DAS BERSTEN

 

  1 Er hätte schwören mögen
  2 Ungeheuer ist vieles
  3 Da lag das Herzstück
  4 Was gab es hier zu begreifen?
  5 Ein Stück Gegenwehr lag darin
  6 Unterschwellig war er sich sicher
  7 Ein Lichtpunkt, beharrlich
  8 Etwas störte
  9 »Sie tragen die Stigmata.«
 10 Ein Fehler steckt im vorausgegangenen Abend
 11 Die Woge stieg
 12 Er kam und kam nicht zur Ruhe
 13 Der Ort
 14 Die Gesichter
 15 Wenn er den Sonnenstand
 16 Im übrigen fühlte er sich
 17 Der Riss beschäftigte ihn
 18 ›Die Frau, mit der er gekommen war...‹
 19 Die Pause
 20 Eines wollte er festhalten
 21 Es gibt Grade der Klarheit
 22 Alles klar?
 23 Eine Stimme fehlte
 24 »Klarheit« murmelten seine Lippen
 25 Angenommen
 26 Ein Nichts von einem Leben
 27 Wenn einer in diese Verhältnisse
 28 Man fährt in anderer Leute Urlaub
 29 Wenn er nicht genau wusste
 30 Diese Leute haben ein feines Gespür
 31 Dieses Innerste
 32 Ab wann bereitete ihm
 33 Auch wenn er nicht genau
 34 Tronka kannte sie alle
 35 Natürlich war nicht er
 36 Es gab einen Stand
 37 Den Einfall hätte er besser
 38 Verlangte es ihn
 39 Natürlich fiel das Wort
 40 Es hätte ihm zeigen sollen
 41 Die ›Marotten‹ ließ er ihr
 42 Die Stetigkeit hatte er
 43 Man kann ein Stück Glas
 44 Wie viele Leben
 45 Einer geht, einer bleibt
 46 Wäre ich eine Frau
 47 Die Ingenieursgattin
 48 Der Ingenieur redete
 49 Natürlich hätte er aufstehen
 50 Warum war er sitzen geblieben
 51 Er verstand sie gut
 52 Woher diese Regung
 53 Die Schlichtheit
 54 Das Wort Halt
 55 Dagewesen war sie
 56 Nach solchen Erlebnissen
 57 Hätte er hingesehen
 58 Eigentlich glaubte er
 59 Ab wann existiert eine Beziehung
 60 Das Feistgesicht hantiert
 61 Auch diese Szene
 62 Vergib mir
 63 Draußen rumort
 64 Auch ihr
 65 Was keinen Unterschied
 66 Pidas Freiheitsdemonstrationen
 67 Im Gegensatz zur Beziehungsehe
 68 Eine Beziehung ist keine Gemeinschaft
 69 Blutegel
 70 Die größte aller Lügen
 71 Geh weg
 72 Sie haben die Mythologie
 73 In dieser Beziehung
 74 Pida, diese rohe
 75 Sie war nicht
 76 Hielte ich mich für
 77 Wann immer er
 78 In einer Nacht
 79 Die Sache mit der Treue
 80 Warum so abstrakt
 81 Wenn er jetzt durch diese
 82 Die Stimme neben dem Ohr
 83 Pida, die ihn so gnadenlos
 84 Diese abgetrennten
 85 Nirgends hatte er den Mechanismus
 86 Und da ist noch etwas
 87 Diese enorme Lernbereitschaft
 88 Hat er alles erlitten
 89 Blass
 90 … diese Arztfrau
 91 Wie konnte sie
 92 ›Sieh diesen Toten...‹
 93 Nein, sie war keine
 94 Wann das begann
 95 Und wie sie sich
 96 Was tun
 97 Wenn es Appetit war
 98 Was er erst später erfuhr
 99 Die sanfte Nötigung
100 Angenommen
101 Nein, es rührte
102 Eine Trittbrettfahrerin
103 Denkbar war alles
104 An dieser Stelle
105 Einmal Opfer sein
106 Was lag näher
107 Und wenn es doch
108 Vorsicht, mahnte er sich
109 Wenn das Zusammenleben
110 So war es gewesen
111 Verbannt, verbannter, verbanntest
112 Wie kommt ein Sohn
113 Doch hatte sie den Ausschlag
114 Das Gesamtwesen
115 Würde er, wie ein Politiker
116 Nichts Schlimmeres für einen Mann
117 Diese Frauen hielten auf Unordnung
118 Natürlich hatte er hingehört
119 Nirgends war sie allein
120 Was, wenn jemand das Ritual
121 Angenommen, sie war also doch
122 Und du?
123 Stattdessen ging es weiter
124 War das ›Literatur‹?
125 Da war etwas
126 Mann reißt Frau auf
127 Diese Investorengeschichte
128 Es hat keinen Zweck
129 Hatte er frei?
130 Hatte er frei? Natürlich nicht
131 Hatte sie frei?
132 Tronka schwitzte
133 Der Eifer!
134 Vernichtete?
135 Um nichts in der Welt
136 Ihr Talent
137 Das Ideal
138 Nicht Realismus, Perfektion
139 Auch er wird rasiert
140 Er wird rasiert
141 Ehrlich gesagt
142 Das Erschrecken
143 Wie auch immer
144 Wenn einer Beziehung
145 Ein Verdacht, abstoßend
146 Was gilt, was gilt nicht
147 Die Beziehung
148 »Was starrst du?«
149 Was treibst du da?
150 Ist sie nicht schon
151 So isoliert
152 Heute?
153 Du hast gelernt
154 Du hast die Literatur
155 Vor dir hast du verleugnet
156 Die Beziehung zu Pida
157 Frage, vorab zu klären
158 Diese Vernunft
159 Einmal im Leben
160 So hat er es nie
161 »So geht das nicht!«
162 Perfektionsfrei war Pida nicht
163 Die Clique ist ausgeflogen
164 Hol’s wieder!
165 Wenn die Gruppe
166 Ein seltsamer Anspruch
167 Die Kleingruppe hier
168 Das zweifelhafte Vergnügen
169 Einer setzt die Norm
170 Der Anspruch
171 Du musst dein Leben ändern
172 Du musst dein Leben ändern:
173 Wenn die Widerstände
174 Das ist kein einfaches
175 Die Beziehung, wie Tronka
176 Wenn Pida eskalierte
177 Nicht die halbe
178 X+1
179 Der richtige Zeitpunkt
180 Bleibt die Frage
181 Eine Beziehung kann nicht
182 Woran Pida auflief
183 Um die Maschinerie
184 Woher nahm Pida
185 Pidas Erfindungsgabe
186 Mutter
187 Ihre Spezialität
188 Die Idee, das Leid arbeiten zu lassen
189 Hatte sich das Gros
190 Gesichter, Gesichter
191 Die auf dem Gemäuer
192 Gleichheit der Geschlechter
193 Er war der Papagei
194 Er war der Papagei. An ihm
195 Er war der Papagei. ›Zizisbeo‹ nannten
196 Er war der Papagei. Stunden
197 Er war der Papagei. Wenn
198 Also wenn er der
199 »Jede Beziehung lässt sich retten…«
200 Wo Recht ist, ist Pflicht
201 Die Beziehung kann nicht scheitern
202 I try and I try and I try
203 Aber wir leben doch
204 Was dich immer frappiert
205 Wer ist das –
206 Es gilt das gesprochene Wort
207 Alles Angesagte
208 Nein, keineswegs
Das Bersten « Suche »
1

Er hätte schwören mögen, in der Nacht nicht geschlafen, sondern gejagt zu haben. Schweiß klebte an seinen Poren. Der pochende Rhythmus hob etwas ins Bewusstsein, das ihm sofort entfiel, als er sich ihm anzunähern versuchte. Das verblüffte ihn. Er versuchte sich aufzurichten, um die Gegenstände in Augenschein zu nehmen, die wie die Geister verblichener Raubtiere sich um ihn lagerten. »Mon Dieu«, murmelte es in ihm, weniger aus Gefälligkeit gegen das Gastland als dem Bedürfnis folgend, tief und weich zu fallen. Das hier war unerträglich. Wirklich? Wirklich ertrug er es, trug es, unter Aufbietung aller Kräfte, hierhin und dorthin, eine zerbrechliche Schale, aus der augenblicklich eine Flüssigkeit stürzen konnte, die ihn zerstörte. Das musste nicht sein, nicht heute morgen, nicht jetzt, bei offenem Fenster, durch das die mediterrane Luft braust und dröhnt, in dieser kühl strömenden, durch die nur wenig geöffnete Jalousie seinem Zustand angenäherten Helle, ein auf Goldgrund schimmerndes Engelskostüm, per Zufall in den Trubel eines Raketenstarts geraten, auf Kourou oder anderswo, den geographischen Gegebenheiten fühlt er sich nur am Rande gewachsen. Kourou! Der Taubenruf geht durch Magen, Darm, Leber und Milz, vibriert in Scheidewänden, hallt in Kammern wieder, von deren Dasein er nur eine schwach blinzelnde Kenntnis besitzt, wallt in Flüssigkeiten, die seinem Wunsch, sich aufzurichten, eine träge Gewalt entgegensetzen, gegen die er nicht ankommt. So steht es, so muss es stehen, auch wenn sich alles gegen die Annahme sträubt. Alles? Ein Zwitterwesen, bereit zur Kapitulation, von Misstrauen umflammt wie die Mündung eines Feuerzeugs, gerade gut genug, um eine Instanz aufleuchten zu lassen, die sich seinen Entscheidungen bereits im voraus verweigert – irgendein ungerührt operierendes logisches Vermögen, stramm verwachsen mit etwas anderem, vielleicht dem von Leuten, die sich auskennen, als ›nackt‹ titulierten Überlebenswillen, einem scheuen Wild, das sich sorgfältig zu verbergen weiß, solange man es nicht zum Äußersten treibt. Der Einfall, brandgefährlich, verliert sich wieder in den Windungen des Schmerzes, aus denen er aufstieg und die er aufs Neue entfacht. Tronka muss sich flach halten, um ihm zu entgehen: eine Illusion, wie der Versuch sogleich an den Tag bringt. Nichts zu versuchen scheint das Gegebene. Doch es ist falsch, sich daran halten zu wollen, es ist undurchführbar. Der Schmerz bleibt sinnlos, unberechenbar, ein Besatzungssoldat, der in einem abgelegenen Haus Amok läuft, während die Schreie der Gequälten sich in einer schweigenden Welt verflüchtigen.

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2

Ungeheuer ist vieles. Doch nichts
Ungeheurer als der Mensch.

Ungeheuer ist die volle Gegenwart des Vergangenen in zweifacher Hinsicht: von erdrückender Wucht und dabei nicht ganz geheuer, jedenfalls der beurteilenden Instanz, die sich ihrer, im Großen und Ganzen vergeblich, zu erwehren sucht. Erfolge erzielt sie eher im Kleinen und Unscheinbaren. Es sind Überraschungscoups, bei denen das Allgemeine ausgespart bleibt, der flink sortierende Umgang mit temporalen Repräsentanzen, sprich, den verschiedenen Weisen der Vergegenwärtigung, mit denen das Bewusstsein aufzuwarten vermag, also gerade die Tätigkeit, in der sich das Denken am gelenkigsten bewegt. Sobald es nur konstatieren kann, stockt das Denken, es tritt auf der Stelle und es fehlte nicht viel, es leugnete rundheraus, was zu begreifen seine Aufgabe wäre. Diese Eigenschaft des Denkens beschäftigte Tronka in den Erholungszeiten, die ihm der Schmerz gewährte. Das waren Zwangspausen, die ohne Ankündigung eintraten und vergingen, offenbar einem Bedürfnis folgend, dessen Kontur er vergeblich zu ergrübeln versuchte. Die Bühne des Ich, eine abgedroschene Metapher, plötzlich zum Leben erwacht und herzerweichend dekoriert, stand in diesen ausgedehnten Momenten leer, er hätte auf ihr umherlaufen können, aber die Möglichkeit kam nicht auf ihn zu. Was auf ihn zukam, waren erneute Wogen von Übelkeit. Sie abzuwehren beanspruchte all seine Kraft. Eingedenk der Wirkung der Gorgo wandte er, jede Anstrengung peinlich umgehend, sich von ihnen ab, der anderen Seite des Schmerzes zu, die Versteinerung suchend und meidend, als trüge er auf beiden Seiten des Mythos. Jede einzelne Welle konnte einen Perseus heranspülen, der ihn besiegte, jeden Augenblick lauerte das Monstrum darauf, das schreckliche Gesicht zu zerstören, das womöglich er selbst war. Ein Tronka zuviel – mit dieser Formel fächelte er sich Mut zu, wohl wissend, wie wenig sie bedeutete und wie rasch sie zerbrach, sobald es wieder ernst wurde. Und es wurde ernst. Die Geschichte hatte sich zu ihm Zutritt verschafft und dachte an keine Schonung. Es war nicht die Geschichte der Welt, noch weniger die seinige, beide Deutungen lehnte er ab. Seiner festen Auffassung nach war die Geschichte der Welt verhüllt, sie würde es immer bleiben, und seine Selbstachtung ließ keine Verschmelzung zu. Was da presste und schob, es war: eine schlimme Bescherung. Unablässig zielte es auf sein notdürftig abgeschirmtes Gesicht: keine Schonung. Nicht dass ihm unbekannt gewesen wäre, was sich auf ihn zu wälzte. Hin und wieder hatte er seinen Spott an den Berichten anderer gewetzt, die alles, was ihnen zustieß, persönlich nahmen, obwohl das Stereotype daran kaum zu übersehen war. Das Stereotype gehörte zu dieser Art von Leiden dazu. In ihm sammelte es sich wie in einem Kanal und floss träge ab, Erleichterung ohne Erleichterung, da die Bewegung Schmerz bedeutete und der Druck nicht nachließ, der sie in Gang hielt. Hatte er wirklich Angst um sein Gesicht? Er wusste es nicht, die Wirklichkeit der Angst schien ihm von nachrangiger Bedeutung zu sein, verglichen mit dem Potential, das die Situation in sich barg.

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3

Da lag das Herzstück: keine wiedererwachende Erinnerung, sondern ein Zugewinn. An was? An Gelände? Er rührte sich nicht von der Stelle. Trotzdem empfand er sich als Eindringling. Das Gelände hatte sich in Bewegung gesetzt und fiel ihn an, es überflutete ihn mit Abwehr, obwohl er sich keiner feindlichen Handlung bewusst war. Hier war kein Gelände zu gewinnen, jetzt nicht und nicht in Zukunft. Der Raum, der ihn überflutete, zerbrach bei jeder Berührung, an jeder Stelle. Wo lag der Zugewinn? In der Einsicht? Wenn ja, in welcher? Was würde er begreifen, was er nicht seit langem begriffen hatte? Was gab es hier zu begreifen, was nicht zu den längst rubrizierten Elementen der Gegenwart zählte? Er konnte nichts tun, angenommen, das Wort ›Nichtstun‹ erfasste auch einen Zustand, in dem urplötzlich das Atmen zum Problem wurde, als habe er es über Nacht verlernt oder als verlerne es sich jetzt selbst. Mit Übungen war diesem Problem nicht beizukommen. Stattdessen musste es, wie alles andere, hingenommen werden, als Teil eines Ablaufs, der allenfalls durch einen brutalen physischen Überfall von außen gestört, vielleicht sogar zum Abbruch getrieben werden konnte, möglicherweise auch in eine neue, katastrophale Dimension hineingeriet. Darüber ließ sich nichts in Erfahrung bringen, es blieb als winziger ironischer Splitter hängen, der irrlichternd gelegentlich auftauchte und wieder verschwand.

Das Bersten « Suche »
4

Was gab es hier zu begreifen? An dieser Frage versagte er, obwohl er wütend immer wieder dieselbe Stelle anpeilte. Genauso wenig wie er aufstehen und der Situation ein Ende machen konnte, gelang es ihm, sich denkend von einem Punkt zum nächsten fortzubewegen. Es war, als würden ihm die Gedanken vorgezählt, ohne dass seine Stimme dabei gefragt war. Selbst dieser Gedanke sollte sich erst einstellen, als sich die Wasser verlaufen hatten und das normale Bewusstsein seinen Fortgang nahm. Jedenfalls wirkte die Sperre umfassend und intelligent – ja intelligent: sie erlaubte ihm nicht, eigene Wege zu gehen und dadurch den Richtungssinn des Geschehens willkürlich zu verändern. Dennoch waren es seine Gedanken: Sie trudelten durcheinander oder schlichen, einmal den einen, einmal den anderen Rand des ihnen zugewiesenen Korridors streifend, einem unbekannten Ziel zu, das ebenso gut in weiter Ferne liegen konnte wie gleich nebenan. Vielleicht war alles Täuschung und das Ziel verschwand im Näherkommen, löste sich auf oder erwies sich als eine Serie von Foppungen – ausschließen ließ sich nichts. Sollte das der Fall sein, so steckte die Illusion nicht im Denken, sondern in der rätselhaften, aus dem Körper aufschießenden Instanz, die es vorwärtstrieb und seine Möglichkeiten empfindlich begrenzte.

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5

Ein Stück Gegenwehr lag darin, diese Überlegung überhaupt zuzulassen, etwas wie ziviler Ungehorsam, der aber ohne viel Federlesens beiseitegeschoben wurde. Der Körper ließ sich von keiner Skepsis beeindrucken. Was war schon der Körper? Das Ritual der Unfähigkeit, sich zu erheben, der an jede Form der Bewegung sich heftende Kopfschmerz, der unentwegt changierende Brechreiz, das ganze ausladende Sammelsurium aus Folterstücken, das man etwas herablassend Übelkeit nennt und das, solange es herrscht, keinen Namen trägt, ließ zwischen Körper und Psyche keinen Unterschied gelten. Zweifellos hielt es nichts von Ursachenforschung und antwortete auf den matten Versuch, ihm durch die Einnahme von ein paar Tabletten die Ressourcen abzuschneiden, mit einer ebenso listigen wie machtvollen Entladung. Tronka, dem es sonst nicht an Entschiedenheit fehlte, wusste wohl, dass entschiedenere Gegenwehr möglich war. Nein, er wehrte sich nicht, nicht wirklich, eher pro forma, weil es sich so gehörte und eine Option offenhielt, ganz als wollte er die Gegenseite dazu anhalten, das Unerträgliche innerhalb der Marken des Erträglichen zu belassen, so dass er selbst das Erträgliche in die Maskerade des Unerträglichen zwang. Ein bisschen eigener Wille war also im Spiel, genug, um dafür zu sorgen, dass ein Abbruch der grausamen Tunnelwanderung nicht in Betracht kam. Er heroisierte das nicht, dafür besaß er zu viel Respekt vor der Fähigkeit anderer Menschen, Schmerz und Ausweglosigkeit zu ertragen, zu viel Respekt vor den Qualen, denen eine nur grob zu ermittelnde Zahl von Menschen rund um den Globus zu jeder Zeit ausgesetzt ist, womöglich eine leise Bereitschaft, sich wegzulassen, sobald ein weitergehendes Spiel es verlangte, auch wenn ihm vor dieser Variante noch graute. Dagegen kam das hier nicht in Betracht. Es spielte vor der Kulisse von etwas, das eine gockelhafte Psychologie ›Selbsterfahrung‹ nannte, ohne, jedenfalls öffentlich, in Erwägung zu ziehen, dass in ihm noch andere Möglichkeiten als die durch Wörter wie ›Therapie‹ und ›Spiel‹ angedeuteten schlummerten.

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6

Unterschwellig war er sich sicher, dass ihm dies hier bekam. Er erwartete etwas außerhalb der alltäglichen Margen, keine läppische Belohnung für erlittene Unbill, sondern etwas, das der durch seine Zustände irrlichternden Vokabel ›Zugewinn‹ einen erkennbaren Sinn verlieh. Verloren geglaubte Zustände dockten an und versanken, eine dunkle Fläche schob sich näher und wuchs, zum Greifen nahe, doch die Übelkeit schmiedete ihn an seinen Felsen und sie barst auseinander. In gewisser Hinsicht hatte er dieses Stück Vergangenheit immer gekannt. Es war nicht, wie so vieles, im Lauf der Zeit abhanden gekommen, so dass er sich hätte schmeicheln können, es in einer wirren Folge von Augenblicken, die sich wie Stunden dehnten, neu zu entdecken. Er wusste nicht, was das Bersten bedeutete, nur, dass es Perspektiven eröffnete ohne Ende, darunter solche, die er gern verschlossen gehalten hätte bis –? Er kam sich vor wie ein Klavier, an dem jemand Unbekanntes saß und in die Tasten griff: er kannte das Musikstück, er hatte es beim ersten Hören für unbedeutend gehalten und musste nun zugeben, dass es ihm durch und durch ging und dass die Gesamtheit seiner Organe gerade ausreichte, es so auszudrücken, wie der unbekannte Spieler es ihm diktierte.

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7

Ein Lichtpunkt, beharrlich in Schmerzzuständen wiederkehrend: sollte dies das natürliche Resultat eines Alkoholabends gewesen sein, so wunderte ihn, wieso gerade er die Folgen eines Exzesses ausbaden musste, den eher die anderen begangen hatten. Etwas war falsch an dieser Sicht der Dinge. Ein Widerwille, ja Widerwille erfasste ihn, dem schier unaufhaltsamen Sog des Gedächtnisses folgend, die Diagnose ein weiteres Mal zu schultern, nachdem er es offenbar schon einmal mit großer Bereitwilligkeit getan hatte. Nicht dass er sich scheute, die Verantwortung für seinen Zustand zu übernehmen. Warum denn nicht? Andererseits trennte sie, ein schwerer Vorhang, die Szenerie des Abends. Ihm war, als müsse er sich bücken, um in den anderen Teil hinüberzusehen. Er würde sich aber nicht bücken, soviel stand fest. Allein der Gedanke belustigte ihn, während eine neue Schockwelle ihn durchquerte. Nein, er würde sich nicht bücken, nicht nach soviel Jahren, nicht aus so läppischem Anlass, eher würde er den Verkehr mit der Vergangenheit abbrechen, auch wenn ihm augenblicklich dazu die Mittel fehlten. Vielleicht verbarg sich hinter dem, was sich so hochtrabend Verantwortung nannte, nichts weiter als eine unbestimmt weit zurückreichende Praxis blinder Selbstbezichtigung, von der er abgekommen war, die aber immer noch eine geheime Macht über ihn besaß. Jedenfalls musste diese Möglichkeit ins Auge gefasst werden. »Unbedingt« murmelte er und lächelte ohne Überzeugung in sich hinein.

Das Bersten « Suche »
8

Etwas störte. Wörter, die keinen Widerhall in ihm besaßen, Ausdrücke wie ›chronische Selbstanklage‹ und ›Masochismus‹ traten ungefragt, aber mit Kennermiene ans Lager. Gib zu, sagten sie, dass hier der Hase im Pfeffer liegt, wir treffen selten daneben, wir können auch warten, sofern der Kandidat den Verkehr mit uns noch nicht wünscht, aber unter uns: Reine Zeitverschwendung! Reine Zeitverschwendung! Er bat um Bedenkzeit, sie wurde lächelnd gewährt. Aber er benötigte keinen Aufschub, der Zug ging weiter und sie fielen zurück. Er spürte, dass er mit Spitzfindigkeiten nicht weiter kam. Das sagt sich leicht, es ist ein Wegweiser in die blaue Luft, wo doch der Weg sich am Boden hinzieht, zäh, blicklos, die Wörter auf andere Weise hervorziehend und verbrauchend. Im Grunde war es gleich, wie er es stellte, es blieb, was immer blieb, die kleine Hypothese, dass ihm die physische Konstitution seltsame Streiche an Stellen spielte, über die andere, ganz gleich, was sich dort im Untergrund tummeln mochte, mit großer Selbstverständlichkeit weggingen. Warum das Offenkundige leugnen? In den Verästelungen des körperlichen Unwohlseins kannte er sich aus, nicht anders als jemand, der die Zustände eines lebenslangen Begleiters kennt und die Diagnose fertig zur Hand hat, bevor einer von ihnen wirklich eintritt. Nüchtern betrachtet war das seine Weise, da zu sein, der Pulsschlag seines Lebens, die schiere, ihn ein ums andere Mal überrollende physische Gegenwart. Die konvulsivischen Wallungen, in denen sich das Wunder des Organismus kundtut, stießen sein Bewusstsein nicht nur von außen an, sondern versorgten es mit immer neuem Stoff, so wie die Leute sich Abend für Abend aus einer wirren Folge von Bildern grässlicher und kaum miteinander verbundener Ereignisse, die sie als ›Nachrichten‹ bezeichnen, etwas zusammensetzen, das sie ›Welt‹ nennen und wovon sie mit dem Ausdruck größten Respekts reden, da sie nicht ohne Grund in ihm die Bedingtheit ihres eigenen Daseins eingetütet vermuten. Es kam ihm vielleicht ein wenig zu nahe: auf diese Formel hätte er sich gern mit sich geeinigt, vor allem in den Zwischenzeiten, wenn sich der Körper in sich selbst zurückzog, um daraus Kraft zu neuen Attacken zu schöpfen.

Das Bersten « Suche »
9

»Sie tragen die Stigmata.«    
Die Szene, scharf umrandet, zog vor ihm auf, er misstraute dem Medizinmann, er misstraute dem Typus, den er verkörperte. Dabei genoss er die Rede, weil sie so ein seltsames Licht über diese Vorgänge goss.    
Ein Gespräch über Scheinsymptome.    
»Ich sehe die Symptome, ich höre Ihren Bericht, aber ich sehe kein Krankheitsbild. Das mag an mir liegen, wir wollen vorsichtig bleiben. Aber lassen Sie mich raten: Sie können keinen Menschen im Rollstuhl sehen, ohne dass Sie zu hinken beginnen.«    
Woher wissen Sie das, hätte er gern gefragt.
Der andere kam ihm zuvor.    
»Die meisten meiner Kollegen lehnen den Ausdruck ab, er passt nicht in ihr Weltbild, doch das Phänomen ist bekannt. Haben Sie einen künstlerischen Beruf? Ich frage Sie, weil dieser Personenkreis dafür anfällig ist.«    
Dafür oder davon? Müßig, die Frage jetzt zu stellen, sie stand nicht auf der Tagesordnung. Ohnehin betraf sie ihn nicht ... oder kaum. Warum der Rollstuhl? Natürlich der Rollstuhl, was sonst. Er hätte dem Arzt sagen können: Wissen Sie, wie oft kommt es vor, dass ein Rollstuhl mein Blickfeld durchquert, ohne dass ich auf ihn aufmerksam werde. Aber mein Wahrnehmungsapparat hat ihn registriert und schon hinke ich, ohne zu wissen warum. Natürlich hinke ich nicht aus Vorsatz. Ich habe den Rollstuhl nicht bemerkt, nicht wirklich, aber jetzt bemerke ich, dass ich hinke. Ich hinke ohne Grund, also suche ich nach dem fehlenden Grund und finde den Rollstuhl. Ich weiß, so war es. Aber wie kann man so etwas wissen? Das ist doch die Frage. Oder nicht ganz. Eigentlich müsste sie heißen: Wie kann ich wissen, dass ich einem Rollstuhl begegnet bin, ohne etwas davon zu bemerken? Es wäre, wie Sie sich leicht vorstellen können, eine große Beruhigung für mich, wenn ich das wüsste. Ich müsste mir weniger Sorgen um meinen Zustand machen und, wer weiß, er hätte sich schon verflüchtigt. So bleibe ich sein Gefangener, der Ausbrüche plant, aber nicht weiß, wie das Gebäude beschaffen ist, in dem er sich aufhält.

Stattdessen war er gegangen.

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10

Ein Fehler steckt im vorausgegangenen Abend, aber er kommt nicht an ihn heran. Nur eine untergeordnete Wahrnehmung hat ihn aufgenommen und die verschlossene Botschaft weitergeleitet. Das könnte der Auslöser der Migräne sein: ein Gedankenpaket, zusammengeschrumpft auf das handliche Schmerzformat, das ihn jetzt beschäftigt und hinhält. Kein Zweifel, ohne sie wäre er längst aufgestanden und hätte den Abend hinter sich gelassen wie den davor. Der Schlüssel liegt also bereit. Bereit zur Abholung? So einfach liegen die Dinge nicht. Auslöser und Ursache mögen dicht beieinander liegen, so dicht, dass man ein Mikroskop bräuchte, um sie auseinanderzuhalten, aber der Schmerz – … der Schmerz ist ein feiner Vivisecteur, er lässt sich weder durch Nähe noch durch Ähnlichkeit täuschen, er beharrt stur darauf, dass etwas nicht stimmt, solange, nun, solange etwas nicht stimmt: nähme man ihm diese Aufgabe, die einzige, die zu erfüllen ihm aufgetragen ist, so bliebe nur Quälerei. Was also ist der Sinn der Migräne? Etwas sucht Zutritt zu seinen Gedanken. Warum ergibt es sich nicht? Sinn ergibt sich, das ist sein Schicksal. Er kann nicht anders, es ist seine Art, sich zu bekunden. Ein randalierender Sinn, der es auf Widerstand anlegt, darauf, sich nicht zu bekunden, ein solcher Sinn ist ein Widersinn. Er ist der ausgeschlossene Fremde, der nicht zu Tisch gebeten wird, weil das Essen für ihn nicht reicht. Vielleicht hatte er eine mühsame Anfahrt, vielleicht war er lange anwesend, ohne bemerkt zu werden, vielleicht wurde er weggeschickt, als er noch mitteilungsfreudig war, jetzt, da er stumm nach dem Wort greift, könnte er es ebenso gut lassen. Könnte er? Nein, er kann es nicht. Er kann es nicht und er will es nicht. Vielleicht steht er vor dem Durchbruch. Vielleicht auch nicht, wer kann das wissen?

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11

Die Woge stieg. Sie erreichte den oberen Pegel und Tronka flüchtete ins Bad. Was ihm eben noch zugesetzt hatte, war einer handfesteren Bedrängnis gewichen, die sich gewaltsam Anerkennung verschaffte. Er würgte nur kurz, dann brach es aus ihm heraus. Befreit, ein anderer, kam er zurück. Die neue Person, rapide erleichtert und durcheinandergeschüttelt, heruntergestuft auf den Stand eines Wesens, das schmeckt, fühlt, sichert und abblendet, was an Weiterungen in der Situation steckt, hat vermutlich dasselbe Problem wie ihr Vorgänger. Aber sie hütet sich, es anzufassen. Sie geht auf Zehenspitzen um es herum, immerfort eines neuen Ausbruchs gewärtig, bereit, ihn im Keim zu ersticken, mit allen verfügbaren Mitteln, legalen und illegalen. Sie würde nicht zögern, nach einem der bereitliegenden Helfer zu greifen, aber alles bleibt ruhig. So vergeht auch sie, nicht auf einmal, sondern im Wechsel von Wachen und Dämmern, in einer Abfolge von Zuständen, über die sich der Wille schon im Ansatz hinaus spannt, als lohne es nicht, bei ihnen zu verweilen, obwohl sie die augenblicklich Herrschenden sind, anonyme Quälgeister, über die die Geschichte eines Lebens hinweggeht wie die eines Staates oder einer Nation über den Anblick eines regierenden Clowns.

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12

Er kam und kam nicht zur Ruhe. Darin erkannte er eine Abweichung. Statt in den Bahnhof der Genüsse einzulaufen, die ihn erwarteten, rollte der Zug überraschend daran vorbei ins Gebirg. Geröll säumte den Fluss, der grün und reißend zu Tal schoss, ein Trakl-Vers, einsamer nie, Vers ohne Worte, irrlichterte durchs Gehirn, über den Bäumen klebte der Blick am Fels, ein Wasserfall, winzig, fiel von Stockwerk zu Stockwerk, weiter oben, im Licht, schoben sich granitene Türme und Hauben zusammen und drifteten auseinander, Bussarde kreisten, irgendwo lag ein Schrei in der Luft, aber der Fahrtlärm verschlang ihn. Der Zug lief eine Kurve, Felswände schrammten vorbei, feucht, fleckig, rissig, im Fenster gegenüber dämmerte Hochwald, den Boden mit Farnen gesprenkelt, hier und da wob ein Lichtstrahl zwischen den Stämmen, dämmriges Séparée, ausgepolstert mit Nadel- und Blattwerk, Kaskaden von Blättern, zierlichen Schirmchen, aufgespannt, um die träge und dumpf zwischen den Wipfeln hängenden Spannungen einzufangen, – hinein in den Tunnel, in dem die trübe Wagenbeleuchtung aufglomm, augenblicklich vergessen, vernichtet vom Tageslicht, in dem zwischen Kühen, winzig, die verstreuten Häuser eines Dorfes im Talgrund aufflammten, beiseite gewischt von Fels und Tann, überglänzt von Sonne, ein geborstener Regenbogen glitt gespenstisch vorbei – Phrasen, Phrasen, ausgeworfen im gleitenden Rhythmus der Räder, der Schrei, wessen Schrei, verhallt, nutzlos verhallt wie so viele, stumm vielleicht, sicher stumm, wer schreit schon, außer ein Kind oder ein Verletzter, Folteropfer vielleicht, Therapieopfer, Selbstbefreier, Befreite, ein Säugetier im Moment des Todes, irgendwo oben im Fels löst sich ein Brocken Gestein.

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13

Der Ort

Hier hatten sie sich getroffen. Nicht er und sie, sondern ›sie‹. Dies vor Augen hatte er die Ankunft hinausgezögert, solange es ging. Die Migräne, was war sie anderes als ein Aufschub danach, eine Ankunftsblockade, die scharf zwischen ihm und den anderen trennte, schärfer als ein Wort oder eine Geste es vermocht hätten? Sie war eine Geste und sie wurde verstanden. Dessen war er sich sicher. Wollte er das? Wenn er es wollte, warum war er dann gekommen? Sehr einfach, er war nicht allein gekommen, er war mitgekommen, obgleich der Ausdruck ihn störte, da er die Initiative so ungleich verteilte. Warum war er mitgekommen? Zweifellos deshalb, weil er sich nicht ausschließen wollte. Wie unklug, sich einzuschließen aus lauter Bereitschaft, sich nicht auszuschließen ... oder einem drohenden Ausschluss zuvorzukommen, der immer denkbar blieb. Aber stimmte das? Nicht er war es, der sich wegschloss. Gern würde er das Bett mit Haus und Garten vertauschen, gesetzt, das hier wäre bereit, ihn einen Moment aus dem eisernen Griff zu entlassen. Gern wäre er jetzt an der Seite der Seinen gewesen. Ein Gefühl, gebleicht durch die weiterhin dominierende Übelkeit, wärmte sich bei der Vorstellung an, schlangengleich glitt es davon. Er hätte es auf der Bettdecke einfangen können, aber die Unruhe ließ es nicht zu. Man war zusammengekommen, unweigerlich brodelten in diesem ›man‹ die anderen, die sicher längst aufgestanden waren und auf Zehenspitzen umhergingen, nein, nicht auf Zehenspitzen, das wäre zuviel der Ehre gewesen, sie liefen einfach auf dem ländlichen Komplex herum, nahmen die Gebäude in Augenschein, die Terrasse, das Schwimmbecken und, mit Blicken, die ›Zeit lassen!‹ signalisierten, den umliegenden Park, durch den, wie man bereits gelesen hatte, ein Bach plätscherte. Das alles wusste er, so wie er da lag, mit geschlossenen Augen, die nicht die Welt enthielten, sondern den Schmerz, es trug sich in ihn ein, als handle es sich um ein ausliegendes Gästebuch, selbst das leise Klappern von Bestecken und die kurzen Wortwechsel der Frauen, bei denen eine Stimme fehlte, sei es, dass ihre Trägerin schwieg, sei es, dass sie sich abseits hielt oder so leise sprach, dass ihre Stimme nicht zu ihm durchdrang.

