. Gesagt, getan. Wird sie darum die deine? Und wenn sie es würde – durch Anpassung, durch Gewohnheit, durch Wahlverwandtschaft: Wo bliebe die Freiheit der Entscheidung? Bliebe sie mit der Entscheidung zurück? Ganz nach dem Motto: Geh durch die Tür und du bist ein anderer. Also komm mir nicht zurück.
»Ist das
wahr? Was, wenn ich zurückkäme? Bliebe ich dann ein anderer?
Würde ich dann ein anderer? Was bliebe von dem anderen, der
ich drüben gewesen wäre? Und wenn ich drüben bliebe, gefangen: Hätte
ich nicht die Freiheit zurückzukehren?«
›Sich die Freiheit nehmen‹ –
(Realismus sagt: Na und?)
Sprache schmerzt.
Die Welt der Schuld und der junge Morgen: Könntest du frei entscheiden, wofür würdest du dich entscheiden? Wäre die Entscheidung nicht immer gezinkt? Wie du dich auch entscheidest: im Hintergrund ist die Entscheidung bereits gefallen, so oder so. Sie hat nicht auf dich gewartet. Du lebst und du wirst gelebt. Und es geht weiter. Du möchtest dich für eine Seite entscheiden und die andere holt dich zurück. Du glaubst dich entschieden und es holt dich zurück. Du änderst deine Entscheidung und dir wird bewusst, dass sich dadurch nichts ändert. Deine Welt hat sich nicht geändert. Aber ist die Schuldwelt denn eine Welt? Darf man das: einen geschlossenen Raum voller Ungeziefer eine Welt nennen? Einen geschlossenen Raum, der so geschlossen nicht ist, dass er dich nicht einschlösse, während er dich radikal aussperrt? Der vielleicht nur durch Aussperren Sinn gewinnt? Was bedeutet ›Welt‹? Fürs erste nicht viel. ›Welt‹ ist ein Werbewort. ›Die Welt der Dreigroschenromane‹: Herein! Schon bist du drin. Eine Welt voller unbeglichener und nicht zu begleichender Schulden: Herein! Da blüht sie auf –
Du erwachst und das Unbehagen ist da. Nicht gleich, du erhältst
einen Vorlauf. Zeit genug, dich zu strecken und einzusetzen… Ganz
recht, erst musst du ›einsetzen‹, um da zu sein, um wirklich da zu sein:
ein Komfort, genannt Leben. Aber bevor du ganz da bist, erwacht der
Begleiter und blickt dich aus totem Auge an, blicklos, wie es sich für
seinesgleichen gehört. Nein, es gehört sich nicht, ihn auf der
Tagesreise zurückzulassen. Es würde nichts nützen. Es nützt nichts zu
sagen, du bist und er ist nichts. Es nützt dir nichts. Denn, um
ehrlich zu sein, du fändest immer jemanden, der dir versicherte: Da ist
nichts.
Das weiß du selbst ganz gut.
Nur das böse Wissen lässt sich nicht abspeisen.
Viele Leute würden das, was sich einstellt, sobald sie die Augen aufschlagen, ein Stück Wirklichkeit nennen: strahlend, handlich, rund, ungefüge, bedrohlich oder nur hingebuckelt gleich einer Schildkröte oder einer Katze, die gerade zu schnurren beginnt.
Besser notiert das Wort ›Ausschnitt‹, worum es geht: das Flirren der Ränder lockt die Wahrnehmung, an der (vorerst) so wenig Wahres ist, dass es die Rede kaum lohnt. Du liebst das Spiel der Lamellen oder betrachtest es mit kalter Aufmerksamkeit. Mehr noch liegt es dir, das Verschiebbare daran zu notieren. Was du siehst oder nicht siehst, was du empfindest oder nicht empfindest, es kommt annähernd auf dasselbe heraus.
Es ist beliebig... – nicht deswegen, weil es dir frei stünde, die Umgebung zu wechseln, eher schon, weil die Summe der Umgebungen, die du dir zuführen könntest, auch nicht annähernd ankommt gegen die unabsehbare Flut möglicher Umgebungen, denen es niemals gelingen wird, deine zu werden. Obwohl es zweifellos Umgebungen sind, von vielen wahrgenommen, vielleicht auch nicht, zukünftige womöglich oder unentdeckte, niemals in einem einzelnen Bewusstsein realisiert und womöglich nie zu realisieren.
Aber dieser Gedanke, der dich momentan besticht, ist bereits zu sehr Gedanke, zu konstruiert, um wirklich den Punkt zu treffen. Wenig an dem, was dich umgibt, ist ›beliebig‹, es sei denn, du beschränkst dein Wachsein aufs Konstatieren.
Und auch dann weißt du bereits: Etwas stimmt nicht.
Was fast beliebig ist, das ist bereits nicht mehr beliebig. Es ist zweideutig, beliebig-nicht-beliebig, ganz wie du selbst, nur ganz anders. So sehr es dich auch durchströmt, es ist und bleibt: das Andere. Nicht im Traum beschränkt es sich darauf, ›Umgebung‹ zu sein. Die Mühe, es darauf festzunageln, kannst du dir schenken. Wie erbracht so kassiert.
Die Art und Weise der unschlüssig flutenden Gegenwart, da zu sein, hat, jedenfalls dir gegenüber, etwas Nachlässiges, so als wolle sie zu verstehen geben, dass sie dir Sand in die Augen streut, einfach durch Anwesenheit, ohne jede Absicht zu verletzen oder zu täuschen, überhaupt ohne jede Absicht, aber deshalb nicht minder merklich.
Bewegst du dich, so verändert sich der Sinn der Wirklichkeitsrede.
Bewegung, selbst die kleinste, verlangt nach Orientierung.
Du stellst dir Raum vor, vielleicht nur für einen Moment, aber ohne Vorstellung ist nichts zu machen. Du musst wissen (oder eine Ahnung davon entwickeln), wo du dich befindest, in welchen so und so dimensionierten, so und so gegliederten Raum hinein sich dein Körper erstreckt. Du musst das Bild des reinen Gegenüber aus dem Rahmen lösen, es überhaupt auflösen, in eine gedachte Anordnung überführen, die Szene in den Blick nehmen, am besten ganz, das alles mit einem Blick. Dieser Blick entscheidet darüber, ob und wie es weitergeht. Bezüge öffnen sich in Raum und Zeit, was gerade noch bewegliche Vorstellung war, schwingt sich auf und lässt die Maske fallen. Gleich ist sie Ordnung, die dich bestimmt: Sieh hin, sieh doch einfach hin! Achtung Verletzungsgefahr!
Dein Sehen ist jetzt anders unterwegs. Es weiß (ja, Sehen weiß!), mutmaßt, bildet Hypothesen, führt Eindrücke zusammen.
Es hat sich von der Betrachtung gelöst und spielt mit.
Die zur Ordnung geronnene Vorstellung gibt Gedanken ein, Hintergedanken, Zusatzgedanken, Gedanken zweiter und dritter Ordnung, geeignet, eine Situation aufzufächern, Motivationen zuzulassen und zu blockieren, dein Anwesendsein zu vervielfachen und in wirkliche Gegenwart zu überführen ... obwohl ... obwohl sie doch auch wieder das Anwesendsein durchlöchern, mit einer, nein vielen Abwesenheiten durchsetzen, sich kreuzenden, sich überlagernden, die sich gegenseitig bedrängen und hier und da zusammenlegen, damit eine mächtig züngelnde Flamme entstehen kann, in der so manches verbrennt, was hätte wichtig werden können – in einer anderen Welt, in einem anderen, minimal-differenten Raum-Zeit-Gefüge.
Stell dir vor: Was da verbrennt, ist vielleicht ein Haus, ein Haus mit Garten, mit Katz und Hund, Klinkerbau möglicherweise. Doch jetzt, gerade jetzt ersteht vor deinem inneren Auge ein Mausoleum der nicht gelebten Familie, ein weißes Panoptikum mit Säulenportal, vom Chefarzt der Landschaft spendiert, hoch über den Niederungen des homo oeconomicus, in denen er seinem wenig Zeit fürs Privatleben übriglassenden Beruf nachgeht, flankiert von architektonischem Gerümpel, das wie Zunder aufgeht, aber unausgetragene Kostbarkeiten enthält, deren Vollendung es an verfügbarer Zeit gebricht, ganz zu schweigen von Mitteln. Was geht’s dich an. Du bist anders unterwegs. Gibst zu, dass es hier und jetzt nicht in dich eindringt.
Weder Täter noch Opfer.
Noch befangen in den einfachen Spielen des Bewusstseins.
Wie viele vor, neben und nach dir bist du erleichtert, dass ›deine Situation sich anders gestaltet.‹
Aber auch das: ein wenig bedrückt und nachdenklich, sofern Nachdenklichkeit an Stellen entstehen kann, an denen Wirklichkeit sich verweigert. Sie kann, sie kann es wirklich.
Es ist eines der Geheimnisse, mit denen sie sich umgibt.
Es ist nicht ungefährlich, es ihr entreißen zu wollen.
Überdies tückisch.
Differieren, ›auseinander-tragen‹ = die Daseinsbürde in unterschiedliche Richtungen tragen.
Besser wäre: sie gar nicht zu schultern.
Elegant wäre es, sie zu streuen, so wie Elstern oder der Wind im Park den Inhalt überquellender Papierkörbe streuen. (Eine Idee nur, der nichts weiter entspricht als das Raunen des Meeres in seinen Muscheln, von der Brandung unterlasslos übertönt.)
Verstreute Bürde = öffentliches Ärgernis = Last der Allgemeinheit, zurückfallend auf den Einzelnen (»Einer muss die Zeche zahlen.«)
Dasein ist anstrengend.
Das Differente, das Abweichende: ist es wichtig?
Ja, sehr.
Zunächst: Beachte den Faktor Zeit.
Das Differente ist eine Funktion der Bewegung, vergleichbar der Bugwelle eines Schiffes. Du verstehst: beiseite geworfen, aber nicht verworfen. Sprich, es bleibt erhalten, genauer: es bleibt dir erhalten. Es verrauscht in dir. Sieh dich in dir um und du erkennst: es ist da. Es säumt deinen Tag. Ein Tag ohne Saum könnte alles Mögliche sein, aber kein Tag.
Nicht die abstrakte Möglichkeit der Abweichung ist hier gefragt, sondern der Begleiter im Bewusstsein, auch anders zu können, nein, auch anders zu sein.
Nennst du ihn wirklich Begleiter? Das bleibt dir unbenommen. Es ist nur so… Gibt es Erinnerung an ein Ungelebtes? Das ungelebte Leben wäre demnach … dein Begleiter? Besser gesagt: Das Leben des Ungelebten? Welches Leben eignet dem Ungelebten?
Du stellst den Gedanken scharf und er verschwindet.
Du nimmst ihm die Schärfe und er tritt hervor.
Du nimmst ihm die Schärfe…? Wie geht das? Wie soll das gehen?
Das Ungelebte. Das Bewusstsein, erwachend, merkt trocken an: Es ist das Leben selbst.
Welche Sprache spricht das Bewusstsein? Nun ja: die Sprache des Bewusstseins. Diese ›Sprache‹ ist nicht ›distinkt‹. Was du gerade unscharfes Denken nanntest, ist vielleicht bloß das: sprechendes Bewusstsein. Es spricht dich ein, es ›bringt‹ dich ›ins Spiel‹, denn was du ›Leben‹ nennst, das bist du im Stadium des Spiels…: der … Unschuld.
Nein, nicht ›im Stadium‹.
In der Fülle dessen, ›was du sein kannst‹? Eher nicht. Eher in der Fülle dessen, aus dem du dich herausschälst, ohne dass es je ganz gelänge.
Stimmt das? Gelingt es ›teilweise‹? Auch das: eher nicht. Nichts gelingt dir. Mit einem Mal bist du, als lege ein Schalter sich um, präsent, eingespannt in die Koordinaten der Gegenwart, und du gehst deinen Weg.
Es ist die Jetztspannung. Sie bringt dich, sobald sie anliegt, auf Kurs.
Sprache der Unschuld: Du findest sie hier.
Der Raum geht der Zeit voraus, jedenfalls im Bewusstsein, als Raum-Sinn. Welchen Sinn hätte er sonst? Im Zwischenreich des ›Da‹, ohne da zu sein, ohne ganz da zu sein, erwachst du zu dir ohne Schuld. Wäre da nicht das Loch ohne Tiefe, jener locus conclusus, wer weiß, ob du dich zur Zeit bequemtest.
Schuld ist eine der Interpretationen der Zeit. Eine unter mehreren, wie dir scheint. Und dennoch: immer wieder fällst du auf sie herein.
Warum? Weil sie dir unheimlich ist.
Wie die Murmel dem tiefsten Punkt ihrer Unterlage entgegentrudelt, als werde sie magisch angezogen, so taucht im erwachenden Bewusstsein, tanzend und ungewiss, immer aufs Neue der tiefste Punkt auf, der es spannt. Warum? Wird es nur so dein Bewusstsein? Ist es das? Sind Ich-Sagen und In-der-Schuld-Stehen unauflöslich miteinander verquickt?
Andererseits: das Bewusstsein. Braucht es dich, um sich zu entfalten? Wenn ja: Muss es das denn? Muss es sich wirklich ›entfalten‹? Nichts muss. Es ist nur da.
Du warst gestern. Und heute … heute schon bist du der Welt etwas schuldig.
Vor aller Schuld: das Schuldbewusstsein.
Die Unschuld des Werdens ist eine physikalische Utopie.
So sieht es aus.
I
Nimm an, es stünde dir frei, dich als Sache zu verstehen, die sich wiegen, taxieren, ausstellen und, auf Umwegen, verkaufen lässt. Natürlich wäre das schlimm.
Es wäre das Schlimmste überhaupt. Denk nach. Jemand benützt dich, um ein Zimmer zu tapezieren. Er manipuliert dich, du bist Wachs in seiner Hand. Unmöglich? Jemand benützt dich als Werkzeug, um ein Verbrechen zu begehen. Er erpresst dich oder er bietet eine Summe, der du nicht widerstehen kannst. Beschließt du, nicht zu widerstehen? Nein! Du widerstehst nicht. Was bist du? Wachs in seiner Hand! Ist das keine Sache? Das gegebene Selbst wandert von Hand zu Hand.
II
Wirf eine Maschine an, gleich bist du ein anderer. »Eine Liege, schüchtern, erwacht in der Sonne.« Du nennst es Anfang und es gleicht aufs Haar der Inbetriebnahme einer Maschine. Nimmst du dich in Betrieb? Das bist nicht du, den du in Betrieb nimmst. Es ist ein anderer und wieder bist es du. Warum ist das wichtig? Weil es dir hilft, das Ich zu verstehen. Die ersten Schritte … was sind sie anderes als ein flüchtiges Blättern im Alphabet der Möglichkeiten? Der Schmetterling regt seine Flügel. Doch ehe er aufflattern kann, verblasst er, vergeht in dem bisschen Licht, das ihn umströmt —
III
Fang an! Aber wie? Du bist doch da. Was immer du anfangen willst, es ist schon da. Um einen Anfang zu setzen, musst du bereits unterwegs sein. Wie kann, in diesem Jetzt und in diesem Hier, beginnen, was nicht, von langer Hand vorbereitet, da ist? Du musst bereit sein. Es muss bereit sein. Woher die Bereitschaft? Du fängst an, einmal, zweimal, du misst die Distanz, du rufst Tag und Stunde herbei, du stellst den Wecker, du schreist sie an. Sie sollen vollbringen, was mit ihnen begann, den Anfang, der sich nicht einstellen will, um keinen Preis. Und sie ziehen vorbei, stumm, teilnahms-, gesichtslos. Ein Gesicht... das ist es doch, was du erwartest. Ein Gesicht, dir zugewandt, flüsternd, ein Zwiegespräch, das dich einsaugt, das dich beginnen lässt —
IV
Das erste Mal...: Die Menschen legen großen Wert darauf, zu erfahren, wann etwas zum ersten Mal geschieht. Sie halten sich für berechtigt, aus diesem Umstand Schlüsse zu ziehen (vermutlich, weil sie das vom Arztbesuch her kennen). Wer mag, darf sein erstes Mal aus den Eingeweiden des Gedächtnisses herauskitzeln. Dann meldet sie sich wie die hochfliegende Hand eines Schülers, der einen tief empfundenen Moment lang den Drang verspürt zu rufen: »Ich habs!« (Wobei, was er so fest zu haben glaubt, in eine Reihe von Mutmaßungen zerbröckelt, sobald man ihn aufruft. Warum ist das so? Bricht etwas mit der Serie, muss es sich aus den Vorräten maskieren. Der absolute Anfang besitzt kein Gesicht.)
V
Es ist so: Das Geheimnis des Anfangs besteht darin, dass er nicht auffindbar ist. Etwas im Anfang verweigert, was es doch gibt oder geben sollte: den vollen Anfang, den Anfang ohne Gewusst-wie. Das Gewusst-wie ist bereits da. Es wurde nur einen Moment lang gestaut, um sich anschließend umso hemmungsloser zu ergießen. Dennoch… Hier liegt hier das Reich der Entdeckungen. Jede Entdeckung ein neuer Griff ins Gewese, also ein Anfang. Apropos: Was hast du entdeckt? Nichts. Du bist in den Anfang hineingelaufen wie ... wie ... ein Kind in eine Kreuzung. Von allen Seiten: Gefahr. (Wie ihr entrinnen? Das kommt nicht als Frage, sondern als Erstarrung.) Alles, was längst begann, stürzt auf dich ein. Und seltsam, es rast vorbei.
Du hast keinen Anteil an dem, was geschieht.
Du hast keinen Anteil an dem, was nicht geschieht.
Du hast keinen Anteil an dem, was geschehen müsste.
Du musst einen Schnitt machen.
VI
Nicht der Anfang ist das Problem … auch wenn es so scheint. Bloß einfangen lässt er sich kaum. Nichts am Anfang ist neu. Oder: Was neu ist am Anfang, sagt dem Anfänger nichts. Weshalb er es glatt überschlägt. Er fängt an, das genügt. Sich anfangen: ausgeschlossen. Mit sich etwas anfangen: das kommt der Sache schon näher. Notiere Zeit, Ort, Zeichen. Sei zur Stelle. Vergiss die Zeichen nicht. Vergiss den Anstecker nicht, der dich kenntlich macht. Und dann: Tu irgendetwas. Bring dich ein. Leiste deinen Beitrag. Vor allem: Sei empfänglich. Empfinde tief das Wort: ›Aufbruch‹. Atme sie ein, die tiefe Befriedigung, Teil einer Menge zu sein. Bei alledem: Hüte dich. Aller Anfang ist schwer, sagen die Leute. Aha, die Leute. Sie sind schon da. Und wie sie da sind.
VII
Die in den Lamellen des erwachenden Bewusstseins verfranzten Figuren ergeben keine Situation. Nichts ergibt sich aus ihnen, nicht einmal … ein Anfang. Gerade gut genug sind sie, ihm die Enttäuschung beizumischen, kein Anfang zu sein. Ein jeder Anfang, signalisieren sie, ist beliebig: »Mach, was du willst! Tu, was du nicht lassen kannst!« Einer erwacht und die Welt ist in Ordnung. Schön wäre das. Weit gefehlt! Sie ist die Unordnung selbst, darauf wartend, geordnet zu werden. Wartet sie wirklich? Keineswegs. Resigniert angesichts dessen, was kommt, gerät das frische Bewusstsein ins Warten. Was kommt, ist die Situation, unausweichlich, unerbittlich fordernd, nichtsdestoweniger ... ein Danach, eine Rückkehr aus verstreuten Anfängen, aus allerlei Richtungen –
VIII
Mach, was du willst! Das bedeutet: ›Mach, dass du fortkommst!‹ Wer fortkommt, genießt das Leben, die reife Frucht des verlässlichen Heute. Wer fortkommt, verschwindet, um in seinem Anderen wieder zum Vorschein zu kommen und erneut zu verschwinden. Er wirft den Anderen aus – als Anker, Tentakel, Widerhaken: Er selbst ist Anker, Tentakel, Widerhaken. Er wirft sich fort, um ein anderer zu sein, um als ein anderer aufzutauchen, um sich im Anderen zu ›materialisieren‹, formbar und geformt. Nur so gelingt ein Selbst, singulär und auf der Suche nach einem zweiten, das ihm Einhalt gebietet und damit: die Verschmelzung –
IX
Verschmelzung ist möglich. Ja sie ist erlaubt. Vor allem: Sie ist schon vollzogen. Sie ist das Gegebene. Die Suche und ihr Ergebnis sind eins. Der reale Andere kommt da gerade recht, er kommt als Projektion, als Schemen auf der Leinwand des ausgeworfenen Anderen, ein Gegen-Wurf. Sobald das Selbst ins Wanken gerät, weil die Spannung nachlässt oder das verträgliche Maß übersteigt, wankt auch der reale Andere: Geh hinaus! Schließ die Tür! Doch er geht nicht. Er denkt nicht daran. Wer weiß schon, woran er denkt? An dieser Frage erkennst du das fremde Selbst. Erst im zweiten Selbst erhebt sich das erste und gewinnt ... was? Statur.
X
Die Figuren des Erwachens, sie bleiben, sie gehen nicht weg, sie gehen beiseite, vielleicht aus dem Weg, um nicht überrollt zu werden, aber überzeugend ist dieses Bild nicht. Gleichgültig, was du beginnst, sie wissen sich darin einzunisten. Der Tag bleibt Tag, ein Tag, um deutlicher zu werden, einer von vielen, das ist wahr, aber auch dieser Tag, der kommt und zu Ende geht, der ein Gesicht trägt, ein übersehenes, mag sein, ja natürlich, ein Übergesicht, das sich in allen Gesichtern malt, das aus Fratzen Gesichter zaubert. Alles ist – auch, irgendwie – Anfang.
XI
Wenn alles Anfang ist, was wäre dann Hölle? Leben ohne Anfang, ohne Tag-Bewusstsein, ohne Sonnenaufgang und -untergang, Leben in völliger Isolation und damit ohne Möglichkeit, sich zu entwerfen, Leben im Bewusstsein, nicht zu leben, verschachtelter Teil eines Bewusstseins, in dem ein Tag dem anderen gleicht, Kette ins Unabsehbare, Schrecken des Wirklichen, steigerungsfähig, durch Vernichtungsphantasien geisternd und sie positiv aufladend – etwas, das nie ganz weggeht, denn: Der Entwerter tickt.
XII
Wer die Hölle versteht, der versteht das Leben. Muss man es denn verstehen? Was sonst, wenn nicht das Leben? Man versteht Gesetze, wie man das Leben versteht – als Wiederholung, als Wieder- und Wieder-Heraufholen von Abgelegtem, als eine Art von Erinnerung, trocken, hart und präzise, aber auch weich und schwimmend, mit einem Unbestimmtheits-Horizont, der ›Interpretation‹ ermöglicht. Was wären die Gesetze ohne ihre Interpretationen? Sie wären – sag’s ruhig –: sie wären einerlei.
XIII
Vergiss nicht: Es sind die Regeln. Ihre Aufgabe? Das Einerlei verträglich gestalten. Gestalten, das ist das Wort. Nicht: Du kannst, du darfst dich an etwas halten, sondern: Du musst. Fast steht, wer sich an etwas halten muss, schon auf der sicheren Seite, vorausgesetzt, dass er dabei gewinnt. ›Gewinn‹ nennt sich alles, was Spielräume schafft und damit den Tag neu. Ein großer Gewinn lässt dich groß und stark erscheinen. Umso betrüblicher, dass auch er dahinsinkt wie andere vor und nach ihm. Gerade da kommt die Regel recht. Sie spendet Trost. Sie ist das Geländer, an dem so ein Tag hinausspaziert, sobald die Zeichen erst auf Ernüchterung stehen.
XIV
Kein Gesetz ohne Ausnahme. Das eben bedeutet ›gesetzt sein‹. Die Ausnahme als das Andere des Gesetzes postuliert ein höheres Gesetz, das die Geltung des vorhandenen aufhebt: Übertrumpfungsspirale ad infinitum. So folgt das Selbst dem Anderen wie das Auge der Hand. Es nimmt sich heraus. Was es sich herausnimmt, ist fast schon beliebig. Nur der Selbstbezug zählt. Ich ist alles, was der Andere darf. Solange der Andere alles darf, ist Ich alles. Es zählt nur nicht. Der Andere setzt dem Ich Grenzen. Nein, er ist das Ich, als Grenze gedacht. Wer sich zuviel herausnimmt, der kann’s auch lassen. Wie soll er es tragen?
XV
Du siehst den anderen Anderen, das Ich dahinter siehst du nicht. Deine Schwierigkeit: Er ist nie ganz der Andere des fremden, dir verschlossenen Ich. Von deinem Anderen gibst du immer dazu. Und seltsam: Dein Anderer wächst und gedeiht bei diesem Spiel. Du wirfst kühner und genauer, wenn du für den Anderen des Anderen wirfst. Nie bist du so dicht bei ihm wie dort, wo jeder Wurf zählt. Nie bist du so sichtbar wie in solchen Momenten. Sie nennen sie ›selbstvergessen‹, aber das stimmt nicht. Das scheinbar vergessene Selbst bleibt nicht zurück, es expandiert. Ein Anderes, das alle anderen mitnähme: Das erst wäre das Selbst, das zu bewahren sich lohnte. Doch was, bitte, heißt hier Lohn?
Bist du’s? Ja sicher. Was sagt dir, dass du es nicht sein könntest? Ein Gefühl? Und wenn schon. Ein Gefühl. Das Gefühl sagt: »Das soll ich sein? Warum sollte ich? Vielleicht sollte ich, doch der Grund bleibt verschleiert.« Auch das Gefühl bleibt verschleiert. »Ich bin mir nicht deutlich. Genau gesagt: Je deutlicher ich agiere, desto weniger sage ich mir. Nein, das ist zu genau. Nicht das Sagen ist das Problem. Es ist die Form, in die ich mich handelnd begebe.« Du magst diese Form nicht, du merkst, dass dir darin etwas abgeht. Die Selbstliebe leidet unter ihr. Lieber wäre es dir, die Sache wäre abgetan und vorbei. Im Geschehenen ungeschehen: Das klingt wie ›im Felde unbesiegt‹. Komisch vielleicht, seltsam auf jeden Fall, du kennst Leute, denen schwillt der Hals, wenn sie ›so etwas‹ hören. Ein geschwollener Hals: kein schöner Anblick. Nie bist du mehr: Du.
Bevorzugte Perspektive: das Danach.
Gebraucht, verbraucht, abgetan: was kommt dann? Dem Aufgebrauchten ist der Weg vorgezeichnet: der Sturz aus der Sichtlinie, in den Abfall, ins Nachher. Man sieht ihm nach (oder auch nicht) und es blickt zurück. Nicht viel, ein bisschen nur. Es ist, als habe es sich zuguterletzt zum Schielen entschlossen, nachdem es lange mit seinem Stolz gekämpft hat … ein wenig zu lange, denn nun … ist es zu spät. Vielleicht ist ihm jetzt, da die Wirren des Abschieds abklangen, nach Schielen zumute … das mag gut sein. Es ist das Rest-Verhältnis, das schielt. Jedenfalls kommt es dir so vor.
Es ist dein Blick, der dir sagt: die Welt blickt zurück. Daran kannst du nichts ändern. Es gehört zur Mitgift. Das Abgetane schielt, weil dein Blick es von der Schwelle weist.