Denn man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.

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Die Gesichter

In der Zwischenzeit versuchte er sich die Gesichter derer vorzustellen, die da draußen im bereits kräftigen Frühlicht herumliefen, zunächst zum Zeitvertreib, dann, als er erkannte, dass er nicht bis zu ihnen vordrang, mit wachsender Hartnäckigkeit, sei es, dass er auf diese Weise ihnen näherzukommen wünschte, sei es, dass er es beunruhigend fand, von seinem Gedächtnis derart in Stich gelassen zu werden. Die Tarnkappe, unter der sie sich bewegten, umfasste, wie er bald herausfand, auch ihre Namen. Immerhin blitzten die der Seinen gelegentlich auf, während die anderen völlig verschwunden blieben. Nicht dass ihre Träger ihm deswegen fremd vorkamen. Im Gegenteil, er hätte zu jedem hintreten und ihm ein gutes Wort sagen mögen. Er war jedermann freundlich gesonnen und wünschte, dass sie es erfuhren. Vielleicht lag darin sogar der Grund seiner Freundlichkeit. Jedenfalls spürte er ihre Nähe fast schmerzhaft – eine merkwürdige Feststellung angesichts der Schmerzen, die ihn durchfluteten, dennoch verhielt es sich so. Dass er ihre Gesichter nicht sehen konnte, beschäftigte ihn nicht durchgehend. Im Gegenteil, es trieb vorbei. Der Wunsch, der Nebel möge sich lichten, hatte sich Augenblicke später bereits wieder aufgelöst, er musste ihn immer und immer aufs neue zurückholen, doch festhalten ließ er sich nicht. Wollten die Gesichter ihm etwas sagen? Er verabscheute die Phrase für gewöhnlich, jetzt kam er auf sie zurück. Wenn darin eine Erniedrigung lag, so nahm er sie fast schon billigend in Kauf. Fast, denn eine dazu querlaufende Stimme sagte ihm, dass die Billigung sich allein der augenblicklichen Schwäche verdankte, folglich erpresst war und daher nicht zählte. Dennoch begann er in den leeren Scheiben zu suchen, die ihm die Vorstellung statt der vertrauten Gesichter hinschob. Und wirklich erklang, wie hinter vorgehaltenen, im Lauf der Zeit verblichenen Masken, nach einiger Zeit das wohlbekannte Durcheinander der Stimmen, allerdings in Gestalt abgerissener und wie willkürlich verstümmelter Sätze – Satzfetzen, die jemals gehört zu haben er sich nicht erinnern konnte. Es schien auch nicht wichtig, sie zu verstehen. Nur der Ton machte ihn stutzig. Er fand, etwas Ungehöriges liege darin. Nichts, was an sich ungehörig gewesen wäre – das zu entscheiden hätten sie verständlicher reden müssen –, sondern eine gegen ihn gerichtete Spitze, die sich ihm nicht erschloss, der er aber die Berechtigung rundheraus abschlug, eine Bosheit, die sich nicht auflösen ließ, weil sie sich nicht auflösen lassen sollte, eine – Vorsicht! – aus der Tiefe der Zeit heraufschwimmende Botschaft, zu der er den Schlüssel nie besessen hatte und unter deren Diktat, das registrierte er dumpf, er lange Jahre seines Lebens zugebracht hatte – und vielleicht mehr als das. Gleich waren die Masken verschwunden und eine Wand, eine wirkliche Wand, ein Katarakt von der Dichte gewachsenen Felses, nahm prasselnd und flirrend seine Aufmerksamkeit gefangen und strebte mit ihm dem Ausgang in einem Theater zu, in dem das Stück, soviel nahm er noch mit, gerade begann.

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15

Wenn er den Sonnenstand und die Geräusche im Hause richtig beurteilte, dann hatte er das Frühstück bereits versäumt. Das Bett an seiner Seite war leer. Die Frau, die dort gelegen hatte, geisterte offenbar durchs Haus, er meinte hier und da ihre Spur aufzunehmen, auch wenn die Stimme im Konzert der anderen fehlte. Vielleicht verhielt sie sich lautlos, weil sie eine Bürde trug, leicht genug, um dadurch nicht in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden, aber spürbar genug, um sie von den anderen abzusondern und einen entsagungsvollen Zug in ihre Gegenwart einzuzeichnen. Sicher haftete an ihr die Tatsache, dass er hier lag und mit Dämonen herumkasperte, die ein anderer mit ein paar Tabletten und einem Glas Wasser wegspülte oder gar nicht erst zuließ. Das war eine Aura, die den anderen abging. Sicher bezeugten sie Respekt für den Langschläfer, der keiner war, den Morgenpatienten, dem es ›nicht gut ging‹, aber der Respekt floss sogleich auf das Konto seiner Begleiterin weiter, das auf diese Weise ein wenig zum Konto aller wurde, als tätigten sie damit eine Investition, von der sie sich in naher Zukunft einen ungewissen Gewinn erwarteten. Das alles empfand er mit geschlossenen Augen, während der Schmerz sich gleich einer Fahrzeugkolonne durch ihn hindurchwälzte, er sah es beinahe deutlich in den hin und wieder entstehenden Lücken, die einen Blick auf die gegenüberliegenden Fassaden erlaubten, während das nächste Ungetüm bereits heranrasselte. Dass er es spürte, war nicht weiter verwunderlich, es strömte durch die Schnur, die ihn mit ihr verband, in ihn ein. Es war ein Signal, das ihn aus den Fernen der anderen Existenz anwehte, ein Hauch, ein Lüftchen, ein leichter, kaum spürbarer Druck.

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16

Im übrigen fühlte er sich durch das Signal nicht geängstigt, falls doch, dann allenfalls in homöopathischem Umfang. Zweifellos lag darin ein Appell, der Sache hier ein Ende zu machen, sich zu den anderen zu gesellen und den unverhofft erworbenen Sonderstatus zu beenden. Weiterhin fühlte er eine Leere, von der eine gewisse Unruhe ausging. Sie erinnerte ihn daran, dass der Riss, der sich zwischen ihm und den Mitankömmlingen aufgetan hatte, bereits in der Welt war und nicht wieder entfernt werden konnte, ferner, dass jeder Versuch, ihn zu beseitigen, ihn nur vergrößern würde, und dass die Frau, mit der er gekommen war, bei dieser voraussehbaren Entwicklung nur bedingt auf seiner Seite zu finden sein werde.

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17

Der Riss beschäftigte ihn nicht sonderlich. Das konnte daran liegen, dass er keinerlei Notwendigkeit empfand, ihn zu leben. Diesen Leuten würde er später wieder begegnen oder auch nicht, der Unterschied würde kaum feststellbar sein. Es stünde ihm frei, sie zu erkennen oder gruß- und blicklos an ihnen vorbeizugehen. Vielleicht würde er in naher Zukunft den einen oder anderen schon nicht mehr erkennen, so dass auch von dieser Freiheit kaum etwas übrigbliebe. Im Raum seiner Phantasie würde er gelegentlich einen von ihnen antreffen, dessen war er sich fast schon sicher. Manchmal, wenn es dämmerte, würden sie auf die Lichtung treten, eine Familie bunt gefärbter Waldtiere, er würde nicht wissen, welche Nahrung er für sie dort deponieren sollte. Vielleicht war die Sorge unberechtigt und sie würden an ihn keine weiteren Ansprüche stellen. Womöglich würden sie ihn nicht einmal bemerken. Das spräche für sie, im übrigen ließ ihn der Gedanke kalt. Sollten sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebte. Er schuldete ihnen nichts und sie erweckten nicht den Eindruck, in jemandes Schuld zu stehen. Wenn sie Ansprüche erhoben, dann so, als lüfteten sie aus Versehen das Kissen, auf dem sie saßen, sobald sie aufstanden, als haftete es für einen Augenblick an ihrer Kleidung, um dann zu Boden zu fallen. Tiere haben keinen Gastsinn. Das war seit Stunden der erste Gedanke, den er gern weiter gedacht hätte und der jetzt langsam versank, ohne dass es möglich schien, ihn festzuhalten oder einen zweiten aus ihm hervorzulocken.

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18

›Die Frau, mit der er gekommen war...‹ In der Wendung schwang der Gedanke an Eroberung mit, ohne klare Unterscheidung, wem der erobernde und wem der eroberte Teil zufiel. Nicht immer, dachte Tronka in einem lichten Moment, ist die Sprache der Verhältnisse, in denen sich Menschen bewegen, ganz mächtig. Dafür besitzt sie die Macht, Gedankenreihen auszulösen, die den Verhältnissen auf unerwartete, nicht unbedingt lustige Weise auf den Pelz rücken. Zum Beispiel konnte er sich nicht dazu entschließen, sich als Eroberer zu sehen. »Das müsste ich wissen!« Er wusste nichts davon, ebensowenig davon, dass er sich hätte erobern lassen. Überhaupt schien ihm wenig Vorsatz im Spiel gewesen zu sein. Ein Hunger war aufgebrochen – beachte den Doppelsinn! –, wenn überhaupt, dann befand er sich damals auf Eroberungskurs: er hatte sich gestillt, pausiert und nach einer gewissen Zeit wieder zurückgemeldet, so wie man es von Hunger vorauszusetzen pflegt, er hatte die Richtung bestimmt, er hatte den Zeitplan – der kein Plan war, eher ein stoßweiser Fortgang – vorgegeben, er hatte... Was hatte er nicht? Er hatte kein Wissen im Gepäck gehabt, worauf es hinauslaufen würde. Genau besehen, war er der Erbe eines älteren Hungers – Tronkas Mitteilungshungers –, der sich diese – warum diese? – Frau gegriffen und in Gespräche entführt hatte, für die sie vielleicht intellektuell nicht gerüstet war – dafür sprach die Einseitigkeit, mit der er sie bestritt –, wohl aber mental, insofern sie zu schweigen verstand, nicht irgendwie, sondern in klug inszenierten Intervallen, durchsetzt mit einfachen Worten und Gesten, die seinen Redefluss nicht bremsten, sondern in eine neue Richtung lenkten, ohne zu verraten, ob und wieviel Absicht in ihnen steckte. Die Pause ... sie enthielt vielleicht die sich anbahnende Beziehung in nuce, ›in einer Nussschale‹. Es wäre also an der Zeit, sie zu knacken, um nachzusehen, wie das kleine Räderwerk arbeitete, das mit der Zeit auf ihrer beider Leben übergegriffen hatte, um es stoß- und zugartig zu verändern. Den Versuch jedenfalls war es wert.

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Die Pause – was war sie anderes als der Versuch, den Ausbruch zu ignorieren? Als gehe er an ihnen vorbei, irgendwohin ins Gelände, wohin ihm die Blicke zwar folgten, angezogen von der Bewegungsspur, aber immer auf dem Sprung, ihr zu enteilen –. Das Ignorieren besitzt viele Facetten, es reicht von einfacher seelischer Trägheit bis zur athletischen Spannung, die nicht zulassen kann und will, dass aus dem, was geschehen ist, mehr entsteht, obwohl – oder weil – gerade dies geschieht, so dass, was entsteht, sich mit Formlosigkeit maskiert, als realitätslose Realität, als starke Vorspiegelung, sie gehe niemanden etwas an. Geht sie denn? Tronka weiß, dies ist sein Leib- und Magenspruch, er kann nicht sagen, wie viele Menschen er damit traktiert hat, eingeschlossen sich selbst: Das geht niemanden etwas an. Gegenwärtig schien seine Bedeutung aufgehoben, alles ging plötzlich alles an, als setze sich ein Schlangennest in Bewegung, er konnte dem nicht entweichen, auch wenn ihn alles dazu drängte. Jenes formlose Mehr, was konnte es tun? Es erzeugte Spannung, kein Zweifel, es testete alte Verbindungen, von denen sich die einen als tot, die anderen als schmerzhaft erwiesen, während manche mit einem hellen Klang auseinanderbrachen und ihre Spitzen in lebendiges Fleisch bohrten. Darin bestand die eine Seite, die andere ... war es Abwehr? Tronka registrierte die Versuchung, die Frage umstandslos zu bejahen: ja, etwas sträubte sich in jenen Tagen, die sich zu Wochen summierten, gegen die Aussicht, eine neue Beziehung aus dem, was nun einmal geschehen war, hervorgehen zu lassen, sie auch nur daraus hervorgehen zu sehen – warum? Weil etwas daran nicht stimmte. Aber die Versuchung enthielt ein Element der Falschheit, sie warf die Zeiten und Abfolgen durcheinander, sie schmeichelte ihn in eine Pose hinein, die Entlastung versprach. Um welchen Preis? Den Preis der Wahrheit? Ging es hier und heute um Wahrheit? Wenn es um Wahrheit ging, dann musste er die Versuchung zurückweisen, allein schon deshalb, weil sie als Versuchung an ihn herantrat: Misstraue allen Entlastungen!

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20

Eines wollte er festhalten: Er war nicht hergekommen, um eine Krise zu inszenieren. Wenn es Zweifel gab – Zweifel an der Partnerin, Zweifel an sich selbst, Zweifel an der Weisheit des Entschlusses, der ihr Zusammenleben herbeigeführt hatte –, dann war nicht dies der Ort, den er ausgesucht hatte, um ihnen nachzuspüren. Auch jetzt sorgte eine gewisse Trägheit dafür, dass nicht willkürlich alle Parameter verschoben wurden, solange nicht schiere Not ihn dazu zwang. Er war hergekommen, um... Er war hergekommen, weil... Die korrekte Antwort lautete: weil er gefahren war. Sich das einzugestehen war weder einfach noch kompliziert, es ergab sich aus der entstandenen Lage, ohne dass es dazu einer weiteren Überlegung bedurfte. Warum war er gefahren? Das Bild verdunkelte sich. Ein Hofhund, der unter leisem Kettengeklirr vor seiner Hütte an einem Knochen unbekannter Herkunft kaut: war das er? Nein, so sah er sich nicht. Wie dann? »Noch bin ich Herr meiner Entschlüsse«, so sprach es laut aus seinem Inneren, während seine Lippen sich nicht bewegten. Doch musste er sich eingestehen, dass, wenn die Reise sich so ergeben hatte, er sich in sie ergeben hatte, denn sie war von langer Hand geplant und vorbereitet worden, teils hinter seinem Rücken, teils unter seinen Augen, es gab keinen Grund, letztere davor zu verschließen. Eine Drift, so nannte er es und zog Befriedigung aus diesem Wort, als sei ihm irgendein Coup gelungen. Abgeschmeichelt worden war ihm die Reise jedenfalls nicht. Die Person an seiner Seite schmeichelte nicht. Sie verfügte über andere, ihm weit unklarere Mittel und Wege, um geschehen zu lassen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Vielleicht behinderte ihn augenblicklich am meisten die Unklarheit, die von dieser Frau ausging, ja ausströmte, je intensiver er sich mit ihr beschäftigte. Er hatte sie damals nicht so stark wahrgenommen. Eher das Gegenteil, eine außergewöhnliche Klarheit, das musste wohl ein Irrtum gewesen sein. Aber auch dieses Signal war es wert, entziffert zu werden: wie klar war sie ihm damals wirklich erschienen? Und was hieß in diesem Zusammenhang ›damals‹?

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21

Es gibt Grade der Klarheit und es gibt Formen, in denen sie sich zu erkennen gibt. Eines schien ihm evident zu sein: jede dieser Formen konnte auch benützt werden, um eine Unklarheit zu verbergen, wobei nicht von vornherein feststand, ob sie gezielt placiert wurde oder einfach vom Himmel fiel, ein unaufgelöster Rest, der allen Beteuerungen, Klarheit zu schaffen, widerstand. Selbst am hellen Mittag zeigen sich Verpackungskünstler und verhüllen das Nächstliegende mit dem Fernsten. Die Person, der Tronka Zugang zu seinem Leben gewährte, so großzügig, dass er seine Entschlüsse nachträglich den entstandenen Situationen anpasste, so spärlich, dass er jeden ernsthaften Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, absichtslos von ihr fernhielt, hatte sich als Treiberin erwiesen, die vorgab, in der Zeit zu sein, obgleich jedermann evident sein sollte, dass noch niemand aus der Zeit gefallen war. Die Form, in die sie ihr Handeln kleidete, zeichnete sich durch Zögern aus, durch Abwarten, Abstände und Abwesenheiten, in deren Netz man, fast ohne es zu bemerken, sich tiefer verstrickte, als irgendein Anlass es rechtfertigen konnte. Aus ihnen traten unverhofft jene kleinen Szenen hervor, in denen Entscheidungen, längst gefallen, ihren zwischenmenschlichen Auftritt bekamen – Szenen, zu kurz, um ernsthaft erwogen, zu beiläufig, um grundsätzlich diskutiert zu werden. Offensichtlich dienten sie keinem anderen Zweck als dem, ihn, jedenfalls in den sie berührenden Fragen, in ein nahezu willenloses Wesen zu verwandeln, das geschehen ließ, was sich ohnehin nicht aufhalten ließ und überdies zu bedeutungslos war, um darüber einen Dissens zu riskieren, der leicht ins Bodenlose gehen konnte.

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22

Alles klar? Na prima.

Das waren Parolen des Zirkels, aus dem seine Begleiterin ihre Energien bezog. Auch hier im Haus glaubte er sie bereits vernommen zu haben. Die Erinnerung ließ ihn zusammenzucken, sie gab ihm einen Vorgeschmack auf das, was ihn in den nächsten Tagen erwartete. Dass alles klar sei, konnten nur Leute behaupten, die gewohnt waren, Aufgaben, die ihnen das Leben zuschob, in handliche Einheiten aufzuteilen und Vollzug zu melden, sobald sie eine Unterrichtsaufgabe bewältigt, ein technisches Problem gelöst oder einen Patienten mit einer Diagnose und einem Rezept im Gepäck nach Hause geschickt hatten. Die Paarung gab ihnen Sicherheit: Sicherheit im Leben, Sicherheit im Umgang mit ihresgleichen, der Rest konnte ihnen gestohlen bleiben. Er selbst hatte sich angewöhnt, Studentenfragen mit einem »Na klar« zu quittieren, bevor er ihnen auf den Grund ging, um zu demonstrieren, wie wenig klar die meisten dieser Fragen und wieviel unklarer des Feld möglicher Antworten sich gestaltete – er hielt es für einen didaktischen Kniff, geeignet, um Scheu abzubauen und dem Einzelnen Mut zu machen, sich auch in schwierigen Materien ohne Scheuklappen zu bewegen. »Alles klar« war eine Aussage von Idioten für Idioten, die auf das Kommando »Leinen los« warteten, um sich von jedem Problem und jeder Verantwortung freizusprechen und die nächste Kneipe oder den nächsten Urlaubsort anzusteuern. Hier waren sie und hier lag er: und wenn er auch für die nächsten Stunden unsichtbar blieb, zappelte er doch, ein Rochen mit Übergröße, in ihren Fanggerätschaften, die sie stets bei sich führten, wenn sie mit ihren Geländewagen in ein verlängertes Wochenende oder in die Sommerferien preschten.

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Eine Stimme fehlte im Chor des gestrigen Abends. Verstummt war sie in den letzten Stunden der Anfahrt durch die öden Steinwannen des auslaufenden Zentralmassivs hinab ins wellige, mit Bauminseln durchsetzte Tal der Lergue, ohne dass er darauf geachtet hätte – zu sehr hatte ihn die aufsteigende eigene Verstimmung beschäftigt, für die er keinen anderen Grund beibringen konnte als den von Brecht so knapp wie konzise zusammengefassten: Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Das waren Worte des Exils, aufgeschrieben von einem, der wusste, wovon er sprach. Wusste er es auch? Weder hatte er es sich gestern eingestanden noch wusste er, ehrlich gesagt, was es für ihn zu gestehen gab. Er hätte das Zitat abgeschüttelt wie einen lästigen Anflug, wäre da nicht das Schweigen des Sohnes gewesen, das ihm augenblicklich bedrohlicher vorkam als alles andere. Gesteigert wurde es dadurch, dass unter den Geräuschen, die das Haus seit dem frühen Morgen ausgeworfen hatte und die nun nacheinander erstarben, da die Bewohner sich im Park und in den umliegenden Gebäuden zerstreuten, sich seinem Gehör kein einziges angeboten hatte, das er ihm hätte zuordnen können. Sicher hätte er seine Anwesenheit heute morgen an einer jener Winzigkeiten erkannt, zu denen nur ganz persönliche Nähe Zugang verschafft. War er nicht zum Frühstück erschienen? Tronka wollte aus den Launen seines Gehörs keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber dieser lag zu nahe, als dass er ihn einfach abweisen konnte. Jedenfalls handelte es sich um eine, wenngleich dürftige, Hypothese, mit der sich arbeiten ließ. In welcher Richtung? War die Neigung des Jungen, sich schon aus kleineren Anlässen gegen seine Umgebung zu verschließen, mit dem Genius loci eine ungute Allianz eingegangen? Hatte seine – Tronkas – eigene Abwesenheit den Anstoß dazu geliefert? Konsequent gedacht schien das nicht, denn um sie zu registrieren hätte er sich erst zu den anderen begeben müssen. Hatte er angesichts der Fremdheit des Ortes erwartet, dass sich der Vater zuerst bei ihm blicken ließ? Einem, der, wie er selbst, entschlossen schien, das Bett nicht zu verlassen, mochten die verwinkelten Flure, die sich zwischen ihren Zimmern erstreckten, wie unpersönliche Abgesandte des Fremden erscheinen. Hatte ihn der Abend verstört? Hatte es einen Vorfall im Kreise der Ankömmlinge gegeben, der Tronkas Augen und Ohren entgangen war? Der Argwohn, kaum entstanden, explodierte und wurde Gewissheit, weil er die einzige Lösung bot, die logische Eleganz und gesunden Menschenverstand miteinander verband. Aber vielleicht sollte er ihm gerade deshalb misstrauen. Eigentlich kultivierte er nur das bequeme Vorurteil, mit dem sich vielbeschäftigte Eltern um die seelischen Abgründe ihrer Kinder herummanövrierten: ›Was war denn los? Sag schon, was los war.‹ Schon war er überzeugt, dass, was immer ›los‹ gewesen sein mochte – falls überhaupt etwas vorgefallen war, was er immer stärker bezweifelte –, es nicht der wirkliche Auslöser eines Verhaltens sein konnte, das für die kommenden Tage nichts Gutes verhieß, wenn es nicht jetzt sofort korrigiert werden konnte. Ein Zittern überfiel Tronka. Er schwang das linke Bein aus dem Bett, unternahm einen halbherzigen Versuch sich aufzurichten und fiel aufs Laken zurück. Er hätte schreien, besser: um sich schlagen mögen, doch er hütete sich vor den Konsequenzen.

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24

»Klarheit« murmelten seine Lippen, kraftlos, als liege er auf dem Sterbebett und versuche letzte Worte zu formen, doch in ihm herrschte keine Klarheit. Stattdessen empfand er einen bizarren Schmerz, verbunden mit einem alten Widerwillen, der ihm sagte, dass er um der Klarheit willen ein paar Reflexe stillgestellt haben musste, die sich auf Dauer nicht stillstellen ließen. Offenbar hatte er ›auf Zeit‹ gelebt – ein merkwürdiger Ausdruck, jedermann lebte schließlich auf Zeit, wie denn sonst? Eine leise, durch keine Reflexion zu zerstreuende Erregung schwang in ihm mit, ein Sensor hatte angesprochen und signalisierte, dass sich hier etwas auftat: ein Stollen, vielleicht nur eine losere Gesteinslage, etwas, das dem Wunsch, weiter zu kommen, weniger Widerstand entgegensetzte als seine Umgebung. Das Treiben und Trudeln der Lämmerherde hatte sich verlaufen und einer unvermuteten Härte Platz gemacht. Zu sagen, er habe auf Zeit gelebt, das war in etwa so, als wollte er behaupten, er hätte sich ausgeliehen ... unklar, an wen und was, aber in aller Unklarheit überraschend deutlich konturiert wie ein Wesen, das plötzlich den Fluten entsteigt, ohne dass einer zu sagen wüsste, ob es nicht im nächsten Augenblick die Gestalt eines Monsters annimmt. Das Bild wurde lebhaft aufgegriffen, als habe er einen Treffer gelandet und sei nun ein beträchtliches Stück weiter gekommen. War er das? Das Monster, sofern es sich um eines handelte, ließ sich Zeit, es ließ sich von den Wellen umspülen und sank sogar ein wenig zurück, aber dieser Eindruck war wohl der Entfernung geschuldet und ließ es keineswegs weniger faszinierend erscheinen.

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Angenommen, er hatte sich ausgeliehen – der Gedanke erschien ihm abenteuerlich, so funktioniert Leben nicht, aber er blieb bestechend –, so drängte sich die Antwort auf die damit unmittelbar einhergehende Frage auf einer Nadelspitze: es gab nur eine Person, an die sich zu adressieren er in den letzten Jahren nicht aufgehört hatte, während sie ihn doch längst in Empfang genommen und ins Inventar ihrer Verhältnisse einsortiert hatte, dieselbe Frau, deren leere Stelle ihn seither stärker beschäftigte als es für ihn gut war, während ihr Platz an seiner Seite seit geraumer Zeit leer blieb. Hätte er sich also an sie –? Aber das ergab keinen Sinn. Sicher, er hatte sich auf sie eingelassen, auf ihre Spiele, ihre Lebensweise, ihre Freunde, so wie man sich auf alles und jedes einlässt, an dem man nicht achtlos oder zufallsbedingt oder ›in voller Absicht‹ vorübergeht. Doch das war nicht der Sinn der vibrierenden Formel, die Sensoren schwiegen. ›Ausgeliehen‹, das bedeutete: Auslieferung unter dem Vorbehalt der Rückgabe – einer ging, ging mit, einer blieb und behielt die Fäden in der Hand, zumindest das Recht, das Leihverhältnis zu beenden, wann immer ihm der passende Zeitpunkt gekommen zu sein schien. Andererseits bedurfte auch der Leihnehmer einer gewissen Sicherheit, nicht zur Unzeit mit der Rückgabeforderung konfrontiert zu werden. Eine gewisse Billigkeit mischte sich hier ins Spiel, die bedacht, aber nicht überbewertet werden durfte. Aus der Sicht des Leihnehmers herrscht immer Unzeit: er hat die Leihgabe in seinen Besitz einsortiert und empfindet Schmerz, zumindest einen Stich bei dem Gedanken, sich von ihr trennen zu müssen. Darin liegt, wie es so heißt, sein Risiko, damit muss er leben. Was, wenn der Geber dieses Risiko allzu lebhaft empfindet, wenn er dem Nehmer den Trennungsschmerz ersparen möchte, ohne ihn aus der Welt schaffen zu können, es sei denn er beendet das Leihverhältnis, indem er sich endgültig und unwiderruflich in den Besitz der anderen Person begibt? Das kann ich dir sagen, flüsterte eine Stimme, es klang wie ein Pfiff, es verändert nichts, denn die nehmende Person wird die Unsicherheit immer empfinden, auch sie gehört zum Inventar, sie besitzt eine Nummer und will bedacht sein. Angenommen, der Geber vergisst seine Forderung, weil er sie vergessen will, aus Laxheit, aus falsch verstandener Fürsorge, aus Leichtsinn, so besteht sie auf der anderen Seite, als Abwehr, fort: mit der Überzeugung, sie werde nicht mehr erhoben, wächst der Unmut darüber, sie könne eines Tages unvermutet über den Nehmer hereinbrechen, ins Ungemessene. Angenommen also, er hatte sich an diese Person ausgeliehen, so erhob sich die Frage, was ihm von der eigenen Person geblieben war, ohne durch das Leihverhältnis berührt zu werden. Auf den ersten Blick alles: er war Herr seiner Entschlüsse geblieben, er führte sein eigenes Leben, er vermisste den ausgeliehenen Teil, sein anderes – häusliches – Ich nicht einmal. Auf den zweiten Blick nichts, denn seither fand sich in seinem Leben nichts, was nicht im Hinblick auf jenen anderen, der er auch war, eine andere Färbung annahm und nach Gestaltung verlangte, damit es jenem anderen an nichts mangelte und er seiner Aufgabe – denn er besaß eine Aufgabe – nach bestem Wissen und Gewissen nachkommen konnte. Nachkommen ... gewiss, denn er blieb, soweit Tronka im Bilde war, stets im Verzug, vielleicht, weil er zu beweisen hatte – und den Beweis immer schuldig blieb –, dass das Leihverhältnis, obgleich unvermindert in Kraft, null und nichtig war, jedenfalls auf den dunklen Punkt der möglichen Rücknahme hin betrachtet, den einzigen, der zählte.

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Ein Nichts von einem Leben – war es das, was ihm blieb, wenn er sich der Maskerade der Selbstbestimmtheit entkleidete und den Verhältnissen auf den Grund ging, in denen er lebte? Schwer zu glauben, dass eine Person – diese ihm in gewisser Hinsicht stets belanglos erschienene Frau – eine solche Macht über ihn hätte gewinnen können, vorausgesetzt, es hätten sich nicht andere – und stärkere – Kräfte hineingemischt, die er augenblicklich nicht überschaute, obwohl sein überwacher Verstand ihm die Lösung einzutrichtern versuchte: Falls er sich – grob fahrlässig, wie er zugeben musste – ausgeliehen hatte, dann nicht an eine Person, sondern an ein Verhältnis, an Verhältnisse, die sich daraus ergaben, an ein Verhältnis von Verhältnissen, wie der etwas laxe und gleichzeitig präzise Ausdruck lautete, den er im Seminar dafür benützen würde, während sich zugleich etwas dahinter verbarg, das sich der Bezeichnung vorerst verweigerte, während der Kopfschmerz ungehemmt darüber hinwegraste. Ein Verhältnis von Verhältnissen... In dieser Formel lag viel. Er geriet da in etwas hinein, das sich nicht so leicht auflösen ließ, obwohl die Hoffnung darauf ihn vorwärts trieb. Ein Irrtum, fatal, raum- und zeitgreifend, einer vor allem, der ihn an unvermuteter Stelle angefallen hatte. Dieses Etwas hatte viel mit ihm zu tun, aber nicht ausschließlich, ganz und gar nicht ausschließlich, er tat gut daran, den eigenen Anteil etwas niedriger anzusetzen, um zu begreifen, was davon begreifbar sein mochte. Sicher hatte die Frau damit zu tun, ganz sicher, aber ebenso sicher war auch sie nur der kleinere Teil eines wirren Ganzen, wenngleich ein bedeutender.

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Wenn einer in diese Verhältnisse eingelassen war, dann der Sohn, dessen Abwesenheit durch das Haus geisterte und seine Geräuschkulisse um etwas bereicherte, das sich wie Erwartung anfühlte, aber in keinerlei trauriger oder froher Bedeutung, sondern wie die Erwartung der Auflösung, der eine lange, immer noch wachsende Spannung entgegentrieb. Diese Spannung ... je mehr er sich in sie vertiefte, desto selbstverständlicher erhob sich der Gedanke, dass sie seit längerem in ihm geisterte und heute einen eher zufälligen Anlass gewählt hatte, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen, so wie ein Dieb, der es leid ist, dass seine kleinen Unterschlagungen unbemerkt bleiben, sie seinem Opfer endlich ins Gesicht gesteht, als könne das die Basis für eine künftige vertrauensvolle Zusammenarbeit schaffen, an der ihm unendlich viel gelegen sei. Allerdings konnte er nicht benennen, was ihn in Spannung hielt, obgleich er einige Mühe darauf verwendete. Der Junge rechtfertigte keine Besorgnis, Tronka vertraute ihm voll und ganz und konnte doch nicht verhindern, dass sich über seinem Kopf eine Wolke zusammenzog, sobald ... es lag etwas Eigenartiges in der Beobachtung, die vielleicht nur eine augenblickliche Impression ausbeutete, aber er musste sich eingestehen, dass die Abwesenheit seines Sohnes für ihn ein Bedrohungspotential enthielt, das zu gleichen Teilen auf ihn und den Sohn zielte, ohne dem analytischen Blick mehr darzubieten als eine ganz vage, um nicht zu sagen substanzlose Verschattung. Wenn er darüber nachdachte, wann sie beide zum letzten Mal ›ein Herz und eine Seele‹ gewesen waren, dann fühlte er Bitterkeit in sich aufsteigen und brach den Versuch, unter Verzicht auf ein vorweisbares Ergebnis, vorläufig ab. Ein Bild, das ihn einmal ergriffen hatte, tauchte vor seinem inneren Auge auf: ein Vogel, wie frisch geschlüpft – etwas wie Eierschalen kräuselte sich auf seiner Rückenpartie –, aber mit einem ausgebildeten Entenschnabel, stand aufrecht in einer Nussschale und trieb auf einer Fläche dahin, die ebenso ein tiefes Gewässer andeuten konnte wie eine harte, glatt polierte Unterlage, auf der kein Fortkommen in Sicht war.

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Man fährt in anderer Leute Urlaub wie in den Krieg: man hofft, mit heiler Haut davonzukommen oder, falls dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen sollte, mit Blessuren, die vergehen oder mit denen sich leben lässt. Man ist im voraus darauf eingestellt, die Menschennatur von ihrer schrecklichen Seite kennen zu lernen und wünscht, einigermaßen glimpflich davonzukommen und das Entsetzliche nur in abgemilderter Form zu erleben. Jedenfalls beliebte es Tronka, die Sache von dieser Seite zu sehen, gleichgültig darum, was er gestern davon gehalten hatte. Dabei war ihm bewusst – bewusst –, an den einträchtigen Lügen mitgewirkt zu haben, die einen solchen umsichtig geplanten Aufbruch begleiten. Schon die Formulierung ›anderer Leute Urlaub‹ ist im Grunde nicht statthaft. ›Urlaub‹ gilt als Menschenrecht und alle ziehen, wenn es losgeht, am gleichen Seil. Auch hier, wie meist in solchen Fällen, existiert eine Partei, die zieht, und eine, die gezogen wird, also nachgibt. Es versteht sich, dass vor allem die nachgebende Partei in der Pflicht steht, mit Ausdrücken des Entzückens um sich zu werfen, um den Verdacht zu zerstreuen, sie sei nicht mit Leib und Seele dabei. Und, Wunder der seelischen Dialektik, sie ist es wirklich, denn die Empfindung, am falschen Platz zu sein, stattet sie mit all den Unlustgefühlen aus, derer es bedarf, um die Reise angesichts ihrer Strapazen und lächerlichen Vorkommnisse zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Wenn es in den letzten Tagen ein paar gute Momente gegeben hatte, dann verdankten sie sich der unverwüstlichen Natur und dem gelegentlich aufflackernden Gefühl der Eintracht mit seinem Sohn. Daneben hatte er erstaunt und fast beleidigt registriert, mit welcher Leichtigkeit die Lebensgefährtin ihn in ihre Regie nahm und zu sportiven Vergnügungen entführte, die für Tronka nichts weiter darstellten als kindische und, genau genommen, unwürdige Spektakel.