Zigarettenasche auf deinem Anzug: unerklärlicher Anflug, Besucher aus einer anderen Galaxie. Unmöglich, Kontakt zu ihm herzustellen, es sei denn, du schnippst ihn in eine andere Ecke des Universums. Versuch’s. Dein Ausflug ins Asche-Universum: sinnlose Geste, Ausfluss einer Macht, die sich nicht erklärt. Was wie Allmacht aussehen könnte, atmet Hilflosigkeit. Macht, die sich nicht erklärt… Als käme es aufs Erklären an und nicht aufs Bekennen. Doch Hand aufs Herz: Was bekennt ein Bekennerschreiben? Außer der Täterschaft nichts, was nicht alle, die’s angeht, bereits langweilen würde. Ganz recht, es kommt aufs Erklären an, nicht aufs Bekennen. Wer sich nicht erklären kann oder will, der mag von Vitalität strotzen oder mit übernatürlichen Kräften begabt sein –: hier und jetzt geht er unter. Besser, er lässt seine Kräfte dort, wo sie hingehören, in der Verhaltung.
Verhalten leben, verhalten agieren, verhalten reagieren. Nachdenken dem, was dir geschieht. Es eher fort- als herbeidenken, weil es so durchsichtig ist. Das hilft zwar nicht immer, aber es ergibt sich von selbst, nach und nach. Im Nach-und-Nach steckt keine Absicht, und wenn sie darin steckte, käme sie nicht heraus. Alles kommt, als stecke nirgends Absicht dahinter, als diene es nur der Verwunderung. Was kommt als nächstes? Was kommt noch…? Die Entgrenzung der Nähe führt zur Entgrenzung all dessen, was sich ›zunächst‹ so und so verhält: zur Explosion der Verhältnisse. Du fasst es nicht. Ein Ungedanke, besser: ein Minimalgedanke, ein Notanker, ein Haltegriff, der sich anbietet, obwohl nicht ganz klar wird, woran er befestigt ist und welchen Rückhalt er im Ungewissen besitzt. Auch Explosionen reifen. Unter, aus, neben, über, inmitten der durch Verhaltung erzeugten Verhältnisse wächst ein anderes Leben, schattenhaft, schemenhaft, zeitverdoppelnd.
Denn eines ist klar: der Vergeudung von Zeit hier, ihrem langsamen, zähen Fluss, muss ein Sparguthaben auf der anderen Seite entsprechen, ein Zeitschatz, dem kein ›Carpe diem‹ etwas anzuhaben vermag. Muss, müsste, sollte, vielleicht – diese Reihe, wem wäre sie nicht geläufig? Was nichts daran ändert, dass sie sich weiterhin regen Gebrauchs erfreut. In Wirklichkeit verhält es sich doch so, dass jede Art von Zeitmanagement in eigener Sache, also bereits die rechenhafte Überzeugung, einen Lebensabschnitt zu verpassen, weil andere, auf ihre Weise zwingende Kräfte ihn verbrauchen, das System auf mittlere Sicht kollabieren lässt. Welches System? Das System ›Person‹. Es fällt in sich zusammen und: mit der anderen Seite, die plötzlich zum Konkurrenten um das knappe Gut Lebenszeit wird und, wie es scheint, immer gewinnt.
Nein, da bist du dir sicher: Lebenszeit ist kein Gut, keine ›Ressource‹, um die zu balgen sich lohnt. Ein Wesen, das jeden Morgen die Augen aufschlägt und jeden Abend mit anderen Gedanken zu Bett geht, um sie unwillkürlich gegen wieder andere einzutauschen, an die es sich am nächsten Morgen beim besten Willen nicht mehr erinnern wird, auch wenn es gelegentlich seinen Mitwesen und sogar sich selbst gegenüber diesen Eindruck zu erwecken versucht, sollte gegen die Versuchung immun sein zu glauben, es sei fähig, etwas zu versäumen. Stattdessen bleibt es nicht bei der Versuchung. Das Versäumnis kriecht über den Hügel herauf, in dessen Rücken es sich lange verbirgt, es erscheint flach, sobald es den Scheitelpunkt übersteigt, um sich von Moment zu Moment fürchterlicher zu erheben, bis es das ganze Leben überragt und –
Stehenbleiben, wo noch niemand stehenblieb: inniger Wunsch aller, die etwas Neues zu zeigen wünschen. Aber was, wenn es dort nichts zu zeigen gäbe? Wenn ihrem Eifer ein Gähnen antwortete? Die Angst existiert und sie überwiegt praktisch immer. Also trottet man weiter im Pulk der anderen und reckt sich, um den Finger höher zu heben als sie. Muss man denn zeigen? Muss einer anzeigen, was es zu sehen gibt? Natürlich nicht. Es gibt immer zu sehen. Heuchler nennen es das verborgene Leben und einen Schatz, zu dem nur Bescheidenheit verhilft. Dabei verschweigen sie eine Schwierigkeit: Wer sich bescheidet, der hat schon resigniert, er lebt in der Welt der Resignierten, er sieht mit ihren Augen, er sieht, was die Nicht-Resignierten auch sehen, aber nicht sehen wollen. Er fährt ihren Horizont ab, doch er erweitert ihn nicht. Darum bleibt seine ›Erkenntnis‹ schal. Es lohnt nicht, den Finger unten zu halten, solange es in ihm zuckt.
I
Noch einmal, zum dritten: Das Problem des Anfangs. Wie kommst du auf ihn zurück? ›Sich auf Null stellen‹ – welch ein Unfug! Die Lösung liegt im Augenblick. Der unterbrechende Wimpernschlag löscht das Bild und lässt es aufs Neue erstehen: von Augenblick zu Augenblick, von Äon zu Äon. Da macht es nichts, dass der Weg vom Auge zum Bild weiter ist, als das Bewusstsein es wahrhaben will. Das Bewusstsein, es hat seine Augenblicke wie das Auge selbst.
II
Das Bewusstsein überspielt den Augenblick mühelos. Einem, der ihm sagt: »Hier, dieser Moment, schau: jetzt ist er vorbei, unwiderruflich«, ist es noch nicht begegnet. Es würde ihn auch für einen Scharlatan halten, der es darauf anlegt, sein Gegenüber zu unterbrechen, es unsicher werden zu lassen oder, falls es den Trick schon kennt, seine unbedingte Zustimmung zu etwas zu ergattern, dem keiner leichten Herzens zustimmt. Das Ganze bleibt ein Trick. Etwas im Überrumpelten weiß es besser, weiß, dass die Gewissheit schal bleibt, weil sie eine Unterbrechung festhält, die sich nicht festhalten lässt, weil sie als Unterbrechung nicht in Erscheinung tritt, eher als vorwärts treibender Taktschlag.
III
Das Leben kennt vielerlei Taktschläge, ohne die es binnen kurzem den Dienst quittierte. Das Leben kennt sie, soll heißen: dem, der lebt, sind sie geläufig. Sie bereiten keinerlei Schwierigkeit, solange er sie genießt, um sie zu vergessen, schon vergessen zu haben, radikal vergessen zu haben: aufschwimmen können sie von alleine. Verloren ist, wer in sie einzutauchen versucht, um das Leben dort aufzusuchen, wo es zu Hause zu sein scheint.
IV
›Bloß leben‹ kann jeder und keiner. Wer es auf den Versuch ankommen lässt, dem nötigt er eine enorme Anstrengung ab. Nichts weiter sein ist nichts weiter als… ein Konzept. Am Anfang fällt es leicht, ihm zu folgen. Noch winkt es wie eine Art Erlösung. Doch schon versagen die Mittel und das, was sonst von allein geht, kommt aus dem Tritt. Ein Konzept will durchgesetzt werden: ›Folgsamkeit‹ heißt das Übel, wo es nichts zu befolgen gibt. ›Folge dem Weg‹ – das bedeutet auch und zunächst: ›Bedecke deine Blöße!‹ Etwas an sich zwingt das Bewusstsein, es – sich? – sich selbst zu überlassen, damit es zurecht kommt.
V
So scheint, so wird, so muss es sein. Erinnere dich! An Anlässen herrscht kein Mangel. Nein? Du erinnerst dich nicht? Nun, dann werden es wohl allzu viele sein, die bedacht sein wollen, die meisten davon mikroskopisch klein. Wollen sie bedacht sein? Das nun auch wieder nicht. Höchstens wollen sie, wie jeder tüchtige Arbeiter, in Ruhe gelassen werden. Wo immer gearbeitet wird, zeigt sich dieses Moment der Selbstüberlassenheit: Ein Bewusstsein, das arbeitet, findet den Weg allein. ›Störe mich nicht!‹ steht auf seiner Bürotür. Störe es und es kommt seiner Arbeit nicht länger nach. Sie läuft ihm davon. Und worin besteht diese Arbeit? Sagen wir, ohne weiter zu überlegen: Sie besteht darin, Störungen zu verarbeiten. Welch ein Widerspruch! Aber ein wirklicher? Eher nicht.
VI
Auch was von allein geht, verfügt über ein Selbst. Es liegt weder im Bewusstsein noch außerhalb. Es ist weder es selbst noch ein anderes: ein Schatten-Selbst, das sich auflöst, sobald es genötigt wird, für sich zu zeugen. Man könnte es, versuchsweise, ›Anfang‹ nennen. Warum denn nicht? »Fang an!« Schon geht es dahin. Oder es geht nichts, der Appell anzufangen und der, den Anfang zu denken, verheddern sich und blockieren einander. ›Fang an!‹ heißt in Wahrheit: ›Fahr fort!‹ Einem Impuls zu folgen, der schon da ist, den Leitfaden auszuwickeln, der darin liegt, und ihn tatsächlich zu benützen, das sind Stadien eines wirklichen Anfangs, eines Marathons gegen die Trägheit, jedenfalls scheint es dem Trägen so. Trägheit, das wäre: dein krankes Selbst.
VII
Was nie begann, das findet zu keinem Ende. Das Leben macht da keine Ausnahme. Für Hänflinge war und ist das fast so etwas wie eine frohe Botschaft. »Ich habe noch gar nicht gelebt, warum sollte ich sterben – gerade jetzt?« Aber ohne Anfang zu sein und nicht gelebt zu haben, das sind zwei Paar Stiefel. Gerade den Anfanglosen verlangt es nach einem Anfang und sei es der Anfang vom Ende. Es verlangt ihn, damit ist alles gesagt. Gerade ihm wird der Anfang zur Passion. Ein guter Anfang verdeckt das Ende, das in ihm steckt. Das weiß der Anfanglose und hütet sich. Zu gut gehütet: Wer nicht zu enden weiß, der endet stückweise hinter dem eigenen Rücken, hinter dem Rücken der Familie, hinter dem Rücken der Freunde, hinter dem Rücken eines vagabundierenden Bewusstseins, das gleich Bescheid weiß. Er stirbt, gib’s zu, aus einem Mangel an Selbst. Oder, da ein solcher Mangel schwer vorstellbar, an der penetranten Flüchtigkeit seiner Anfänge.
VIII
Ein lebendiger Gedanke verfügt über Anfang und Ende. Er ergreift das Bewusstsein und verlässt es im Ungewissen darüber, woher er kam und wohin er geht. Diese Ungewissheit ist Unruhe, erzeugt durch Spannung, wie sie nun einmal zwischen Gedanken herrscht. Bewusstsein ist Ungewissheit, die Gewissheiten produziert, um sie zu verwerfen. Gewiss, dieser Gedanke hier leuchtet ein, man kann ihn denken, das heißt mit Gewissheit aufblasen, bis er platzt. Wie war nicht gleich der Gedanke? Warte, ich wiederhole ihn, ich hole ihn zurück, aber... ist er derselbe? Ist er wirklich ganz derselbe? Etwas fehlt, es fehlt die geplatzte Gewissheit, also fehlt etwas am Gedanken und ich ergänze es. Wodurch? Durch einen Zweifel, eine Nebengewissheit, welche die fehlende Hauptgewissheit ›in Frage‹ stellt, ins Licht des Zweifels, in einen Zusammenhang, der mir ›nicht bewusst‹ war, als jener Gedanke in mir zur Gewissheit reifte. Also: Ist er derselbe? Warum sollte er derselbe sein? Weil er nach Wiederholung verlangt? Warum? Weil er ein Gedanke ist? Was ist ein Gedanke? Ein vertrocknetes Stück Gewissheit, an dem du lange zu kauen hast?
IX
Umkreise diesen Gedanken.
Versuch ihn zu wenden.
Wende dich ab.
X
›Alles ist immer.‹ ›Es gibt kein erstes Mal.‹ Sätze, die nach dem Widerspruch rufen: ›Nichts ist immer!‹ ›Es gibt immer ein erstes Mal!‹ Unfug des Denkens, Freiheiten, die es sich nimmt, um sie stehenden Fußes zurückzunehmen, Gesten, deren Welthaftigkeit sich daran erkennen lässt, dass sie Streit provozieren: Streit ›um nichts‹, soll heißen: um kein Gut, das wegzuschleppen sich lohnte, also Streit pur, aus Lust, aus Verzweiflung, aus dem tief sitzenden Wunsch heraus, zu wenden, was ist, weil es so geworden ist, so und nicht anders, wo es doch bitter nötig wäre, das Anderssein. So setzt du in dem Ausdruck ›kein erstes Mal‹ einen dicken Strich unter das ›ein‹, wodurch das Wort plötzlich eine Art Kainsmal trägt. Ein trübes Wortspiel, das dich daran erinnert: So leicht kommst du nicht davon.
IM ZEICHEN DER MOTTE
›Sei bewusst!‹ – ›Sei dir bewusst!‹ (oder
›deiner‹?)
›Ich bin mir bewusst, dass es x gibt.‹
›Ich bin
mir bewusst, es gibt X.‹
Soso. Du bist dir bewusst.
Wenn dich dein Auge ärgert reiß es aus.
Wenn dich dein Bewusstsein ärgert…
Empirische Erlösung: ›es‹ besser wissen als das Bewusstsein…
Die Weltverdoppelung im Bewusstsein, nein, durch das Bewusstsein (denn nicht im Bewusstsein erscheint sie doppelt), sie ist das Ärgernis. Sie ärgert so sehr, dass irgendwann das Bewusstsein, maskiert als fromme Ergebung oder als Neurophilosophie, beschließt, sich als Falsifikat zu enttarnen, als Selbsttäuschungsapparat des Organismus, um sich mit diesem Rundumschlag von seinen Leistungen zu entbinden.
Nein, wirklich? Was zum Teufel ›leistet‹ Bewusstsein Schlimmes?
Bewusstes Sein, bewusste Wahrnehmung, bewusstes Handeln: Leid.
Wenn also Bewusstsein Täuschung wäre, wenn es buchstäblich nichts leistete
außer der Vorspiegelung, etwas sei, wenn seine sogenannte Leistung bloß darin bestünde, sich (!) physisch vorzutäuschen und der vollendeten Ignoranz ein seltsames Kribbeln zu verschaffen, dann…
… ja dann leistete die bewusstlose Welt sich einen kontrafaktischen Spaß und die wissende Wissenschaft leistete nichts.
Sei unbesorgt: die Motte frisst sich durch.
IM ERNST
Kann man Bewusstsein bestreiten?
Man kann alles bestreiten. Warum nicht Bewusstsein?
Warum ›Bewusstsein‹? Warum nicht ›Schaltung‹?
Niemand muss Bewusstsein bestreiten. Es genügt, es zu konstruieren.
Also gut: Bewusstsein ist ein Konstrukt.
These: Schaltung erzeugt Bewusstsein.
Frage: Wie erzeugt Schaltung Bewusstsein?
Antwort: Schaltung
erzeugt Bewusstsein. Und immer so fort.
»Wir‹ gehen mal kurz aus dem
Bewusstsein heraus und sehen nach, was auf der anderen Seite passiert.
Dann gehen wir wieder ins Bewusstsein hinein und schauen, wie es dort
ankommt.«
Wie ›schauen‹ wir? Nun, wir befragen es.
Kann man
Bewusstsein befragen? Natürlich nicht. Du kannst Person X befragen,
aber nicht das Bewusstsein.
»Klemme die richtigen Leiterbahnen zusammen und es entsteht: Bewusstsein. So einfach ist das.«
DANN KLEMMT MAL SCHÖN.
Und wenn es nie die richtigen sind?
Dann passiert eben nichts und die Jagd geht weiter.
Soll heißen: Die Hypothese bleibt leer.
Das ist die Klemme.
Jawohl, mein Leerer.
Aber lag nicht da die Frage? Wohin diffundiert die Frage, sobald
die Antwort ausbleibt? Selbst wenn es in ›unserer‹ Macht stünde, ›es‹ (sic!)
›entstehen‹ zu lassen: welche ›Mächte‹ müsste diese ›Macht‹ bewegen?
›Entstehen‹ nicht all diese Mächte im Bewusstsein? Wo, wenn
nicht dort? Ist ›Entstehen‹ keine Vorstellung? Gibt es eine Vorstellung ohne
Bühne? Gibt es Gedachtes außerhalb des Denkens? Gibt es
Gedachtes ohne Gedanken? Gibt es also Gedachtes dort, wo es kein
Gedachtes gibt?
Was für ein Theater.
ALLES THEATER!
Was wäre Bewusstsein, wenn nicht seine Gedanken?MOTETTE
Im An-der-Zeit-Sein steckt das Problem.
Welche Instanz entscheidet, was an der Zeit ist?
Nichts ist an der Zeit, solange noch alles denkbar ist.
Wenn nichts an der Zeit ist,
dann eben nichts. Denken braucht Anlässe, Sensationen, Situationen.
Wo nichts los ist, verliert es Grund, Folge, Zusammenhang, sich
selbst, alles, und es gewinnt: nichts.
Der Übergang vom Nichts zum Etwas liegt im
Denken, im Nachdenken, um genau zu sein, und damit im Nachhinein. Was
an der Zeit ist, entscheidet das Nachhinein. Daraus folgt: Alles ist
an der Zeit, solange noch Zeit ist.
Alles oder nichts.
Nichts ist an
der Zeit außer dem Erfolg.
An der Zeit sein heißt: erfolgreich
sein, sich durchsetzen.
Vielleicht auch nur: folgenreich sein.
Verschwindet darum, was keinen Erfolg hat? Versickert es, wie manche
meinen? Welcher Grund nimmt es auf? Was geschieht ›im Untergrund‹?
Die unterirdischen Adern, die keiner sieht, es sei denn, er grübe
nach: Sind sie weniger wichtig als der Fluss, der sich gewichtig ins
Tal wälzt? Sind sie weniger real?
Sie sind namenlos, das ist
wahr. Sie täuschen die Welt über sich selbst, jedenfalls das, was
sich für die Welt hält. Was ist alle Welt gegen die Welt?
Ein Bruchteil? Nein, ein Rinnsal. Was folgt daraus? Es gibt kein
Wissen, das nicht an der Zeit wäre. Die Welt ist kein Bus, der
einige Passagiere mitnimmt und andere nicht. Gibt es eine Bewegung,
so gibt es alle.
KUGELN IM SCHRANK
Bewusstsein ist immer: von allem.
›Einer Sache bewusst sein‹ bedeutet nicht, dass diese Sache mich ausfüllt.
Es bedeutet: Diese Sache okkupiert mich. Im Extremfall: Ich bin von ihr besessen. Es ist das Übermaß an konzentrierter Aufmerksamkeit, das Staunen (oder Ärger) hervorruft.
Ein kleiner Geist ist schnell okkupiert.
Ein großer Geist lässt auf etwas Großes schließen.
Jedes Etwas, das vom Bewusstsein ›Besitz ergreift‹, formt alles andere nach seinem Bilde. Es gewichtet neu. Es lässt ›in einem anderen Licht erscheinen‹. Es ›färbt ab‹. Das mag im Einzelfall lästig sein, aber es ist nicht zu ändern. Es ist die Grundlage aller Klugheit.
›Klug‹ nennst du den, der analysiert und die ›richtigen‹
Schlüsse zieht.
Die richtigen Schlüsse zieht, wer zur rechten Zeit in
Betracht zieht, was alles sich auch ändert.
Nichts tritt ins Bewusstsein, es sei denn an
einer Stelle, also eingebettet in anderes. ›Da ist dein Platz!‹
Wo Platz ist, da ist Perspektive,
wo Perspektive ist, da herrscht Alternative, wo Alternative herrscht,
da löst sich das Ganze vom Hintergrund und wird Konzept.
Klug ist, wer das Ganze im Auge behält. Man könnte auch sagen: Klug ist, wer
sich (auch) täuschen kann.
Der Unkluge kann sich nicht täuschen, er ist schon getäuscht und laboriert von
Täuschung zu Täuschung. Der Teil ist ihm alles.
BIST DU KLUG?
Gute Frage, nie gestellt.
Plötzlich ist sie an der Zeit.
Was heißt ›plötzlich‹?
Plötzlich heißt: du zählst jetzt zu den Bewohnern der Pyramide.
Ist dir bewusst, was Leben in der Pyramide bedeutet?
Was es mit deinem Denken macht?
Was es aus deinem Denken macht?
Ganz sicher: Es wird dein Denken verändern (vielleicht tat es das bereits).
Sie wird dein Denken verwerten. Daran musst du dich jetzt gewöhnen.
Seltsames Gefühl: Ist die Pyramide an der Zeit, dann bist du
es auch.
Ihr Erfolg wird auch der deine sein (ihr Misserfolg auch). Er wird dich hochtragen (oder drücken).
Wenn sie untergeht, dann wirst auch du untergehen. Es sei denn, du machst dich
rechtzeitig aus dem Staub.
Auch das weißt du: Dein Denken, wie jedes
andere, ist an der Zeit, solange du deine Zeit nicht vertrödelst.
Und selbst dein Trödeln, es bliebe Teil dieser Zeit.
Du bist Teil eines Systems, du bedienst ein System, aber in ihm
aufgehen musst du nicht. Das System ist nicht du und du bist nicht das
System.
Das System ist nicht das Ganze und du bist im Ganzen. Das
Ganze ist nicht im System, aber es ist in dir.
Das System ist bewusstlos und du bist es nicht.
Hättest du bloß Erfolg (vorausgesetzt, die Pyramide wird ein Erfolg), wärest du
Teil des Systems und sonst nichts.
Preise den Misserfolg, preise ihn im voraus,
denn er attestiert dir: ›Hier ist ein Mensch.‹
Du wirst nicht
wissen, ob du klug bist, und niemand wird es dir sagen können. Genau darin
besteht die Möglichkeit der Klugheit. Jedenfalls muss sie dir soweit genügen.
TU DIR DEN GEFALLEN
Suche nicht den Rausch, suche nicht die Erfüllung.
Suche den Erfüllungsgehilfen und du wirst fündig.
Kein Rausch kommt von ungefähr, auch kein Gedankenrausch. Um dich zu erfüllen, braucht jeder Gedanke, vom billigsten bis zum teuersten, starke Verbündete. Er braucht sie in dir, außer dir, hier wie dort.
Das Bedürfnis, seicht oder tief, gibt den Türöffner. Doch mach dir nichts vor, es lässt nichts herein, was nicht schon drin wäre. Er muss bereits da sein, der Gedanke, der dich erfüllen soll, unauffällig, wie sonst, er muss deine Temperatur besitzen, dein Temperament, deinen Grad an Torheit. Er darf nichts Abstoßendes für dich haben. Oder doch? Steckt hier der Helfer? Etwas leise Abstoßendes, Auslöser eines Missbehagens, das dich lange veranlasst, ihm keine Beachtung zu schenken...
Keine Beachtung ‒: da liegt der Schlüssel zur Sensation. Na endlich: Der Groschen ist gefallen. Halleluja. Für einen Gedanken lange gebraucht zu haben, stattet ihn mit Bedeutsamkeit aus, gibt ihm eine innere Würde, gegen die nichts Äußeres ankommt. Er ist Beute. Könnte es sein, dass du etwas langsam von Begriff bist? Umso besser für dich. Deine Gedanken sind kostbarer als die anderer Leute.
DER NAME DER MOTTE
Dass Gedanken ›in der Welt‹ sind, dieser Gedanke wird dich immer mit
Staunen erfüllen. Sie laufen ja nicht auf der Straße herum. Schon ihre
Druck- oder Textgestalt verwandelt sie in etwas radikal Anderes. Dabei
gibt es nichts, was selbstverständlicher wäre.
Deine Gedanken sind, wie
alle, Jedermannsgedanken. Jedem steht es frei, sie zu denken (oder stünde
es frei, vorausgesetzt, er befände sich in einer Lage, die der deinen – aufs
Tüpfelchen! – gleicht).
Was immer von Anderen gedacht und mitgeteilt
wird, irgendwie wirkt es vertraut. Diesen Gedanken habe ich nicht gedacht?
Woher wüsste ich das, hätte ich ihn nicht gerade in diesem Moment
gedacht? Er erschien mir neu… War er es deshalb auch? Vielleicht
hat er dich in diesem Moment nur geblendet. Den Rest besorgt,
nimmermüde, wie sie nun einmal ist, die Eitelkeit: »Recht betrachtet,
sagt mir das nicht viel Neues.« –
Wie dem auch sei, der Gedanke,
wichtig oder unwichtig, ist nun einmal in der Welt. Er lagert, auf
Abruf verfügbar, in den Weiten des Bewusstseins; unwichtig, wem es
gehört. Und er kommt herum. Dafür sorgen schon die üblichen
Handreichungen, als da sind: an erster Stelle die Fixation auf dem
›Datenträger‹ mittels Schrift, an zweiter die ›identische Reduplikation‹ in Gedanken, an dritter die kontrollierte Verbreitung oder ›Redistribution‹, an vierter...
Hoppla, wen haben wir denn da?
Den Konsum? Das ist nicht so einfach.
A steckt sich an einem Gedanken
an, B steckt ihn sich an. Wo liegt der Unterschied? Im Grad der
›Absorption‹?
Das leuchtet ein.
MOTTENREGISTER
Gedanken verbreiten sich.
Einige Gedanken kommen herum. Man nennt sie ›verbreitet‹.
Immer wieder kommt dir so ein ›verbreiteter Gedanke‹ unter, ein Gedanke mit Index, hinter dem die stumme Frage lauert: »Warum kanntest du mich nicht? Warum hat es so lange gedauert, bis sich unsere Wege kreuzten? Siehe, ich bin Gemeingut – also bist du ignorant. Ich bin da – bist du es auch?«
Das kommt auf die Schnittmenge an.
Bewegst du dich in den Kreisen, in denen er heimisch ist? Falls nicht, bist du fein (oder unfein, je nachdem) heraus. Andernfalls hast du ein Problem. Wie willst du es lösen?
Oder willst du nur parieren?
Wie pariert man den Vorwurf der Ignoranz?
Am besten durch Ignoranz: ›In der Welt‹ ist ein Gedanke, sofern du von ihm gehört hast – in deiner Welt, welcher sonst? Eine andere kennst du nicht, kannst du nicht kennen, willst du nicht kennen.
Wann und wie hast du von ihm gehört? Du weißt es nicht. Ein Gedanke eben, einer unter anderen, einer mit anderen, einer gegen andere einer wie andere.
Was du brauchst, ist ein dickes Fell.
Von diesem hier erfährst du und es brennt in dir: davon hättest du nichts gewusst, während alle Welt...? Welche Blamage!
Dagegen der dort: mit ihm stellst du dich gegen die Welt! Warum? Weil er dich, tief in dir, vor aller Welt zu einem macht, dessen Meinung zählt. Auch dieser Gedanke brennt.
Wie kam ein simpler Gedanke dazu, Meinung zu sein? Deine Meinung, wohlgemerkt, nicht die des anderen, der ihn dir zusteckte.
Darüber solltest du nachdenken.
WÄHRUNGSFRAGEN
Kurrente Gedanken. Gedanken ›im Umlauf‹.
Sie sind die Währung, in der ›alle Welt‹ sich verständigt.
Verweigere sie und du bist nicht verständigt.
Entweder du kommst aus einer anderen Kultur oder deine Weltsicht gilt als ›verzerrt‹.
Was ist eine verzerrte Weltsicht?
Nimm einen kurrenten Gedanken und geh ihm auf den Grund: Da hast du deine verzerrte Weltsicht.
Ob Gedanken gelten oder nicht, liegt nicht an ihrem Wahrheitsgehalt.
Das Für-wahr-Gelten liegt der Wahrheit voraus. Es macht sie zu einem raren, überdies gefährlichen Gut. Dabei liegt sie ›hinter allem‹.