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Wenn er nicht genau wusste, warum er hergekommen war, dann wusste er es in gleichem Maße nur zu genau. Das eine bedingte das andere und folgte ihm auf dem Fuß. Er war hier, weil er nicht darum herumkam, den Verdacht zu zerstreuen, den eine höhere Instanz über sein Dasein ausgegossen hatte: den Verdacht, nicht ausreichend ›eingebunden‹ zu sein in die – wie hieß das Wort? – Vorgänge, aus denen ein Zusammenleben, mit wem auch immer, besteht. Nicht eingebunden zu sein bedeutet, sich beweisen zu müssen – das erfährt jeder, dem es passiert, bereits auf dem Schulhof, als Lektion fürs Leben, Nebenkosten inklusive. Tronka musste, soviel war ihm bewusst, ›etwas beweisen‹ – nicht sich, nicht der Partnerin, der er nichts mehr zu beweisen brauchte, auch sonst niemandem, den er schätzte oder zu schätzen vorgab, sondern der Corona, die sie beide wie eine lebendige Schlinge umschloss, ein Reptil, das nur darauf wartete, sie zum gegebenen Zeitpunkt zu erdrosseln: weder wusste er genau, wer ihr angehörte und welche Eigenschaften ihm diese Macht verliehen, noch verstand er, in welchem Austausch mit dieser gefährlichen Bande seine Partnerin stand. Wohl aber begriff er, dass dieser Umgang ihr Macht verlieh, Macht, die sich unmittelbar als Sanktionswissen auf ihn niedersenkte und ihm bedeutete, es sei besser für ihn, sich rechtzeitig anzupassen, als bis zu dem Zeitpunkt zu warten, an dem alle Züge abgefahren sein und ihn als einsamen, hechelnden, ausgestoßenen Beziehungsidioten auf dem Bahnsteig eines abgelegenen Provinzbahnhofs zurücklassen würden. Und er war hergekommen, er hatte sich fügsam erwiesen und dem Gott der Gemeinschaft ein paar Seiten seines Lebens gespendet in der etwas starren Erwartung, sie mit wirrem Gekrakel bedeckt zurückzuerhalten. Was immer er zu beweisen hatte, es hatte, als leeres ›Etwas‹, seinerseits den Nachweis geführt, dass es leicht war, dem Appell Folge zu leisten, so wie er ihm viele Male Folge geleistet hatte, aber schwer, um nicht zu sagen unmöglich, sich aus der Schlinge zu ziehen, schon gar nicht ein für alle Mal.

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Diese Leute haben ein feines Gespür für Leerstellen. Man braucht ihnen nicht erst zu sagen, dass es nicht so wichtig ist, womit man sie füllt. Sie verstehen instinktiv, welche Waffe man ihnen mit populärpsychologischen Sprüchen in die Hände spielt. ›Der muss etwas beweisen‹ bedeutet: Soll der andere doch seine Psyche unter Kontrolle bringen oder zum Therapeuten rennen. Die Formel, oberflächlich gebraucht, um Friktionen aufzulösen und den anderen zurückzubetten in den Strom gemeinsamen Handelns, enthält eine Rüge, die ausformuliert lauten könnte: Du stiehlst mir – uns – die Zeit! Oder, als Handlungsanweisung: Scher dich mit deinen Problemen zum Teufel. Deshalb ist, wer etwas beweisen muss, doppelt geschlagen: er soll traben und weiß zugleich, dass alle Traberei vergeblich ist, er darf machen, was er will und es ist alles vergebens, er kann sich auszeichnen oder opfern, er ist der Gezeichnete, derjenige, der ›anders tickt‹, der Problemfall, der problematische Charakter, unzuverlässig und nie zur Hand, wenn man ihn einmal bräuchte. Er ist derjenige, der nicht zählt, es sei denn, er benimmt sich gerade so, wie es seinem Innersten widerstrebt – dann ist er brauchbar und steht zur Verfügung.

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Dieses Innerste... Tronka lächelte, ein wenig mürbe, wie es seinem Zustand entsprach, – zweifellos war es vorhanden, dieses Innerste, es sprach, wenngleich nicht in Worten, es sprach nicht gerade laut und deutlich, aber dafür klar. Ein Ausdruck wie ›zart‹ schien dafür angemessen zu sein, wenn man davon absah, dass die Vorstellung gesperrt war, ein Relikt aus christlicher Vorzeit, welche die vorgeschriebene Gewissenserforschung in ihn eingesenkt hatte. Er konnte sich ihr in Aufklärerpose nähern, dann erhielt er die ihrerseits gesperrte, jedenfalls zensierte Lust, die sich auf diese Weise Gehör verschaffte. Die Lust als metaphysische Instanz... dubios, sehr dubios, aber nicht so leicht wegzuschaffen, ebenso wenig wie das Brechreiz hervorkitzelnde Mensa-Essen aus dem Studentenleben, das jetzt wohl ›Studierendenleben‹ hieß, falls es dergleichen noch gab. Nein, die Lust war es wohl nicht, die da aus ihm sprach, auch die leichter zu diagnostizierende Unlust ergab sich eher aus einer Entscheidung, die er nicht falsch nennen mochte, aber vielleicht schief oder schräg, irgendwie abschüssig, den eigenen Lebensanspruch beiseite setzend – so konnte man, so konnte er es sagen, wenngleich er keinen Grund sah, den Mund aufzumachen, und die Gedankenwelle eilends weiter lief. Welch ein Wort! Jedenfalls keines, das er im Zustand ruhigen Nachdenkens, wenn es so etwas gab, verwendet hätte. Er sah die Welle dahinschäumen, kleine Spritzer lösten sich und benetzten die Umgebung, es war ihm unangenehm zuzusehen, wie sie verglühten. Die innere Nacht, auch sie ›gab es‹, wenngleich nur als Metapher, jedenfalls sobald die Wörter sich geformt und die Mundhöhle verlassen hatten, um draußen in der Welt ihr Glück zu machen. War es ihr Glück? Das blieb abzuwarten. Sie mussten etwas beweisen, nicht wenig, sondern viel, nahezu alles, sie waren das Beweismittel schlechthin. Aber mussten sie sich etwas beweisen? Kleine angeberische Kröten, das konnte ihnen so passen. Ein Ausdruck wie ›Wortwahl‹ beleuchtete die ganze Misere. Manche schienen direkt aus der Mitte der Empfindung herauszutreten, sie waren recht, gleichgültig, wie die Umgebung sie aufnahm, andere, bei denen die Wahl weite Wege gegangen war, blieben auswechselbar und problematisch, auch wenn sich alle auf sie einigen konnten.

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Ab wann bereitete ihm das Wort ›Urlaub‹ Schwierigkeiten? Ein Luxusproblem, verglichen mit anderen, die drängten und brodelten, aber womöglich schlicht genug, um erfolgreich angegangen zu werden. Das Wort erschien nicht gewählt, es war das nächstliegende, es bezeichnete eine Praxis, die keine weiteren Deutungen zuließ, da sie elementarer war als alle Deutungen. Anders als die ›Freizeit‹, ein weiterer Kandidat für seinen Argwohn, verlangte sie sorgfältige, das Jahr überspannende Planung. Auch hier schien natürlich das christliche Muster durch, das Kirchenjahr mit seinen Feiertagsbögen, seinen königlichen Passagen und stillen Seitenkapellen ergab ein kalendarisches Muster, dem sich das Netz aus verlängerten Wochenenden, Kurzferien und einem alles andere souverän unter sich lassenden Jahresurlaub ebenso lässig wie geschickt anschmiegte. Wer in diesem Bereich pfuschte, dessen Leben war im Wortsinn verpfuscht, er konnte, mochte er noch so lange auf seinen Zug warten, gut und gern davon ausgehen, dass er den Anschluss bereits verpasst hatte. Er ›brachte es nicht auf die Reihe‹, er brachte sich nicht auf die Reihe. So sah es aus. So einem konnte ›frau‹, wenn sie mit ihm zusammenlebte, ohne weiteres, freundlich oder im Zorn, zurufen: »Bring dich erst einmal auf die Reihe!«, ohne Gefahr zu laufen, dass der andere befremdet den Kopf schüttelte oder in helles Gelächter ausbrach. Ohnedies war Lachen bei diesen Planungen wenig gefragt. Eine residente Sittsamkeit schien sich zu empören, wenn er auf diese Weise mit dem Heiligsten spielte. Gut möglich, dass sich hier die Anfänge seiner Schwierigkeiten verbargen. Sie begannen sachte, so sachte jedenfalls, dass der Faden, als er auf ihn aufmerksam wurde, bereits fest im Gewebe stak.

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Auch wenn er nicht genau wusste, warum er gekommen war, minderte das nicht den Realismus der Ankunft. Wohl aber minderte es ihre ›Realitätshaltigkeit‹. Das Wort kam aus dem bürokratischen Zweig der Sprache, es wirkte auf ihn wie eine Kapelle am Wegrand, in die hineinzuschlüpfen zu jenen kleinen Akten der Selbstvergewisserung und Selbstfindung gehörte, bei denen das Selbst scheinbar unberührt blieb, aber wie eine dunkle Monstranz im Hintergrund aufglühte. Ganz plausibel kam es ihm vor, die komplexe Situation der Ankunft mit Hilfe einer auf schlichte Gemüter gemünzten Vokabel auszuspähen, plausibler jedenfalls als zu behaupten, er sei bloß aus Gefälligkeit mitgekommen oder aus anderen, weniger leicht mitteilbaren Gründen, und stünde deshalb sowieso abseits des Geschehens. Sie stand nicht allein, die Begrüßung hatte es zur Genüge gezeigt. Eine Art Kraftschluss bestand zwischen ihr und den Mitgliedern der kleinen Gruppe, insbesondere dem etwas vierschrötigen Ingenieur und seiner quirligen Ehefrau, einer ehemaligen Englischlehrerin, die vor ein paar Jahren auf Französisch umgesattelt hatte, weil das ausgedehnte Austauschprogramm ihrer Schule einen solchen Entschluss nahelegte, aber auch einem Arztehepaar, das mit zwei Töchtern angereist war und auf diese ein wenig indirekte Weise den neuerdings mit Verve ergriffenen ›wahren‹ Beruf der Gattin ausstellte, die den Beruf aufgegeben hatte. Auch sie hatte einst fürs Lehramt studiert, das Referendariat absolviert und ein paar Jahre Englischunterricht gegeben, übrigens an derselben Schule wie die Ingenieursgattin, ehe diese sich an den elterlichen Wohnort hatte versetzen lassen, um Beruf, Haus, Garten, Eltern in einem pflegen zu können. So sah sie aus, die Grundlage einer Freundschaft, die vornehmlich von dem festen Willen getragen wurde, den eigenen Lebensstil in alle Ewigkeit und darüber hinaus zu ›pflegen‹.

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Tronka kannte sie alle. Das letzte Mal hatte er sie vor ein paar Wochen an einem jener durchritualisierten Abende getroffen, an denen teilzunehmen die Klugheit gebot, weil das Gefühl ihm seit Jahren mitteilte, andernfalls werde ihm seine Gefährtin über kurz oder lang entgleiten. Dasselbe Gefühl verriet ihm mancherlei, aber sei es, dass er ihm nur zerstreut zuhörte, sei es, dass er ein sprechendes Gefühl für ein widersprüchliches Konstrukt hielt und sich weigerte, ihm Gehör zu schenken, sei es auch nur, um zu beweisen, dass Aktivitäten wie diese nicht prinzipiell außerhalb seiner Reichweite lagen und er gewillt war, seinen Pflichten als Lebensbegleiter auf eine Weise Genüge zu leisten, die er sich selbst gegenüber als ›honorig‹ bezeichnen konnte, gleichgültig, wie die andere Seite darüber dachte – von hier und heute aus betrachtet hatte er es – sein untrügliches Gefühl – mehr als einmal so gründlich im Stich gelassen, dass es ihm nachträglich wie misshandelt vorkam.

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Natürlich war nicht er die planende und lenkende Instanz dieser Aktivitäten. Man hätte verwundert auf ihn geblickt, wäre ihm in den Sinn gekommen, gerade in diesen Dingen Originalität oder gar Tatkraft zu entfalten. Er wurde in die Planungen einbezogen, wie man die Katze oder den Hund einbezieht, die Schwierigkeiten bereiten können, wenn man sich nicht rechtzeitig darum kümmert, was mit ihnen geschehen soll. Immerhin genoss er den Vorzug, gefragt zu werden, ob er sich dieses oder jenes Urlaubsziel vorstellen könne, was er in der Regel bejahte. Warum auch nicht? Seine Neugier auf die Welt war zwar ungebrochen, doch eine gewisse Gleichartigkeit der in Frage kommenden Ziele ließ sich ebenso wenig verbergen wie die auf Indifferenz beruhende Nachgiebigkeit, die er an den Tag legte, wenn er aufgefordert wurde, zwischen ihnen zu wählen. Dagegen konnte er sich vorstellen, welchen Wert seine Gefährtin im Kreise ihrer Freundinnen auf die Feststellung legte, er sei jemand, der gefragt werden wolle und sich ›gar nicht so einfach‹ handhaben lasse. Sicher lag darin für sie ein Prestigefaktor. Von dem Hintergrund seiner sperrigen Indolenz hob sich ihre Geschicklichkeit doppelt vorteilhaft ab. Das erlaubte auch Durchblicke auf allgemeinere Aspekte ihres Zusammenlebens, die sicher dankbar wahrgenommen wurden und geduldig darauf warteten, zu gegebener Zeit beredet zu werden. Eine Ferienwohnung in Grambois schien ihm die ihr zugewiesene Aufgabe ebenso einleuchtend zu erfüllen wie eine der im Prospekt gleichfalls angekreuzten Zwillingsanlagen in Martigues oder Caromb oder Le Palaton oder Cac-au-lac-sur-mer. Da verstand es sich fast von selbst, dass er sich alles in allem nur mäßig interessiert zeigte, sobald es darum ging, in nicht enden wollenden Gesprächen sämtliche Vor- und Nachteile aller zufällig in ihre Wahrnehmung gespülten Feriengehäuse gegeneinander abzuwägen.

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Es gab einen Stand der Dinge – es gab ihn, auch wenn es damals als ungebührlich galt, so zu denken –, da versah er diese Beschäftigung im Stillen mit dem Rubrum ›fraulich‹ und blickte auf sie, als handle es sich um eine gelegentlich hervorgeholte Strickarbeit, zu deren Vollendung vor allem eines erforderlich war – Geduld. Das war die Phase, in der er sich, zunächst innerlich, aus dem dazugehörigen Entscheidungsprozess zurückzog und sein Genügen darin fand, allem, was davon weiterhin auf ihn einströmte, mit freundlicher Empathie zu begegnen. Auf diese Weise lernte er eine Reihe von Landstädten kennen, deren Namen die Zunge spalteten, sofern sie nicht auf ihr zergingen wie der Käse, der in ihrer Umgebung hergestellt wurde. Ihr Anblick überzeugte ihn selten. Er wirkte zerklüftet, vom Abseits fast mehr als von der Geschichte und ihren Wechselfällen geprägt. Sie waren von Jahreszahlen überzogen, als handle es sich um die zurückgebliebenen Narben einer gefährlichen, zu ihrer Zeit höchst ansteckenden Krankheit. In Apt etwa – oder war es Aubagne? – sollten, glaubte man dem Katalog, Stollenreste aus der Römerzeit existieren. Das interessierte ihn flüchtig, vor allem deshalb, weil sie für Touristen verschlossen waren. Vielleicht konnte ein Gang durch die Ämter ihm Zutritt zu diesem geheimen Paradies verschaffen. Schließlich war er kein Tourist, diese Bezeichnung lehnte er für sich rigoros ab.

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Den Einfall hätte er besser für sich behalten. Die bloße Möglichkeit, hier könne sich etwas ergeben, rief Unmutsregungen auf den Plan, deren er nur schwer wieder Herr wurde. Jeder Einfall, der die kostbare Freizeit bedrohte, in der gesurft, gebadet, gewandert oder Squash gespielt wurde, wurde als Bedrohung aufgefasst und entsprechend zurückgewiesen. Doch in diesem Fall spielte ein undeutlicher Impuls beiher, dessen Herkunft sich Tronka nicht zu erklären vermochte. Was er verstand, war, dass er dem, was ihr und den Freundinnen als ›Ambiente‹ galt und einen gewissen, wenngleich niedrig zu haltenden Preiszuschlag rechtfertigte, einen ungebührlichen Stellenwert einräumte. Als Lehrerinnen, die sie fast allesamt waren, hielten sie sich für ›gebildet‹ und glaubten zu wissen, wieviel Kultur sie sich und ihresgleichen zumuten mussten, um ihren Pflichten gegenüber dem Staat, der sie ausgebildet, der Kirche, in deren Chor einige von ihnen mitsangen, ferner den Schülern, vor denen sie wie geschliffene Edelsteine paradieren mussten, in angemessener Weise nachzukommen. Den Männern – Ingenieuren, Ärzten, Managern im unteren und mittleren Segment – war alles recht, für sie war Kultur weiblich, sie kümmerten sich um die handfesten Genüsse und durchstöberten die Märkte des Südens nach mächtigen Hammelbeinen und bizarren Fischkadavern, mit deren Hilfe sie die Küchen der Ferienhäuser in qualmende, fettbespritzte, unter Unmengen von Töpfen, Pfannen, Platten, Besteck jeglicher Form und Größenordnung sowie Bergen von gebrauchtem und ungebrauchtem Geschirr sich biegende Trümmerstätten verwandelten. Sie nannten es ›Lifestyle‹ und augenscheinlich vermissten sie nichts.

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Verlangte es ihn nach ›Kultur‹? Das war schon deshalb unwahrscheinlich, weil das Wort in seinem Universum einen anderen Klang und eine andere Bedeutung besaß. Sein Verlangen, falls es denn eines war und nicht der einfache Wunsch, beiseitezutreten und einen Pfad einzuschlagen, auf dem es nicht von Sonnenanbetern und Strandplayern wimmelte, richtete sich auf eher unscheinbare Relikte früherer Weltzustände, in denen ihm die Zeit selbst zu brüten schien, ohne dass sich sagen ließ, worauf dieses Brüten sich richtete und was daraus einmal entstehen mochte, außer dass die Objekte weiter verwitterten und irgendwann zerbröckelten, es sei denn, sie gerieten irgendwann in die Hände geschickter Restauratoren und gewannen einen musealen Ewigkeitswert, der sie von dem Wert abschnitt, den sie an Ort und Stelle besaßen und zu dem er, wenn schon keinen Schlüssel, so doch einen gewissen Zugang zu besitzen glaubte. Hin und wieder gelang es ihm, an einem neuen Ort angekommen, die Schritte seiner Begleiterin einem Gemäuer aus dem dreizehnten Jahrhundert zuzulenken oder angesichts eines ins Grüne gebetteten, sichtlich heruntergekommenen Schlösschens eine Schleife zu gehen. Doch die Ausbeute an Gemeinsamkeit, die sich daraus gewinnen ließ, blieb mager und tendierte im Laufe der Zeit gegen Null. Gewisse Regungen von Ungeduld, verbunden mit demonstrativer Aufmerksamkeit und sanftem Entzug, verrieten, dass ihr Inneres während solcher Exkursionen mit anderen Dingen angefüllt war und sie die auf seine Marotten verwandte Zeit sorgfältig im voraus kalkuliert hatte.

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Natürlich fiel das Wort ›Marotten‹ auf keinem der Gänge, sondern in einer unverfänglichen Umgebung, in der es ihm freistand, sich auszusuchen, was er darunter zu rechnen bereit war. Und natürlich geschah es in Anwesenheit einer Freundin, die wissend auflachte und ihn anschließend mit einem bezaubernden Lächeln auf ihre Seite zu bringen wusste, so dass sich weder Zeit noch Gelegenheit nachzufragen ergab, worauf sie sich damit bezog und welche Form der Geringschätzung sich darin verbarg. Später, im Schlafzimmer, brachte die Nachfrage wenig Licht ins Dunkel, da sie ›jetzt nicht verstand, worauf er hinauswollte‹ und behauptete, sie könne sich nicht daran erinnern, das Wort benützt zu haben, schon gar nicht in Bezug auf ihn: »Da musst du etwas missverstanden haben, können wir nicht von etwas anderem reden?« Er fand das Wort nicht so schlimm, nicht schlimmer als andere aus ihrem Wortschatz, die ihn anfangs gestört und an die er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte. Schlimmer fand er, im Namen der Klarheit daran gehindert zu werden, sich über etwas Klarheit zu verschaffen, was für ihn zu den wichtigsten Dingen des Lebens zählte. Wenn es eine Gemeinsamkeit gab, die er im Zusammenleben für unabdingbar hielt, dann die gemeinsame Wertskala. Was nicht bedeutete, dass er sie als gegeben voraussetzte, im Gegenteil: Gespräche, Reisen, Kino-, Theater-, Verwandtenbesuche, die gemeinsam mit Freunden verbrachten Zeiten, für ihn floss dies alles zusammen in einer umfassenden Konversation, in der man sich über sich selbst, seine Neigungen, Prägungen, Dispositionen, seine frühen Erfahrungen, seine Ansichten und Urteile austauschte und ein transportables, ebenso luftiges und biegsames wie zähes und zuverlässiges Gehäuse errichtete, in dem es sich ebenso und besser gemeinsam leben ließ wie in einer Eigentumswohnung oder einer für ein paar Tage gemieteten Hütte in den Cevennen. Das Wort ›Marotten‹ schlich sich da ein wie ein Spaltpilz, der im schlimmsten Fall die Wände jenes Gebäudes über kurz oder lang mit Zerfall bedrohte, für den unbedarften Beobachter kaum zu erkennen, aber ausgestattet mit der Kraft elementarer Verunsicherung, die sich auf alles werfen konnte, was wie selbstverständlich zum Fundus zählte, aus dem ihr Zusammenleben sich speiste.

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Es hätte ihm zeigen sollen, dass die Illusion, mit der sie ihn umgab, allmählich Löcher und Risse bekam, dass sie nicht mehr ›perfekt‹ spielte und sich Nachlässigkeiten einschlichen, die er sich in Bezug auf ihre Neigungen nicht zu erlauben gedachte. Stattdessen zeigte es ihm die Oberfläche einer Person, die gern kapriziös sein wollte, aber in einem Ausmaß zu Stetigkeit und Verlässlichkeit erzogen worden war, dass ihr nur der Ausweg blieb, sich hin und wieder aus diesen Eigenschaften zurückzuziehen, als handle es sich um Masken, die ihren Zweck auch ohne menschliche Zutat erfüllten. Sollte er also in Zukunft erst an die Maske klopfen, um sich zu vergewissern, ob dahinter auch eine menschliche Regung zu finden war, oder sollte er weiterhin blind auf den äußeren Anschein vertrauen, nun aber mit jener vorsätzlichen Blindheit, die gleichmütig den Betrug in Kauf nimmt, weil sie den Schmerz fürchtet, der aus der Enttäuschung erwächst? Nein, er konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Entscheidung getroffen zu haben. Was dann? Hatte er gleich resigniert, weil er erwartete, die Kette der ineinander greifenden Täuschungen würde, einem Reißverschluss gleich, von Glied zu Glied sich zerlegen, bis auch die letzte Gemeinsamkeit sich verflüchtigt hätte? Auszuschließen war das nicht, es schien ihm plötzlich sogar äußerst wahrscheinlich, so unwahrscheinlich es sich im Licht der geregelten Beziehung auch ausnahm. Damals wie heute mangelte es ihm weniger an Kraft als an Geduld, ihre Glieder einzeln in Augenschein zu nehmen und über ihre Haltbarkeit zu befinden, damals wie heute lag diesem Mangel an Geduld eine große Ratlosigkeit zu Grunde. Besaß diese Ratlosigkeit einen Namen? Wenn er ehrlich mit sich zu Rate ging, dann musste er die Frage bejahen, heute wie an jedem anderen Tag, an dem er auf sie geblickt hatte wie ein Fischer aufs Meer, das eine Sturmwarnung auf unbestimmte Zeit versiegelte.

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Die ›Marotten‹ ließ er ihr durchgehen. Das erschien nur fair, schließlich war es die Formel, die ihnen beiden erlaubte, das Gesicht zu wahren. Nur das Lächeln, das sie für viele erträglich macht, wurde ihm konsequent verweigert. Er musste es sich hinzudenken, wollte er damit innerlich ›über die Runden kommen‹, wie es von ihm verlangt wurde. Für viele ist das Leben der unentwegte Versuch, über die Runden zu kommen. Nirgendwo ist die Rosstäuscherei der Gesellschaft so groß wie auf diesem Feld, auf dem alle Ausdrücke ökonomisch besetzt sind, obwohl auf dieser Strecke, die niemals endet, die seelische Not in sämtlichen Disziplinen – Sprache des Sports, dachte er leicht angewidert, LTI – vorn liegt: fehlt nur das Ziel und damit die Möglichkeit, sich eine Auszeichnung zu ergattern. Was sie Marotten nannte, das war für ihn Nahrung. War es Geist, der nach dieser Nahrung verlangte? Zweifellos handelte es sich um keine körperliche Diät, obwohl die Bewegung in der freien Luft, verbunden mit den Annehmlichkeiten des Schauens, auch eine körperliche Komponente besaß. Sie zu leugnen ergab keinen Sinn. Glücklicherweise, denn sie war es, die der Frau an seiner Seite seine Exkursionen erträglich machte, ohne ihr mehr als die Anmut eines Automaten zu entlocken. Einem Automaten glich auch er, wenn er so neben ihr her schritt und nach Besonderheiten des Ortes Ausschau hielt, um mit einer Handbewegung darauf hinzuweisen oder eine Verweilminute zu inszenieren. Er hätte sich absondern müssen, um das Gewollte daran abzustreifen, das doch so wenig gewollt war, dass er es nur mit einem geheimen Widerwillen bediente. Was ihn am Süden lockte, war, neben dem elementaren Wohlgefühl, das von so allgemeinen Parametern wie dem Licht, den Temperaturen und der überall spürbaren Nähe des Meeres gespeist wurde, diese ganz besondere Erregung, die ihn hin und wieder befiel und auf die er selbstverständlich Verzicht leisten musste, um das Männchen zu geben, wie es von ihm erwartet wurde. Urlaub war gemeinsame Zeit. Da durfte er es sich nicht leisten, abseits zu stehen oder zu wandeln oder gewissen Stimmungen nachzuspüren. »Das kannst du nicht bringen«, hatte sie ganz ruhig, beinahe fachfraulich gesagt, vermutlich schlugen draußen Wagentüren, er musste zweimal hinhören, um die Bemerkung auf sich zu beziehen, aber kein Zweifel, er war gemeint und sah sich aufgefordert, sich dazu zu verhalten. Die Szene gab ihm zu denken, sie verriet keine Empörung, eher eine kleine, technisch motivierte Verwunderung. Er stellte sich vor, wie seine Partnerin, sollte es einmal morgens nicht anspringen, auf die gleiche Weise mit ihrem Auto kommunizierte. Überhaupt hatte er sie selten erregt gesehen. Es passte nicht zu ihrem Habitus, sie hätte aus sich herausgehen müssen, eine unzumutbare Forderung, die wie manches andere spurlos an ihr abglitt.

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Die Stetigkeit hatte er lange Zeit sehr genossen, sie widersprach auffällig seinen Erfahrungen mit dem Geschlecht Beauvoirs, so dass er bereit war, über gewisse Grenzen hinwegzusehen. Gewiss war es nicht Lottes ländliche Naivität samt daraus hervorgehender Unverbildetheit des Herzens gewesen, die ihn so sympathisch berührt hatte. Was dann? So deutlich es ihm augenblicklich vor Augen stand, so wenig gelang es ihm, es zu artikulieren. Man braucht einen Menschen nicht für ausgepicht zu halten, um ihm die Naivität abzusprechen. Eine wie sie – studiert, selbstbewusst, sportlich – war nicht ›naiv‹, schon gar nicht unbedarft. Er wunderte sich nur insgeheim darüber, dass in ihrem Freundinnenzirkel die wechselseitige Ermahnung Sei nicht naiv! allgegenwärtig zu sein schien. Doch diese Verwunderung reichte weiter zurück und trug nichts Spezifisches bei, wenn es darum ging, den primären Eindruck zu analysieren, der nicht immer der erste sein musste, schon gar nicht in diesem Fall, der ihm verwickelter vorkam als andere, weil er den Verdacht nicht loswurde, er selbst könne bei fortschreitender Analyse nur verlieren, wozu er weder Lust verspürte noch hinreichende Reserven zu besitzen glaubte. ›Sei nicht naiv!‹ ... – Ein Integritätszeichen jedenfalls konnte es schwerlich sein, nicht bei ihr, eher ein Stück durchschimmernder Beschränktheit, ein Beschränktheits-Ausweis, wenn man es bürokratisch formulierte, der sich mühelos mit einer anspruchsvollen Ausbildung vereinbaren ließ und sie keinen Moment davon abhielt, junge Menschen ›zum Abitur zu führen‹ und ihnen auf Klassenfahrten die Welt nahe zu bringen. Alles andere wäre ihrer beider Umgebung auch seltsam vorgekommen. Er selbst hätte energisch interveniert, wäre es bei ihr zu einer jener Krisen gekommen, die er nur zu gut aus dem vergangenen Leben kannte. ›Du kannst es‹, hätte er zu ihr gesagt, ›das ist doch selbstverständlich‹, und er wäre ehrlich und offen davon überzeugt gewesen. Aber das war gar nicht nötig, denn sie gedieh prächtig unter der Sonne ihres, zugegeben, etwas einförmigen Berufslebens und holte sich die Zustimmung zu dem, was sie tat, aus dem Milieu, das sie vertrat. Die Gründe für das, was Tronka an ihr als Beschränktheit wahrnahm – falls eine solche Wahrnehmung statthaft war –, verwoben sich stärker mit der Person, als es zunächst den Anschein besaß.

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Man kann ein Stück Glas so formen, dass daraus eine Tür oder ein Stuhl entsteht, das bietet gar keine Schwierigkeit. Aber Glas bleibt doch immer Glas und wer sich darauf setzt, weiß Bescheid – er tut es auf eigene Gefahr. Man kann sagen, das Glas verlangsamt die Handlung, es fügt ihr die Komponente der Vorsicht hinzu und belohnt sie mit dem Geschenk der Durchsichtigkeit. Diese Durchsichtigkeit gehört zur Gnade der zweiten Beziehung, man blickt durch jeden ihrer Teile hindurch auf die erste zurück, als sei sie nach wie vor das Gegebene. Natürlich ist das nicht der Fall. Der Fall ist vielmehr alles, was einen vor dem Rückfall bewahrt und sicher in den gegenwärtigen Verhältnissen hält. Sie müssen keinesfalls besser sein, um als beruhigend empfunden zu werden. Das rührt nicht bloß von den Schrecken der Auflösung her, die den Abtrünnigen ans Kreuz der früheren Verbindung nageln. Trotzdem treten sie als Stabilisatoren in den Blick, sobald die Frage im Raum steht, was ihn ›eigentlich‹ in der neuen Beziehung hält. Sie selbst, was sonst? Die neue Beziehung erweist sich als das täglich sich erneuernde Wunder. Sie schafft allenorts Umkehr- und Haltepunkte, die den Höllensturz in die mitspielende Vergangenheit verhindern. Und sie bildet unsichtbare Hemmnisse aus, die sich gelegentlich schmerzhaft in Erinnerung bringen, jedoch im großen und ganzen reibungslos dafür sorgen, dass von einem naiven Fortleben nicht länger die Rede sein kann. Jede Geste, jede Replik, jede überkommene Gewohnheit wirkt wie im Flug gestoppt oder zumindest aus der ursprünglich angenommenen Bahn gelenkt, so dass der Eindruck, ein zweites Leben zu führen, völlig zu Recht besteht – sie treffen ja auch zweimal ein, schattenhaft, immateriell, voreilend, dann aber im vollen Tageslicht, prall von Leben und wirklich, nur eben auch verzögert und darum je nach momentaner Verfassung als gereift oder überständig zur Kenntnis genommen.

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Wie viele Leben kann ein Mensch führen? Als seine Ehe mit Pida auseinanderbrach, hatte er, beinahe schwindlig, mit ansehen müssen, wie die Hälfte seines privaten Bekanntenkreises sich binnen weniger Wochen in Luft auflöste, nicht, weil sie auf die andere Seite gewechselt wäre, sondern weil die Menschen das Unglück meiden. Vielleicht meiden sie auch nicht das Unglück, sondern die Unglücklichen, vielleicht meiden sie auch nur die Bösewichter, die es wagen, sich einem Los zu entziehen, das sie selbst geduldig tragen, um es an der nächsten Ecke ebenfalls abzuwerfen. Solange sie im Joch gehen ... ein altertümlicher Ausdruck, gemünzt auf eine Form der Ehe, die keiner von ihnen hätte praktizieren können, weil die rechtlichen und wohl auch die psychischen Voraussetzungen dafür entfallen waren, bevor ihre Jahrgänge dazu kamen, auf dem Standesamt die Ringe zu tauschen, sich vor gelangweilten Priestern mit einem kleinen Grinsen das Jawort zu geben oder mit ihren gekränkten Eltern ins Kino zu gehen, um der Sache ›dann doch‹ noch einen festlichen Anstrich zu verleihen. Irgendein Joch findet sich immer, irgendjemand findet sich immer, der es sich überstreift und unendlich gekränkt reagiert, wenn ihn ein anderer daran erinnert, dass es sich eher um eine aufgeblasene Schwimmweste handelt, der man mit einem Nadelstich die Luft herauslassen kann. Wer im Joch geht, der mag es nicht, wenn einer sich neben ihm freimacht, er sieht darin einen Defekt, zumindest ein Versagen, besser noch: eine Untat. Ist er ein Mann, dann lautet die Devise: Suche das Opfer. Er muss sich nicht weit bewegen, er hat es bereits gefunden. Das Opfer erkennt das Verlangen in seinen Augen, es ist schon bereit ihm entgegenzukommen, es spielt seine Rolle und findet so, wer weiß, zur Rolle seines Lebens. Der Täter weiß von seinem Tätersein nichts, noch nichts, er ist mit seinem Schmerz so beschäftigt, dass ihm die neue Freiheit nichts weiter bedeutet als dies: Schmerz. Schmerz über das Zerbrochene, Schmerz über den Schmerz des anderen, fast intensiver gefühlt als der eigene, Schmerz über den eigenen Lebenswillen, der endlich die Entscheidung erzwang, nachdem alle seelischen Ressourcen aufgebraucht waren, Schmerz über die Leichtigkeit, die mit einem Mal allen Dingen innewohnt und genossen werden will, aber nicht genossen werden kann, weil der Schmerz es so gebietet. Er weiß noch nichts davon, was es heißt, zum Täter geworden zu sein, er wird es erfahren, sobald er in die Gesellschaft derer zurückkehrt, die nichts von alledem wissen und die es, streng genommen, nichts angeht.

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Einer geht, einer bleibt. Einer bleibt immer, wenngleich auch er seiner Wege geht. Dabei war gerade er es vielleicht, der längst vorher gegangen war, still, heimlich, still oder heimlich, denn was ist das Einfordern von Gemeinsamkeit, wenn man selbst sie verweigert, anderes als eine Abschieds-Dekoration, unter der sich die Falltür verbirgt, in die unweigerlich stürzt, wer meint, er müsse dem bitteren Lockruf unbedingt Folge leisten – koste es, was es wolle, zum Beispiel den beruflichen Erfolg, den Saunabesuch bei Freunden oder die Grübelstunden am Schreibtisch. Rasch lernt er, dass es so nicht gemeint war und seine neue Aufdringlichkeit die Sache nur kompliziert, da sie die Freiräume der anderen Seite einengt, von denen er nunmehr erfährt, dass sie mühsam erarbeitet wurden und als erworbener Besitz unter dem Schutz von Mächten steht, denen er, soweit er sich erinnern kann, keinen Zugang zu seiner Intimsphäre gestattet hat, die aber offenbar in seiner Abwesenheit die Tür aufbrechen konnten und ihn nun aufmerksam vom Sofa her mustern – keine Charakterköpfe, stattdessen Gesichter, die an- und ausgehen wie abgeschaltete, auf ihre Notfunktion reduzierte Ampeln, Gesichter von Freunden, Bekannten, Verwandten, selbst Vater und Mutter befinden sich darunter, der kleine Bruder, die große, bisher als bescheuert geltende Schwester und immer wieder ein Leergesicht, das sich langsam mit Impressionen füllt: die fremde Frau. Statt zu fragen, wie das geschehen konnte, stürzt er sich in den Drachenkampf, rollt die Beziehungen dieser Leute auf, als gelte es, sich in der eigenen Klarheit zu verschaffen, mit einem bohrenden Wahnwitz, der die andere Seite, nach anfänglichem Misstrauen, anzieht, ja amüsiert, so dass sie auf einmal einen wachsenden Vorrat an gemeinsamen Themen besitzen, der ihre Bosheit befriedigt und seine Unruhe – nein, nicht dämpft, mitunter sogar steigert, als falle selbst ihm nach und nach auf, dass die Grube, die er mit seinen Reden zwanghaft zu füllen wünscht, sich schubweise weiter öffnet, so dass an ein Hinüberkommen weniger zu denken ist als zuvor. Diese Grube ... was passt nicht alles hinein an verzweifeltem Witz, an schürfender Vertiefung in anderer Leute Innenleben, als trügen sie es als eine Art gewendeter Kleidung am Leib und als genüge es, die abgewetzten Stellen und bleichen Ränder einer Inspektion zu unterziehen, um Bescheid zu wissen und ihren Biss zu entschärfen – weit gefehlt, die Grube nimmt spielend alles auf und verschlingt es, ohne dass die Mächte irgendeinen Schaden erlitten oder eine Einbuße an Einfluss erlitten. Fast scheint es, als führe er ihnen nur neue Nahrung zu.

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Wäre ich eine Frau, sinnierte Tronka in einem Anfall von Klarheit, eine richtige Frau, und betrachtete die Welt unter Macht-Gesichtspunkten, so wollte ich ein Kind, unbedingt eines, und dann keins mehr. Ein Kind, würde ich mir sagen, bindet den Mann, nicht mich. Alle Welt weiß, ich bin eine Unvollendete, eine, die weiß, wofür Beziehungen da sind, eine, die bereit ist, eine Tapfere, der das zweite Kind, die Vollendung der Mutterschaft, verwehrt bleibt, die also das Recht hat zu gehen, wann immer sie findet Hier geht es nicht weiter und die dennoch bleibt, die leisen Zeichen der Enttäuschung in die hübschen Gesichtszüge eingetragen, nicht tief, so dass der Kundige weiß, sie wären leicht zu entfernen, weil Gehen ›zu leicht‹ wäre, zu leicht, weil die Beziehung, schon um des Kindes willen, etwas ist, das bewahrt werden muss, etwas Wichtiges im Leben, an dem zu arbeiten sich lohnt... Damit hat sie die ›Kerle‹, wie sie sie nennt, bereits in der Tasche und um sie herum türmt sich im Halbkreis dieses unbestimmte Massiv aus Männlichkeit, das niemals ganz in Erscheinung tritt, aber auch nie ganz weggeht, so dass die Zweisamkeit der Beziehung, dieses kostbare Gut, von einer Seite her unter Druck gerät, an die der ›Partner‹ zuletzt gedacht hätte, jedenfalls zur Zeit der närrischen Vaterfreuden, in der sich der Gefühlskreis um die kleine Familie schließt und der Fluss des Begehrens, aus dem hin und wieder ungezügelte Begierde aufschießt und auf Erfüllung drängt, sich teilt, um dem wundersamen Eiland Raum zu geben, auf dem seit einem Jahrtausend Europas Kultbild Madonna col bambino seine zarten Strahlen versendet – nicht, als habe er sich plötzlich verlaufen, aber doch einverstanden, tief einverstanden mit dem Wunder der Verwandlung, bis, ja bis jene Drohkulisse, wirksamer als der Beichtstuhl vergangener Generationen, den Traum verscheucht und ihm klarmacht, dass Partnerschaft eine harte Nuss ist, die täglich neu geknackt werden muss, oder, mit einem Bild, dem er bis dahin den Zutritt zu seinem Leben verweigert hat, obwohl er es bereits aus dem Mitteilungsfluss der einen oder anderen ihrer Freundinnen kannte, eine Baustelle. »Wir haben da eine Baustelle«: neben dem Ausdruck erschreckt ihn der muntere, einfordernde Ton ihrer Stimme und der dazugehörige Gesichtsausdruck, dem er entnimmt, er habe soeben sein Darlehen aufgebraucht und die Zeit der Rückzahlung habe begonnen. Allein das ›Wir‹ besitzt einen anderen Klang als zuvor, es fordert Gemeinsamkeit, nachdem es die Zweisamkeit exkommuniziert hat, aber diese neue Gemeinsamkeit, das begreift er ohne weiteres Nachdenken, ist gezinkt. ›Du musst dein Leben ändern, zumindest deine Einstellungen, vielleicht auch deine Gewohnheiten, du wirst es uns zur Verfügung stellen müssen, auf eine Weise, an die du bisher nicht gedacht hast, weil du der irrigen Auffassung anhingst, wir seien ohnehin in deine Gedanken eingeschlossen und Gemeinsamkeit in der Beziehung bestehe darin, zusammen Entscheidungen zu treffen, den Abwasch zu teilen und sich ansonsten miteinander zu amüsieren.‹ Wer ist ›Wir‹? Tronka schaudert leicht, ehe er sich zur Antwort entschließt: Wir ist Macht.

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Die Ingenieursgattin … wie war das noch? Sie bat ihn und die ›Neue‹ zum Gespräch. Als Pidas Kollegin hatte sie oft zu Hause an seinem Tisch gesessen, wenn er von einer Vorlesung zurückkam oder nach Stunden am Schreibtisch müde und abwesend in den Kreis der Familie zurückkehrte: lebhaft, extrovertiert, gestikulierend, ein Wunderwerk an plappernder Selbstbehauptung, mit jenem Schuss aufdringlicher Ignoranz, der Menschen zu starken Behauptungen über die Weltverhältnisse im allgemeinen und festen Ansichten über ihresgleichen verleitet. Die Weltverhältnisse, soweit nicht schulisch bedingt, knüpften sich gleichsam organisch an die kontinuierlich steigenden Einkünfte ihres Mannes. Dieser, ein den schlichteren Genüssen des Lebens zugeneigtes Gemüt und ein Feistgesicht, war nach ein paar am Zeichenbrett verbrachten Jahren zum Abteilungs- und schließlich zum Betriebsleiter eines Großkonzerns aufgestiegen und gefiel sich darin, wann immer es ihn ankam – vielleicht als Entschädigung dafür, dass er ihnen ansonsten ausgiebig zu Willen war –, nach Lust und Laune in den seicht-feministischen Gewässern seiner Gattin und ihrer ähnlich gestrickten Freundinnen herumzuplantschen, so dass sie sich, nicht selten unter Ausstoßung spitzer Schreie, rasch vor den Spritzern in Sicherheit brachten, sofern sie es nicht vorzogen, still und sittsam am Beckenrand sitzend das Ende des Spektakels abzuwarten. An jenem Abend ... an jenem Abend ... etwas störte die Erinnerung daran, ein fetter Brummer, der zwischen den Vorhängen aufgewacht war und das Zimmer mit seinen vergeblichen Anläufen, das Freie zu gewinnen, in eine vibrierende Kapsel verwandelte.

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Der Ingenieur redete, soweit Tronka sich erinnerte, wenig. Er sprach dem Rotwein zu und füllte die Gläser auf, wann immer es ihm angebracht schien. Fast wirkte er verlegen, doch das mochte der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses geschuldet sein. Tronka hatte nicht erwartet, in eine peinliche Befragung verwickelt zu werden, sie schien ihm, alles in allem, unangebracht zu sein. Nein, er hatte nicht gewusst, dass zwischen seiner neuen Beziehung und den Gastgebern eine Art Patronage-Verhältnis bestand. Ebenso wenig hatte er jemals den Ton einer Rohrdommel gehört, geschweige denn eine in der Natur beobachtet – an jenem Abend stieg die Assoziation ganz von selbst in ihm auf und ließ ihn passagenweise eher auf Tonfall und Gestik der Gastgeberin achten als auf die Worte, die zwischen den beiden Frauen hin- und hergingen. Jedenfalls fand sich kein einziges in den Taschen seines Gedächtnisses. Ja, er gab Auskünfte, erst verhalten, später, als er begriff, dass hier seine Eignung verhandelt wurde, ein so schützenswertes Geschöpf, zumindest auf Probe, überantwortet zu bekommen, mit einem gewissen kalten Feuer, das kämpferisch wirken sollte und ebenso kalt taxiert wurde, bis am Ende, bis auf weiteres, wie ihm schien, ihm eine Lizenz ausgestellt wurde, für die sich zu bedanken ihm allerdings nicht gelang.

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Natürlich hätte er aufstehen und davongehen sollen, ebenso während jenes sehr viel späteren Auftritts, bei dem sie ihm, wiederum zwischen Rohrdommel und Feistgesicht, beiläufig, unbetont, so dass ihre Stimme fast mit der Hintergrundmusik verschmolz, hinwarf, sie habe sich in der vergangenen Woche von ihrem Lover – sie benützte wirklich dieses Wort – getrennt: er hätte es vielleicht getan, wäre er in diesem Augenblick sicher gewesen, richtig gehört zu haben. So, eingefügt ins Spannungsgeviert, glaubte er nicht entscheiden zu können, ob er, das Feistgesicht oder die Freundin oder sie alle drei die Botschaft, wie immer sie zu verstehen war, ausgehändigt erhielten und an wen sie separat adressiert war. Waren die beiden eingeweiht, kannten sie womöglich den Lover und sollten nun das Ende der Story erfahren, während er, der Unwissende am anderen Ende des Tisches, nur ein Gemurmel mitbekommen durfte, vielleicht auch ein klein bisschen mehr, damit sie vor sich selbst mit offenen Karten spielen konnte? Sie blieben still, die beiden, für eine ganze Weile, diesmal glaubte er eine Spur von Verlegenheit auf beiden Gesichtern zu erkennen, sie vermieden es sichtlich, in seine Richtung zu blicken. Aber das hatte er ohnehin nicht erwartet. Sie zeigten sich, als Paar, nicht sehr verbunden in diesen Minuten, wenngleich kein Zerwürfnis zwischen ihnen zu stehen schien. Jedenfalls vermieden sie es ebenfalls, einander in die Augen zu sehen, und gaben sich, alles in allem, wie Leute, die an einer Sache beteiligt sind, aber keinen Wert darauf legen, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. Waren sie etwa beteiligt? Aber woran? Und in welchen Rollen? War der wirkliche Adressat am Ende das Feistgesicht? Was teilte sie ihm mit? Das Ende der Untreue oder das Ende ihrer Liaison? Wusste die Rohrdommel davon und Tronka, der arglose Gutsverwalter, durfte mit am Tisch sitzen, damit, neben allen übrigen, auch seine Reaktionen unter Kontrolle gehalten werden konnten? Alles war möglich, alle Optionen lagen, wie sich zeigte, auf dem Tisch, es fehlte nur, dass das Feistgesicht seinen Mund aufgetan und zu ihm gesagt hätte: »Nur zu, bedien dich ruhig, wenn dir danach ist.«

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Warum war er sitzen geblieben? Etwa aus dem gleichen Grund, aus dem er heute morgen noch immer im Bett lag? Er merkte, dass die Antwort, die keine Antwort war, sondern nur eine weitere Frage aufwarf, von derselben Instanz, die ihn quälte und biss, zu leicht befunden wurde und dass sie nach einem erneuten Anlauf verlangte. Doch die Suchbewegung blieb vage und ›unbestimmt‹. Offenbar versagte an dieser Stelle die Kraft der Vergewisserung. Regte sich hier ein ›Widerstand‹? Tronka lächelte unter Tränen. Ein Widerstand ... das Zauberwort seiner Generation, ins Gedankenfach gespült durch dieselbe Schwäche, die ihn davon abhielt, aufzustehen oder eine einfache Frage einfach zu beantworten, so wie es sich gehörte. Wehrte er sich gegen eine Einsicht? Sicher nicht. Wehrte es sich gegen eine Einsicht? Sicher, es trieb allerlei, es war die Sprache, die es zu immer neuen Leistungen anspornte, die, wie es sich gehörte, es zu einer unabweisbaren Instanz erhob, schließlich handelte es sich um weniger als nichts, um einen Feuerring aus verweigerten Auskünften, zu dessen Repertoire weder Ja noch Nein zählten, nicht einmal ein belangloses ›Mag sein‹ oder ›Scher dich‹. Er war sitzengeblieben, weil ... weil ihm das als das Gegebene erschien, als verlässliches Minimum, jenseits dessen die Turbulenzen begannen, denen sich auszusetzen er augenblicklich nicht gewillt war. Er war sitzengeblieben, weil es ihm wichtiger vorkam, Herr im eigenen Haus zu sein, als mit einer Geste zu glänzen, in der bereits Neugier steckte, der Wunsch herauszufinden, wie sie wohl auf die anderen wirkte – obwohl es völlig ausgeschlossen war, darüber irgendeine Art von verlässlichem Wissen zu erlangen und so dem zu erwartenden Strudel von Mutmaßungen, Befürchtungen, eitler Selbstbespiegelung und imaginärem Handlungsdruck zu entkommen. Andererseits: gab es neben dem imaginären nicht auch einen realen Handlungsdruck? Nein, davongekommen war er nicht. Er hatte sich auch in keine Pose geflüchtet. Wenn das Sitzenbleiben etwas zum Ausdruck brachte, dann Ratlosigkeit, tiefe Ratlosigkeit mit einem Schuss Überlegenheitsgefühl, denn alles in allem hatte sie sich in eine unhaltbare Lage gebracht, wenn sie glaubte, ihn mit diesem plumpen Manöver zu übertölpeln und ihm für die Zukunft den Mund zu versiegeln. Und dennoch: er hatte geschwiegen, wie von ihr vorausgesehen, er hatte bis heute geschwiegen, auch wenn sein Grund erheblich von dem abwich, den sie, wie er vermutete, dafür in Beschlag nahm.

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Er verstand sie gut. Erst wenige Tage zuvor hatte sie ihm, ebenfalls unauffällig und beinahe absichtslos, in Gesellschaft die Hand auf die Hüfte gelegt – eine burschikose, überraschend elektrisierende Geste: ein Knopfdruck, dazu bestimmt, den Automaten Mann nach Monaten großer Distanz wieder anzuwerfen. Offenbar glaubte sie zu wissen, wie er ›tickte‹: teils, weil sie überzeugt war zu wissen, ›wie Männer ticken‹, teils, weil sie annahm, ihn lange genug beobachtet zu haben, um sein Reaktionspotenzial richtig einzuschätzen. Letzteres so zu behaupten war schwierig – auch wenn er die Behauptung augenblicklich mit niemandem teilte als mit sich selbst –, denn er hatte, jedenfalls in ihrer gemeinsamen Frühzeit, nie Anlass gefunden, sich beobachtet zu fühlen. Lediglich eine gewisse Wortkargheit, verbunden mit plötzlichen statements, die in ihrer Rigorosität überraschen konnten, lieferte in nachhinein Material für ein Unbehagen, das irgendwann aufkam und den gemeinsamen Alltag verdunkelte. Das war wenig, blutwenig, es reichte bei weitem nicht aus, um formell Klage zu erheben, geschweige denn informell, dort, wo sich Misstrauen gegen die eigene Erinnerung und der Wunsch nach umfassender Harmlosigkeit seiner Lebensbeziehungen innigst umarmten und schworen, nie voneinander zu lassen. Auf welchen Wegen das Unbehagen sich in Verdacht und dieser sich in Gewissheit verwandelt haben mochte, war ihm nicht parat, es herauszufinden gehörte auch nicht in den Umkreis der heutigen Aufgabe, leicht erkennbar daran, dass sich nicht der leiseste Zweifel an der vorhandenen Überzeugung regte, zum Objekt einer kalten, über Jahre fortgesetzten Dauerbeobachtung geworden zu sein, deren empörende Rückseite sich im Bild des Automaten zeigte, zu dem sie ihn – per Handauflegung – degradierte. Seltsam nur, dass er sich nicht wirklich darüber empörte. Stattdessen durchlief ihn, nicht zu ersten Mal, eine leichte, in einen winzigen Schmerz mündende Welle von Mitgefühl, als sei es nicht gerecht, ihr daraus irgendeine Art von Vorwurf zu stricken, als sei es nicht einmal recht, ihre Art, sich die Menschen gefügig zu machen, der Konkurrenz anspruchsvollerer Denk- und Verhaltensweisen auszusetzen, bei der sie offenkundig nur verlieren konnte.

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Woher diese Regung? War es überhaupt – Mitgefühl? Was ist ein Mitgefühl? Kann einer mitfühlen, wo auf der anderen Seite kein Gefühl zu erwarten ist, obwohl es, nach allen Regeln der Mitmenschlichkeit, zu erwarten wäre? Ja sicher, gerade da geschieht es, zumindest wird es da fühlbar, weil der Automatismus des Gebens und Nehmens gefriert. Auf die eine oder andere Weise muss der Schock absorbiert werden und die erste, kein Zweifel, besteht in der Erhöhung der Eigenleistung: eine Welle entgegenkommenden Gefühls soll die Stockung beseitigen, um jene wechselseitige Zuwendung wiederherzustellen, in der Beobachtung nur einen minderen, in höhere Formen der Aufmerksamkeit eingebetteten, durch Neckerei entschärften Status besitzt. Sicher, dachte Tronka, kann man auch das Mitgefühl nennen, es fühlt für die andere Seite mit, nicht mit ihr, darin läge schon ein Unterschied, kein gradueller, sondern ein kategorialer, um genau zu sein. Und um genau zu sein, drückt dieses Mitgefühl nur eine Ratlosigkeit des Herzens aus, das nicht anders kann als blind gegen die Barriere anzurennen, die sich da vor ihm aufrichtet, eine Ratlosigkeit, die nicht weggeht, weil sie nicht weggehen will, solange ... nein, nicht solange Hoffnung besteht, von Hoffnung ist hier schon längst nicht mehr die Rede, eher, solange die andere Seite sich als Rätsel präsentiert, das zu lösen das Herz sich scheut. Das gute Herz, es will nicht wissen, wie ihm geschieht, weil es weiß, dass es dies alles, wenn es einmal offen zutage liegt, in immer neuen Gängen mit sich selbst verrechnen muss. Woher es das weiß? Gute Frage. Die einfachste Antwort: seit jeher. Das aber hieße, ja sicher, es hieße, dass er in all diesen Jahren willkürlich etwas übersehen hätte, dass er bei alledem wissentlich und beflissen Mitwisser gewesen wäre, Mitwisser eines ganz und gar nicht tiefen, eines ziemlich platten Geheimnisses, das, außer für ihn, vielleicht überhaupt kein Geheimnis darstellte. Schon in der Frühzeit ihrer Beziehung hatte er sie gegen die Zuflüsterung in Schutz genommen, sich auf eine ziemlich einfach gestrickte Psyche eingelassen zu haben, an der seine Gedanken abliefen wie an einem Wasserrohr, er hatte diesen Schutz gern gewährt, weil er bei ihr etwas zwar nicht gesucht, aber unvermutet gefunden hatte: eine – wie war das Wort? – ... Schwelle, die, einmal betreten, ihm einen überwältigenden Halt gewährte. Diese Zuflüsterung kam nicht von außen, sie kam aus ihm selbst, sie beschäftigte ihn – er hatte das vergessen, aber nun stand es vor ihm auf – zeitweise über die Maßen, so, als bilde sie den innersten Kern der Beziehung, als formuliere sie eine Herausforderung, der er sich gewachsen erweisen musste.

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Die Schlichtheit. Er hatte sie nicht geleugnet, er hatte sie – fast – genossen: als was? Als Daseinsform? Das kam der Wahrheit sehr nahe, gerade weil es einen Selbstbetrug einschloss: die fixe Idee, er könne als gern gesehener Gast in ihre Welt aus Sportkameradinnen, in der hin und wieder ein ansonsten beim Zwiebelschneiden beredeter Sportsfreund leibhaftig auftauchte, seine Tasche in seine Ecke warf, schäkerte und wieder verschwand, auf Dauer eintauchen, um zu entspannen und sich in irgendeiner Weise gehen zu lassen, ohne zu wissen wohin und zu welchem Ende. Die Aussicht – das zu gestehen fiel ihm ganz leicht – besaß einen weit über das Verlangen nach Abwechslung hinausreichenden Reiz. Fast war er geneigt, ihn utopisch zu nennen. Warum denn nicht? Ein utopisches Verlangen hatte sein Begehren in die Regie genommen, es gaukelte ihm eine Zukunft vor, in der die einfachen Dinge sich einfach gestalteten, in der das Schneiden einer Baguette eine Lust war, das Öffnen einer Flasche Rotwein einer Losung glich und das Anrichten eines Salates einer Gabe gleichkam, vergleichbar den Handreichungen einer Märchenfee, die lautlos aus der Wand trat, sobald es an der Zeit war, und sich unbemerkt durch sie entfernte, sobald die Situation es nahelegte. Das alles stand in schroffem Gegensatz zu der gerade mit Pida durchlebten, noch immer brodelnden und Lava spuckenden Hölle. Wollte er dieses Tor entriegeln? Noch nicht, noch nicht. Hier war feuriger Boden. Zwar fürchtete er sich nicht davor, ihn zu betreten, aber er hütete sich. Die Utopie verflog, ein Duft, ein Atemzug, kaum dass er ihrer noch achtete. Stattdessen betrat eine merkwürdig eckige Person den Raum, im Gegenlicht kaum zu erkennen. Sie betrat ihn, durchquerte ihn und verschwand, fast geräuschlos, durch eine der rückwärtigen Türen, von der er ohne hinzusehen wusste, dass sie nun offenstand. Auch diese Tür war jahrelang offengestanden, ohne dass er begriff. Wenn er sie gelegentlich schloss, mahnte ihn ein leises Rufen, sie wieder zu öffnen – hoppla, ein Versehen, schon beeilte er sich, dem Ruf Folge zu leisten.

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Das Wort Halt... Inwiefern traf es das, was er damals fand? Brauchte er Halt? So gefragt: sicher nicht. Er stand unter Druck, der Druck stieg und stieg, doch er beherrschte sich ... vielleicht zu sehr … vielleicht zu sehr, doch aus seiner, des Beherrschten Perspektive ergab diese Aussage keinen Sinn, er sah nur unter geheimem Grauen und gleichsam durch die Finger, wie Pida nach und nach, falls diese Angabe einen Sinn ergab, das Thema Selbstbeherrschung an ihn delegierte, als sei das nun sein Problem und er habe sich gefälligst darum zu kümmern, während sie fürs erste mit Wichtigerem befasst sei. Das lag auf einer Linie, die er schon kannte, doch die Schwangerschaft trieb es in eine bislang ungekannte Dimension. Der Arzt attestierte ihr eine Depression und versicherte, das gehe vorbei. Tronka glaubte ihm kurze Zeit, doch dann begannen die Zweifel zu wachsen: was ihm hier entgegenschlug, war offene, jeden Austausch verweigernde, durch nichts zu zerstreuende oder abzuschwächende Feindseligkeit, die sich von Tag zu Tag aufschaukelte und sich offenbar ausschließlich gegen ihn richtete, eine quasi-organische Abstoßungsreaktion, deren Wucht ihm den Atem beschnitt und ihm keinen anderen Schluss erlaubte als den, dass diese Frau nichts sehnlichster wünschte als die Trennung, dass sie die gerade noch herbeigewünschte Schwangerschaft für den Irrtum ihres Lebens hielt und durch ihr Wüten vorsätzlich in Gefahr brachte. Tronka grübelte... Hatte er das damals so deutlich empfunden? Nein, er hatte es auch damals ergrübelt, als ein Wenn-dann, eingepackt in ein Wenn-aber und auf Abstand gebracht durch ein angstvolles Wenn-nicht, dies alles mühsam in Schach gehalten durch ein Selbst-wenn, das ihn als ›Macho‹ denunzierte und zugleich in jenen Abgrund umfassender Sorge stieß, der sich über all die Jahre in ihm aufgetan hatte und der seine Ratlosigkeit in dieser Situation grenzenlos steigerte. Da war sie, die Haltlosigkeit, in keinem anderen Sinne als diesem, und wenn sich ihm hier ein Halt bot, dann war es der Halt des Gesprächs, eines kreisenden, höchst einseitig geführten Gesprächs, in das er, zunächst stockend, fast wie in einen während der Messe umlaufenden Klingelbeutel, an Gedanken hineinwarf, was ihn gerade quälte, bis er mit ungläubigem Erstaunen einen Austausch in Gang kommen sah, den er seit Jahren verweigert oder nur rudimentär mit sich selbst gepflegt hatte, einen Austausch, in dem er die Hauptlast des Redens und Loslassens trug, während die andere Seite eine Solidarität des Zuhörens und Bei-der-Sache-Bleibens bewies, für die sich in seinem bisherigen Leben kein Beispiel fand.

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Dagewesen war sie schon früher, an jenem Abend in Salzburg zum Beispiel, als Pida sich ohne Erklärung zurückzog, mauerte, wie es den beiden schien, als sei ihr heftig daran gelegen, sie gerade jetzt hinauszustoßen in die schneidend kalte Winternacht, um dort irgendein Geheimnis auszubrüten, jedenfalls drückte ihr gierig-erschrecktes Gesicht etwas davon aus, als sie ins Hotel zurückkamen und sie wider Erwarten den Kopf aus der Zimmertür streckte, um sofort wieder zu verschwinden – eine gespenstische kleine Szene, mit einem leichten Kopfschütteln abgetan, aber vom Gedächtnis aufgehoben für jene Zeit der beginnenden Heimlichkeiten, in der das Gespräch nicht abriss, jedoch phasenhaft in ein Schweigen überging, in dem sich so etwas wie Behagen bemerkbar machte, verbunden mit der Empfindung, am falschen Ort eine falsche Vertraulichkeit zu pflegen, sowie dem Trotz, es dennoch zu tun, weil der richtige Ort zum falschen geworden war und ihn buchstäblich ausspie, sobald er ihn aufsuchte, so dass der richtige und der falsche Ort, die richtige und die falsche Empfindung, das richtige und das falsche Beieinander ununterbrochen ineinander übergingen und zusammen eine Art Spiegelkabinett ergaben, in dem sich jedesmal ein anderer Teil seiner Person ins Groteske verzerrte, sobald er seiner ansichtig wurde. So war es und so sollte es lange Zeit bleiben. Sie zogen zusammen und er zog, weil er die Spannung nicht ertrug, wieder aus. Er mietete sich eine Wohnung am Berg über der Stadt, er stellte seinen Schreibtisch an die Terrassenfront und überblickte von dort den weiten Kessel, in dem die Monumente des abgewanderten Bergbaus den schweifenden Blick auf sich zogen, die falsche Silhouette einer von Selbstzweifeln befallenen Kommune, die das Füllhorn öffentlicher Subventionen über alle erdenklichen Zukunftsprojekte leerte, so wie er selbst, mit dieser Bleibe im Rücken, Ausfälle in die eine und in die andere Richtung unternahm. In Sicherheit war er auch hier nicht. Es kam der Abend, an dem Pida an der laubumrankten Eingangstür rüttelte und heulte, an dem ihr Geschrei für Stunden die Nachtluft erfüllte und die Nachbarschaft in völliger Grabesruhe erstarrte, bis der Spuk endlich vorbei war. War er vorbei? War er jemals vorbei? War er heute vorbei? Er war sich nicht sicher. Heute erstarrte er bei dem Gedanken an solche Szenen und hoffte, er würde vorüberziehen, schließlich war es bloß ein Gedanke wie andere auch und besaß keine größeren Rechte an ihm.

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Nach solchen Erlebnissen bedurfte er ihrer mehr denn je, er wickelte sich in ihre Wärme wie in einen warmen Pullover und glaubte an eine gemeinsame Zukunft. Glaubte er? Welch ein Glaube kann das gewesen sein? Hinter den Einschnitt, den sein Auszug bedeutete, führte kein Weg zurück. War ihm das deutlich, war ihm das bewusst gewesen zu einer Zeit, zu der er glaubte, der einzig mögliche Weg in die Zukunft stünde offen, er müsste ihn nur ... festhalten können, während sein Entschluss wie eine Plane im Wind hin und her schlug? Was war ihm überhaupt bewusst gewesen zu jener Zeit, die heute wie eine plane sonnenüberschienene, immer wieder von Sturzfluten heimgesuchte Fläche vor Augen lag? Vielleicht war sein Bewusstsein abgeschaltet und er bewegte sich reflexhaft zwischen den Hindernissen, die sich unvermittelt vor ihm auftaten und bewältigt werden mussten, koste es, was es wolle, und komme, was da kommen musste. Pida, die getrennt Lebende, baute ihren Status zielstrebig aus und wusste sich seiner Phantomschmerzen meisterhaft zu bedienen. Gegen dieses große Theater kam die zweite, die kleine Trennung nicht in Betracht. Er betrachtete sie kalt, unpersönlich als etwas, was hatte getan werden müssen, er nahm sie nicht ernst, er konnte darin keine Entscheidung erkennen, einfach nichts, die sich auf die neue Beziehung auswirken würde. Letztere war auf Verständnis gebaut, sie existierte gar nicht, es sei denn im Fluidum dieses Verständnisses, er kam jedes Mal auf sie zurück, sobald das Bedürfnis, verstanden zu werden, von ihm Besitz ergriff, rauschhaft, mit einem Stich von Verzweiflung, weil es ihm nicht gelang, sie festzuhalten, und er sich nicht sicher war, dass er sie überhaupt wollte.

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Hätte er hingesehen, so hätte er wissen müssen – das sagt sich leicht und enthält doch eine elende Unterstellung. Er hatte hingesehen, mit allen plötzlich sehend gewordenen Organen; was immer geschah, es brannte sich ins Bewusstsein ein und wurde zu einem jederzeit abrufbaren Fundus, den er seither mit sich herumtrug, einem Vorrat an Erinnerungen, der in jeder neu hinzutretenden Lage einen weiteren Aspekt des Vergangenen preisgab, als sei das Bewusstsein damals mit Informationen geflutet worden, die erst allmählich und schubweise analysiert werden konnten, obwohl er sicher war, dass sein analytischer Verstand damals genauso schnell und sicher gearbeitet hatte wie heute. Wenn er ausgezogen war, dann hatte er es so und nicht anders gewollt, dann war ihm selbstverständlich bewusst gewesen, dass er die neue Beziehung aufs Spiel setzte, er hatte sie aufs Spiel setzen und, wer weiß, auch beenden wollen, nur anders, nicht unter Blitz und Donner, sondern unter Fortdauer des Verständnisses, auf das er so dringend angewiesen blieb, dass er ohne zu zögern darauf zurückkam, sobald Pida auf ihn einprügelte. Dabei geschah, womit keiner von beiden rechnen konnte: die abgeschnittene Zukunft des ersten Versuchs erstand in seinem Kopf neu – als Idylle.

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Eigentlich glaubte er keine Sekunde daran, dass sein Auszug ihren sentimentalen Traum zerstört hatte. Er war bloß, wie er heute mit bitterem Staunen einsah, völlig unfähig gewesen, die Konsequenzen seines Schrittes realistisch einzuschätzen. Stattdessen erschuf er zu ihrem und seinem Gebrauch die Vorstellung der jäh unterbrochenen Idylle. Er buchte die Schuld auf sein Konto und überreichte ihr dafür artig einen Strauß schmerzlich-bunter Gefühle, so wie man einem Kind, weil man es traurig wähnt, einen Schnuller reicht, während es gerade in Gedanken einem Hasen hinterherrennt oder dem Nachbarn beim Jäten zusieht. Das alles geschah nur im engen Raum seiner eigenen Gefühlswelt, er hatte es nie für nötig befunden, darüber zu reden oder einen Erinnerungsausgleich herbeizuführen. Zweifellos handelte es sich – auf der Ebene der Gefühle – um eine Art regulativer Idee. Mit ihrer Hilfe vermochte er Situationen zu meistern, in denen er erfuhr, auf welche Kältegrade eine Beziehung abkühlen konnte, als hätte er nicht gerade das zuvor ausgiebig genossen, wenn man davon absah, dass Pida ein anderer Mensch war und anderen Obsessionen untertan. Er hatte einen Schild konstruiert, hinter dem sie im Grunde alles tun und lassen konnte, was ihr beliebte, ohne dass es ihn zwang, seine Ansichten über sie zu revidieren oder ihre Beziehung in Frage zu stellen: So sah es aus. Nicht ganz, denn diese Beziehung, die so alltagstauglich daherkam, wurde von ihm in Frage gestellt, seit sie existierte. Jedenfalls konnte er sich an keine Zeiten erinnern, in denen er ganz in ihr aufgegangen war. Täuschte er sich? Vielleicht, vielleicht nicht. Doch hätte sich die warme Welle im Meer einer umfassenden Zuneigung dann nicht unweigerlich verloren? Gab es ein Glück, das keine Spur im Bewusstsein hinterließ? Er war geneigt, die Frage zu verneinen, doch sein theoretischer Verstand sagte Cave.