Niemand bringt einen Gedanken in Geltung. Erst recht keinen neuen.
Die Macht, Gedanken in Geltung zu bringen, setzt Verfügung voraus. Verfügung über Menschen, Zeit, Maschinen, Verkehr. Aber sie bleibt brüchig.
Kurrente Gedanken sind die effektivste Gedankenkontrolle. Sie machen jede Abweichung kenntlich.
Mach den Mund auf und du erntest Widerspruch.
Gefährlicher als der Widerspruch ist das Schweigen. Es signalisiert: deine Gedanken sind nicht anschlussfähig. Was sind sie dann? Sie sind wertlos.
Was eine Lüge ist. Niemand weiß, was sie wert sein könnten. Ihr Wert wird sich weisen. Schließlich bist du nur immer weiter gegangen.
Da regt sich die Wahrheit hinter der Lüge: du bist zu weit gegangen.
Zu weit für wen? Das Denken? Das Denken der anderen? Geht ihr Denken anders? Oder blieb es einfach stehen? Wie bleibt Denken stehen?
Du verletzt ihr Interesse: das mag sein.
Welches ist das erste aller Interessen?
SEI WIE WIR. SEI EINER VON UNS.
Auch das: Lüge. Sie legen Wert darauf, dass du keiner von ihnen bist. Verknappung macht ihr Dabeisein wertvoller.
ÜBERZEUG MICH!
Kennst du das Land, in dem die Überzeugungen blühn?
Man nennt es Gesellschaft.
Überzeugt sein heißt: den Kopf dafür hinhalten. Privat, öffentlich, geheim: egal. »Es ist meine Überzeugung, dass…«
Wer niemanden überzeugt, was kann der?
Richtig! Er kann einpacken.
Vor sich selbst, drinnen im Kämmerchen, ist keiner überzeugt, es sei denn, er ist ein pathologischer Fall. Überzeugungen sind für die anderen da. Wer überzeugt ist, der will überzeugen. Da liegt der Hase im Pfeffer.
Entweder man hat Überzeugungen oder man hat sie nicht.
Wer einsieht, dass es gefährlich ist, keine Überzeugungen zu haben, der gibt sich gern überzeugt.
Wer einsieht, dass es gefährlich ist, Überzeugungen zu haben, der gibt sich gern skeptisch.
Oder er blüht auf.
Deine Meinung kannst du für dich behalten, deine Überzeugung gehört der Welt. Sie will artikuliert sein, sie will Eindruck machen, sie will Druck ausüben. Sie will etwas bewirken und du sollst ihr dazu verhelfen.
Es ist deine Pflicht, ihr zu helfen.
Warum? Seid ihr verheiratet? Habt ihr Kinder? Woher kennt ihr euch überhaupt? Ach Gott, ja. Wichtig ist das nicht. Sie kann nicht anders, sie drängt in die Mitte. Vielleicht kokettiert sie damit, radikal zu sein. Auch dann will sie im Mittelpunkt stehen.
Wie dem auch sei, hinter der Überzeugung stehst du, ein Taschenspieler, der auf die Mienen der anderen achtet, der es genießt, wenn der eine oder andere unter ihnen verstummt und den Raum verlässt.
SPUCK'S AUS
Wären deine Meinungen und deine Überzeugungen deckungsgleich, so
wärest du naiv und die Menschen wendeten sich von dir ab. Nein, so
naiv willst du nicht sein. So naiv bist du nicht. Selbst wenn du es
wolltest: So naiv kannst du nicht sein. Du bist ein Kämpfer?
Dann kämpfe für deine Überzeugung! Irgendeine Meinung dazu wirst du
schon haben.
Deine Überzeugung ist wichtig. Sie ist dir wichtig. Also willst du, dass andere sie zu Kenntnis nehmen. Du willst, sagst du, überzeugen.
Spürst du die leise
Enttäuschung, sobald jemand beschließt, sie zu teilen? Ist das nicht komisch? Nein? Was ist es dann? Todernst?
»Meine Meinung
geht niemanden etwas an. Wenn ich sie preisgebe ‒ und ich gebe sie
ununterbrochen preis –, dann um nicht übergangen zu werden: um zu
zählen. Falls sie gefällt ‒ gut, so gefalle ich. Falls sie nicht
gefällt ‒ auch gut, so habe ich doch gezeigt, was in mir steckt.«
»Du drückst das ganz gut aus, wir haben dich alle verstanden.«
Etwas gelten und zählen wollen, verdankt sich ganz unterschiedlichen
Impulsen. Du willst nicht aus der Gesellschaft herausfallen und du
willst es doch. Das heißt es, etwas gelten und zählen
zu wollen.
Zeugen, was das Zeug hält.
»Er hat eine Meinung, aber er kann sie nicht ausdrücken.«
Bemerkst du das Loch, das du damit in die Gesellschaft schlägst?
»Aber sicher. Darum geht’s doch.«
Und jetzt die Befriedigung: Dieses
Loch macht dich beredt. Eine Meinung zum Ausdruck bringen, einen
Gedanken äußern, als sei er der eigene ‒ so soll es sein.
»Vielleicht eigne ich ihn mir an, während ich ihn zum Ausdruck
bringe. Das ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, aber es zeigt,
was alles in mir steckt: dies und noch viel mehr.«
SCHOCK DEN NÄCHSTEN!
Wer mit seiner Überzeugung hinter den Berg hält, der spielt ein
doppeltes Spiel. Das klingt nicht gut, das klingt verwerflich, selbst
dann, wenn es der Not geschuldet ist. Du gibst nicht zu erkennen, wo du
stehst? Das verunsichert die Leute. Sie wissen nicht, was sie von
dir halten sollen, also wenden sie sich von dir ab. Oder sie fürchten dich, wenn
du in der Position bist, sie das Fürchten zu lehren. Dabei fürchtest du
sie. Welchen Grund sonst gäbe es für dich, dich so zu verhalten?
Die Not, die liebe Not … was
wäre nicht der Not geschuldet? Gesetz, Sitte, Anstand…
Doch welcher Grund
sollte dich bewegen, zu irgendeiner Überzeugung zu
stehen? Eine Art Geßlerhut, steht sie in der Landschaft herum und
fordert Entscheidung. Wehe, sie wird ihr verweigert.
»Die Böcke zur
Rechten, Die Ziegen zur Linken! Die Ziegen, sie riechen, Die Böcke, sie
stinken.«
Am Ende sortieren sich alle, der Not gehorchend, der eine mehr,
der andere weniger. Da trifft sich die Botschaft gut, dass auch
Überzeugungen wanken.
Einer festen Überzeugung sein ‒ wer wollte es
nicht?
»Wieviel Festigkeit darf’s denn sein?« »Legen Sie ruhig etwas drauf. Und gut einpacken, bitte.«
Wer sind die Überzeugtesten von
allen? Schauspieler der Überzeugung? Leute, die das Leben selbst
überzeugt hat? Mit welchen Mitteln? Elektroschocks? Oder doch eher
Leute, deren Überzeugung nie auf die Probe gestellt wurde?
Da geht einer für seine Überzeugung durch die Hölle, um sie anschließend zu verlieren.
Wer immer sich überzeugt gibt, er geht an die Rampe, er spielt eine Rolle. Mag sein, er spielt sie gut, er spielt sie eigenwillig, er spielt sie mit Hingabe. Mag sein, er spielt sie brillant.
Aber er spielt sie.
Und wer sich nicht überzeugt gibt? Nun, er zweifelt
öffentlich, er spielt den Zweifler. Eine Art Überzeugung auch das.
Kennst du das Land, in dem die Ehrlosigkeit blüht?
MOTO CONTINUO
So gesehen, wären alle Heuchler und Schwadroneure.
Sind sie es
wirklich? Und was wärest du? Na was wohl. Die Ausnahme von der Regel?
Warum? Du nimmst dich nicht ganz aus, du zögerst. Warum? Weil es ›zu
hart‹ klingt? Oder aus gutem Grund? Der wäre? Was wäre ein guter Grund
neben dem billigen? Dass du es besser weißt? Na komm schon! Was
könntest du besser wissen? Dass irgendwo, zwischen Überzeugung und
Meinen, das Denken spielt, ohne in ihnen aufzugehen?
Aber du denkst
doch…
Sicher. Kein Zweifel, immer wieder, wenn die Dinge kritisch
zu stehen beginnen, wirfst du dieses Pfund in die Waagschale. Es fällt
dir schwer, nicht zu denken, selbst dort, wo deine Meinung
gefragt ist, selbst auf die Gefahr hin, die Frager zu langweilen. Es
soll sogar vorkommen, dass du in solchen Situationen angestrengter
denkst als üblicherweise: Du wirkst nicht gut, du wirkst wie ertappt,
jedenfalls kommt es dir so vor. Nur ändern kannst es du nicht. Hand
aufs Herz: Du willst es auch gar nicht ändern.
Denkend entsinnst du
dich deiner Gedanken. Und sie steigen herauf aus der Tiefe des
Bewusstseins.
Meinungen sind Gedanken, auf die man gern zurückkommt.
Überzeugungen sind Gedanken, auf die man unter Druck zurückkommt.
Wer wenig denkt, der meint, wovon er überzeugt ist, und er ist
überzeugt von dem, was er meint.
Wer mehr und intensiver denkt, für den
treten Meinung und Überzeugung auseinander. Seine Meinung ist ›mehr
privat‹. Soll heißen: »Ich stehe nicht für sie ein.«
Warum ist sie dann
Meinung?
Weil es deine Gedanken sind, die du da ausplauderst. Es sind
deine Gedanken, weil sie dir gerade jetzt durch den Kopf gehen, wo du
sie brauchst.
Woher sie kommen, wohin sie gehen, welche Köpfe sie bereits passiert haben und weiter passieren werden –:
Wer fragt danach (›Gedankenpolizei‹)?
POCO MOTO
Im Ernst: Wer fragt danach, woher deine Gedanken stammen?
Deine
Gedanken … das klingt bombastisch.
Dabei sind sie deine bloß deshalb,
weil du sie (per Zufall) in diesem Augenblick denkst, nicht etwa, weil
du selbst sie dir ausgedacht hättest. »Ich habe mir diesen Gedanken
erarbeitet und nun gehört er mir« –: welch ein Unsinn!
Du
hast vielleicht das Gefühl, einen Gedanken ›erarbeitet‹ zu haben. Was kann der Gedanke dafür?
Nun arbeitet der Gedanke weiter: Gehörst
ihm jetzt du? Hat er dich erarbeitet? Er ist vielleicht keine Person,
er ist kein Angeber, er ist ein Übergang.
»Ich kenne diesen
Gedanken« heißt: Irgendwann bist du mit ihm in Kontakt gekommen.
Musstest du ihn deshalb denken?
Was hättest du sonst mit
ihm anstellen können?
Weiterreichen, am besten ungeöffnet?
Kannst du Gedankenkontakt haben, ohne diesen Gedanken, wie unzureichend
auch immer, zu denken?
War er dann, für die Dauer des Vorgangs, dein
Gedanke?
Und jetzt, da du ihn erinnerst, wäre er erneut dein
Gedanke?
»Ich habe mir so etwas schon gedacht«: Etwas in dieser
Art!
Aber derselbe?
Oder: Ein und derselbe Gedanke, einmal von dir,
einmal von dem da gedacht ‒ wären das zwei Gedanken mit
identischem Inhalt? Oder wäre es ein
Gedanke in verschiedenen Köpfen? In zwanzig, in hundert, in
tausend Köpfen? Ein Gedanke in tausend Köpfen: Ist das noch ein
Gedanke?
Oder ist erst das ein Gedanke?
Ist das, was du
erdenkst, bereits ein Gedanke?
Woher weißt du, dass es sich um einen
Gedanken handelt? Hast du ihn zu diesem Thema befragt? Kannte er sich in diesem Thema aus? War es sein Thema?
Vielleicht, vielleicht nicht.
Was, für den Fall, dass du für ihn haftbar gemacht wirst?
Kann einer das: für Gedanken haften?
Kann einer für Gedanken haften, weil ein anderer sie gedacht hat?
Wer immer es will (und die Macht dazu besitzt), kann dich haften lassen.
Allerweltsgedanken sind Allerweltsgedanken. Folge: Wer immer es will (und die Macht dazu besitzt), kann dich für aller Welt Gedanken ›zur Verantwortung‹ ziehen. Da steht sie:
KONTAKTSCHULD.
TAUCHSTATION
Was dir durch den Kopf geht, ist deine Sache.
So denkst du, und auch das ist: deine Sache.
Das heißt: Du lehnst die Verantwortung dafür ab.
Du willst nicht zur Rechenschaft gezogen werden, bloß weil es in dir denkt.
Warum diese Scheu?
Weil das keine Verantwortung ist, die du tragen kannst.
Du willst nicht, denn du kannst nicht.
Weil du andere verantwortlich machst.
Weil es nicht
deine Gedanken sind, sondern Allerwelts-Gedanken, angeflogen von
irgendwoher, Gedankensplitter, Gedankenmüll, Gedankenunrat.
Heißt
Gedanken hegen: in Unrat stochern?
Heißt das: hegen?
Dieser Kopf ist dein Kopf (und du hast nur einen). Warum so heikel mit seinen Hervorbringungen? Ein Außenstehender könnte den Eindruck gewinnen, du magst seine Gedanken nicht. Großer Irrtum! Was in dir denkt, es will anonym bleiben.
Einfachste Weise, dich zum Lügner zu stempeln: ein Tagebuch führen.
Übernimm die Verantwortung und die Gedankenwelt, die in dir lebt, ist schon verschwunden.
Es tauchen auf: gezinkte Gedanken, Pseudo-Gedanken, Tagebuch-Gedanken. Da stehen sie, geben mit sich an und rücken nicht von der Stelle. Warum auch? Schließlich hast du dich zu ihnen bekannt. Es sind unbestellte Bekenntnisse auf der Suche nach Liebhabern. Sie lassen etwas sehen, was so nicht existiert. Oder sie sollen festhalten um jeden Preis.
Aber der Preis ist hoch.