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Ab wann existiert eine Beziehung? Die Frage wird dringend, sobald eine neue Beziehung in der Beziehung aufkeimt. Beziehungskeime, dachte er, wie gnadenlos so ein Wort zählt. Was zählt, was zählt nicht? Das sind Lektionen der Bitterkeit, die keiner vergisst. Nein, korrigierte er sich, die Bitterkeit enthält keine Lektion, gerade sie nicht. Die Bitterkeit sie ist sich selbst genug, sie gehört in die Klasse der vornehmen Affekte, die zerstören, ohne die andere Person auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn ihr Motiv in Betracht zu ziehen. Wie viele Beziehungen können unter der Decke einer Beziehung Unterschlupf finden? So zu reden heißt ihnen Unsichtbarkeit zu attestieren. Doch Unsichtbarkeit ist eine schwankende Macht, der sich die Wirklichkeit nur in den seltensten Fällen voll und ganz unterwirft. Was eben als unsichtbar galt, unmittelbar darauf liegt es vor aller Augen. Wie kann das geschehen? Ganz einfach: jedes Mal sind die Vermittler bereits unterwegs. Der Schatten des Unsichtbaren liegt auf allem, was in einer komplizierten Beziehung zutage liegt. Und welche Beziehung wäre nicht kompliziert? Auch hier fällt die Antwort leicht (ein bisschen zu leicht, findest du nicht –?): kompliziert ist immer die eigene. Alle anderen entziehen sich deiner Beurteilung. Entziehen sie sich? Wissen paradox: lässt du dich erst auf sie ein, dann siehst du das Räderwerk, du siehst es ganz deutlich: warum? Weil du keine Scheu hast, es zu beschreiben. Stück für Stück weist dir die Beschreibung den Weg. Du gehst ihn ohne zu zögern. Warum? Die Beschreibung ist der Bitterkeit eng verwandt. Beide stammen vom gleichen Erzeuger, sie haben dieselbe Schulzeit durchlaufen, ihre Wege kreuzen sich wieder und wieder. Aber sie haben keinerlei Blick füreinander, sie sind ein Zwillingspaar, das ohne einander zurechtkommen muss. Bitterkeit ist der Mantel, mit dem Hellsicht die eigene Beziehung umhüllt.

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Das Feistgesicht hantiert in der Küche. Es hat Fische vom Markt geholt und bereitet, wie es angeberisch zu beteuern nicht müde wird, ein Festmahl vor. Der Morgen ist frisch und scharf, in zwei Stunden, vielleicht früher, wird es hier heiß sein. Sie hat nur Augen für ihn, assistiert wie ein Automat. Tronka, am Frühstückstisch, sieht dem Treiben zu, er sieht ihm zu, mit Augen, wach und überanstrengt, als wäre es jetzt. Es ekelt ihn an wie damals. Und es spricht aus ihm – wie damals. Es spricht, er hört sich zu, die Stimme besitzt diesen Klang, Tronka erkennt ihn, obwohl er ihn nie von einem Recorder vernommen hat. »Wäre ich gezwungen, mein Gehirn einzuschalten und zwei und zwei zusammenzuzählen, dann müsste ich sagen, die beiden sind ein Paar. Da ich aber ein verträglicher Mensch bin und mit dieser Frau zusammenlebe, sage ich nichts. Ich sage nichts. Was sagst du dazu? Ist es richtig, nichts zu sagen? Ich denke nur, es ist nicht fair, von mir zu verlangen, zwei und zwei nicht zusammenzuzählen. Wir sind schließlich denkende Wesen. Liegt da für dich ein Problem?« Vielleicht etwas früh, die Rohrdommel so brüsk mit ihrem Ehealltag zu konfrontieren. Eine unbekannte Scheu scheint sie an ihren Platz zu bannen. Die Kinder sind vorher gegangen, jedenfalls liegt die Empfindung, sie seien vorher gegangen, im Raum. Die Empfindung ist wichtig, sie markiert die Gelegenheit. Allerdings fragt, was da laut wird, nicht nach Gelegenheit. Tronka merkt es an seiner Stimme, sie dehnt die Wörter, sie artikuliert ein wenig kräftiger, als die akustischen Verhältnisse es nötig erscheinen lassen, vielleicht, um eine organische Undeutlichkeit, die sich in die Stimmbänder eingeschlichen hat, zu neutralisieren, sie scheint ein wenig heiser vor Überwindung, aber diese Überwindung gilt einem Widerstand, der sich schon geschlagen gegeben, der sich damit einverstanden erklärt hat, dass das jetzt heraus muss. Musste es heraus? Schwierige Frage. Es war den Versuch wert. Stärker als das Panikgeplapper der Rohrdommel haftet in der Erinnerung das Schweigen des Paares, das partout keines sein soll, vielleicht keines sein will, das sich stillschweigend aus den Konventionen der Rede entfernt hat, ein Schweigen, weder beredt noch unbedeutend, vielmehr etwas dazwischen, eine Undeutlichkeit, räumlich verdichtet, ein Fleck in der Luft, der sich jäh spaltet, als sie hinausstürzt.

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Auch diese Szene brennt im Gedächtnis. Dabei ist sie verlogen, das Deckblatt eines Kartenhauses: nimm eine Seite heraus und alles fällt zusammen. Die Rohrdommel schweigt, denn sie hat nichts zu sagen. Was sie weiß, versiegelt ihr nicht den Mund allein. Öffnet sie ihn, so exakt in dem Augenblick, in dem das Schweigen verräterisch zu wirken beginnt, ihres und das der beiden, es macht keinen Unterschied. Mag sein, sie besitzt die schwächsten Nerven, mag sein, sie ist etwas weniger ›involviert‹. Was immer ihr den Mund öffnen mag, die Wahrheit – wessen Wahrheit? – ist es nicht. Aus ihr spricht der Geist der Lüge, der alles zudecken will: Du täuschst dich, du hast dich getäuscht, du wirst dich jedesmal wieder täuschen, glaube nicht deiner Empfindung, vertraue nicht deiner Wahrnehmung, kastriere deinen Verstand. Mehr ist nicht verlangt, also wenig, blutwenig, das wirst du doch hinbekommen, zuviel verlangt ist das nicht. Nein, zuviel verlangt ist das nicht. Du solltest froh sein, so billig davonzukommen. Andere müssen weit mehr hinlegen, du darfst zufrieden sein. Daher: Sei zufrieden! Unseren Frieden wirst du nicht stören, nicht im Traum solltest du daran denken. Spürt er die Drohung? Ja, er spürt sie, unterschwellig, doch das besagt wenig, die Schwelle liegt hoch, sie wurde zum Stolperstein und er hat sie im Blick. Falls sie ein Geheimnis hütet: sie hütet es gut. Das Schweigen der beiden, was sagt es? Es sagt: ›Dazu sagen wir nichts, es sei denn, du reißt uns die Zunge aus dem Mund, dann kommt alles heraus.‹ Ganz stimmt das nicht, denn sie schweigen einzeln, sie schweigen getrennt, sie hüten sich, gemeinsam zu schweigen. Das Schweigen isoliert sie, es spannt ihre Körper, als stünden sie unter Strom. In hundert Jahren kommt einer, der setzt uns wieder in Gang. Tronka braucht keine hundert Jahre, um zu verstehen. Das Rennen, wenn es je eines war, ist tot.

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Vergib mir, sagt eine Stimme, sie spricht ganz beiläufig, ganz nebenbei, überrascht wendet er sich ihr zu. Was gibt es da zu vergeben? Spring, unredliche Seele, spring: das passte besser ins Bild und wäre auch nur eine Momentaufnahme aus einem Film, der keine Sprünge erlaubt, da er aus lauter Sprüngen besteht, aus Sprüngen und Splittern hinauf bis an die Decke und weiter, jedes Einzelbild, wenn das Auge es einmal zu fassen bekäme, könnte das gleiche bezeugen. Enthielt der Weinkrampf, in dem er sie vorfand, als er sie suchen ging, eine Bitte um Vergebung? Wohl kaum. Eher war er wohlkalkuliert, er schloss ihm und ihr den Mund und erzeugte die Welle zum rechten Zeitpunkt. Wo blieb seine Bitte? Grund hätte auch er gehabt, vielleicht nicht jetzt, gerade zu diesem Zeitpunkt, vielleicht doch, gerade jetzt, denn irgendwann gibt es keine Vergebung. Aber er glaubte Grund zu bohren zu haben, er hatte gebohrt und war fündig geworden: eine sprudelnde Quelle des Zweifels und der Bezichtigung hatte sich aufgetan, sie musste nur noch gefasst und ins Rohrsystem der Verdachte eingespeist werden. Niemals, seit er in Beziehungen lebt, hat er das Wort ›Verzeih mir‹ vernommen. Auch er selbst hat es nicht gebraucht. Beziehung verzeiht nicht, sie verzeiht nichts, sie hat nichts zu verzeihen, sie geht über alles hinweg, bis sie bricht, sie sammelt Kohlen aufs Haupt des anderen, jeder einzelne Brocken bringt sie dem Absprung näher, der unmöglich, der ›gesperrt‹ bleibt, denn noch ist er die Seele des Spiels, der Freiheitskern, um den herum sich die Beziehung entfaltet. Wer ›Vergib mir‹ sagt, ist ein Zerstörer, er vernichtet das Konto, er annulliert den Kern. Hör nicht hin. Sprich nicht mit ihm. Er ist ein Naiver, jemand muss ihn erziehen, aber nicht du. Die Lektion, die ihm fehlt, lautet: Vergebung wäre fromm. Beziehung ist unfromm, da liegt der Unterschied. ›Was wir Beziehung nennen, ruht auf dem Fundament einer Frömmigkeit, die zerstört wurde, weil die Zeit reif dafür war. Die Frauen wissen das, es ist ihr innerstes Wissen, sie tragen, ein Amulett, es immer mit sich herum.‹

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Draußen rumort, wie damals, das Feistgesicht. Nichts hat sich verändert. Tronka sollte ihm dankbar sein, es hat Stetigkeit in seine Beziehung gebracht, es ist ihr ruhender Pol, der Stein des Anstoßes, der zum Eckstein wurde. Brunhild, von Siegfried gebändigt: mit Siegfried unter der Tarnkappe, frei, mit Gunter, gebunden, unter den Leuten, beidemal einvernehmlich, ein Doppelwesen, gebändigt und frei, frei und gebändigt, in sich beruhigt, kann man so etwas wissen? Eine Empfindung, gewiss, ein organisches Wissen, ein Wissen-als-ob, eine Hypothese, für die er nichts kann, die ihn nichts angeht, nichts angehen darf. Sie drängt sich auf, sie geht, sie kommt wieder, eine Murmel im Spiel, die sich nie ganz verliert. Ein Gemurmel, gewiss, in den eigenen Bart, welchen sonst? Diese emanzipierte Frau – worauf stößt er, wenn er so denkt? Auf Pida, wen sonst. Auf Pida, ganz recht, mit ihrem Verlangen nach dem Mann, den sie nicht ertrug, nicht ertragen konnte, sobald sie ihn sich näherungsweise erschaffen hatte (den Ernährer, den Mann, der in seinem Beruf aufgeht und die Familie, diese wichtigste Nebensache der Welt, nach seinem Bedürfnis formt) und auf ihn losgeht, seit er es wagt, sich ihrem Emotionengewirr zu entziehen. Geht so Verfolgung? Spürt er Pidas Atem im Nacken? Eher im Gesicht, er weht ihn an, noch heute, noch immer … Er schätzt diese Wortverbindung: ›noch-immer‹, ein Immer, das nicht aufhören kann, weil da etwas ist, das weitertreibt, das sich weitertreibt, am besten bis ans Ende aller Tage, in die letzte Nacht hinein, ins letzte Noch-immer – er schätzt die Wörter und fürchtet die Sache, er fürchtet sie wie ein Gespenst, das all seine Schritte überwacht und dafür Sorge trägt, dass er dem System der Strafen nirgends entrinnt. Die neue, nun auch in die Jahre gekommene Beziehung, was ist sie anderes als Entzug? Pida, ganz ohne sie – ein Fiasko auf freiem Feld, ohne Baum und Strauch, eine dürre Ebene, über der eine schreiende Stimme aufgeht: durch nichts gehemmt, durch nichts zerstreut, durch nichts gestaut, so dass ihr eigenes Echo sie aufnehmen könnte. Beziehung, doziert er, diese Beziehung – alle? – fungiert als fortgesetzter Entzug, so als entzöge er, der Beziehungsnehmer, sich aus keinem anderen Motiv als dem zu leben, leben zu wollen, einer tödlich gewordenen Pflicht. Wie ein Deserteur an der Sinnhaftigkeit des Krieges zweifelt, der ihn mit Vernichtung bedroht, zweifelt er an der Ehe, die, längst aufgelöst, als Drohung über ihm steht. Zweifel? Was heißt hier Zweifel? ›Ich bezweifle‹ ist die Formel eines, der anficht. Was ficht er denn an? Eine leere Drohung, sein Leben zu zerstören? Das Recht einer leeren Drohung, ihm zuzusetzen? Vor welchem Gericht?

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Auch ihr hat er die Ehe angeboten … nein, korrigiert er sich, nicht angeboten, er hat ihr den Vorschlag unterbreitet, nachdem die Karre in den Sand gefahren war und sie beide darüber grübelten, wie es weitergehen könnte, – nachdem die Welle einmal mehr über ihn hinweggegangen war und ihn ›handzahm‹ hatte werden lassen. Doch auf dem Grunde des Vorschlags lag keine sentimentale Anwandlung, sondern ein Leistungsangebot. Er hat sich betragen wie ein Hochspringer, der die Latte reißt und hektisch darauf besteht, sie höher zu legen, halbherzig, mit einem guten Gefühl im Bauch, wenn er erfährt, dass seinem Begehren nicht stattgegeben wird. Die Zurückweisung kränkt ihn, schon hat er beschlossen, die Kränkung zu verwahren, für alle Fälle oder für den einen, den er unaufhaltsam auf sich zukommen sieht, er legt sie nicht in den großen Tresor, in dem er Wertsachen verwahrt, sondern in ein separates Schließfach, dessen Schlüssel er verlegt hat, um sie desto sicherer wiederzufinden, sobald die Zeit reif sein wird. Es war der Versuch, die Drohung zu bannen, vielleicht lag darin der Grund der Zurückweisung, weil sie nicht wollte, dass sie verschwand. Vielleicht lebte sie gut mit der Drohung in seinem Kopf. Vielleicht hätte sie ihn gern dann und wann aufgehebelt, um die Dosis zu regulieren. Er traute es ihr ohne weiteres zu. Damals beschlich ihn der Gedanke, eine unerbittliche Sachwalterin der Beziehung – seiner, ihrer, aller – an seiner Seite zu haben, bereit, jede kleinste Regelverletzung unverzüglich zu ahnden – nicht aus übertriebener Strenge, sondern aus sicherer Überzeugung, das Rechte zu tun, wie sie nur ein übertragenes Amt verleiht. Dieses Amt … wer hat es ihr übertragen? Wer hat es ihr angetragen? Wenn sie sich zur Schiedsrichterin aufwarf zwischen sich und ihm: wer diktierte dann ihr die Regeln? Offenbar jemand, der sich ihre Regelgläubigkeit zunutze zu machen wusste. Dann aber … dann aber musste da jemand sein, der ihm, leise und beharrlich, sich selbst im Hintergrund bergend, ans Leder wollte.

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Was keinen Unterschied machen sollte, wurde Unterschied pur. Der Satz galt für die Ehe mit Pida, die, wie gegenseitig versprochen, als Beziehung gelebt werden sollte und als Beziehung entgleiste, er galt ebensosehr für die Beziehung, die wie ein Glücksversprechen aus der verstümmelten Ehe hervorbrach und sie in Schüben hinwegfegte, zumindest hinwegfegen half, denn inmitten dieser Schübe verfiel sie selbst oder machte sich unscheinbar, jedenfalls für gewisse Zeiten. Das war merkwürdig, denn was da ›Ehe‹ hieß, blieb wesenlos, eine taube Nuss, die zu knacken sich nicht gelohnt hatte und sich auch heute zu knacken nicht lohnen würde, es sei denn, man trieb historische Studien und untersuchte Geschlechter-Rollenbilder einst und heute. Bei dem Wort ›Rollenbilder‹ musste er grinsen, ihm widerstrebten die theoretischen Anleihen bei der Schauspielkunst, obwohl er natürlich wusste, wieviel Mimesis – und wieviel offene Schauspielerei – im Beziehungsspiel steckte. Die letzte Ehe war die seiner Eltern gewesen und die war das letzte – und so reihum bei Pida, bei ihr, bei der Rohrdommel ebenso wie bei Feistgesicht und all den anderen. Aus dieser Erfahrung, mit diesem Einstellungsknick im Gepäck kamen sie alle und schlugen sich durch … schlugen sich durch? Dafür war zuviel Hochmut im Spiel, zuviel Auftrag, ›gesellschaftlicher‹ Auftrag, um genau zu sein, bereitwillig angenommen und mutwillig ausgeführt. Ja, es lag ein ziemlicher Mutwillen in dem, was sie trieben, sozialer Schabernack, der sie groß und mächtig erscheinen ließ und gleich daneben, besser ›ineins‹, klein und mickrig, denn um richtig schäbig zu sein fehlte den meisten das Format. Sie stellten die ersten zur Beziehung verurteilten Jahrgänge – ohne Vorbilder – von so klischeehaften, weder vorn noch hinten stimmigen Paarungen wie der des Pariser Maoisten-Pärchens Sartre – Beauvoir einmal abgesehen –, ohne mimetisches Training, es sei denn mit und an Gleichaltrigen, aufs ›Gelingen‹ verpflichtet und ohne ein Archiv des Misslingens, wie es die Literatur für die christliche Ehe und ihre säkularen Wurmfortsätze bereitstellte. Insofern durften sie sich Schauspieler eines Wissens nennen, das es nicht gab, einer Erfahrung, die nicht existierte, und eines Ideals, von dem niemand wusste, ob es überhaupt erstrebenswert war. Eine Beziehung war nichts, eine Beziehung eben, eine Relation zwischen zwei Punkten, ausgestattet mit zwei Beinen, die sich bewegten, zwei Armen, die festhalten und abstoßen konnten, sowie einem Kopf, dessen Tätigkeit wenig hergab, jedenfalls in der erwünschten Richtung. Ohne die penetrante Körperrhythmik der unentwegt im Hintergrund dröhnenden Rockmusik und ihre unermüdlich Sex und ›Freedom‹ miteinander verrührenden Songtexte wäre das Ganze auf der Stelle auseinandergefallen. Man konnte sich natürlich fragen, was eine Generation zu bewegen vermochte, das gesamte bisherige Menschheitswissen in Sachen Geschlechterpraxis beiseitezufegen und bei Null zu beginnen, bis ein paar Verhaltensforscher sich der Sache erbarmten und die Geheimnisse des Hühnerhofs für sie zu entschlüsseln begannen. Die Antwort lautete schlicht und einfach: die Freiheit.

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Pidas Freiheitsdemonstrationen hatten ihn rasch gelehrt, das Anforderungsprofil an ihre Beziehungsehe niedrig zu halten, gleichgültig, ob es sich um so banale Dinge wie den Abwasch oder um so komplizierte wie die Metastasen ihres sexuellen Begehrens handelte. Beim Besuch seines Vaters – dem einzigen – entwich sie unangekündigt und kehrte drei Stunden später zurück, die erste Demütigung mit einer zweiten entgeltend: das bewog ihn, Gäste künftig nicht als gemeinsame, sondern als seine oder ihre zu betrachten – und zu behandeln –, desgleichen, nach einigen Zwischenfällen, die ihn stutzig machten, Freunde –: »Es sind meine Freunde«, tönte sie ungerührt, »scher dich nicht drum.« Leider reichte das Geld damals für kein zweites Auto, so dass er sich gelegentlich genötigt sah, sie tief in der Nacht von Autobahn-Rastplätzen und ähnlich dubiosen Orten abzuholen, in mürrisches Schweigen versunken, mit verrutschtem Makeup, aber funkelnden Blicks, sobald er versuchte, ein wenig Licht ins Dunkel der Abläufe zu bringen. Dennoch erschien sie ihm nicht etwa als Ungeheuer, sondern als ein Mensch im Werden und er sich selbst als Geburtshelfer einer neuen, vom Joch der Lüge befreiten Weiblichkeit, von der er annahm, dass sie ab jetzt die Erde bevölkern werde, er erblickte in ihr die kommende, noch nicht völlig ausgeformte Gefährtin, die ebenbürtig mit ihm das Leben durchstreifen würde, im übrigen fühlte er sich elend. Elend wovon? Elend wofür? Er war es, der schwieg, er war es, der sie nächtens chauffierte, er war es, der ihr die Seminararbeiten schrieb, wenn sie ihn mit großen Augen ansah, weil sie unpässlich war oder die letzte Nacht zu kurz – hier blitzten die Augen, blau oder grau, und signalisierten: ›Nicht weiter! Hier beginnt meine Freiheit.‹ Und begann sie nicht wirklich hier? Waren Freiheit und sexuelle Befreiung nicht eins? Hatten sie sich nicht das Wort gegeben, aufrichtig gegeneinander zu sein und einander nichts zu verschweigen? Wie konnte er fragen, wenn er doch ihr Wort besaß, nichts zu verschweigen?

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Im Gegensatz zur Beziehungsehe, die Zusatzabkommen verlangt, verpflichtet eine Beziehung zu nichts. Um sie aufzunehmen, genügt es zusammenzuziehen – hoppla, unterbrach er sich, ist das eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung? Inzwischen besaß er genügend Bekannte, weibliche in der Regel, die angaben, in einer Beziehung zu leben, obwohl sie das Zusammenziehen hinausschoben oder gänzlich verweigerten. »Warum soll ich mir das antun?« hieß die geflügelte Wendung. Hatte er in einer Beziehung gelebt, solange er im Gartenhaus über der Stadt residierte? Natürlich nicht, die Beziehung war storniert, sie pausierte, sie ruhte, sie war ausgesetzt, sie lief im Hintergrund weiter. Aber gelebt –? Im Grunde war er hart an die Grenze, womöglich darüber hinaus gegangen, denn das Ritual des Auszugs beendete, was mit dem Akt des Zusammenziehens begann – was denn sonst, wenn nicht die Beziehung? Mag sein, der Begriff hatte inzwischen eine Vertiefung und Verinnerlichung erfahren, die es erlaubten, auch dort von Beziehung zu sprechen, wo nichts weiter bestand als eine Bekanntschaft, mit dieser kleinen sexuell konnotierten Kerbe auf der Karteikarte, der ein Augenzwinkern entsprach und sonst nichts – eine ›Liebschaft‹ gemäß den Sprachregeln der alten Gesellschaft. Welche Bedeutung besaß er dann noch? Eine gewiss: er notierte den seitdem erreichten Grad der Entfernung zwischen den Geschlechtern. Eine Errungenschaft? Ein Lernprozess? Ein Zerfall? Eines wusste er: wenn er jetzt auszöge, gleich nach der Rückkehr, dann wäre seine Beziehung vorbei. Sie wäre es ganz und gar, die notwendigen Regelungen bezögen sich auf das Mobiliar und die Kinder. Jeder Anspruch auf die Person des anderen wäre erloschen. Aber wenn es möglich war, so zu reden, war dann das Zusammenziehen eine symbolische Tat, die einen solchen Anspruch begründete? Gab es einen Anspruch, dem kein Anspruch, mehr: dem der Anspruch, keinen Anspruch zu erheben, zugrunde lag? Natürlich: in genau diesem ›mehr‹ lag der Unterschied. Der Anspruch, keinen Anspruch zu erheben, kann wie jeder andere eine Beziehung begründen, wenn … er durch einen Inhalt gedeckt ist. Das aber ist genau dann der Fall, wenn durch das Zusammenziehen etwas abgegolten ist, das auch durch andere Formen des Zusammenlebens, zum Beispiel die Ehe, erreicht werden kann. Alsdann: die Beziehung, sie allein, begründet eine Sexualgemeinschaft, die sich durch den Anspruch auszeichnet, keinen Anspruch zu erheben – auf was auch immer.

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Eine Beziehung ist keine Gemeinschaft. Eine Wohngemeinschaft zum Beispiel verpflichtet ihre Mitglieder, die Hausordnung einzuhalten, sich an den Wohnkosten zu beteiligen, anfallende Arbeiten gemeinsam oder anteilig zu verrichten, auf Ordnung, Sauberkeit, Hygiene zu achten und die Mitbewohner nicht durch auffällige Handlungen, zum Beispiel lautes Musikhören, zu belästigen. Die Beziehung hingegen verpflichtet zu nichts. Sie kann zur Wohngemeinschaft mutieren, aber das wäre, gemessen an den Eingangserwartungen, kein Gewinn, sondern ein Verlust. Sie kann sich schleichend verändern, sie kann abstürzen, sie kann zum Albtraum verkommen, sie kann sich als Hölle auf Erden erweisen – eine komfortable Hölle, in der jeder von heute auf morgen seine Klamotten packen und ausziehen kann –, aber eines kann sie nicht: sie kann die Erwartung, in einer Sexualgemeinschaft zu leben, nicht auslöschen, ohne in einen Widerspruch zu sich selbst zu geraten. Sinnigerweise ist gerade dies ihr Ziel – die Begründung einer Sexualgemeinschaft, die keine Gemeinschaft begründet, also ein Dasein nach Regeln, an die der andere sich zu halten hat, selbst wenn es ihm schwerfällt. Ein solches Nichts hat das Zeug, die Gesellschaft zu revolutionieren. Sie zum Beispiel hat recht, wenn sie von ihm verlangt, keine Fragen zu stellen. Sie verlangt es nicht einmal, sie erwartet es einfach, und er, ohne sich zu bedenken, leistet der Erwartung Folge. Etwas verlangen bedeutet, auf die Einhaltung von Regeln zu dringen. Die einfache Erwartung hingegen, durch ein paar Tränen oder eine Handbewegung markiert, gebietet absolut. Wer ihr nicht auf der Stelle Folge leistet, hat das Spiel nicht begriffen, er ist Falschmünzer oder Barbar.

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Blutegel, phantasiert Tronka, lösen das Problem nicht, auf das sie angesetzt werden, sie verlagern es nur. Das Blut, das sie schröpfen, ist nirgends zuviel. Es fehlt auch nicht. Der Verlust schwächt an anderer Stelle. Wäre die Beziehung ein Blutegel, der die Sexualität dort abnimmt, wo sie leidenschaftlich schwärmt, dann käme ihr das zweifelhafte Verdienst zu, die Gesellschaft zu prostituieren. Prostitution ist die kühle Art, mit dem Geschlecht hauszuhalten. Sie achtet auf Gegenseitigkeit und Entgelt, sie sorgt dafür, dass es keine Komplikationen gibt, es macht ihr nichts aus, im Fall von Komplikationen ein paar starke Kerle aufzubieten, die sich der Sache auf ihre Art annehmen, und sie steht unter Protektion. Wenn das Problem ›Liebe‹ heißt – also leidenschaftliche Unterwerfung –, dann heißt die Lösung in einer Gesellschaft, die keine Unterwerfungsverhältnisse duldet, offene, von Staats wegen geförderte und geregelte Prostitution – ›Wa(h)re Liebe‹. Die Beziehung macht den Weg frei, sie saugt alles aus dem Geschlecht heraus, wofür das Wort Leidenschaft steht. Sie bereinigt den Überschuss, der zur Gegenmacht wird. Sie sorgt dafür, dass die Gesellschaft clean bleibt. Die Frage ist: Was passiert mit der Liebe? Welche Absorptionsprozesse sind da im Gang? Was geschieht mit den Beziehungen? Werden sie, vollgesogen mit dem Herzblut der Liebenden, einfach entsorgt? Fortgeworfen? Wohin? Entsorgung ist immer ein großes Thema. Sind sie kompostierbar? Oder gehen sie, wie es im Vers heißt, als Rauch in die Luft? Verworfen, fortgeworfen, besteht da ein Unterschied? »Wir hatten eine gute Zeit« – alles Lüge, Mutter aller Lügen, Erste unter Gleichen, Abfall, »Mach, dass es hübsch aussieht«, verhängen, einfach verhängen.

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Die größte aller Lügen – Tronka schwankte nicht lange, heute wie damals fiel er ihm auf die Seele, dieser unglaubliche Satz, der ihm entgegenschlug, als er einen Umzug ins Gespräch brachte, der sie näher an die Pyramide und damit an seinen Alltag herangerückt und ihre Freunde auf eine gewisse Distanz gebracht hätte: »Damals wäre ich dir überallhin gefolgt. Hier leben meine Freunde, heute gehe ich hier nicht mehr weg.« »Du sagst, deine Freunde sind dir wichtiger als unsere Beziehung?« Schweigen. Ein beredtes Schweigen, wie ihm in jenem Augenblick schien, aber sicher … sicher war er sich nicht. Aus diesem Schweigen schwieg die Beziehung selbst. Sie hatte nichts zu sagen, sie war taub für das Begehren, das Verfahrene richtigzustellen, offenbar fühlte sie sich, einmal verfahren, ›richtig‹ an und bestand energisch auf ihrem Sosein. Wie hatte er darauf reagiert? Da war es wieder, das sagenhafte ›Damals‹, der Knopfdruck, der die Welle auslösen sollte. Zu seinem Erstaunen – zu seinem wirklichen Erstaunen – blieb sie aus, obwohl sich bereits ein Hohlraum aufgetan hatte, bereit, sie aufzunehmen. Stattdessen fragte er sich ernsthaft, wann das Damals zu Ende gegangen sein mochte. Etwas wie Verstehen dämmerte in ihm auf. Kein Zweifel, es wäre, wann immer er ihn auf den Tisch gebracht hätte, just damit zu Ende gegangen. Semiramis’ Hängende Gärten, träumerisch blühend, sie waren zu gar nichts nütze, sie dienten allein dem Zweck, ihn ein für allemal auszuschließen – Gärten der Enttäuschung, der Ent-Täuschung, die einschloss, dass sie selbst nur eine Täuschung, ein Täuschungsmanöver darstellten: Gib dir keine Mühe, du kannst die Laufrichtung nicht ändern, denn sie ist festgelegt und wir sind ihr Wächter. Und er merkte, wie er innerlich wegging – wegging von diesem gefährlichen Punkt, an dem er nur knapp – und nicht durch eigene Vorsicht – der Versuchung entgangen war, leichtfertig die volle Verantwortung für ein Scheitern zu übernehmen, das aus allen Poren der Beziehung hervorkroch, ohne dass ein Wille sichtbar geworden wäre, ihm Einhalt zu gebieten. Fast war ihm zumute, als sei er gerade irgendeiner Form von mittelalterlicher Gerichtsbarkeit entronnen, deren exquisite Folterwerkzeuge, von den obligaten Daumenschrauben bis zur dornengespickten Streckbank, bereits im Halbdunkel schimmerten.

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Geh weg, sagte er sich, und: ich kann nicht, ich kann es nicht, denn das käme, in diesem Theater der Grausamkeit, der Selbstauslieferung an die letzte, unterste Qual gleich, die Wiederkehr eines Grauens, dessen eines Ende mit dem Namen Pida verschmolz, während der andere … nein, keine Namen, bitte keine Namen an dieser Stelle, vor allem nicht diesen, nur diesen nicht, auch wenn die ersten Tentakeln schon danach züngeln. Ich werde ihn nicht nennen, gleichgültig, welchen Torturen sie mich unterwirft, ich werde ihr den Gefallen nicht tun, denn das wäre Verrat an der Differenz. Und wenn sie es weiß? Natürlich weiß sie es, sie weiß es seit langem, sie weiß es, seit er zu ihr sagte: »Zwischen uns geht es blendend, aber es geht nicht, ich muss es noch einmal mit Pida versuchen, eine Not, die nicht weggeht, zwingt mich dazu,« – und sie darauf antwortete: »Ich wünsche dir, dass du nicht dein Leben zerstörst.« »Nein«, hatte er damals gesagt, »das werde ich nicht«, er würde es wieder sagen, auch heute, auch morgen, aber vielleicht wäre es, in Anbetracht aller Umstände, eine Lüge. Zu Pida gehen, das war der Verrat, selbstverständlich, sie ließ ihn dafür zahlen, seit er zurückgekehrt war – bedrückt und erleichtert, nachdem er sich ein letztes Mal davon überzeugt hatte, dass es mit Pida nicht ging, dass es weniger ging als zuvor, weil bereits der Abgrund der Fremdheit zwischen ihnen klaffte. Gleichviel … zurückgetrieben hatte ihn etwas anderes, über das er bis heute sorgfältig schwieg. Erschreckt hatte ihn der Ausdruck kaum verhehlten Triumphes, der ins Gesicht gemeißelte Wille, ihn büßen zu lassen … was war das für ein Gesicht? Zur einen Hälfte versteinert, zur anderen zerstört … das Haupt der Gorgo, vor dem er in Panik floh.

Und es versehrte ihn doch.

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Sie haben die Mythologie geplündert, sie haben sich angeheftet, was ihnen brauchbar erschien, und den Männern den restlichen Bettel hingeworfen: Da, eure Vorurteile. Gorgo war durchgestrichen, doppelt durchgestrichen, die Frau als Monster, so hättet ihr’s gern. Willfährige Männchen, als Wissenschaftler verkleidet, assistierten dabei, sie assistieren noch immer dabei, die Pyramide schwirrt von ihnen, denn Hiersein ist Auftrag. Wenn er verbarg, was er gesehen hatte, tief verbarg, vor sich und vor anderen, dann deshalb, weil er wusste, er hätte sich damit den Kredit entzogen, der die Beziehungen zwischen Frauen und Männern regelt, den Kredit der Willfährigkeit diesseits und jenseits dessen, was einige Soziologen großspurig die Geschlechterschranke nannten, ohne deutlich zwischen der Seite des Gerichts und der des Angeklagten zu unterscheiden. Die Geschlechterschranke … der eine überwindet sie leicht, der andere verblutet daran. – Vergiss nicht, dass du ein Geduldeter bist. Beziehung ist Duldung. Dieses Gericht kennt keine Rechte. – Warum dann Gericht? – Ein Geduldeter bewegt sich anders. – Anders als wer? – Anders als einer, der Rechte besitzt. – Also besitzt keiner hier Rechte? – Das anzunehmen wäre ein Irrtum. Im Recht sein bedeutet: sein Recht in Anspruch zu nehmen. – Also gut: ich nehme mein Recht in Anspruch. – Das müsste ich wissen. Wo ist es, dein Recht? Hol’s dir. Von mir bekommst du es nicht. – Und wenn ich es mir holte? – Das wäre Gewalt. – Ich verstehe. – Nichts verstehst du. Hättest du verstanden, dann hättest du nicht gefragt. In einer Beziehung wird nicht gefragt. – Was dann? – Was dann? Gibst du hier den Blinden oder willst du mich provozieren? – Ich will nichts. – Dann solltest du besser nicht fragen. – Aber ich will verstehen. – Das wirst du nie. – Warum? – Darum: weil du es nicht begreifst. Kapier’ das endlich. Beziehung, das ist: Gewusst-wie. (Aber das sagt schon nicht mehr sie, es ist seine Stimme, die das ergänzend nachträgt, eine Pudel-Stimme, das Stöckchen im Maul, mit wedelndem Schwanz.)

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In dieser Beziehung herrscht zwischen ihnen Friede: das Handgemenge findet in den Kulissen statt. Das ist viel, das ist sehr viel, gemessen an dem, was hinter ihm liegt, diesem Gebirge der Demütigungen, in dessen dorniges Pfaddickicht ihn keine Macht der Welt zurückzwingen könnte. Selbst die Erinnerung streikt, sie weigert sich, ihn auf Vergleichsgängen zu begleiten, und schießt nur einzelne Bilder, meist aus der Frühzeit, ein. Warnschüsse, denkt er sich, als müsste er sich vor einer Instanz rechtfertigen, deren Anspruch ihm unklar bleibt. Wer warnt hier? Was warnt hier? Wenn es die Beziehung selbst wäre, die ihn daran hindert, ihre Herkunft zu analysieren? Denn dass sie jenem Gebirge entstammt, daran besteht kein Zweifel. Ihre forcierte Anspruchslosigkeit zum Beispiel: was ist sie anderes als eine Wiederkehr von Pidas Eskapaden, gesichert durch Techniken des Schweigens, Verheimlichens, Gewährenlassens und Nicht-wahrhaben-Wollens, gegen die gehalten die damalige Praxis sich ausnimmt wie das erste, aus Sperrholz zusammengeleimte Modell eines Sportwagens, der lässig über die Autobahn rauscht, ohne dass sein Fahrer feuchte Hände bekäme? Eine Wiederkehr, gewiss, eine Antwort und etwas, das er noch nicht zu benennen weiß, weil sein Selbstwertgefühl ihm die Auskunft verweigert: eine Lernfrucht, deren Reifungsprozess im Dunkeln liegt. Licht, Dunkel, diese immer gleichen Metaphern in ihrer Einfalt, denkt Tronka, bergen ein Problem: sie sind echt und unecht zugleich, sie werden von Sinnesempfindungen aufgerufen, die schwer zu leugnen sind, und rufen sie ihrerseits auf – tatsächlich verdüstert sich ein Gemüt oder erhellt sich, je nach Gefühlslage –, aber sie zwingen den Gedanken eine Logik auf, die sogleich in die Irre führt. Die Dunkelheit dessen, was sich entzieht, hat nichts gemein mit der Düsternis, die ein Melancholiker ausstrahlt. Sie ist nicht anders, sondern von anderer Art. Doch kann, wer Licht ins Dunkel zu bringen versucht, von Schmerzen heimgesucht werden, die für zusätzliche Verdunkelung sorgen, in der die Grenze zur Depression verschwimmt. Wer sich hier sagen kann: Du kommst nicht weiter, lass es, der kommt vielleicht wirklich nicht weiter, aber er hat das Glückslos gezogen und darf sich, für den Augenblick, alles erlauben.

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Pida, diese rohe Beziehung – woher kam der Reiz? Vielleicht aus der Rohheit selbst, je länger er darüber nachdachte, desto sinnfälliger erschien ihm der Gedanke. Er umfasste Pida und die Beziehung in einer Bewegung. Pida war selbst eine rohe Person, nicht im Äußeren, das mit der Zeit verwildern würde, aber in ihren Auffassungen, ihren Gesten und vor allem in ihrer Sprache, in der das Milieu ihrer Herkunft und das studentische Milieu, in dem sie sich jetzt bewegte, befremdliche und manchmal komische Zwiesprache hielten. Und er hatte sie geheiratet, nicht aus einer Laune heraus, eher aus Folgsamkeit, in der er sich klein machte, als liege darin ein besonderer, ein gebändigter Übermut, der seiner Sache gewiss war und sicher, sie auf seinem Weg zu sich selbst zu bringen. Stärke, Übermut: wo lag die Grenze? Über jede Grenze ging, einmal installiert, die Nachgiebigkeit. Dafür gab es Gründe, gute Gründe, wie ihm jedesmal schien, bedrückende Gründe, doch in der Summe addierten sie sich zu Null.

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Sie war nicht roh, sie war gefasst, sie wollte vielleicht keine Beziehung, vielleicht nicht einmal ihn, vielleicht nicht einmal einen Mann, sie wollte – im Spiel sein, das war es, er wusste es längst, er wusste es seit er Zeuge der Übergabeverhandlungen geworden war, in denen die beiden, einträchtig nebeneinander sitzend, sich über die Essentials austauschten, als wäre er Luft. Eben noch und in Zukunft erbitterte Feindinnen, teilten sie in einer Aura der Entspanntheit ein und dieselbe Bettkante, zwei kommunizierende Molotow-Cocktails, jede bereit zu explodieren, wenn der Moment danach war, und besprachen, soweit er verstand, ihn, als sei er nichts weiter als ein winziger Funken in einem ausgedehnten Strom- und Sicherungsnetz, von dessen ihnen anvertrauter Wartung sie sich für die Dauer von ein paar Minuten erholten. Besonders Pida verblüffte ihn, wie sie die Karte der Interesselosigkeit zog und laut darüber nachdachte, ob sie willens sei, nach vergangener schwerer Ehearbeit noch einmal mit einem Mann zusammenzugehen – eher nicht, wahrscheinlich nicht, nein, nicht wirklich. Von der siegreichen, sich sanft anschmiegenden Konkurrentin selbstlos in ihren Gedankengängen bestärkt, zog sie alle Register der gedämpften, durch wenige Lichtpunkte erhellten Enttäuschung, weniger durch ihn als durch das hinter und vor ihr liegende Leben im allgemeinen, so dass er sich fragte, wie viele Leben sie an seiner Seite geführt haben mochte. Dabei kam er, alles in allem, gar nicht so schlecht weg, wenn er davon absah, wie wenig Bedeutung ihm in diesem Universum fehlgeschlagener und dennoch erfolgreicher Investitionen zukam. Wie einig sind sie sich da, dachte er, man könnte meinen, sie seien schwesterlich auf Männertausch aus. Aber vielleicht täuschte er sich darin und die beiden tasteten sich wechselseitig ab, um zu erkunden, wo und wie sie einander künftig die größten Schmerzen zufügen konnten. Gut möglich, dass sie sich gerade seine Schmerzpunkte mitteilten, ohne dass er davon das Geringste mitbekam.

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Hielte ich mich für Siegfried, sinnierte er, so wäre dies die Domszene zwischen Brunhild und Kriemhild, mit der das frisch gewonnene Glück sich in Unglück verkehrt. Ich fühle mich aber eher wie Hagen. Was sagt sie mir dann? Eintracht/Zwietracht, das uralte Muster, es schießt aus den Trümmern der verlorenen Beziehung und sorgt dafür, dass sie nicht untergeht, jedenfalls nicht in des Wortes geläufiger Bedeutung. Alles Gift, angesammelt in langen Jahren, in denen die Spannung langsam steigt, bis sie sich endlich im Trennungsentschluss entlädt, muss der neuen Beziehung injiziert werden. Das geschieht nicht von heute auf morgen, es hat alle Zeit der Welt, Hauptsache, die Kanüle ist gesetzt und der Stoff fließt.

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Wann immer er, in jenen frühen Tagen, den Sohn ausgehändigt bekam, machte sie sich davon. Das war nicht abgesprochen, es war nur in ihrem Sinn und sie stellte es, lautlos zumeist, so her. Gelegentlich, wenn er sie wieder einmal vergebens zu bleiben gebeten hatte, empfand er ihr abweisendes Schweigen wie eine Hypothek auf die gemeinsame Zukunft. Er spürte den Widerstand und ihm schwante dumpf, dass er niemals weggehen würde. Dann war ihm, als gelte er nicht so sehr dem Sohn als der einfachen Tatsache, dass er ein eigenes Leben besaß, auf das sie keinen Einfluss besaß und es erschien ihm mit dem ihrigen weniger denn je kompatibel, obwohl sie beide so einfach zusammengingen, als verschwinde die Differenz der Lebensentwürfe vollständig, sobald sie einander gegenübersaßen. Wenn das Schein war, dann wurde er in solchen Momenten fadenscheinig. Also trainierte er Unabhängigkeit: er nahm sich vor, ihr nicht weiter entgegenzukommen, sondern abzuwarten, ob sie aus eigenem Antrieb den Weg in seine Klause finden würde. Dann stellte er sich vor, die Abstände zwischen ihren Besuchen würden länger und länger. Eines nicht allzu fernen Tages wäre der Aufschub – der vertrackte Aufschub – endgültig abgelaufen und er ein freier Mann. Was ist das, ein freier Mann, fragte er sich. Er nahm den Sohn in den Arm, als liege in dieser Geste eine Antwort verborgen, deren Geschmack er noch nicht kannte. Doch am nächsten Tag klingelte das Telefon und eine Stunde später – oder wann immer der Kleine aus dem Weg und die Luft rein war – stand sie wieder vor der Tür, munter, beherzt, mit einem Anflug von Innigkeit, die sie nur selten in ihre Gegenwart einfließen ließ und offenkundig für besondere Gelegenheiten zurückhielt.

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In einer Nacht, einer einzigen, dieser euphorische Geschmack der Freiheit: wann war das? Zwischen den Zeiten, in einer Stadt, die ihm fremd vorkommt, obgleich er den Namen im Ohr hat, auf feuchten, vom abgeflossenen Regen zum Leben erweckten Straßen, die verhallenden Schritte Unbekannter im Ohr, aller Lasten ledig – so also fühlt es sich an, sie los zu sein, sie und Pida, beide in der Distanz zu einem ungleichen Schwesternpaar zusammengeschmolzen, als werde es niemals die eine ohne die andere geben, warum hatte er dieses Gefühl nicht festhalten können? Unsinnige Frage, Gefühle kommen und gehen. Dieses war keine einfache Anwandlung: er hatte es, durch einen zu anderen Zeiten als Verrat empfundenen Gewaltakt, erzwungen. Erzwungen? Ja, erzwungen. Gefolgt war er der Einladung einer Studentin, die ihr Examen feierte, einer stillen, gewissenhaften, durch seine Anwesenheit in leichte Aufregung versetzten Endzwanzigerin, deren Lebenswunsch darin bestand, Bibliothekarin zu werden. Einer seltsamen moralischen Taubheit erliegend, war er geblieben, bis der jähe Wunsch, sich augenblicklich aus allen Laken zu wickeln und Luft, wirkliche Luft in die Lungen zu bekommen, ihn davontrieb. Geblieben war, neben dem Nachgeschmack der Freiheit, ein anderer: der des Aufstands gegen ein sexuelles Regime, das ihm pünktlich, mit einer winzigen Verzögerung, die Zinsen dessen zuteilte, was er offenbar als Kapital angelegt hatte, obgleich sein eigener Eindruck ihm sagte, dass es ihm entglitten war. Wie viele solcher Zinsverhältnisse mochte sie pflegen? Er hatte vorher niemals darüber nachgedacht. Damals schwindelte ihm bei dem Gedanken, er wollte sich mit ihm nicht beschäftigen und legte ihn – für lange Zeit, aber das war ihm nicht bewusst – auf Eis. Und heute –?

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Die Sache mit der Treue – ein heikles, ein unwirkliches Thema, ein belastetes, auf die Stufe der Anklage gegen die scheinmonogame, Monogamie fordernde, aber nirgends praktizierende Gesellschaft verschobenes Thema, kein Thema im Grunde, ein Anlass für Gelächter, wenn es einmal irgendwo auf den Tisch kommt. Nirgends wird deutlicher, wie das Lachen von Geschlecht zu Geschlecht den Klang wechselt: das männliche fordernd, rau, als gelte es, den strauchelnden Sportsmann auf Kurs zu halten, das weibliche höhnisch, vergangene und künftige Kränkungen zu einem Bündel verschnürend, das unbedingte Recht, mit eigenen Waffen zu antworten, reklamierend, aber bewusst leer lassend – eine Sprechmaschine, in jedem Einzelnen installiert, scheinbar von Erfahrungen redend, dabei genormt bis in die letzte Betonung: unter vier Augen spricht es sich anders. Wie spricht es sich da? Wie spricht es sich da? Schwesterlich, brüderlich, vermutlich kaum anders als drei Generationen davor, aber – diskret. Nur Schein? Sicher. Jeder Rat gezinkt, jede Rüge falsch, jede Regung so falsch wie fordernd: nirgendwo bist du so allein mit dir wie in diesem Punkt, dem Angelpunkt jeder Beziehung, jeden sexuellen Verkehrs, sofern er nicht … an Ort und Stelle durch Bezahlung abgegolten wird. In der ›Anklage‹ bündelt sich das soziale Spiel. Die sexuell selbstbestimmte Beziehung, das Leiden an der Monogamie, eingebildet oder real, und der ›Kampf‹ dagegen – sie beherrschen, als Gemeinschaftsforderung, das Leben der Gefühle, dieses schlängelnde, rankende, züngelnde Gemisch, dessen Eskapaden eine Bedrohung streifen, gegen die der Tod blass erscheint. Welcher Tod? Der Tod in der Steilwand, ein Aphrodisiakum? Ein Reinigungsritual? Ich gehe hin und suche den Tod, nicht um zu sterben, sondern um des Lebens willen. Ein altes Thema.

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Warum so abstrakt? – Weil es schmerzt. – Was schmerzt? Die Erinnerung? – Nein. – Was dann? – Was niemals Erinnerung wird. – Das Verdrängte? – Verdrängt? Was daran soll verdrängt sein? Es ist immer da, warum verdrängt? – Was ist immer da? – Der Schmerz. – Welcher Schmerz? – Das Richtige zu tun, das Falsche getan zu haben. Das Richtige zu wollen und das Falsche zu tun. Ohne Übergang, direkt, einfach so. – Ein alter Schmerz. – Mag sein, aber hier ist er neu. – Geht das konkreter? – Dazu müsste ich aufstehen, jetzt, sofort, und mich stellen. Ich kann nicht aufstehen, ich will es auch nicht. Zu liegen ist Schmerz, Rache und Linderung. Ja, es ist Linderung. Wir haben uns versprochen, ehrlich miteinander zu sein. Haben wir das? Wann, bei welcher Gelegenheit? Warum so leise? Warum unhörbar? Was macht mich so sicher? Der falsche Schluss von mir auf andere, ist er hier gestattet? Ist er hier geboten? Eine Beziehung, auf Schmerzvermeidung gebaut, kann nicht ehrlich sein. Sie kann es nicht, sie will es nicht, sie darf es nicht. – Warum darf sie –? – Weil sie ein offener Selbstwiderspruch wäre. – Warum offen? – Weil sie lügen müsste beim Versuch, ehrlich zu sein. Weil ihre Ehrlichkeit Lüge wäre. Pidas explodierender Sex wäre dagegen … Wahrheit. – Warum? – Weil er stumm ist, bis er, in Bedrängnis gebracht, sich herausschreit. Weil er angreift, immer und überall. – Vergiss nicht die Depression. Die langen Phasen der Depression. – Nein, die vergesse ich nicht. Auch diese Wahrheit ist nicht lebbar. – Nicht lebbar nennst du das Leben. Wie sinnvoll ist das? – Sinnvoll? Was soll daran sinnvoll sein? Es ist der Schmerz. – Du liebst den Schmerz? – Ich hasse ihn. Ich suche ihn zu vermeiden. – Er sucht dich? – Immer und überall. – Und wenn du dich stelltest? – Bin ich ein Gefangener auf Urlaub? – Warum nicht? – Dazu bin ich nicht bereit. – Dann beklage dich nicht. – Geh weg. Du bist ihre Stimme.

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Wenn er jetzt durch diese Tür hinausginge, in diese schon erwärmte, aber noch frische, zitternd beruhigte Morgenluft, in der sich das Brüten des Mittags vorbereitet, was geschähe mit ihm? Er würde sich auf die Suche machen, gewiss, auf die Suche, wonach? Unstet, unkonzentriert, mechanisch gelenkt, mit sich uneins, er sieht sich am Pool, unter den Bäumen, am Teich, beiläufig Ausschau haltend, ob nicht der Sohn, ob nicht die Tochter –? Abschwenken, sobald er ihre Stimmen hört oder den Blick auf einen von ihnen erhascht, um keinen Preis zugeben, dass er gesucht hat, denn das wäre fatal. Nach und nach würde er allen Mitbewohnern begegnen, mehr oder weniger zufällig, mehr oder weniger flüchtig, an Zufallsorten. Sie würden ihn fragen, ob es ihm besser gehe, ein kurzer Informationsaustausch mit dem Arzt würde sich nicht vermeiden lassen, warum auch? Er merkt, ihr weicht er aus, automatisch, schon hier, in Gedanken, den Kopf in eine Wolke gehüllt, er würde den sich langsam verwandelnden Schmerz mit sich herumtragen, bis er verblasste und wem Platz machte? Der reinen Gegenwart? Dieser Fata Morgana eines sich salvierenden Sündenbewusstseins? Dem mediterranen Licht, auf dessen Wiederkehr und das ihr inhärente Versprechen, zu glätten, was auf keine Weise zu glätten war, sie das übrige Jahr ihre Hoffnung setzten? Diese als Vorfreude getarnte Hoffnung … war sie ein Entwerter oder gab sie dem, was sonst noch geschah, erst seinen Wert? Wert durch Hoffnung: war das nicht die Durchhalteformel schlechthin? Dabei hatten sie allen Durchhalteparolen abgeschworen. Sie wollten das Leben, sie wollten es jetzt. Bloß das Leben wollte nicht, vor allem nicht jetzt. Es lag im Hinterhalt und schlug erbarmungslos zu. Tronka weidete sich an dem Bild. Ohne den primitiven, durch einen Anflug von ›Bildung‹ veredelten Sonnenkult, der die Körper in den Stand einer vorgeschobenen Unschuld erhob, dessen war er sich fast sicher, zerstöbe das Beziehungstheater und sie versänken in den Fluten vergangener Lebensformen, mit denen zu brechen sie sich geschworen hatten, obwohl sie bloß auf ihrer Oberfläche dahinglitten wie die Surfer draußen, die sich den herrschenden Wind und Wellengang zunutze machten, um ihre Kunststückchen vorzuführen.

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Die Stimme neben dem Ohr, hoch, hell, schrill, von einer Hartnäckigkeit, die durchhalten will, durchhalten muss, bis alles herausgespuckt ist. Er: die Augen fest auf die Fahrbahn gerichtet, versteinert, ein Voyeur unter unbeweglicher Schale, ganz Ohr und dennoch abschweifend in Gedanken, die restlos vergangen sind, aber Lücken in das Gehörte reißen. Sie: Ich habe es bitter bereut, vor dir mit einem geschlafen zu haben. Ich habe mich an dir gerächt. Ich war süchtig nach Männern. Ich bin mit allen ins Bett gegangen. Ich habe dich gedemütigt. Ich habe dich in den Dreck gezogen. Du warst unantastbar. Du standest über dem Vater. Ich war nichts. Ich habe mich vor dir gefürchtet. Ich habe mich vor dir geschämt. Ich habe mich dir unterlegen gefühlt. Du hast gewusst, was zu tun war. Du hast alles richtig gemacht. Das konnte ich nicht durchgehen lassen. Du hast mich zerstört. Ich habe mich gewehrt. Mit meinem Körper habe ich dich kaputtgemacht. Ich habe jeden gelassen, der wollte. Du hast schon richtig gehört. Soll ich sie dir aufzählen? Ich kann sie dir gern aufzählen, willst du? Besser nicht, es würde dich treffen. Die meisten kennst du ohnehin nicht. Willst du? Deine besten Freunde … oh ja, die waren alle dabei. Die meisten, fast alle, eigentlich hat es mich erstaunt. Mach dir nichts vor. Sie haben meinen Körper genommen, und ich? Was hatte ich damit zu tun? Ich habe dabei zugesehen. Nein, das stimmt nicht. Ich lüge schon wieder. Nein, ich lüge nicht. Ich habe mitgemacht, weil ich es so wollte. Ich habe geglüht, es war wie ein Rausch, es war eine Sucht. Ich war süchtig nach Sex. Ich habe mich demütigen lassen, um dich zu treffen. Nein, das stimmt nicht … eigentlich waren die alle in Ordnung. Vergiss sie. Sie wussten nichts davon. Sie konnten alle nichts dafür. Ich habe sie verführt. Sie hätten sich wehren können. Aber sie waren gleich dabei. Die hatten doch keine Chance … ich habe sie erniedrigt, weil ich mich erniedrigen wollte. Das alles war ich. Ich musste dich erniedrigen. Mein Körper war meine Waffe, ich hatte keine andere. Du standest über allem. Nichts kam an dich heran. Ich konnte nicht mehr mit dir schlafen. Ich wusste gleich, dass du mit anderen schläfst. Wir haben nie darüber geredet, aber ich wusste es. Du durftest das nicht. Du hattest kein Recht dazu. Das war mein Recht und ich, ich habe es mir genommen. Weil ich es mir nehmen musste, verstehst du? Ich durfte mich an dir rächen … ich musste mich rächen, es ging nicht anders. Ich bin, wie ich bin. Und du hast es zugelassen. Du bist so hochmütig, niemand kommt an dich heran. Das ist deine Schuld. Du bist an allem schuld. Ich müsste dich hassen. Ich kann dich nicht hassen. Ich hasse dich.

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Pida, die ihn so gnadenlos auf die Anklagebank setzte, weil er gegangen war: dazwischen passte, übergangslos und unvermittelt wie das Geständnis der anderen, der Paukenschlag, Geständnis halb und halb triumphale Enthüllung. Allerdings zog sie es vor, ihn unter vier Augen zu treffen. Er wehrte sich nicht, er hatte die Hände am Steuer, als der Wagen hielt, war er sie los: sie schlüpfte hinaus und war verschwunden. Sie hatte es geschafft, sein Denken war ausgeschaltet, ihre Worte hatten sich eingesenkt – für immer. Hatten sie seiner neuen Beziehung nicht den Untergrund eingezogen, auf dessen Boden der niemals zu stillende Argwohn blühte, in vom Schweigen gedeckten, dunkel zu ahnenden Regionen den Narren zu geben, den unreinen Toren, dem alles angetan werden durfte, womit die Welt der Sexsüchtigen aufzuwarten hatte? Der ätzend scharfe Moment, in dem das Töchterchen, mit dem er singend durch die Nachbarschaft streifte, den Namen des Feistgesichts fallen ließ, um zu verstummen … wie einer, der zuviel gesagt hat und sich auf die Lippen beißt, als sei es selbstverständlich, dass hinter seinem Rücken Dinge geschahen, von denen er nichts wusste und nichts wissen durfte, und als sei es selbstverständliche Kindespflicht, das Schweigen der Mutter in ihr Verhältnis zum Vater hinein zu verlängern –, auch er senkte sich ein, für immer. Sein Gift erhielt aus jener Tiefenregion Nahrung, in der alle Verdächte Wirklichkeit waren und alle Wirklichkeit verdächtig vorkam. Dabei erschien Pidas Gerede, so offenkundig vom Willen zu verletzen diktiert, Tronka im Nachhinein nicht minder fragwürdig. Zwar konnte er nichts von dem, was ein Teil seines Ich geworden war, in Abrede stellen, aber ein anderer Teil, nicht minder hartnäckig auf seinem Urteil beharrend, weigerte sich, es umstandslos anzunehmen. Warum? Tronka wusste es nicht. Er hatte diese Angelegenheit nie mit sich geklärt. Er hatte sie liegen gelassen und dort, im Niemandsland, lag sie noch immer. Auch jetzt ließ sie ihn ratlos. Flimmertierchen – so hätte er sie gern genannt, doch so winzig, dass er sie hätte mit der Lupe suchen müssen, war sie ganz sicher nicht.

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Diese abgetrennten, neben der Person herlaufenden Prozesse, in denen sich Erinnerungen, Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen von Splittern einer verborgenen Realität addierten, gruppierten, in Assoziationsketten verbanden, die, kaum gefügt, wieder zerfielen, zu Figuren zusammentraten, die in Leuchtkraft und Sinnferne an Kaleidoskop-Bilder erinnerten und sich ebenso spurlos im Gedächtnis verloren, waren sie Teil des zweiten Lebens, des produktiven Lebens der Ideen in einem Körper, der wie andere geschaffen war, sich zu bewegen, Nahrung aufzunehmen und zu verdauen, Verbindungen einzugehen und sich fortzupflanzen, um schließlich an Altersschwäche oder den Folgen eines Unfalls oder einer organischen Dysfunktion einzugehen? Gab es eine geheime Verbindung zwischen solchen den Einzelnen bedrängenden Erfahrungen und dem, was er, nicht ohne Stolz, sein Denken nannte: diesem immer wieder unterbrochenen, in allen Unterbrechungen fortlaufenden Gedankenstrom, der sich auf ganz andere und in ihrem Anderssein derart allgemeine Sachverhalte richtete, dass er das, was ihm, Tronka, als Person widerfuhr, mühelos einschloss, ohne an irgendeiner Stelle mit ihm in Berührung zu kommen? So lächerlich Tronka es fand, das philosophische Denken als Realitätsflucht oder als ›Sublimation‹ zu entsorgen, so absurd kam ihm die Aufforderung vor, ›das Konkrete‹ zu bedenken und am besten gleich ›Lösungsansätze‹ zu verlangen. Die Bereiche waren und blieben getrennt. Ebenso sicher galt aber auch, dass Denken unteilbar ein Ganzes war und jede Veränderung in einem Bereich unabsehbare Folgen in entfernten, scheinbar unverbundenen Regionen nach sich zog. Ein Zwitterbereich, in dem die Gedanken zu flimmern begannen, ohne sich durch Überlegungen beruhigen zu lassen, wie sie lange Zeit zu den Handreichungen der Religion gehört hatten, zählte zu den Rätseln, denen ein Theoretisieren, das sich auf Ränder, Übergänge, Distanzen und Relationen verstand, zwar keinen verborgenen Sinn, aber einen Wink abzugewinnen hatte, wie es selbst zu verstehen war.

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Nirgends hatte er den Mechanismus der Beziehung so deutlich empfunden wie am Wendepunkt, wie er ihn nannte, seiner neuen Beziehung – einem von vielen, die noch folgen sollten und vielleicht bereits vorangegangen waren, aber hervorgehoben durch die Drastik des Umschlags, die ihn vor allem deshalb verblüffte, weil er sich völlig im Unscheinbaren vollzog. Auch in diesem Fall saß er am Steuer. Eine nicht unerhebliche Information, er sieht sich kuppeln, den Gang einlegen, beschleunigen, dies alles schweigend, mit verbissenem Groll, mehr nicht. Der Rest ist Autorbericht. Er muss sich selbst schon glauben, eine unbefriedigende Situation, aber: so funktioniert Gedächtnis. Nein, es liefert nach. Ein weiterer Sinneseindruck hat sich erhalten, kräftig sogar – ihr bestrumpftes Knie neben dem Schalthebel, er meint ein Knistern zu hören, die Sinne sind überreizt. Worum ging’s? Es hat sich verloren. Also um nichts. Nur dass er, verstimmt, eine Antwort verweigert, sich stattdessen demonstrativ aufs Fahren konzentriert, ist im Gedächtnis geblieben – ist geblieben, weil sie es sofort kopiert, tage-, wochenlang, wie es die Stimme aus der Vergangenheit klagt. Das verstimmte Schweigen ist zur Waffe geworden, zur Retourkutsche ohne Anlass und Ende, zum Steuerungsmittel, um ihn gefügig zu machen, nein, um ihm zu bedeuten: die Tage des einfachen Einvernehmens sind vorbei, ab jetzt wird gewährt. Das Ärgerlichste: er selbst hat das Virus übertragen. Das verstimmte Schweigen war Pidas Trumpf, es gab Zeiten, da hat es ihm schlaflose Nächte bereitet, er hat es weitergereicht und da wirkt es weiter, mit sofortiger Wirkung, ohne den Hauch eines Zögerns, konsequenter denn je, als habe es endlich gefunden, worauf es aus war – die ideale Umgebung.

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Und da ist noch etwas. Könnte es sein, dass sich damals der Sohn … nein, nicht auf ihre Seite schlug, soweit war die Beziehung noch nicht gediehen, sich auf ihre Seite neigte, fast unmerklich, aber so, dass ihm eine Empfindung geblieben ist, derer er nicht Herr werden kann, die sich nicht öffnet, als Bei-Empfindung einer verblassten, zerschlissenen Szene, die wenig hergibt? Woher stammen solche Verbindungen? Fand er selbst sein Verhalten in dem Moment kindisch, in dem er sich ihm hingab? Schämte er sich insgeheim vor dem im Fond sitzenden Kind, das vielleicht nichts von alledem mitbekam? Wurde aus Scham Befangenheit, sobald die Folgen sich einstellten? Schämt er sich am Ende jetzt wieder, weil er sich weigert, das Bett zu verlassen, und statt seiner das Gerede Platz greifen lässt? Ein Gerede, das er fast körperlich spürt? Von allen guten Geistern verlassen … so fühlt sich das an. Dass sie draußen herumgeht, bedeutet nichts Gutes. Es bedeutet … es bedeutet … dass sie Punkte sammelt, die hellen ins Töpfchen, die dunklen in die Asservatenkammer des Gedächtnisses, bereit, im geeigneten Augenblick hervorgekramt und zum Einsatz gebracht zu werden. Käme sie herein – er spürt die doppelte Anmutung und entscheidet sich für die Abwehr. Es wäre nichts, eine weitere Lüge, ein Aufschub mehr, eine Überblendung dessen, was nicht mehr weggeht.

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Diese enorme Lernbereitschaft, das prompte Erspähen dessen, womit Pida Erfolg gehabt hatte – zweifelhaften Erfolg, aufs Ende gesehen –, die verfeinerte Wiederkehr ihrer Strategien hatte ihn verblüfft und verärgert und – sie stellte ihn vor ein Rätsel, das zu lösen ihm nicht gelang. Konnte der einfache Wunsch, es besser zu machen, so entgleisen, dass er das Schlimme wollte, aber in perfektionierter Gestalt? Konnte, was schlimm für ihn war, für sie gut sein? In welchem Sinn? Schließlich war es das Schlimme, das ihn am Ende aus der Ehe vertrieben hatte – sah sie das nicht? Wollte sie’s nicht sehen? Sah sie es wohl und nahm es in Kauf? Undenkbar, dass sie die Trennung betrieb! Alles in ihm lehnte sich gegen diesen Gedanken auf. Was bedeutete das? Lag er seiner Wahrnehmung nicht zugrunde? Sie musste wissen, er würde gehen, wenn es erneut so weit kam. Reizte sie das Spiel mit dem Feuer? Glaubte sie, er könne nicht gehen, weil dies der zweite Versuch war? Glaubte sie wirklich, er sei durch den Zwang zum Erfolg zur Folgsamkeit verdammt? War sie sich seiner so sicher? Falls nicht – baute sie an einem Labyrinth, in dem ihre Gemeinsamkeit langsam und stetig verkümmern sollte? Entwarf sie bereits die Architektur des Abschieds? Oder war alles ein Zweikampf der Frauen, ein Überbietungswettbewerb, zu dem er selbst nur das Handicap lieferte? Sollte er sagen: Sieh her, mir gelingt, woran du gescheitert bist? Welche Art von Gelingen konnte das sein? Zerstörte sie sein Leben, so zerstörte sie das ihrige auch. Hatte sie ihre Freude daran, so würde sie dafür büßen. Freude? Warum Freude? Welche Freude? Wie immer er es drehte, kein Stein passte zum anderen.

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Hat er alles erlitten? Jetzt, da das Leiden Auskunft erteilte, war es so. Ja, er hatte alles erlitten. War das so? Stimmte sein Handeln nicht passgenau zum Handeln der anderen Seite? War nicht er der Auslöser all dessen, was auf ihn zurückströmte, als sei er ein Feuer, das gelöscht werden müsse? Ein Brandherd, gefährlich vielleicht? In Pidas Worten war so etwas angeklungen. Hatte er ihnen Harm zugefügt, ohne davon zu ahnen? Oder war er, ganz einfach, Mitakteur im Beziehungsspiel? Spielte er, ohne nachzudenken, ohne einen Funken davon zu realisieren, nach den gleichen Regeln? Der Gedanke euphorisierte ihn. Er euphorisierte ihn in dem Maße, in dem er wusste, dass etwas daran falsch war. Was haben wir uns angetan! Komm, lass uns einander verzeihen. Das war Kitsch, ›Kitsch hoch drei‹, hätte Pida gesagt, um sich augenblicklich hineinzustürzen. Sie hingegen … sie würde ihn lang ansehen und dann hinausgehen, dessen war er sich sicher. ›Ich weiß nicht, wovon du redest‹, würde dieser Blick sagen, ›aber ich werde es mir merken und darauf zurückkommen. Ja, du hast mir etwas angetan, du sagst es selbst und ich sehe es jetzt auch. Ich übersehe es noch nicht, aber ich werde darüber nachdenken.‹ Das Wort ›verzeihen‹ gehört nicht in die Beziehung. Es hat nichts in ihr verloren, es enthält eine Bankrotterklärung, es ist unverzeihlich. Beziehung ist Lebenspartnerschaft, Lizenz zum Ausleben all dessen, was in einer Welt, in der Menschen einander verzeihen, ungelebt bleibt, weil jedes Verzeihen sonst sinnlos wäre. Beziehung und Ungelebtes schließen einander aus. ›Ich lebte alles‹ steht als Motto über den Viten der Beziehungsheroen und -heroinen und alles stürzt hinterdrein. Hat er alles gelebt? Falls er es wollte, so ist er daran gescheitert. Wollte er es? Ja sicher. Er wollte es allein, er wollte es mit anderen, er wollte es mit diesen beiden, er wollte, dass sie… Was wollte er? Wollte er Glück? Er wollte, dass diese leben, unbehindert durch Unterwerfung, unbehindert durch Resignation, unbehindert durch das, was damals, in den Anfängen, ›Restriktionen‹ genannt wurde, ein schreckliches Wort für das schlechthin Erschreckende, ein Wort wie ›Restrisiko‹, das zu Minimierende, die Beschränkung, die aus Beschränktheit erwuchs und zwanghaft zu ihr zurückführte. Vielleicht hatte er die beiden deshalb gewählt, als Versuchskaninchen gewissermaßen, um zu beweisen, dass so etwas möglich war. Hatte er etwas beweisen wollen? Er konnte sich nicht erinnern. Beschränkt hatte er sie beide gefunden, das war sicher richtig, etwas in ihm hatte der irrigen Vorstellung angehangen, es werde sich im Laufe der Zeit verlieren, es werde sich an seiner Seite verlieren, das war der Punkt. Aber darin täuschte er sich vielleicht. In Pidas Fall mochte das gelten. Sie hatte er nie zu ändern geglaubt. Er hatte versucht, sich zu ändern. Die Aufgabe, vor die er sich in ihrem Fall gestellt glaubte, die er mit allen erdenklichen Mitteln über Jahre zu lösen versuchte, worin bestand sie? Offensichtlich darin, die richtige Distanz zu ermitteln – die Distanz, aus der er dieses beschränkte Sport- und Bioleben ästhetisch genießen konnte, bei hinreichender Berührungsfläche, um … um was? Um zusammenzuleben. Das war das Wort. Ein Hohlwort wie alle, die seit damals kursierten, gut genug, um die Surfbretter auszupacken und es darauf zu versuchen.