Wenn das Strömen der Gedanken zur fatalen Obsession wird, dazu bestimmt, gebrochen zu werden, dann, oh dann ist der Aufpasser fest installiert.
MERKER-LAND.
ENTWEDER – ODER
Wenn Gedanken touren – sind sie dann Politiker?
ENTWEDER alles ist Gedanke, was im Bewusstsein sich bildet, also
auch Angedachtes (›Gedankenfetzen‹), abgerissene Vorstellungen
(›Assoziationen‹), Gefühlsmomente (›Gefühlsgedanken‹), –
ODER alles, was es ›von außen‹ okkupiert: also Texte, Bilder,
Text-Bild-Kombinationen, Melodien, Ton-Bild-Text-Sequenzen,
körperhaft wirksame Stimulanzien.
Tertium non datur.
Im ersten Fall sind sie autonom, im zweiten autark: entweder ›verdanken‹
sie sich dem Grad ihrer Bewusstheit oder sie folgen den Regeln
sozialer Distribution (Meme). Im
ersten Fall sind sie nie, im zweiten immer dieselben (in
unterschiedlichen Köpfen).
Wenn der Kontakt den Gedanken
›veranlasst‹, dann veranlasst Gedankenkontakt zwangsläufig
Gedankengedanken: Gedanken über Gedanken, Gedanken aus Gedanken,
Mitgedanken, Nebengedanken, Hintergedanken, erwünschte, verbotene,
verfemte, leichtfertige Gedanken, Modegedanken ‒ das Angesagte, das
Ausgesperrte, das Tabu, die Parole, den Wahn, die Assoziation, die
Interpretation und das aus den Reden anderer erbaute ›Gedenken‹.
Es entsteht in dir, aber es entsteht durch Kontakt.
Etwas (ein
›vergegenständlichter‹ Gedanke?) berührt dich. Und du? Du setzt dich
in Bewegung. Du sagst: »Das berührt mich nicht« und schon ist es
um dich geschehen. Etwas in dir wird so lange ›Gedanken wälzen‹,
bis ›die Sache passt‹, bis ein Gedanke, handlich geworden,
als Meinung passiert ‒ oder als Überzeugung, als Anhängsel einer
kurrenten Gesinnung, die dich zum Mitläufer stempelt oder zum
Außenseiter, einem, der (auf seine Weise, wie er glaubt) ebenfalls
mitläuft. Viele Weisen des Außenseitertums ergeben zusammen
ein Muster, eins, das du nie zu Gesicht bekommst, es sei denn, du
erreichst das Alter, in dem sich die Haftkräfte lockern und das,
worin du zu Hause warst, im Kaleidoskop erscheint.
Du nennst es: Denkfluch.
ENTWEDER – ODER (II)
Du fühlst dich ›beschissen‹.
Was immer dich trifft: Es ist Schmutz.
Ermanne dich. Du bestimmst, wer du bist.
Träger oder Getragener, Esel oder Reiter.
»X nur zu denken, ist
schon Verrat.« Willkommen im Land der Verräter.
»Ein Gedanke, der
alle beseelt!« Welcher, bitte, sollte das sein? Der
›gebetsmühlenartig wiederholte‹? der ›abgedroschene‹? Der
›verlogene‹?
Und welche Seele wird da verschenkt? Die des
gemeinen Wesens? Die irgendeiner Bewegung? Die des Bewegtseins, von was auch
immer?
(Nebengedanke: Wer in der Bewegung erstarrt, hat der keine
Gedanken? Hat er die falschen? Woher hat er sie? Woher stammen die
falschen Gedanken? Von den richtigen?)
Wie viele Seelen stehen im
Angebot, damit du Seele hast? Sollst du ›seellos‹ nennen, wer einmal die falschen Schlüsse zog? Wer verlangt so etwas? Ein falscher Fuffziger?
Wer
falsche Schlüsse zieht, hat die richtigen vielleicht nicht gefunden.
Vielleicht lagen sie obenauf und er schob sie zur Seite. Warum? Um etwas
zu finden, warum denn sonst?
Gib’s zu: Um diesen Fund beneidest du
ihn bereits im Geheimen.
Wärst du bereit, ihn einzuheimsen? Wäre er
dann dein Fund? Nein, du lässt ihn liegen. Da liegt er, ein Brocken.
In dir, wo sonst? Du wirst ihn schon abtragen. Stückchen für
Stückchen. Zueignen wirst du ihn dir, wenn die Zeit gekommen ist.
Du wirst ihn als Niemandsstoff einheimsen, als
namenlosen Gesinnungspartikel, als gemeinfreies Etwas, das du im rechten Moment zuzulassen
gesonnen bist, als sei es das deine.
Die Mem-Theorie des
Bewusstseins ist totalitär.
Sie funktioniert wie alles
Totalitäre.
Jedenfalls eine Zeitlang.
Erweise ihr, was du im Überfluss hast: Respekt.
DIE REGEL lautet: Nicht zu weit!
Verfolge einen Gedanken, bis er um Hilfe schreit. Dann – hilf ihm!
Vielleicht genügt es ja, eine Fingerkuppe ins Wasser zu tauchen und ›kalt‹ zu sagen oder ›warm‹ oder ›heiß‹ oder ›kochend‹, um Abstand zu wahren. Diese kleinen Manöver addieren sich leicht zu einer probierenden Existenz, was immer das heißen mag. Die Probe, die rasch zur Kostprobe wird, umspielt die Grenze von Drinnen und Draußen, von Beteiligt- und Unbeteiligtsein, von Affiziert- und Nichtaffiziertsein, sie stellt ein affiziertes Nichtaffiziertsein her, das dem Affen Zucker gibt, ihm aber nicht die Hand reicht. Aber was heißt schon, ›sie stellt es her‹: mit einem Mal steht es da, dann ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal und so fort, und diese sich addierenden, vorwärts und rückwärts aufblitzenden Male sind es, die sich die Hände reichen, zumindest unter der Hand, hinter dem Rücken der Person, die man gern die handelnde nennt, weil sie die Dinge in die Hand nimmt, um sie hierhin und dahin zu stellen, nicht ohne sie zu verändern. Nimm den Dingen die Temperatur und sie starren dich verständnislos an: Was hast du getan? Ja was wohl? Du weißt es nicht, denn du willst es nicht wissen. Du weißt es wirklich nicht, denn die Probierexistenz lässt es nicht zu.
›Wirklich‹ weißt du es nicht, ›unwirklich‹ schon.
Funktionale Differenzierung: ein Witz. Ober vielmehr: wieviel Naivität darf es sein? Nein, daraus ergibt sich keine Gesellschaft. Wo immer man hinsieht, erzeugen Aufgaben Hierarchien, werden auf der Stelle umgemünzt in Selbstwertgefühl, Gruppenegoismen, Lebensweisen, Konsumverhalten, Kultur. Ist die Aufgabe lösbar? Dann wird sie gelöst. Oder auch nicht. Als ob es darauf ankäme! Auf den Zuschnitt kommt es an, auf Größe, verfügbare Mittel, Vertracktheit. Vor allem auf die verfügbare Zeit: Jede Aufgabe öffnet ein Fenster in die Zukunft. Kleines Fenster, wenig Zukunft. Ein kleines Fenster hält Hierarchien flach und versetzt die angesprochene Klientel in einen frenetischen Rausch: Nimm, was sich bietet. Ein weites Fenster fächert sie auf, gibt der sozialen Ambition Weite und Höhe, lässt hier ein Treppchen entstehen und dort ein Podestchen mit der Aussicht auf viel Zukunft und angemessene Beute. Zeitangaben – zehn, zwanzig, hundert, tausend Jahre – werden dankend angenommen, erwecken andererseits Misstrauen. Besser, man reklamiert die ganze Zukunft für sich: rund, voll, blühend, Tendenz gegen unendlich.
Funktion folgt Form.
Die ganze Zukunft … eine, die hier und heute beginnt, eine Zukunft, bei der jeder mitmachen kann und die sich jedem bereitwillig öffnet, sobald er den Schritt getan hat, der ›Unterwerfung‹ heißen kann oder ›Befreiung‹, Hauptsache, jemand nimmt dem Alltagsmenschen die Binde von den Augen oder es fällt ihm wie Schuppen ... wohin? – Eine Zukunft dieses Formats verspricht mehr und anderes als die Lösung der Aufgabe, zu deren ›Bewältigung‹ man sie auffährt. Sie bündelt Zeit. Zeit, die sich jemand in die Hände spielt, um sie auf die Aufgabe zu verwenden, die vielleicht gar keine ist, sondern ein Phantom, ein Abrakadabra, eine Grenzvorstellung ohne jede Aussicht auf Verwirklichung, eine verrückte Idee, eine Verschiebung oder ein harmloses Anliegen, das sich bei ernsthaftem Bedarf durch ein paar Handgriffe befriedigen ließe. Aber die Dinge so zu sehen, das wäre: kleines Fenster. Stattdessen, im weiten Fenster: die Reklamation der Zukunft. Der ›Hauptinhalt‹ heißt Verschwendung: in kleinem Stil, solange die Bewegung noch läufig ist und ihr Anspruch auf Gestaltung der Verhältnisse lächerlich klingt, in großem, sobald sich ihr Machtanspruch dehnt und aufzurichten beginnt, sobald sie die Medien tränkt, den Staat erobert, die Exekutive, die Legislative, die Bürokratie, die Schulen, die Wohnzimmer infiziert, die Kindergärten.
Was ist das: Verschwendung?
Sicher, es gibt sie, die Anhänger ›echter‹ Hierarchie jenseits von Zeit und Raum. Angenommen, ihr Phantom existierte, dann wäre es so etwas wie ein Umwerter der wirklichen Dinge und ihr wirklicher Konkurrent. Gibt es das? Kann es das geben? Ist ein Markt der Wirklichkeiten denkbar, auf dem sich jeder die für ihn passende aussucht? Wohl eher nicht. Warum? Offensichtlich, weil sie dann keine mehr wären. ›Wirklichkeit‹ ist obsolet, sobald ich mir eine aussuchen darf. »Wieviel Wirklichkeit soll es denn sein? Ah, von dieser da? Wir haben heute eine neue im Angebot. Schauen Sie mal…« Wäre Hierarchie hingegen bloß Betrug, so lägen die Dinge einfach. Bekanntlich erkennen viele in ihr die ›Mutter aller Lügen‹: den verwerflichen Ausdruck einer sich selbst aufhebenden Entscheidung. Denn was ist Lüge? Offensichtlich eine verworfene Aussage, eine Aussage wider besseres Wissen, in diesem Fall die Mär vom höheren Menschen. – Nein, so ist es nicht. Hierarchie mag alles mögliche sein, aber sie ist mit Sicherheit keine Aussage. Hierarchie bleibt Hierarchie. Sie ist ›die Sache selbst‹. Du darfst es als falsch betrachten, dass es sie gibt, dann ist sie es immer und nie. Solange sie existiert, existiert, als ihr ständiger Begleiter, auch dieses ›immer und nie‹. Du musst dich zu ihr verhalten und kannst es nicht – es sei denn existenziell: »Ich erkenne dich an und – großartig! – jetzt erkenne ich auch, warum es dich gibt.«
Betrachtet man die Sachlage nüchtern, dann entspringt Hierarchie aus dem Verlangen nach einer handelnden, planenden, vorausblickenden Person oder Personengruppe: Sie soll es machen. Was soll sie machen? Nun ja … alles, was ansteht. Wichtig ist nur, dass sie mehr vermag als die verlangende Partei, die bereit ist, Autorität zu übertragen. Wer vermag das zu entscheiden? Am Ende niemand. Keine Talentprobe fällt so zwingend aus, dass sie Gewissheit in den Bereichen schaffen könnte, in denen sie vonnöten wäre. Hierarchie, im Kern betrachtet, ist ein Projektionsverhältnis, hervorgegangen aus einer verschachtelten Urteilsabstinenz, die das Urteil einschließt, dass es anders nicht weitergehen kann, so aber wohl. Anders ausgedrückt: Der Grund von Hierarchie ist eine als Schmerz erlebte Entzweiung im Selbst – Verzweiflung. Hin- und hergerissen zu sein ist kein gutes Gefühl, umso weniger, wenn es sich leicht beseitigen lässt. »Gib’s auf!« Was? Es selbst machen zu wollen, die Dinge laufen zu lassen. Wofür? Das ist die Frage. Sagen wir: für ein ansprechendes Design. Sprich nicht so verächtlich darüber. »Diese Menschen erscheinen mir sicher in ihrem Handeln. Was will ich mehr? Ich borge mir etwas von ihrer Sicherheit.« So weit, so nüchtern. Wie weit trägt Nüchternheit? Nicht sehr weit. Weiter trägt die Bewegung. Wann wird eine Bewegung, die nüchtern begann, frenetisch? Warum? Je mehr sie wächst, desto mehr von deinesgleichen hat sie sich einverleibt. Es wäre doch seltsam, teilte sich etwas von eurer Urteilslosigkeit denen ›oben‹ nicht mit. Ein festes Urteil, aus Urteilslosigkeit stammend, ist bereits frenetisch. »Stellt den Clown an die Spitze! Er wird es machen.« Wundersame Fügung: er steht schon dort.
Wie steht es um die kleinen, als ›informell‹ bezeichneten Hierarchien, die ein Dritter nicht einmal kennt, geschweige denn ›zur Kenntnis nehmen‹ muss? Sie sind das Salz der Erde, sie bewegen Menschen zu den erstaunlichsten Leistungen, sie erzeugen ein Hochgefühl, das sich in Phrasen äußert wie: »Ich bin angekommen«, »Da finde ich mich wieder«, »Davon profitiere ich enorm«, »Das gibt mir Sicherheit«, »Damit kann ich leben«. Von solchen Vertikalverhältnissen lässt sich wenig mehr sagen als: sie sind ›im Gebrauch‹. Von keiner offiziellen Instanz abgesegnet, von keinem Zeitgeist mit Rausch-Stoff ausgestattet – … Stopp! Vielleicht doch? Sind nicht, genau besehen, sie die wirksamsten Katalysatoren des Zeitgeists? Richten sich – letzten Endes – nicht alle nach ein und derselben Nadel? Manche hängen noch dran, wenn der Wind sich gedreht hat. Diese ›führenden Persönlichkeiten‹ waren, meist aus eher belanglosen Gründen – Gesicht, Lächeln, Gestenrepertoire –, Vorbilder oder Verführer, als ihre Sache die Sache aller war, das Erfolgsmodell hat sie unkorrigierbar in Form gebracht, die Form wird zusammen mit ihnen zerfallen, dem einen oder anderen beschert sie die größte Wirkung erst im Zerfall. Was von ihren Leistungen auf die Nachwelt gelangt, weiß keiner, es bleibt dem Prinzip Zufall überlassen und den wechselnden Konjunkturen. Worum geht es, mein Kind? Darum, dass alle gestorben sind.