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Blass – so steigt ihr Bild vor ihm auf, wann immer er sich zu erinnern versucht, wann sie sich das erste Mal begegneten, wobei unklar bleibt, woher die Blässe rührt. Verblasste die Erinnerung? War es die Person selbst, die blass auf ihn wirkte, war es physische Blässe, deren Eindruck hängenblieb? In seiner Erinnerung ist sie stumm, schwesterlich gerahmt von der Rohrdommel und einer Engländerin, die an ihrer Schule Sprachunterricht gab und mit Pida und der Rohrdommel zusammen eine Art Frauenzelle bildete, die Mitglieder warb und sich regelmäßig in seiner und Pidas Wohnung traf. Eine Nichtbeziehung, so konnte man das wohl nennen, wie lange? Monate? Jahre? Sicher letzteres. Wann gewinnt das Bild Farbe? Ein solcher Zeitpunkt existiert nicht in seinem Gedächtnis. Was existiert? Eine Fama und eine langsame Ankunft. Lange Zeit war sie für ihn nur die ›Witwe‹. Den Partner durch Krebs verloren, sie selbst sprach nicht darüber, Details wurden nicht berichtet. Die Fama breitete eine Art Schleier über sie und erklärte das Schweigen, das von ihr ausstrahlte. War sie es, die schwieg? Verstummte die Umgebung, um ihr schweigend zu Diensten zu sein? Das Schweigen besaß kein Zentrum, keine Kontur, es stand nicht im Raum, sondern legte sich, einem Extrapolster vergleichbar, um ihre schmale, vorzugsweise in flauschige Pullover gehüllte Gestalt. Später, als sie zusammen joggten und ihm der Mund überging, verwandelte es sich in ein unerschöpfliches Medium, das aufnahm, was aus ihm herausdrängte. Was dann? Ach ja, die zweite Wandlung. Dabei hüllte das erste Schweigen sie immer noch ein, nur gerade dann nicht, wenn er den Raum mit ihr teilte.

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… diese Arztfrau da draußen, Lehrerin, eine Emanzipierte auf Krankenschein, die eines Tages ihren SUV in den Zaun des gegenüberliegenden Grundes setzt: wie war das gleich? Keine Chance, sie zu beruhigen – sie schluchzt, sie taumelt, am ganzen Körper bebend, in seine Arme, ein Mann muss her, irgendeiner, bis die Krise vorbei ist. Erinnerungsbrocken, schubweise hochgeschleudert, gebremst, ungebremst, den Geschmack des Vergangenen, des unvergangen Vergangenen transportierend, abgeschmackt, bitter, mit einem Schuss ekelhafter Süße, der alles verdirbt, den Schrei auslöst, es möge aus und vorbei sein: Alles, nur nicht das! Ah, da kommt sie, der Dusche entsteigend, in seinen Bademantel gehüllt, den Pida ihr sorglich hingereicht hat, als habe sie die Folgen ihres Unfalls abwaschen müssen, ein Bagatellunfall wie der andere auch, wann war das gleich? Was war gleich, was anders? Auch hier dieses Verlangen nach einem Mann, der sie auffing, nach irgendeinem Mann, der plötzlich, irgendwo dort draußen, ein Gesicht bekommen und offensichtlich seine Züge angenommen hatte, eine Wahl, zweifellos, aber wessen? Eine Konkretisation nannte der Philosoph so etwas, wohl wissend, dass er damit einen Abstand erzeugte, der durch diesen ›Akt‹ gerade unterschritten wurde. Eine Konkretisation also, die fürs erste eine Spannung zwischen drei Personen erzeugte, ohne dass sich absehen ließ, was noch kommen sollte. Pidas Rolle bei alledem, als dienende Schwester, auffällig gleich damals, als weise die andere einen Weg aus dem Labyrinth, ihr Verhalten ist haften geblieben, es verbindet sich mit dem der Nacht im Gebirge, ein kupplerisches Verhalten, so empfand er es gleich, wenngleich nicht in derselben Schärfe wie heute, eher diffus, als Ungehörigkeit: ›Wie kann sie so etwas machen?‹

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Wie konnte sie so etwas machen? Später, sehr viel später, in einer anderen Zeit – nach Monaten, Jahren? – kam Pida damit heraus, ihre Mutter habe ihr früh prophezeit, sie werde ihn, Tronka, an sie verlieren. War das ein Geständnis? Warum? Weil es Entlastung bedeutete? Von welcher Last? Der Last der Entscheidung? Durfte sie ab damals, worauf sie sich am besten verstand: kuppeln? Wenn dem so war, dann hatte Pida ihn kräftig hereingelegt, als er, empört über den mütterlichen Verrat, sich auf ihre Seite schlug. Dann war es der Wink der Mutter, der es ihr leicht gemacht hatte, dereinst zu gehen, ohne zu gehen, und die Last der Trennung auf ihn abzuladen – als Schuld, wie denn sonst. Ein Wink, was sonst, von einer, die gegangen war, ohne sich abzusichern, so etwas zieht sich durch. Wie lange? Zwei Mütter, eine Pythia: auch ihre Mutter hat vorsorglich kundgetan, sie werde ihn, Tronka, nicht halten können: »Ein Philosoph? Was willst du mit einem Philosophen? Der geht sowieso.« Warum weiß er das? Warum darf er das wissen? Eigentlich dürfte er dergleichen nicht wissen, es bringt die Gedanken auf Abwege … vielleicht darf er es deshalb wissen, aus diesem und keinem anderen Grunde: ›Denk drüber nach!‹ Denkt er darüber nach? Seit wann denkt er darüber nach? Im Grunde ist er ›im Futur‹ von ihr geschieden, seit sie wieder zusammenzogen, vielleicht bereits früher, vielleicht von Anfang an … was leichter zu beurteilen wäre, fände er diesen Anfang in seinem Gedächtnis, doch alles, was er findet, sind Splitter, die nichts hergeben außer sich selbst. Weiß sie das? Wollte sie ihm sagen: ›Ich weiß, dass du gehen wirst, irgendwann, in einer irrealen Zukunft, du sollst wissen, dass ich es weiß, weil gerade das es dir unmöglich macht, zu einem realen Zeitpunkt zu verschwinden – das hieße ja, meiner Mutter Recht zu geben und mich gegen sie im Stich zu lassen, es hieße auch, Pidas Wüten Recht zu geben und das geht über deine Kräfte‹? Gut möglich. Wahrscheinlich sogar. Aber sicher war nichts.

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›Sieh diesen Toten an (nach dem du dich nie erkundigt hat, am Ende ist es besser so, ja, es ist besser so): er ist gegangen, ohne sich mit mir abzustimmen, ohne meine Einwilligung, zu einer Zeit, zu der ich ihn dringend gebraucht hätte: das war Verrat, absoluter Verrat, du weißt, ich stand im Examen – damals habe ich mir geschworen, so etwas wird sich nie wiederholen. Wenn ich dich bewirtschafte – was ich ganz ohne Umschweife zugeben kann –, dann nicht, weil ich dich demütigen möchte – das vielleicht auch, aber aus anderen Gründen, die hier nicht zur Diskussion stehen –, sondern weil ich sicher gehen muss, verstehst du: sicher gehen muss, dass die Dinge so laufen, wie ich es für richtig halte. Nein, ich möchte keinesfalls bis ans Ende meiner Tage mit dir zusammenleben – solltest du so etwas glauben, so wäre es gut, du würdest dir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen –, ich möchte den Zeitpunkt der Trennung bestimmen, that’s all –. Und komm’ bitte nicht auf den Gedanken, ich könnte eines Tages aufstehen und dir ins Ohr flüstern: Hör mal, ich zieh’ nächste Woche aus, ich bin dann weg. Das zu denken wäre außerordentlich unklug von dir. Da du so klug bist, siehst du das sicher ein. Wenn du also darauf wartest, dass jene Zeit anbricht, in der wir beide getrennt sein werden, dann bedenke bitte, dass wir nicht jünger werden, du nicht und ich nicht, im Grunde niemand. Aber da besteht ein Unterschied: ich warte nicht. Du lebst dein Leben im Wartestand, ich merke es an jeder deiner Reaktionen auf das, was ich beschließe, damit es anschließend geschieht, gleichgültig, was du davon hältst, da es dir gleichgültig ist und du deine Gleichgültigkeit nur schwer verbergen kannst. Ich hingegen lebe, es ist mein Leben und ich gestalte es ganz danach, wie ich zu leben wünsche. Mag sein, es wäre schöner, wir zögen an einem Strang, aber – tun wir es nicht? Ich ziehe, du zögerst, du ziehst mit – wo bleibt da der Unterschied? Ich jedenfalls wüsste ihn nicht zu benennen.‹

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Nein, sie war keine Feministin, das Wort sagte ihr nichts, sie lehnte es ab. Hin und wieder hatte er bei ihr Interesse für die Geschichte der Frauenbewegung zu wecken versucht. Mit welchem Ergebnis? Schwer zu sagen, jedenfalls keinem, das ihm auf Anhieb hätte einfallen können. Dennoch halten sich Freunde von ihnen fern, die fürchten, irgendein Gift könne in ihre Beziehung einsickern und sie von innen anfressen – Frauen genauso wie Männer, alte Freunde übrigens, auf beiden Seiten, die französische Lehrerin etwa, die geheiratet hatte und nördlich von Paris in einen Reihenhaus-Neubau gezogen war, ein winziges Heim, in dem sie beide auf einer Gästematratze nächtigten, um nach drei Tagen etwas abrupt wieder abzureisen, nachdem sich das anfänglich herzliche Einvernehmen der beiden Frauen merklich abgekühlt hatte. Was war geschehen? Er wusste es nicht, er hatte es nicht herausbekommen, die wenigen Gesprächsbrocken, die er ihr während der Heimfahrt entlocken konnte, gaben den Bruch eigentlich nicht her. Ein Bruch war es zweifelsohne, wie sich herausstellte, nachdem die ehemals enge Freundin es beim nächsten Besuch im Kreis unterließ, bei ihr vorbeizusehen. Bescheid wusste er, als sie anfing, in diesem leicht resignierten, überbestimmten Tonfall, den er bereits kannte, den Fehler zu rügen, den die andere ihrer Ansicht nach beging, weil sie sich, wodurch auch immer – ökonomisch, sozial, seelisch –, dem Partner ›in die Hand gab‹. Zweifellos hatte sie das der bereits wieder schwangeren Mutter, die sich für eine rasche Geburtenfolge entschieden hatte, auch so ins Gesicht gesagt. Der junge Mann, ein offener, charmanter Südfranzose, hatte sich redlich um sie bemüht. Am letzten Besuchstag blieb er unauffindbar.

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Wann das begann? Schwer zu sagen. Die Aufrüstung war unverkennbar, doch ihre Quellen blieben lange diffus. Wie stand es um den eigenen Beitrag? Er konnte ihn ausblenden, er konnte ihn zuschalten. Veränderte er das Bild? Noch immer registrierte er Belustigung angesichts ihrer besorgten Frage, wie dem Argument zu begegnen sei – vermutlich stammte es vom Feistgesicht, das der Forderung nach mehr Ingenieurinnen eine eherne Skepsis entgegensetzte –, es sei nun einmal ›wissenschaftlich erwiesen‹, dass das weibliche Gehirn seine Stärke mehr im emotionalen und geselligen Bereich entfalte als in dem des exakten Denkens, die forcierte Ausbildung von Frauen in den entsprechenden Berufen stelle daher einen klassischen Fall von Ressourcenverschwendung dar, punktum. Solche Gespräche waren eine Zeitlang en vogue. Auch seine, des Wissenschaftlers, halbherzige Antwort war ihm gegenwärtig, als habe das Gespräch erst gestern stattgefunden: ganz recht, aber der IQ streue nun einmal stärker als solche Geschlechtsspezifika, ein intelligentes Individuum müsse sich nun wirklich nicht mit ihnen herumschlagen. Ihm schien, als habe die Auskunft sie nicht ganz befriedigt. Das mochte verschiedene Gründe haben, doch in den folgenden Monaten schlich ein Ton der Unduldsamkeit durch ihre Reden über die männliche Kollegenschaft, als habe dort neuerdings ein Rudel von ›Luschen‹, wie sie sich ausdrückte, Versagern also, eingenistet, – eine ganze Bandbreite von Tönen, einmal spitz, einmal scharf, bis sich irgendwann offene Gehässigkeit gegen einzelne Opfer Bahn brach, deren Namen er noch nie gehört hatte. Aber auch da mochten andere Gründe, die er nicht durchschaute, im Hintergrund spielen. Unmerklich fast tauchte er in den Strudel der Giftigkeiten ein, teils als neutraler Beobachter, teils als Ratgeber in Argumentationsfragen, teils als Spucknapf – gottlob verfügte der Freundinnenzirkel, hör- und sichtbar, über deutlich höhere Absorptionsfähigkeit –, teils – heikel, heikel! – als Versuchskaninchen, an dem sie schon einmal die direkte Konfrontation einstudierte. Jedenfalls kam er sich so vor, wenn Anlass und Inszenierung allzu weit auseinanderklafften. Auf wen zürnte sie ein? Er konnte es nicht ergründen. Manchmal spürte er die Versuchung, hinter sich zu blicken, aber wenn dort einer stand, dann war sicher er letzte, dem er sich zu erkennen gegeben hätte.

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Und wie sie sich beeilte. Der Tag kam, an dem sie, gemeinsam mit einer neuen Kollegin, die Lehrerschaft derart aufmischte, dass die andere, eine bekennende Lesbe, die Schule verlassen musste – sie selbst hatte sich einmal mehr zumindest so diskret zu bewegen gewusst, dass es in ihrem Fall beim bloßen Warnschuss blieb. Diese diskrete Aggressivität – Tronka kannte die Szenen nicht, die sich in der Schule abgespielt hatten, er konnte sie sich nicht recht vorstellen, aber er verstand ihren Kern. So, wenn sie nach Hause kam und sich für zwei, drei Stunden ins Schlafzimmer zurückzog, in dem auch ihr Schreibtisch stand, unerreichbar, da jedes Eindringen als Störung markiert war, aber allgegenwärtig, das sie niemals die Tür schloss, bereit, auf das kleinste verdächtige Signal hin mit Rufen einzugreifen, die nichts anderes darstellten als in Klagen und Unterstellungen verpackte Befehle. So, wenn sie, sobald sie wusste, dass er unter Termindruck arbeitete, die Tochter unter fadenscheinigen Gründen vom Kindergarten zurückhielt und zu ihm schickte, als habe er sich seit einem halben Jahr nicht mehr mit ihr beschäftigt und es sei endlich an der Zeit, Vaterdienst zu leisten. So, wenn sie in der Tür stand und Einkaufslisten herunterrasselte, sobald sie ihn dienstlich telefonieren hörte. So, wenn sie ihn, unter dem Vorwand, die Tochter spiele unbeaufsichtigt zu Hause, aus der Vorlesung in die leere Wohnung beorderte, bloß damit er von irgendeiner Freundin erfuhr, sie habe, da er notorisch unzuverlässig sei, das Kind auf die Bitte der Mutter hin mit zu sich nach Hause genommen und nun spiele es gerade so versunken, dass sie es nicht hergeben wolle, sie habe auch keinen Auftrag dazu – er habe doch sicher zu tun, das kenne man ja. Der Zettel mit der Telefonnummer der Freundin lag in solchen Fällen neben dem Telefon: zur Demütigung der Hohn, zum Hohn die Resignation, zur Resignation die Frage ›Was tun?‹

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Was tun? Er kann nicht gehen, er kann nicht. Was macht ihn darin so sicher? Es wäre beliebig zu gehen, beliebiger jedenfalls, als zu bleiben. Das Bleiben besitzt seine eigene Stärke, gegen die das Gehen nicht ankommt. Noch nicht, da geht es ihm wie dem Kleinen in Ali Babas Höhle, der jedes Jahr erneut seine Kraft misst, bis sie endlich reicht, um den entscheidenden Schlag zu führen. Der Tag, an dem das Gehen über das Bleiben siegen wird – was für ein Tag wird das sein? Wenn die Liebe gegangen ist, musst du gehen. Er sieht sie nicht, die Liebe: was soll da gegangen sein? Wann soll da etwas gegangen sein? Heißt das, er habe sie nie geliebt? Welch ein Unsinn. Es war das Zusammenziehen, das alles zerstört hat. Auch das: Unsinn. Nichts hat das Zusammenziehen zerstört. Es besaß nur … Gesetze. Es brachte sie mit aus dem Nichts, aus dem Verborgenen, aus irgendeinem Verborgenen – auch hier die Beliebigkeit: es kam nicht aus den gut erforschten Tiefen der Psyche, eher kam es so, dass ein Verschluss einschnappte –, es schleppte sie ein – in die Liebe? Sei vorsichtig. Etwas befremdet an dieser Liebe, etwas daran … stört … du hast dich oft gefragt … nein, hast du nicht. Du hast diese Frage nicht zugelassen, du hast nicht zugelassen, dass sie sich formt. Was ist dieses ›etwas, das stört‹? Du könntest nicht einmal sagen, es stört dich, es stört nur, es gründelt in ihr. Kannst du sagen, sie kam aus dem Schweigen? Diesem weit geöffneten Schweigen, das Verständnis signalisierte? Verständnis für was? Für dich? Für deine Situation? Übertreibe nicht! Wie dicht war dieses Schweigen? Täuscht dich die Erinnerung? Lässt sie es dichter erscheinen, als es je war? Wenn ja, warum? Weil du es so willst? Wenn dem so wäre, warum? ›Wenn sie geschwiegen hätte…‹ – ist es das? Dein Erschrecken darüber, dass sie irgendwann das Schweigen brach? Dieses Schweigen, was war es? Erwartung? Neugier? Cupiditas rerum novarum, die Lust auf Neues? Appetit?

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Wenn es Appetit war, wo lag der Hunger? Er lag auf seiner Seite. Ein lange vorbereiteter, oft beiseite geschobener, durch die falsche Gemeinschaft mit Pida, diesen Triumph des Durchhaltewillens, aufgelegter, im Stillen gehätschelter, abgebogener, durch Tricks getäuschter, geschwächter und gerade dadurch gestärkter Hunger, dem nur ein Tisch geboten werden musste – ein Tisch? Warum dieses Bild? Sie hatte den Tisch gedeckt, während er redete, vielleicht nicht gleich, nicht ›zu Beginn‹, das Schweigen war eine Art Zurüstung, unterbrochen durch allerlei Ausflüge ins therapeutische Wunderland, als gelte es, seine Beziehung zu retten, die nichts weiter war als eine kaputte Ehe, an der niemandem etwas lag, die zertrümmert werden musste, um, wie sich rasch herausstellte, fast jeden Preis, um des Überlebens willen. Der gedeckte Tisch, er hatte ihn spät wahrgenommen, sie musste seine Aufmerksamkeit fast mit Gewalt auf ihn lenken, fast mit Gewalt … auch das klingt seltsam, fast seltsam, weil diese Form der Gewalt unter anderen Titeln verbucht wird, unter Titeln, die suggerieren, gerade so und nicht anders gehe das Leben weiter. Vielleicht geht es so weiter, vielleicht. Was bedeutet es, dass es weitergeht? Mehr, als dass es immer weitergeht? Wenn es immer weitergeht, welchen Grund sollte einer haben, sich auf seine Seite zu schlagen? Weil es ihn zwingt: es gibt keinen anderen. Diesen Moment erkannt zu haben, liegt darin ein Verdienst? Sie jedenfalls hat ihn erkannt und genutzt. Genutzt? Für wen? Für sich? Für ihn? Für sie beide? Für das, was ›drin‹ war? Jedenfalls genügte die einfache, beinahe klassische Frage »Bleibst du noch?«, um ihm das Bleiben zwingend erscheinen zu lassen. Auch darin lag eine Parallele, wenngleich eine unvollständige. »Wie geht es jetzt weiter?« Das hatte ihn, in der Frühzeit seines Zusammenlebens mit Pida, als sich die ersten Fliehkräfte meldeten, eine Assistentin gefragt, nachdem er das wissenschaftliche Gespräch mit ihr ein paar Wochen lang wohl eine Spur zu sehr genossen hatte. Worauf es damals nur eine Antwort gab: »Gar nicht.« Hatte sie falsch gefragt? Zum falschen Zeitpunkt? Hatte sie etwas ›gesehen‹? Auch sie schien jedenfalls offen gewesen zu sein.

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Was er erst später erfuhr: Pida und die kaum ältere Assistentin waren Freundinnen, Vertraute und gelegentliche Konkurrentinnen bei der Jagd auf Männer, sie trafen sich in der Stadt beim Einkaufsbummel, vermutlich hatte Pida die andere, gewiss nicht ohne Hintergedanken, über ihre Ehe auf dem Laufenden gehalten. Die Überlegung hatte ihn erschreckt. Kaum einmal hatte er einen Gedanken auf die Überlegung verwendet, welche Spur eine Beziehung in den Köpfen der Freunde, Verwandten, Neider, Arbeitskollegen, Mitbewohner etc. zog. Ein gravierender Fehler, von heute aus betrachtet – manches erklärte sich von selbst, sobald er die subtile Einflussnahme in Betracht zog, die in diesem Bereich von der informierenden Seite ausgeübt wurde. Er selbst hatte sich, die frühen Gespräche mit ihr über sein Verhältnis zu Pida ausgenommen, stets bedeckt gehalten. Auch darüber hatte er wenig nachgedacht. Es war ihm unwillkürlich, mehr dazu hätte er im ersten Durchgang nicht zu sagen gewusst. Dass sich Überzeugungen dahinter verbargen, hätte er selbst erst aus sich herauskitzeln müssen. Das lag, stellte er fest, an der Natur dieser Überzeugungen: sie ließen sich, wenn überhaupt, nur über Spott vermitteln, und das erregte Widerwillen in ihm. Loyalität und Verschwiegenheit waren zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mag sein, darin steckte eine etwas altertümliche Vorstellung – wenn dem so war, dann konnte er sich nun einmal schwer von ihr lösen. War es nicht sogar ungerecht, in solch defensiver Weise darüber zu denken? Fiel nicht jede Beziehung sofort auseinander, wenn dieses verschwiegene Fundament fehlte? Was hieß das? Hieß es, dass ihn eine in Scheu übersetzte Anstandsregel davon abhielt, die Beziehung anzutasten? Hieß es weiter, dass eine Seite diese Scheu in sich tragen musste, damit die andere sich freinehmen konnte? Es brauchte viel Zeit, bis er begriff, dass Pida, wo immer sie ging und Konversation machte, gezielt Bemerkungen über ihn und ihr Zusammenleben streute und dass jede dieser Bemerkungen, leicht hingesprochen oder mit hochgezogener Augenbraue getätigt, sich ihren Weg durch die Köpfe bahnte. Aber nicht allein die Zeit musste vergehen. Die Loyalität selbst musste erst schwinden. Da sie nicht ganz verging, da sie wieder und wieder aufflackerte, begriff er auch in diesem Punkt niemals ganz und erlag immer wieder denselben Skrupeln.

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Die sanfte Nötigung ›Sieh dich um!‹, wenn der andere vor einem steht, benützt eine schlichte Paradoxie, um ans Ziel zu kommen: wer sich jetzt umdreht, hat schon verloren. Was verloren? Den Kontakt des Augenblicks, den kostbaren Moment der berührungsfreien Berührung oder des Ineinander des Getrennten. Was immer hinter dir steht, liegt oder geht, es möge auf ewig dahinten bleiben. Zumindest kann es warten, bis die Situation sich erschöpft hat, bis sie dich erschöpft hat, aber vielleicht warst du bereits erschöpft und das hier richtet dich wieder auf, dann hat das dahinten ganz schlechte Karten, jetzt oder in der Zukunft. Andererseits ist es nicht zwingend die Sprache der Leidenschaft, die dich fragt, ob du weißt, was du tust, eher die Sprache der Anbahnung, die mit Rückversicherungen arbeitet und die Sprecherin, vermutlich unwillkürlich, in eine Gouvernantenrolle versetzt. Er merkt das Zögern, das ihn überkommt, ein Gefühl der Verantwortung schleicht sich ein, nicht gegenüber der Beziehung, die er gerade hinter sich lässt, sondern gegenüber der Person, die Bereitschaft signalisiert, sich auf ihn einzulassen, vorausgesetzt … er weiß, was er tut. Weiß er es denn? Als geübter Beziehungshase gewiss, flüchtig, ohne hinzusehen, unterschreibt er die Regeln, zur Gänze befangen in der binären Entscheidungslogik, die sich ihm auftut: ja-nein, bei ausgeschlossenem Nein. Dieses ausgeschlossene Nein, woran erinnert ihn das? An die These vom auszuschließenden Spannungsabfall – wer unter Spannung steht, will sie steigern, er kann nicht anders, er steigert sich hinein, wie es so sinnig heißt, ein Spieler, der unter Strom steht, es bedarf eines starken Willens, sich jetzt zu entziehen, und des Willens, ihn zu gebrauchen.

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Angenommen, es wäre nicht das Feistgesicht, angenommen, es wäre die Rohrdommel – was spräche für diese Lesart? Fürs erste die Sicherheit, mit der sie ihren Gatten in Schutz nahm, als führte sie die unbestrittene Oberaufsicht über seine Eskapaden. Sodann ihr Verhalten, die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Antwort an sich gezogen hatte, die Art und Weise, wie sie ihn beruhigt, wie sie das Gespräch abgebogen, wie sie für atmosphärische Beruhigung gesorgt hatte, als sei sie persönlich dafür verantwortlich, dass an dieser Front keine Gewitterwolken aufzogen. Ein nächtlicher Abschied am Gartentor fiel ihm ein, in dessen Verlauf die konventionelle Umarmung zwischen ihr und dem Feistgesicht in eine wilde Knutscherei überging, während die Rohrdommel ihn mit lauen Reden im Garten hinhielt – eine Erinnerung, behaftet mit all den Ungenauigkeiten, die sich der Dunkelheit und dem genossenen Alkohol verdankten, aber doch scharfrandig genug, um ihn begreifen zu lassen, dass die Sinne seiner Gesprächspartnerin sich ebenso gierig zur Torszene hin orientierten wie seine eigenen, aber auf eine andere, eine wissende Weise. Jedenfalls schien es ihm so, es schien ihm jetzt noch so, das aufnehmende Gefühl scheint sich erhalten zu haben, als trage es eine Information, die nicht verlorengehen darf, jedenfalls nicht, bevor sie den Adressaten, den kühl analysierenden Verstand erreicht hat, der alles aufzulösen versteht. Nun liegt es vor ihm und er begreift nichts, jedenfalls nicht viel, das Dunkel fühlt sich dunkler denn je an und jede Deutung klingt so unwahrscheinlich wie möglich. Angenommen, sie führten eine Ménage-à-trois im Verborgenen und er wäre das Aushängeschild, wäre es nicht besser gewesen, ihn irgendwann einzuweihen und vor die Entscheidung zu stellen, den Bund gewähren zu lassen, sich ihm eventuell anzuschließen, oder die Beziehung zu beenden? Das wäre nicht nur besser, es wäre der einzig vertretbare Weg gewesen, es sei denn, sie brauchten ihn als ahnungslose Marionette um eines perversen Vergnügens willen, dessen Logik ihm nicht einleuchten wollte. Sollte es sein, dass er sie enttäuscht hatte? Hatten sie ihn bereits als vierten im Bund eingeplant und waren an der völligen Nichteignung des Kandidaten aufgelaufen? Dann jedoch müsste sie die Botschaft überbracht haben, denn von Avancen seitens der beiden anderen hatte er nichts bemerkt. Nein? Ganz sicher? Ganz sicher. Es sei denn … gewundert hatte er sich über die Dreistigkeit, mit der wenige Wochen nach jener peinlichen Befragung das Feistgesicht, ein anerkennendes Grinsen im Mundwinkel, während einer Hausparty getönt hatte, so ein Paar Sportlerinnen-Schenkel hätte er auch gern im Bett. Er hatte es nicht in den Raum gesprochen, sondern, den Blick vom Boden hebend, sein, Tronkas, Gesicht gesucht, so dass ihm gerade genug Zeit blieb, sich abzuwenden und so zu tun, als habe er nichts gehört. Aber in jenen Zeiten zählten solche Unverschämtheiten zu den Garantieposten des Beziehungstheaters und konnten alles und nichts bedeuten. Wie stand es um die peinliche Befragung selbst? Sie hatte ein irgendwie diffuses Ende genommen, an das er sich nur unvollkommen erinnerte. Genau genommen erinnerte er sich an nichts als an die Empfindung, Teil einer ungehörigen Aufführung gewesen zu sein – am Ende lag hier der Hase im Pfeffer?

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Nein, es rührte sich nichts. Falls hinter dieser Tür etwas lag, was er nicht wissen sollte, so hielt es sich gut. Gut hielten sich auch die Kinder, wenn er den einmaligen Ausrutscher der Tochter als Maßstab nahm. Zweifellos wussten sie mehr als er, sie waren häufiger und länger zu Hause als er und bekamen manches mit, zweifellos war ihnen der Mund, durch welche Macht auch immer, versiegelt. Wann immer er nach Vorgängen fragte, die in die Zeit seiner Abwesenheit fielen, verstummten sie. Irgendwann musste jene anonyme Macht die Kontrolle über ihre Gespräche übernommen haben. Tronka hütete sich, sie und diese Macht gleichzusetzen, schon allein deshalb, weil ihr steuerndes Schweigen und das verdrückte Schweigen der Kinder aus demselben Tabu ihre Nahrung zu holen schienen. Schweigen ist Schweigen, sagte er sich, auch wenn die Funktionen sich unterscheiden. Wer so schweigt, der kann nicht anders, er untersteht einer Gewalt, die ihm den Mund versiegelt. Welche Gewalt könnte das sein? Gesetzt, die Kinder haben etwas gesehen oder sind Zeugen eines fortlaufendes Skandals, der ihr Verhältnis zu dir untergräbt, dann versiegelt das Gesehene ihnen den Mund. Sollte es sein, dass auch sie etwas sieht, was ihr den Mund versiegelt? Sollte es sein, dass Scham ihrer beider Verhältnis regiert – und zwar von Anfang an? Möglicherweise betonte er dieses ›von Anfang an‹ etwas zu stark. Aber gerade darauf kam es ihm an. Es stellte klar, der Anfang, jedenfalls in dieser Hinsicht, war kein wirklicher Anfang. Er hatte ein Erbe angetreten, das stärker war als die Beziehung selbst. Und sie: hatte sie damals aus der Ménage-à-trois aussteigen wollen? Hatte die peinliche Befragung etwa den Zweck verfolgt, sie zurückzuholen? Hatte sie ihren Zweck erreicht? Hatte sein, Tronkas, Verhalten dabei den Ausschlag gegeben? Hatte er damals versagt?

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Eine Trittbrettfahrerin, so hatte er sie fluchend genannt, wenn sie, dem Schlafzimmer kaum entschwebt, ihre Tasche schnappte, um irgendwann abends zurückzukehren. Gelegentlich holte sie ihn nach. Dann saßen die drei bereits einträchtig im Garten oder sie machte sich mit dem Feistgesicht in der Küche zu schaffen, während die Rohrdommel mit ihrem weitläufigen Freundinnenkreis telefonierte und ihm gestikulierend einen Stuhl anwies. Eine Trittbrettfahrerin, unfähig, ihre eigene Beziehung Gestalt gewinnen zu lassen, das Eheleben der Freundin zwanghaft mitlebend – eigentümlich nur, dass die Freundin ihre Zudringlichkeit nicht abwehrte, sie stattdessen immerfort stimulierte und ihr bei jeder Gelegenheit Unterstützung signalisierte. Da saß sie entspannt, ein leichter Ausdruck von Wichtigkeit, den er sonst kaum an ihr kannte, umspielte ihr Gesicht, hin und wieder ergriff sie das Wort und erklärte, als befände sie sich im Klassenzimmer, mit elementarer Bestimmtheit einfache Sachverhalte; das Verlangen, bestätigt zu werden, schimmerte durch ihre Ausführungen hindurch und ein Anflug von Damenhaftigkeit umgab ihre Person, dem eine ältere Generation vermutlich etwas Altjüngferliches attestiert hätte und der ihr ansonsten, da sie den burschikosen Typ kultivierte, vollkommen abging. Bei solchen Gelegenheiten erschien sie ihm weniger fremd als entrückt, so als habe ein vor langer Zeit gekauftes, aber nie aufgehängtes Bild in seinen alten Rahmen zurückgefunden und präsentiere sich distanziert vornehm als das angestammte Eigentum seiner Vorbesitzer. Er konnte sich nicht erinnern, sie gekauft zu haben. Dennoch behagte ihm der Anblick, ungeachtet einer gewissen Stimmigkeit, keineswegs. Gestört wurde sie allerdings dadurch, dass die beiden anderen wie Laienschauspieler agierten und teils ungewohnt verhalten, teils in übertrieben markiger Manier daherredeten, als zitierten sie aus einem Stück, das ihnen zwar zur Hand war, für das sie aber nicht recht erwärmen konnten. Er schloss daraus, dass tatsächlich ihr Wunsch ihn herbeigeordert hatte. Wünschte sie ihm zu demonstrieren, wohin sie gehörte? Fand sie, er solle ruhig wissen, mit wem er es zu tun hatte? Übte sie subtile Rache für seine Unaufmerksamkeit? Für seine Weigerung, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen? Oder spürte sie ein leises Unbehagen angesichts des Gedankens, ihn ohne Kontrolle sich selbst zu überlassen? Oder wollte sie ihn um sich haben, weil sie annahm, dass sich ihr Kreis damit schloss? Auch das war denkbar.