Gib’s zu, du hast ihresgleichen gekannt, du warst nicht unempfänglich, du warst, um das Mindeste zu sagen, weit offen für ihren … Zauber. Du hast dich ihm leichter anbequemt als der Skala des gesellschaftlichen Erfolgs. Noch heute erliegst du der alten Lockung, selbst wenn du sie ironisierst. Du wüsstest doch nicht einmal, ob du ihr entkommen wolltest. Da –! Die Tür steht klafterweit auf, also geh hindurch… Warum hältst du dich an den Türsteher? Nicht er ist das Problem, nicht er die Lösung deiner Probleme. Geh weiter, wenn’s sein muss, durchquere ihn, warum denn nicht? Es geht nicht? Was für ein seltsames ›es‹ meldet sich da im Sprechen? Also gut, die Sprache täuscht an dieser Stelle etwas vor, wechsle die Sprache, such dir eine passende aus, das wirst du doch wohl noch hinbekommen. Es geht dir nach? Wo? Wie? Und vor allem… nein, nicht noch einmal. Das hatten wir schon. Du bist verhext. Du beneidest die Nüchternen, du hältst dich im Großen und Ganzen für einen von ihnen, aber tauschen möchtest du nicht, es sei denn, du teiltest mit ihnen ihre verborgene Schwäche. Hierarchie ist das Salz des Lebens. Wer hat das gesagt? Annulliere diesen Satz! Annulliere ihn auf der Stelle! Willkommen im Klub.
Dieses Auge, mit seinen vertrauten Apparaturen, Linse, Iris, Netzhaut, Aderhaut, Hornhaut, Pupille, mit vorderer und hinterer Augenkammer, Glaskörper, Lederhaut, Ziliarkörper ist ein Prachtstück: voll funktionstüchtig, wie die Mediziner versichern, eine komplexe Einheit voller Feinheiten, Schärfen und brillanter Einzellösungen, in jahrzehntelangem Einsatz erprobt, aber – es fehlt der Anschluss. Dort, wo der Sehnerv unter dem Gerät seinen Einsatz verrichtet, befindet sich nichts oder weniger als nichts, ein Restelement, nicht der Rede wert, gerade groß genug, um den Verdacht eines von Anfang an gegebenen Defekts abzuweisen, denn die Spuren der Zerstörung sind unübersehbar. Das Auge erkennt, was es erkennen soll oder erkennen sollte, wäre nur der Sehnerv intakt. Es erkennt aber nichts, weil die Verbindung ins Sehzentrum, dorthin, wo die Bilder zusammengesetzt werden und ihre Reise durch die gedeutete Welt beginnen, unterbrochen wurde. Von welcher Instanz?
Das zu berichten ist ein langer Weg, eine verwickelte Suche, ein langsames Spurenlesen wo? Hier von Dunkel zu reden, verbietet sich praktisch von selbst, auch stellt sich die Frage, welches Dunkel gemeint sein könnte, denn das Dunkel, in dem das Auge lebt, aus der Distanz beäugt von vielen Augen, die registrieren, dass mit ihm nichts stimmt, ist nicht so dunkel, wie es der Theorie nach sein sollte. Doch selbst diese Aussage läuft bereits etwas aus dem Ruder, denn die Theorie ist ja nichts Stabiles, nichts ›Festes‹, um ein Wort aus dem menschlichen Beziehungswesen zu benützen, das im Betroffenen schmerzliche Assoziationen auslöst. Sie ist fluide, quecksilbrig, scheinstabil, immer kurz davor, die einmal gefundene Gestalt zu verlassen und in andere hinüberzugleiten. In der Theorie ist das Dunkel dunkel, ein Feld der Erhellungen, die heute so, morgen so ausfallen können, ein mixtum compositum aus vergangenen und künftigen Erhellungen und dem, was darin immerfort bestehen bleibt, also das Dunkel.
Ein Auge, das alles sieht, aber unfähig ist, seine Informationen weiter zu leiten, weil der Kommunikationsstrang in einem chemischen Vorgang totgelegt wurde, der keine Umkehr gestattet, sieht, ohne zu sehen, aber es ist nicht tot. Es bleibt ein Bestandteil des lebendigen Organismus, es funktioniert als Glied dieses Organismus, es sieht nichts, aber das ausgezeichnet. Also liefert es weiter Informationen, wenngleich nebensächlicher Art, an seine organische Umgebung. Es empfängt auch Signale aus ihr – selbstverständlich, selbst die Verbindung zum Sehzentrum ist nicht vollständig abgerissen. Das Auge verrichtet seine Aufgabe, es dreht und wendet sich in jede erwünschte Richtung, es hat keine Mühe damit, sich auszurichten und, der begleitende Sprachsinn kommt auf die Vokabel zurück, zu sehen, was das Zentrum ihm aufträgt. Aber was es sieht, bleibt dunkel. Nein, es bleibt nicht dunkel, es wird vom Dunkel verschluckt.
Das Dunkel wird vom Zentrum produziert, ganz allein vom Zentrum, das keine Signale empfängt, wo es sie erwartet, und das in seiner Erwartung gleichsam erstarrt ist, eine Salzsäule der Information, unfähig, zu begreifen, unfähig, die neue Situation, die so neu nicht ist, zu analysieren und auszusteuern. Nein, ganz so ist es nicht. Es hat gelernt, mit dem verminderten und, selbstverständlich, einseitigen Informationsfluss zurecht zu kommen, den das verbliebene gesunde Auge produziert. Es hat gelernt, mehr schlecht als recht, damit zurechtzukommen. Zurechtkommen bedeutet, dass alle Funktionen bedient werden, nur das Lebensgefühl leidet, was nicht so schlimm zu sein scheint, denn es leidet immer. Jedenfalls scheint es so. Das Lebensgefühl, sonst sehr beredt, schweigt darüber.
Ein Auge zuviel vielleicht. »Auch du?« wird mancher ironisch fragen, mancher verkneift es sich auch, als ob er bereits wüsste, dass die Bemerkung in dir keinen Widerhall findet. Das ist schade, so ein Wortspiel verändert die Welt. »Wirklich?« wird ein Unbedarfter fragen und selbstverständlich ist er im Recht: seine Welt war zu keiner Sekunde in Gefahr, und da er sie bereitwillig mit jedermann teilt, ist sie Jedermanns Welt, der kleinste gemeinsame Nenner und ungeheuer komplex –: ein Ungeheuer an Komplexität, ein Ungeheuer auch ohne Komplexität, aber das steht auf einem anderen Blatt, das vielleicht noch geschrieben gehört, ein ›Desiderat‹ in der schnell verblassenden Sprache, unter deren Umhüllung die Wissenschaft langsam, sehr langsam herangereift ist und die sie gerade jetzt abstreift.
In diesem langen Jetzt, das perspektivisch beweglich in den Köpfen der Beteiligten hängt, wandelt sich das Gesicht der Welt. Etwas tritt zurück, etwas tritt vor, es ist nicht mehr der erhoffte scharfe Schnitt, der das Gegenwärtige vom Vergangenen trennt, aber eine Art Umschlag, wie er jeder langen Welle am Ende bevorsteht, wenn sie in seichtes Gewässer einläuft. Der Getroffene hütet sich, die Jedermannswelt gering zu schätzen, auch er entnimmt ihr seine Erregungen, ohne sich groß dafür zu genieren, doch das Auge ohne Anschluss lässt sie flach erscheinen, flacher jedenfalls, als es den Potenzen entspricht, die er in sich ausmacht, flacher auch als manches, das ihn aus der Vergangenheit anspricht.
Dieses Plastischwerden vergangener Dinge oder ›Konstellationen‹ – durch ein Wort, einen Satz, ein Bild am Ende einer langen Aneignungskette hervorgetreten – steht in schroffem Gegensatz zu der Empfindung, taub zu bleiben gegen ihren öffentlich kommunizierten Sinn, ›taub‹ verstanden in der moralischen Bedeutung des Wortes, also unbewegt und unbeweglich, abwartend vielleicht, aber nicht wirklich überzeugt, irgendeine Einstimmung könnte sich über kurz oder lang noch daraus ergeben. Die Distanz ist einfach zu groß. Doch in guten Stunden beseelt dich die Überzeugung, es liege an dir, die plastische Kette soweit ›herauszuarbeiten‹, dass sich ganz von selbst das Verhältnis der Mitwelt zu diesen Dingen verändern werde.
Das ist Illusion, wie du wohl weißt, auch während der guten Stunden, auf deren Grund das Wissen um die unauslotbar sich fortwälzende Gleichgültigkeit der Gegenwart gegen derlei Impulse sich nur sachte regt wie ein schlafender Hofhund, dessen Schwanz im Staub von einer Seite zur andern wandert.
Die Gleichgültigkeit des Heute gegen sich selbst.
Du zündest dir eine Zigarette an und genießt den Tod.
Nicht dass
sich einer angesagt hätte: so nicht.
Es ist auch nicht so, als ob
du eine Fehde vom Zaun gebrochen hättest oder drauf und dran wärest,
eine Unbedachtheit zu begehen.
Dein Schreibtisch ist aufgeräumt.
Deine persönlichen Verhältnisse (oder das, was du dafür hältst)
gestalten sich ruhig. Sogar die Turbulenzen, die du neuerdings
darin findest, strahlen eine gewisse Kühle, um nicht zu sagen
Unterkühltheit aus. Du hast dich unter Kontrolle.
So weit, so gut.
Die Wiederansiedlung der Wölfe gestaltet sich unerwartet.
Die Welt verändert sich Schlag auf Schlag.
Element X unterläuft jede Entscheidung.
Du starrst in den Spiegel: Ich = Ich + X.
Unerträglich: das Bild.
Du steigerst dich zur Kampfform.
Dein erster und längster Kampf gilt dir selbst.
Bis zum letzten Atemzug.
Niemand duelliert sich willkürlich.
Das wäre ja Gefuchtel.
Mit schlimmen Folgen vielleicht. Aber: Gefuchtel.
Die Kollektivpsyche lehnt das Duell ab.
Die Kollektivpsyche verlangt Widerstand.
Bei diesem Wort wird der Staat hellhörig.
Es ist kontaminiert.
Willkür (in abnehmender Reihenfolge)
1. Gedankenkontrolle
2. Gedankenkontrolle
3. Gedankenkontrolle
(Fürs Protokoll: Was ist Willkür?)
Man ist sensibler gegen Gewalt, die von anderen ausgeht.
Irgendwie ist sie spürbarer. Das muss an der Gewalt liegen.
Die Willkür des Handelnden ist ihm unwillkürlich.
Die der anderen empfindet er tief.
Sie wühlt ihn auf, sie erregt sein Rechts- und Rachegefühl.
Sie bedroht sein X.
Auf dem Staatssockel steht: ›Alle Gewalt geht vom Volke aus.‹
Alle Gewalt, die vom Volke ausgeht, tritt ihm als Staat gegenüber.
Alle Gewalt beginnt mit Sprüchen.
Sprüche (1) Anfang aller Überzeugung.
Sprüche (2) Tod aller Überzeugung.
Was aber sind … Überzeugungen?
Sprüche, in die der Herrschaftswunsch einschießt.
Alle Herrschaft beruht auf Wörtern.
Alle Herrschaft stirbt an Wörtern und wird unter Wörtern begraben.
Da hilft nur Verbannung aus der gestatteten Rede.
Einfach ist das nicht.
Verscheuche einen Kraftspruch und er kehrt an den Ort des Geschehens zurück wie die Fliege zur Stulle.
Verbannter Spruch: Ferment unterdrückter Wut.
Wut, Gegenpol des Duells.
Wut ist gestrichen.
Ein Mensch, der abwartet, ein Mensch, der erwartet. Zwei Spinnen auf fremdem Netz.
»Einer muss den Kopf hinhalten«.
Einer? Wer ist dieser eine?
Mit dem Kopf ist es nicht getan.
Mit einem Kopf ist es nicht getan.
Im Aufbegehren liegt das Begehren obenauf.
Aufbegehren ist schön.
Ein zeitverschobener, den Gegner in der Vergangenheit stellender Widerstand zum Beispiel glänzt in der Sonne, Tauperlen spielen um seine Muskeln, er zeigt den Menschen in seiner inneren Größe.
Der verschobene Feind ist ›gegriffen‹: Sündenbock.
Wessen Sünde ist da gefragt?
Die Sünde, kein Held gewesen zu sein, in einer Zeit vor dieser Zeit?
Muss das gesühnt werden? Oder bereut? Oder gleich … gerääächt?
Selbsthass trägt viele Gesichter. Selbstgerechtigkeit ist das feistete.
Das Volk? Das Volk ist sich selbst eine fremde Macht.
Alles geschieht zweimal, jedesmal unerwartet.
Nichts ist leichter abzulenken als eine gut postierte Erwartung.
Warum ist das zweite Mal so erfolgreich?
Man kennt sich bereits: Gefahr mit menschlichem Antlitz.
Anamnesis gibt dem Unheil Sinn.
Hysterie höhlt ihn aus, zehn, zwanzig, hundert Mal, ohne Not.
»Widerstehe dem Bösen!«
Wie jede archaische Losung trägt auch diese auf beiden Schultern.
Ihr verdankst du: den feindlichen Zwilling.
Den Widerstand im Widerstand suchen.
Das bist du deinem Verstand schuldig.
Was findest du ›mehr als einmal‹? Hysterie. Widerstand, der nichts zu melden hat als »Ich bin der Widerstand und verlange, dass du dich anschließt.«
Widerstand verlangt Gefolgschaft.
Aber hier geht es um dich.
Warum dich anschließen? Weil es Ideologen gefällt, dich unter Druck zu setzen?
Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Geschichte als aufgewärmte Tragödie, die berühmte Farce, hier liegt eine ihrer Wurzeln.
Kämpfe ›im Angesicht der Geschichte‹ und die Geschichte lacht sich ins Fäustchen.
Das Schicksal ›zieht sich zusammen‹. Eben noch allgemein, weiß man nicht, wann und wo es niedergeht.
Das Hohle gibt den Ton.
Unbedeutend für wen?
Es ist der Schmerz, der krakeelt.
Du willst dich rächen? In welcher Sache? An wem?
Was geschehen ist, liegt dahinten.
Du willst es hervorholen? Nur zu!
Was kommt da ans Licht? Eine Motte? Ja, eine Motte.
Um einer Motte willen willst du dich rächen?
Nein, es ist keine Motte. Steht ein Name im Raum, ist es keine Motte.
Rache: etwas, das Namen unter sich ausmachen. Etwas Namenloses. Nimm den Namen weg und das Namenlose bekommt einen Namen: Untat.
Um eines Namens willen wärest du zu allem bereit? Ist das richtig? Ist es recht, so zu denken?
Und wenn es nicht recht wäre, so wäre es doch wahr. Und wenn es nicht wahr wäre, so wäre es doch wirklich. Und wenn es nicht wirklich wäre –
Ein Name ist es, der dich in Raserei versetzt.
Im Namen steckt der Feind. Im Namen des Feindes bist du bereit.
Das klingt ja, als stecktest du selbst...?
Lösche den Namen und du löscht diesen Brand.
Du bist verwundet. Verwundert dich das?
Die Wunde schreit. Ein Körper formt sich zum Schrei. Rache!
Jemand hat dich verwundet? Das kann passieren.
Oder verwundert? Auch das kann passieren.
Dein Ehrgefühl weiß sich verletzt. Das ist die Wunde.
ABC der Wunde: das Verlangen nach Heilung.
Heilung durch Rache? Das ist absurd.
Das Verlangen nach Rache ist das Verlangen nach Heilung als Wunde.
Etwas will nicht, dass sie sich schließt. Du sollst sie päppeln.
Das klingt nicht weniger absurd, aber ein Stück weit verständlich.
Nach getaner Rache: Ist sie dann groß und stark? Wie groß? Wie stark? Bist dann du die Wunde? Kannst du dann endlich, endlich sagen: »Seht her, ich bin eine Wunde? So eine saht ihr noch nie!«
Und dafür reibst du dich auf? Ist das die Wunde?
Das Denken und Reden der Menschen kreist um Konflikte.
Aus ihnen holt es den Stoff, den es braucht, um zu überleben, um Morgen für Morgen das Geschäft der Auferstehung zu betreiben, heimlich und offen, als Rückkehr.
Du lebst in Konflikten, solange du denken kannst. Was wäre dein Denken ohne sie? Eine Vibration? Ein langer, sanfter Traum? Erwachen ohne Ende?
Du leugnest keinen deiner Konflikte, im Gegenteil. Du dringst darauf, ihren ›gesellschaftlichen Kern‹ offenzulegen. Sie ›privat‹ zu verstehen, wäre Feigheit.
Kommt Aggression auf, belässt du sie in der Schwebe. Den schwebenden Konflikt nennst du: eine Konfiguration.
Bist du ein homo theoreticus?
Dazu fehlt dir das abgewetzte Gemüt. Oder das feurige.
Andererseits… Die Wege der Theorie sind unerforschlich. So kam sie eines Tages zu dir und du nahmst sie auf. Frage nie, ob es ihr wohl ergeht. Sie wäre noch selbigen Tages verschwunden.
Was dir zum Konflikt fehlt:
erstens: die Hitze
zweitens: die Kälte
drittens: die Kante
viertens: die Fläche.
Etwas fehlt auf der Liste: der Mangel an Ironie.
Wo du ihn antriffst, wirst du böse.
Gesockelt, aus einem Guss: bereit zum Angriff.
Auch du könntest dich in dieser Rolle verstehen.
Alles, was recht ist.
Aber es müsste aus dir herausbrechen, spontan, aus parteiischer Leidenschaft, aus Sucht nach Entzweiung.
Entschlossen alle Bedenken beiseitesetzend: entflammt.
Warum nicht das langsame, kalte, im Licht fahler Überlegungen glimmende strategische Spiel, das den Gegner aussucht, umzirkelt, schwächt, aussaugt und entsorgt, ohne ihm je zu verstehen zu geben, dass er ›der Gegner‹ ist?
Du könntest es spielen … gewiss.
Es läge dir näher als der archaische Kampfrausch.
Aber liegt es auch nah genug?
Liegt es dir nah genug?
Das ist der springende Punkt.
Es liegt dir fern.
Was sind das für Vögel?
Saßen beisammen und nun sitzen sie auseinander.
Ein kleiner Familienzank und schon benötigen sie viel Raum zwischen sich. Sie könnten auseinanderfliegen, sich hinter dem nächsten Schornstein verstecken, aber nein, so weit will keiner gehen. Was wollen sie dann? Sich im Auge behalten.
Seltsame Vögel: Sie teilen die Aussicht und schon sind sie auseinander. Bekam jeder die Hälfte? War es nicht mehr dieselbe?
Wenn das ein Scherz ist, dann ein trauriger: Geteilte Ansichten gehen wie nichts auseinander. Da ist nichts, was sie weiter beisammen hielte. »Mach’s gut«, könnte eine Hälfte zur andern sagen, »vergiss mich nicht ganz.«
»Ich bin ganz deiner Auffassung.« Da rückt man doch gleich voneinander ab.
Was Auseinandersetzung so schwer macht, ist das Intime daran. Kein Außenstehender kann ganz ermessen, worum es geht.
Eine Auseinandersetzung vergisst man nicht. Sie gehört zu den Tricks, die das Gedächtnis anwendet, um nicht ausgebootet zu werden. Du durftest vergessen, worum es ging, nur dass es eng herging, das grub sich ein.
»Damit habe ich mich auseinandergesetzt« heißt soviel wie: »Bleib mir damit vom Hals.« Das ist die halbe Wahrheit. Die andere steckt drinnen und irgendwann kommt sie heraus.
Vom Auseinanderreißen, Lektion eins: Sei absurd.
Nun also willst du gleichziehen. Mit wem?
Mit dem anderen, den du im Blick hast.
Er soll dir nichts voraushaben dürfen.
Doch dazu … müsstest du erst vernichten, was an ihm anders ist.
›Vernichten‹, grässliches Wort. Die
zartesten Gemüter haben ohne zu zögern danach gegriffen, sobald der sie Gleichheitsrausch
übermannte. Sie wollten nicht zimperlich sein.
In diesen Dingen wächst Aufmerksamkeit spät.
Besser spät als nie.
Der Rausch zu vernichten ist dein erster Feind und
er besiegt dich im Handumdrehen.
Nichts an dir steht ihm entgegen
außer dem, der du bist und den der Rausch dir verhext.
Was lähmt deine Gedanken, was pervertiert deinen Wunsch, was
drängt sich in dein Gefühl?
Du kannst es nicht anders benennen als: das Nämliche.
Was du bist? Ein Nämliches zu viel.
Das zu begreifen braucht es nicht viel. Es braucht so wenig, dass du es unmöglich begreifst.
Wer du bist? Kein anderer. Also nicht sichtbar.
Dabei drängt es dich so sehr, sichtbar zu sein.
Sichtbarkeit ist dein ein und alles.
Sichtbarkeit durch Gleichheit? Das musst du dir abschminken.
Es gibt zwei Gleichrichter: das Gesetz und die Kultur.
Stelle sie scharf und du erhältst: Scharfrichter.
Was dich angeht: Wen geht’s etwas an?
Davon kannst du nichts wissen.
Während du deine Sätze schreibst: An wen denkst du da?
Ist das wichtig?
Du solltest die Frage nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Behaupte nur, sie sei unwichtig: Wie ernst nimmst du, was du da sagst?
Weniger vielleicht, als du denkst.
All diese Gesichter, die dich unwillkürlich umzittern, sobald du zu grübeln beginnst, in der Tiefe deines Herzens willst du sie loswerden.
Sind es überhaupt Gesichter? Wie scharf gestellt sind diese Gesichter? Sind es ›in Wahrheit‹ Geschichten?
Vielleicht ›Geschichter‹?
Wie scharf gestellt sind ›Geschichter‹?
Egal. Die Sache, um die es dir geht, bedarf ihrer nicht. Das hier ist deine Sache und du willst sie mit dir ausmachen. Ganz allein.
Wozu also dienen sie dir?
Denk darüber nach.
Hier stimmt etwas nicht.
Und du? Denkst darüber nicht nach.
Warum? Weil du denkst, dass es dich ablenkt?
Mag sein, dass du Recht hast.
Im Recht bist du schon drei. Einer, der Recht hat, einer, der es bekommen will und einer, der es bestreitet.
Jeder hat seine Geschichter.
Das Duell, gesichtslos, geformt aus Erwartung, wo erwartet es dich?
Am Ausgang der Schlucht.
Wer behauptet, dass gerade diese Schlucht einen Ausgang besitzt?
Wer kann es bestätigen?
Angenommen, sie besitzt keinen (nur ein Ende): Was dann?
Hast du Feinde? Verfolgen sie dich? Du zögerst? Du schweigst? Du weißt nicht…?
Sie verfolgen dich /innen. /Innen sind sie groß. Was ist das /Innen? Ein Innenaußen. Ein Außen, das dich von innen angreift. In deinem Innern, dort, wo das Andere nistet.
/Innen = /Außen? Was willst du? Gerechtigkeit?
Was ließ diese Menschen (diese ›Menscher‹) feindselig werden? Was wollten sie von dir? Was ließ sie wollen? Wollten sie überhaupt –?
Was trieb euch gegeneinander?
Auch da schon: Duell-Erwartung?
Erwarte dir nicht zu viel.
Eins mehr wird deine Probleme nicht lösen.
Gesichter / Geschichter / Gelichter … was zieht sie an?
Eine leere Erwartung füllt sich mit ihnen. Das ist ganz normal.
Dir schwant, der Schlag habe dich längst getroffen und was du bebend spürst, ist keine Vorahnung, sondern ein Nachzittern, das nach Revanche verlangt.
Verlangst du Revanche, um dich zu beruhigen?
Um das Zittern zu bändigen, das dich unaufhörlich durchläuft?
Was, wenn es Teil deines Lebens ist? Der Teil, der nicht weggeht? Bestimmte er dich zum Kämpfer?
Was ist das: ein Kämpfer?
Einer, der angreift, immer und immer wieder, weil er sich nichts anderes weiß?
Ein Theaterkasper, der auf Pappkameraden zielt?
Wer soll das entscheiden? Du? Aber du kannst es nicht. Du hast es versucht, immer und immer wieder, aber du kannst es nicht.
Du kommst nicht über die Hürde.
Nein, du bist kein Kämpfer, allenfalls einer wider Willen, wider besseres Wissen, wider alle Vernunft. Das sind viele ›wider‹, vielleicht schon zu viele, künstliche Hürden, die fallen, sobald die innere Jagd beginnt.
Das Duell, das mit der Geschwindigkeit des Weltalls (was geschähe nicht ›mit der Geschwindigkeit des Weltalls‹?) auf dich zurast, hat kein Gesicht, es sei denn das der Gorgo, das jederzeit überall aufgehen kann, knospengleich, obwohl der Vergleich hinkt.
Vermutlich handelt es sich um eine Ballung: wo entspannte Lineamente einen Weltzustand anzeigen, in dem kein Schicksal sich zeigt, dem mit Scheu zu begegnen wäre, es sei denn mit dieser diffusen Weltscheu, die nicht weggeht, auch wenn du dir nichts sehnlicher wünschst, aus nichts heraus also, umschlängelt von Nichtigkeiten, tritt die Verdichtung ein... – irgendwo im Wahrnehmungsfeld schieben sich Züge in-, durch-, übereinander, verzerrt von einer Kraft, die noch zögert, in Erscheinung zu treten, einen Moment jedenfalls, bevor der Krater sich öffnet.
So könnte es gehen. Die Chancen stehen gut.
Es ist das Unerwartete, das dich erwartet.
Alles andere wäre putzig.
Dein Empfinden signalisiert, es wäre beleidigt, sollte es anders kommen.
Imperativ (1): Sei nicht putzig.
Imperativ (2): Sei bestimmt.
Imperativ (3): Sei hartnäckig.
Imperativ (4): Bring’s zu Ende. Darin besteht schließlich die Kunst.
Das Duell ist die Bewegungsform des geistigen Menschen.
Er verschwindet in jedem Spiegel. Motiviert und gewappnet tritt er sich aus ihm entgegen.
Alle Auseinandersetzung geht auf Leben und Tod.
Nein, du bist kein Zweimalgeborener. Jeder Gedanke, der in dir zündet, gebiert dich neu.
Du bist alle Tage neu.
Alles, was Welt ist, geht dich an.
Du lebst in einem Universum, das den Angriff des Jenseits im großen und ganzen erfolgreich abgewehrt hat. Geblieben vom Aufstand des Monotheismus: ein paar kraftlose Postulate, deren Zukunft ungewiss ist.
Damit musst du rechnen. Glauben steht nicht in deiner Macht.
Du kannst dir (und anderen) etwas vormachen. Das ist etwas anderes.
Auch Fanatismus ist etwas anderes. Wer fanatisch glaubt, ist in der Lüge gefangen. Eine Lüge hat seine schwache Psyche überwältigt und lässt sie, bis auf weiteres, nicht mehr aus. Jeder Fanatismus ist ›auf Zeit‹.
Auch du bist ›auf Zeit‹.
Dein äußerster Widerpart: das expandierende All.
Mit einem schrumpfenden All kannst du nichts anfangen. Du musst es verwerfen.
Dein letztes Thema: das verworfene Universum.