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Denkbar war alles. War es plausibel? Was war plausibel in einer Beziehung, die Einvernehmen forderte und dort, wo es sich einmal herzustellen begann, brüsk zurückstieß? »Wir müssen eine einvernehmliche Lösung finden« – Auftakt endloser Auseinandersetzungen, die harmlos begannen und damit endeten, dass sie, so geschmeidig wie geräuschlos, den Raum verließ und er sich türenschlagend zurückzog. »Wir müssen eine einvernehmliche Lösung finden« hieß: ›Ich habe beschlossen und brauche deine Zustimmung‹ oder ›Im Grunde brauchst du es nicht zu wissen, du musst auch nicht zustimmen, aber irgendwann merkst du es doch und dann ist es besser, du erinnerst dich daran, dass wir darüber gesprochen haben.‹ Wie entsteht so etwas? Aus wirklicher Ratlosigkeit? Tronka, der in Alternativen dachte und gelernt hatte, mit ihnen zu leben, verstand anfangs nicht, warum sie unruhig wurde, sobald er eine Sache abzuwägen begann, bis er begriff, dass es für sie nur richtige oder falsche Entscheidungen gab und sein Verhalten ihr demonstrierte, dass er nicht wusste, was richtig war: das Richtige musste autoritativ beglaubigt sein und deshalb hielt sie sich an den Rat ihrer Freundinnen, jedenfalls vermutete er das. Irgendwann war sie es leid geworden, seine offenkundig nicht vorhandene Autorität abzufragen, und war in den zwar nicht offenen, aber dafür beharrlichen Durchsetzungsmodus übergegangen, von dem sie auch dann keinen Millimeter abwich, wenn ihre Lösung ihm eindeutig falsch, ja geradezu verheerend erschien. Die Entscheidung musste keineswegs im Gespräch fallen. An ihrem hinhaltenden Widerstand konnte er ablesen, dass seine Argumente kein Gewicht besaßen und sie ausführen würde, was sie längst beschlossen hatte. Praktiken wie diese waren ihm aus der Kindheit geläufig, lange bevor Pidas Lügenhaftigkeit ihn in andere Dimensionen des Zusammenlebens eingeführt hatte. Eingesetzt wurden sie, wenn die Autorität des Vaters in Starrsinn umschlug und offenbar des Verstandes entbehrte – oder in jenen weiblichen Domänen, in denen männliche Einmischung ohnhin ungern gesehen wurde. In der Beziehung – nun, die Beziehung schloss autoritäre Verhaltensweisen dieser Art prinzipiell aus, sie waren verboten, durchgestrichen, tabu, sie waren das Andere, von dem man sich absetzte, sie liefen dem Gleichheitsgebot zuwider, dem zufolge Entscheidungen ausgehandelt werden mussten, sie hatten ihn immer gestört und er hatte nicht vor, sie zu bedienen. Er hatte den Raum freilassen wollen, in dem sie sich ihr Urteil bilden konnte, in gewisser Weise hatte er ihn durch seine Art des Argumentierens erst schaffen wollen, auch darin lag, widerwillig gab er es zu, eine gewisse Bevormundung, aber eben die des Arguments, der Ratio –. Wurde sie abgewiesen, dann wusste er auch nicht weiter.

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An dieser Stelle sollte er weiter bohren – die Stimme verriet nicht warum, aber sie machte es dringlich. Was konnte das Ziel dieser Bohrung sein? Tronka spürte, dass er sich dem Tabu näherte. ›Wo Es war, soll Ich werden‹ – so nicht, so leicht sind die Dinge nicht zu haben. ›Es‹ ist überall, die Sprache mischt es in alle Verhältnisse, nimmt man es heraus, dann findet es sich nebenan wieder. Man verschafft einem Stellvertreter-Wort, das nebenher der Verstetigung des Sprachflusses dient, keine gewichtige Realität, indem man es groß schreibt. ›Wo es war, soll ich werden‹ – wie liest sich das? Was war denn los? Etwas … nun gut, war ich nicht, als das war? Sind wir so weit auseinander? Wann werde ich es los sein? Wenn ich ›es‹ bin? ›Ich bin es‹: bekanntes Wort, ein Offenbarungswort, das einen uneinholbaren Vorsprung anzeigt – ein Scharlatan, wer es sich mir nichts dir nichts zueignet. Es ist aber so … es ist nun einmal so, dass er zu verstehen glaubt, was sie treibt, wenn sie es treibt, das Wort nicht einmal im sexuellen Sinn genommen, der aber überall durchschlägt. Auch sie glaubt ihn zu verstehen, dessen ist er sich sicher. Sie beide glauben einander ganz gut zu verstehen und sind, jeder für sich, überzeugt davon, dass der andere nichts versteht. Es versteht sich von selbst, dass … etwas daran nicht stimmen kann. Das eine schließt das andere aus. Andererseits … das eine schließt das andere ein. Sie verstehen einander ja, jeder versteht, was der jeweils andere sagt und will, nur die Motive bleiben unausgeleuchtet. Die üblichen Paradoxien des Verstehens. Das Tabu? Es ist schon verschwunden. Angenommen, er verweigert ihr – sie verweigert ihm – konsequent – was daran ist konsequent? –, gerade das, worauf sie – er – besteht: dann wäre immerhin zu erkunden, worauf sie – er – besteht und vor allem: warum. Dann allerdings gäbe er zu – was ihm nicht leicht fiele –, dass er selbst das System der Bosheiten erst erzeugt hat, in dessen Fängen er zappelt. Und indem er dies zugäbe, würde er selbst vielleicht zu seinem eigenen Opfer. Ganz recht … indem. Indem ich mich zum Opfer mache, bekomme ich, was ich will. Nicht, dass ich Opfer sein wollte, wer will das schon, nein, das Opfersein rechne ich heraus, betrachte es als inexistent, es kommt ja auch wirklich nicht in Betracht, gemessen an den Möglichkeiten, die sich mir dadurch erschließen.

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Einmal Opfer sein und dann nie wieder – dieser trügerische Gedanke liegt vielleicht jedem Zusammenschluss zu Grunde. Sich zusammenschließen heißt ausschließen: die Fülle der Möglichkeiten, die anderen, mit denen ein Zusammenschluss möglich wäre oder auch nur für einen kurz aufblitzenden Moment denkbar erscheint, und damit all die Züge, die den Zusammenschluss mit dem anderen möglich erscheinen lassen, die dort ›zum Zuge kämen‹, während sie jetzt zu einem jämmerlichen Dahinvegetieren verurteilt sind. Ausschließen heißt opfern: wer ausschließt, opfert einen Teil seiner selbst, das ist ganz normal, das Normalste auf der Welt, wer zuviel opfert, ist nicht normal oder nicht ganz von dieser Welt. Er hat definitiv zuviel geopfert, als er sich mit dieser Frau zusammenschloss. Sonderbar nur, dass ihm niemals die Empfindung kam etwas zu opfern. Was hat sie geopfert? Er müsste sie fragen … und wüsste ihre Antwort im voraus. Sie würde ihn groß ansehen und erklären, wie immer täusche er sich, sie habe nichts geopfert. Dann würde der Gedanke weiterbohren und binnen weniger Wochen wäre sie davon überzeugt, alles geopfert zu haben. Sie würde diese Rede – beiläufig, ohne aufzutragen, denn das könnte ein Fehler sein – in ihr Repertoire aufnehmen, sie an ihren Freundinnen ausprobieren, vielleicht dem einen oder anderen Mann gegenüber in einer dieser Minuten führen, in denen so vieles möglich wäre. Schließlich käme sie, als Bumerang, zu ihm zurück, nur dass er alle Eigentumsrechte daran verloren hätte. Dieser Lover – falls es ihn gab und sie an jenem Abend nicht nur Verwirrung stiften wollte –: hatte sie ihn geopfert? Wofür? Für ein geordnetes Dasein, in dem die Ménage-à-trois und ihre Beziehung nebeneinander hertrotteten wie die kläglichen Überreste einer Schafherde, die für die Gesamtheit ihrer Bedürfnisse stand? Was konnte sie mit ihm geopfert haben? Sich selbst? Das wäre, nach Lage der Dinge, ein allzu pathetischer Gedanke. Obwohl, näher betrachtet…

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Was lag näher als der Gedanke, sie habe noch einmal dasselbe versucht wie mit ihm und sie sei ein weiteres Mal gescheitert? Dann hätte die Ménage-à-trois sie erneut zurückgeholt und er, als der wirkliche Trittbrettfahrer in dieser Beziehung, von der er nichts wusste, obwohl er ihr auf Schritt und Tritt in den Weg lief, hätte absolut nichts verstanden: in dieser Beziehung und in jeder anderen. Er hätte nicht verstanden, dass die von ihr so sorgfältig – und offenbar zufriedenstellend – gestaltete Beziehung, in der sie beide nun einmal lebten, aus ihrer Sicht an seiner Person abprallte –, weshalb sie sich völlig im Recht glaubte, eine andere Person an seiner Stelle in sie einzuführen, um es … mit ihr erneut zu versuchen. War es den Versuch wenigstens wert gewesen? Wen mochte sie sich just zu diesem Zweck erkoren haben? Wahrscheinlich hätte er gelacht, wäre sie irgendwann auf die gar nicht abwegige Idee gekommen, sie ihm vorzustellen. Aber was hatte sie sich erhofft? Die Sprengung der Ménage-à-trois? Ihre Erweiterung zum Vierbund? Hatte der Lover soziale Intelligenz besessen und sich rechtzeitig dankend zurückgezogen? Hatte er es bloß mit der Schenkel-Sache gehalten? Oder hatte er Ansprüche gestellt, die sie gerade ein für allemal abstellen wollte? Das wäre eine genauere Kenntnis wert gewesen. Obwohl … wahrscheinlich hätte er auch in diesem Fall nur gelacht. Mach dir nichts vor, dachte er, diese Leute, mit denen sie sich vorzugsweise umgibt, sind naiv. Wie war er in ihre Kreise geraten? Aber sie besaß keine Kreise, das war ihr Geheimnis. Sie lief überall mit. So kam sie auch überall hin.

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Und wenn es doch eine Scharade war? Wenn sie an diesem Abend – folgenlos, wie sich herausstellen sollte – niemand anderen als das Feistgesicht verabschiedet hatte, um sich in Zukunft ganz ihrer Aufgabe als liebende Mutter und Gefährtin zu widmen? Traute er ihr das zu? Ja, musste er sich kleinlaut gestehen, in irgendeinem Winkel seines Herzens traute er es ihr zu. Dann allerdings – dann war sie ganz sicher an ihm abgeprallt. Sicher allerdings auch an der völligen Folgenlosigkeit dieses Entschlusses, der, außer einer winzigen sentimentalen Wallung, keine Realität hervorzubringen vermochte, also an sich selbst. Schon am nächsten Morgen mochte sie nicht mehr eingesehen haben, dass sie es war, die Verzicht leisten sollte – worauf auch immer. Wenn sie schon verzichten sollte, dann mussten ihr Kompensationen geboten werden, die den Verzicht mehr als aufwogen. Aber nach Lage der Dinge konnte es keine Kompensationen geben, es sei denn, sie lagerten in ihr selbst und warteten darauf, ausgepackt zu werden wie das Geburtstagsgeschenk vom Vorjahr. Vielleicht hatte sie etwas gelesen, einen Ratgeber in Lebensfragen etwa oder einen Zeitungsartikel über Paare, die spät zueinander fanden, nachdem sie sich vorher jahrelang nach Strich und Faden betrogen hatten. Vielleicht war der Entschluss ›lange in ihr gereift‹ – eine hohle Phrase, der er zutraute, eines Tages Macht über sie gewonnen zu haben –: das konnte nur heißen – nein, er verfolgte den Gedanken nicht weiter, er schien ihm zu … parodistisch, das war das Wort. Andererseits, was sprach dagegen? Wenn sie schon einen Lover besaß, dann sicher nicht, um sich ein schlechtes Gewissen zu machen. Eher, um sich davon zu befreien: eine unbefriedigende Beziehung, was war das anderes als der Sündenfall, der Rückfall in die schlechten Routinen der Vorgängergenerationen, die sich ihr Leben durch Hörigkeit und Entsagung verbittert hatten? Diese Erbsünde steckte in jeder Beziehung, sie war der eigentliche Kern des Beziehungskampfes, sie bestimmte sein Denken und Handeln, warum nicht ihres? Wenn sie sich also vom Lover befreite, dann aus keinem anderen Grund als dem, dass sie das Verhältnis mit ihm als ebenso unbefriedigend empfand wie die Beziehung, in der sie ›offiziell‹ lebte. Sollte also … das Feistgesicht jener Lover gewesen sein, dann hieße das… Er hielt inne, dieser Schluss wollte genossen werden, es hieße ja, dass die Ménage-à-trois ihr lästig geworden war, weil sie dabei nichts mehr empfand, Überdruss vielleicht und eine alte Anhänglichkeit, die sich ein neues Gesicht zulegen wollte.

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Vorsicht, mahnte er sich, so einfach liegen die Dinge selten, schon gar nicht in einem Fall, in dem die eigene Eitelkeit so sichtbar mit von der Partie ist. Sie ist eine Nachahmungstäterin, das hast du hundertfach erfahren. Wenn das bereits auf kleinere Fälle zutrifft, dann sicher auf diesen. Also: wo ist das Modell? Wer ist das Modell? Pida? Musste sie zwanghaft siegen, wo diese gescheitert war? Sicher wusste sie mehr über Pidas Abenteuer als er. Sollte Pida das Modell sein, so verfügte er über schlechte Karten, vorausgesetzt, dass er weiter in dieses Dunkel vordringen wollte. Es sei denn, sie hatte in all den Jahren versucht, den Lover aus dessen Beziehung herauszulösen und war damit gescheitert – dann wäre nicht Pida das Modell gewesen, sondern sie selbst, und die Rohrdommel hätte die Position Pidas eingenommen, allerdings erst, nachdem die Verbindung zu Pida gekappt und die Beziehung mit ihm unter Dach und Fach gebracht war. Was als Patronage begonnen hatte, hätte als Konkurrenz geendet – kein ganz seltenes Muster, in diesem Fall einigermaßen pikant, denn es bedeutete, dass die Beziehung mit ihm ihr erst das Selbstbewusstsein vermittelt hatte, die Rohrdommel zum Kampf herauszufordern. Pikant deshalb, weil er es immer als seine Aufgabe angesehen hatte, Pidas Selbstbewusstsein zu stärken, ehe dieser Impuls auf die neue Partnerin übersprang, die ihn vielleicht, wer weiß, gezielt herausgefordert hatte, um die Macht der Vorgängerin zu brechen. Nicht er hätte demnach ihr Selbstbewusstsein gestärkt, sondern ihrer beider Beziehung, insofern sie ihr die Kraft gab, sich von ihm ab- und anderen Männern zuzuwenden. Nein, das war nicht richtig, es ließ, womöglich willentlich, außer acht, dass die Verbindung zum Feistgesicht bereits existiert hatte, allerdings nicht als Beziehung, sondern als heimliches Einvernehmen, das die Rohrdommel einschloss, vielleicht sogar von ihr ausgegangen war. Genau genommen hatte er ihr den Nachweis geliefert, wie leicht sich eine Beziehung zerbrechen und eine andere sich an ihre Stelle setzen ließ. Womöglich hatte sie diese Probe benötigt, um sich im Anschluss daran der Aufgabe zuzuwenden, die ihr bis dahin als unbezwingbar galt. Vielleicht war sie ihr, aus Gründen, über die spekuliert werden durfte, bis dahin gar nicht vor Augen getreten. Der Appetit kommt beim Essen. Außerdem hatte er oft gesehen, dass sie dazu neigte, alles, was ihr einmal gelungen war – ein Gericht, einen Erziehungstrick, ein Beziehungsmanöver –, bei der nächstbesten Gelegenheit zu wiederholen, es so lange zu wiederholen, bis sie irgendwann damit auflief.

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Wenn das Zusammenleben mit ihm so wenig befriedigend verlief, dass es nur als Ersatz oder Auftakt zu einer anderen Beziehung in Betracht kam, dann blieb zu klären, warum sie, als ihre Träume zerstoben, nicht auch mit ihm Schluss gemacht hatte. Wenn, wovon er inzwischen überzeugt war, ihr gesamtes soziales Verhalten vom Nachahmungsdrang beherrscht wurde, dann musste sich auch in dieser Hinsicht ein Muster auffinden lassen. Eigentlich lag es ganz nah: statt sich mit der Rohrdommel, ihrer engsten Freundin, auf den Sankt Nimmerleinstag zu verfeinden, hatte sie sie einfach kopiert und ihren eigenen ungeschmälerten Anspruch auf ihn erneuert – durch einem Knopfdruck. So könnte es gewesen sein, jedenfalls besaß der Gedanke die schlüssige Eleganz, die er von ihm erwartete. Was bedeutete: wenn er jetzt aufstand und durch diese Tür hinausging, dann bewegte er sich inmitten zweier Frauen, die ihr Terrain gegeneinander abgesteckt hatten und keinerlei weitergehende Besitzansprüche erhoben. Was das Feistgesicht sich dabei denken mochte, war ihm vollkommen schnuppe. Soweit es nach den Vorstellungen der Frauen ging, hätten sie alle vier gestern abend also ein völlig entspanntes Wiedersehen mit Freunden begehen können. Man durfte diese Vorstellungen selbstherrlich nennen und in ihrer Selbstherrlichkeit naiv, aber effektiv waren sie schon. Jedenfalls hatte keiner der Männer einen Aufstand angezettelt oder sich offenkundig daneben benommen – im Gegenteil: ihr angeregtes Gespräch hatte bewiesen, dass sie das Spiel der ordnenden Hände akzeptierten und weiterhin im Geschirr laufen würden.

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So war es gewesen, so konnte, so mochte es gewesen sein, er spürte das darin verborgene ›Aber‹ mit unverminderter Wucht: dieses Aber, das war er selbst, der fleisch- und brechreizgewordene Einspruch, die Empfindung, »Das bin nicht ich« – das ist der andere, der Stellvertreter, der schon allzu lange durch meine Lebensverhältnisse geistert, der Mann, den es nicht gibt, der auf ihren Wunsch, auf ihren Befehl hin erschienen war, ein dienstbarer Geist, ein Doppelgänger meinethalben, ein Gespenst, ein Samentier, das auf den Klang einer Stimme hin zum Rapport erscheint, ein Automat, dem diese Stimme eingepflanzt wurde und der sie nun bis auf weiteres in sich trägt, bis auf weiteres … welches weitere ist da gemeint? ein Vorbehalt, früh von ihm formuliert, niemals fallengelassen, es sei denn in Stunden hündischer Ergebung, eine reservatio mentalis, eine Selbsttäuschung, vielleicht notwendig, vielleicht willkürlich, vielleicht wissentlich ins Spiel gebracht, obwohl kein solcher Vorgang sich im Gedächtnis findet, das ist merkwürdig, das wäre merkwürdig genug, um sich daran aufzuhalten, warum gleitet der Gedanke daran vorbei, als handle es sich um eine Station, die nicht mehr bedient wird, ein heruntergekommener Schuppen, in dem Geheimnisse verrotten, die zu ihrer Zeit keine Geheimnisse waren, Schäbigkeiten, vielleicht von Beginn an, Hinter- und Zwittergedanken, welche der Geburt des Manneken vorausgingen, sie begleiteten, sie vielleicht einleiteten, Zangengedanken, Pressgedanken, Wehengedanken, Muskelgedanken, Atemgedanken … verstreute Perlen einer Gedankenkette, die keine Hand jemals zusammenfügte, warum auch, es erwies sich als unnötig, mehr, es erwies sich als kontraproduktiv, darauf zurückzukommen, besser, sie blieb, was sie nun einmal war, ein im Entstehen zerfallenes Unding, eine Nicht-Erinnerung, eine Unebenheit im Gedächtnis, für die nun dies eine Wort stand: vorbei –

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Verbannt, verbannter, verbanntest – woraus? War die Erinnerung so wichtig? Nein, das war sie nicht. Es war nicht wichtig, woran er sich erinnerte. Wichtiger war, dass er sich erinnerte. Woran er sich erinnerte, das war alles Mögliche: möglich, dass es etwas bedeutete, möglich, dass es genau dies bedeutet hatte, möglich, dass es gar nichts bedeutete, jedenfalls nichts, woran sich heute anknüpfen ließ. Ihre Merkfähigkeit, an hundert Kleinigkeiten erprobt, hatte ihn schmerzhaft aufmerken lassen – ihre Art, Pida zu kopieren und zu perfektionieren (vieles, was sie nicht aus eigener Anschauung wissen konnte, hatte er ihr in jenen Anfangszeiten erzählt), ihn zu kopieren und das Kopierte gegen ihn in Stellung zu bringen (wie jenes verstimmte Schweigen), taktische Zufallserfolge im Kampf um die Gestaltung des täglichen Zusammenlebens – die ihm, solange er von keinerlei Kampf wusste, keine zu sein schienen, sondern Teil eines selbstverständlichen Gebens und Nehmens – so lange zu repetieren, bis aus dem Zusammenleben ein Auseinanderleben und aus dem Auseinanderleben ein Auseinanderfallen geworden war (dann erst recht), – es fiel ihm schwer, Belege dafür zu finden, die es massenhaft geben musste, es war, als sträube sich sein Gedächtnis dagegen, die ungezählten kleinen Demütigungen aufzusammeln, um sie gegen ihn zu verwenden (denn nichts anderes würde eintreten, sobald er sich ihnen in geballter Fülle ausgeliefert sähe): wie hatte er all das zulassen können? Wenn das die Frage war – er war sich nicht ganz sicher, aber es konnte auf sie hinauslaufen – dann hatte er eine Antwort parat. Er hatte sie immer parat gehabt; jeden einzelnen Augenblick, den diese Beziehung nun schon dauerte, hatte sie, mit was auch immer, grundiert: weiß, schwarz – ein richtiges Schachbrettmuster hatte sich da ergeben, ein fort ins Uferlose sich erstreckendes Schachbrett, dessen helle Quadrate langsam und stetig eindunkelten. Er war gefangen. Die Beziehung hatte ihn einkassiert und rückte ihn nicht mehr heraus. Der Grund zu alledem lief dort draußen herum und nährte die Unruhe seines Gehörs durch Entzug: sein Sohn.

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Wie kommt ein Sohn in eine Beziehung? Man bringt ihn mit. Jedenfalls ist es der einfachste Weg, vorausgesetzt, man will, wie er, die reine Beziehung, die Beziehung ohne weiteren Bezug, die Beziehung an sich: erkannte er sich in dieser Vorstellung wieder? Teils – teils, so wie er den Sohn, der bei Pida lebte, nicht mitgebracht hatte (da war sie, die reine Beziehung, als reiner Wunsch, es möge so etwas geben), schon deshalb nicht, weil ihre Reserve sich nicht übersehen ließ. Pida hätte ohnehin nicht mit sich handeln lassen. Er hätte ihn ihr auch nicht abhandeln mögen, schon gar nicht zu einer Zeit, zu der die Sorge um ihr Wohlergehen beinahe jede andere Lebensregung bei ihm überwucherte (obwohl er sie doch ›verlassen‹ hatte, wenngleich sein Verstand ihm oft, aber nicht oft genug sagte, sie selbst habe es so und nicht anders arrangiert). Zu einer anderen Zeit – auch sie eine isolierte Insel im verschwimmenden Hell-Dunkel-Kontinuum – nahm die Sorge um den Sohn überhand und wurde panisch (wobei die um Pida zurücktrat und sich – fast – ins Gegenteil verkehrte). Das war, als Pida, offenbar im Rausch ihrer neuen Beziehung webend, anfing, den Kleinen zu vernachlässigen – nicht hin und wieder, nicht ›punktuell‹, sondern systematisch, nach einem Schema, das ihn dunkel an ihre eigene gemeinsame Zeit erinnerte, als habe auch hier ein Abstoßungsprozess eingesetzt, gegen dessen Wucht sie womöglich, trotz hektischen Gegensteuerns, nicht ankam. Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Plötzlich stand Handlungsbedarf im Raum. (So lautete das beharrlich über alle Instanzen festgehaltene Narrativ. Manchmal ist es nötig, sich der Jedermannssprache zu bedienen. Sie ist zwar nicht jedermanns Sache, aber jedermann versteht, um welche Sache es dabei geht. Die Verwandlung einer Vielzahl diffuser Vorgänge in eine Sache … war das die Leistung, die er auch heute erbringen sollte? Vor welcher Instanz? Der des eigenen Lebens? Wie eigen musste es sein, um Rechenschaft zu erzwingen? Der Gerechtigkeit? Tronka registrierte ein leises Grausen, es war nicht gut, an diese Instanz zu rühren, nicht in dieser Sache, als schneide sie tiefer ins Fleisch, als es ihm und allen Beteiligten guttun könne. Das war merkwürdig, da er, soweit die akademische Lehre ins Spiel kam, ein Konzept wie ›Gerechtigkeit‹ mit einer gewissen Leichtigkeit – in die sich, genau genommen, ein Gran Überheblichkeit mischte – abzuhandeln pflegte. Diese Empfindung der Leichtigkeit, gerade an dieser Stelle, war ihm des öfteren aufgefallen, er hatte nichts darauf gegeben, aber da war sie wieder und er achtete ihrer wohl.)

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Doch hatte sie den Ausschlag gegeben, doppelt wirksam vor dem Hintergrund der durchlaufenden Reserve, als sie ihm von einem Gespräch mit dem Kleinen berichtete, in dem dieser, scheinbar anlasslos, sie gefragt hatte, ›ob sie seine Mama sein wolle‹: das hatte ihn wie ein Blitz durchfahren. Jedenfalls stand es ›wie ein Blitz‹ in seinem Gedächtnis – zusammenhanglos oder fast zusammenhanglos, denn er musste sie nach ihrer Antwort gefragt haben, soviel gab das Gedächtnis, wenngleich unwillig, her. An dieser Stelle fand sich ein Knäuel widerstreitender Empfindungen, durchzogen von gedämpftem, aber deutlich spürbarem Missmut: so sehr er sich auch bemühte, er konnte ihre Auskunft nicht reproduzieren. Sie musste wohl gezögert haben, vielleicht mehr als das, vielleicht war sie ausgewichen, vielleicht hatte sie Schwierigkeiten gemacht, sicher hatte sie das, vielleicht mehr, vielleicht … steckte in dieser Auskunft das ganze Dilemma seiner seitherigen Existenz und sie fiel ihm – beim besten Willen – nicht mehr ein. Der Blitz hingegen, der ihn durchzuckt hatte, musste nicht erst mühselig reproduziert werden. Seit damals stand er, jeder Attacke trotzend, unverrückbar in seinem Bewusstsein: ein Imperativ, der, von jetzt auf gleich, ein Probierverhältnis zu einem Rettungspakt umgeschmolzen hatte, nebenbei – wie sich im Laufe der Jahre erweisen sollte – zu einer Beziehung ohne Ausgänge, ohne Ausweg, ohne Auskunftspflicht über ihr restliches Woher und Wohin. Hier also lag das Geheimnis seiner Beziehung, so selbstverständlich, dass es niemals bedacht werden musste (was wohl, angesichts seiner Auswirkungen, nichts anderes hieß, als dass es nicht bedacht werden durfte), so selbsterklärend, dass sein analytischer Verstand sich bisher nicht in seine Nähe gewagt hatte, so selbstverklärend, dass er die Bürde zwar augenblicklich geschultert, aber – wie selbstverständlich davon ausgehend, dass auch sie nicht umhinkam, sie aufzunehmen – nicht empfunden hatte. Das Kind, vielmehr sein Bedürfnis, hatte sie zusammengefügt, nicht irgendein Bedürfnis, sondern das elementarste, das es, nein, nicht ›in seinen Augen‹, in seinem Gesamtwesen gab. Falls darin eine Bevormundung gelegen haben sollte, so hatte er sie bevormundet, aber dies auch nur anzudenken erzeugte Schmerzen, untermischt mit Panik. Demnach war das: die Wand.

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Das Gesamtwesen, ein Gedankenkonstrukt wie tausend andere auch, was waren nicht gleich seine Bestimmungsstücke? Zweifellos handelte es sich um etwas dem Ich-Empfinden Verwandtes, doch ebenso zweifellos ging es weiter zurück, viel weiter, die Auffassung, es handle sich um eine soziale Norm, wie seine oberflächlichen Kollegen gern mutmaßten, verbot sich von selbst, da es das simple biologische Dasein ins Spiel brachte – ins Spiel, gewiss, als Mit-Spieler, dessen Anwesenheit die Regeln verschob, ohne dass sich dagegen Protest erhob, allenfalls kraft- und folgenloser, doch darin lag vielleicht bereits ein folgenreicher Irrtum. Das einfache biologische Dasein … was war das? Zweifellos ein Gesamtpaket, an dem, wenn man es aufschnürte, nichts einfach blieb, wie die Neurobiologie und verwandte Disziplinen zu zeigen wussten. Die Empfindung ließ dieses Paket zu, sie empfing nur Impulse aus ihm, die wie Imperative wirkten und, verglich man sie mit den Impulsen, die Hand oder Fuß in Bewegung setzten, den umgekehrten Weg gingen: Verhalte dich menschlich! Warum blieb das Paket zu? Zweifellos, weil nichts darin menschlich anmuten würde. Das Menschliche entstand an der Schnittstelle zwischen System und Bewusstsein. Es wäre sinnlos gewesen, es ins System oder ins Bewusstsein zu verlegen, als handle es sich um eine Art Sekret, zu dem nur die passende Drüse gefunden werden musste. Ob einer sich menschlich verhält, entscheidet sich im Detail, aber beurteilen lässt es sich nur im Ganzen. Gilt dieser Satz im Detail oder im Ganzen? Löst er das Urteil auf oder enthält er die Nötigung, aufs Ganze zu sehen? Aufs Ganze gesehen … aufs Ganze gesehen hatte er ebenso recht wie unrecht getan, er hatte getan, was getan werden musste, ohne Ansehen der Person, darin lag der Fehler mitsamt seiner Rechtfertigung. Beides ließ sich nicht auseinanderhalten, es schloss sich magnetisch zusammen, man konnte meinen, es sei eine perfekte Falle, aber es war nur – diesmal verzichtete er auf Ironie – das Leben, das seinen Richtungssinn in sich trug und gelebt werden wollte. Warum quälte ihn jener Impuls? Abschütteln ließ er sich nicht, er hatte sich nur gedreht: Was damals richtig erschien, weil es richtig war, erschien jetzt falsch, weil es noch immer richtig war, aber ihm den Irrtum nicht länger vorenthalten konnte, der in ihm gelegen hatte – den Irrtum, sie habe, als sie jenen kindlichen Satz nachsprach, den darin enthaltenen Wunsch angenommen und, vielleicht unter Bedenken, vielleicht zögernd, vielleicht widerstrebend, aber doch im Grunde bejahend, zu dem ihren gemacht. Schließlich hatte sie ihn nicht abgelehnt: das hätte, wie sie wohl wusste, das unmittelbare Beziehungs-Aus bedeutet. Es hätte die Fronten geklärt. So wie sie es anging, hatte es keine Fronten gegeben, sie existierten auch heute nicht, es gab nur einen Verlauf. Er, Tronka, konnte ihn als verheerend betrachten, das blieb ihm unbenommen, aber mit dieser Einschätzung verharrte er innerhalb der Grenzen seiner Haut und kam nicht aus ihr heraus.

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Würde er, wie ein Politiker, alle Verantwortung von sich weisen, das Schachbrett würde sich auf der Stelle nach dem Muster von Schuld und Versagen sortieren. Am Ende müsste er die Verantwortung übernehmen und gehen –. Wohin? Vor allem: was würde er hinter sich lassen? Jetzt, da die Frage auf dem Tisch lag, fiel ihm auf, dass er sie schon oft gewälzt haben musste, subkutan, wenn der Ausdruck möglich war, geistesabwesend, schweifend, jedenfalls ohne für die Einschätzung einzustehen, die ihr offenkundig zu Grunde lag – so offenkundig, dass er sie auch diesmal beiseite setzte –, dass von Versagen nirgends die Rede sein konnte, allenfalls von Zwangsläufigkeiten, die aus ihnen beiden hervorgebrochen waren, hervorgebrochen wie die Schmerzzustände dieses Morgens, mit der gleichen, aber fein über die Jahre verteilten Vehemenz, so dass sie beide den Eindruck erwecken konnten, sich völlig in der Hand zu haben, ›im Griff‹, wie sie mit Vorliebe sagte – der Ausdruck war ihm stets bei ihr aufgefallen, übrigens auch bei der Rohrdommel und den anderen Freundinnen, sie fragten sich untereinander ab, ob sie auch alles im Griff hätten und bestätigten es mit einem Blick, der besagte: Mach dir um mich keine Sorgen … oder doch, ein klein bisschen, es ist schlimm, du kennst mich ja, es wird schon wieder, keine Sorge, ich werde mich wieder sortieren, ich werde euch nicht zur Last fallen – euch nicht und niemandem sonst. Er kam in Situationen, in denen ein zufällig anwesender Mann sich teilnehmend erkundigte, ob ›alles in Ordnung‹ sei, was strahlend bejaht wurde, so als sei die Sorge um die Ordnung eine männliche Sorge, die um jeden Preis zerstreut werden müsse. Der Griff hingegen … Tronka spürte den Kontrollgriff, er spürte ihn beinahe physisch, ein Zirkuspferd musste ähnliche Empfindungen durchmachen. Nein, das war nicht Dressur … stattdessen etwas, das sich an die Stelle der Dressur gesetzt hatte, als das zwischen Männern und Frauen herrschende Ritual aufbrach, um neu ›verhandelt‹ zu werden, wie es seither hieß: plötzlich wusste er, was es war, es kam wie eine profane Erleuchtung über ihn, so dass er fast aufgelacht hätte.

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Nichts Schlimmeres für einen Mann, als sich wie ein Hund zu fühlen, nichts, was ihm geläufiger wäre als die jahrtausendealte Phrase, als sei dies die Falle, die das Leben für seinesgleichen bereithält: wer hineintritt, den verfolgt es über jeden Anlass hinaus, man könnte annehmen, er habe die Ursünde seines Geschlechts begangen, aus der kein Weg mehr herausführt, so unauslöschlich bleibt ihm die Empfindung eingeschrieben. Und doch … keine Verirrung ist einfacher, keine ergibt sich organischer aus den tausenderlei Beschäftigungen, die den Zwang, in Verhältnisse einzutreten, mit sich führen – jedes einzelne von ihnen ist darauf angelegt, in bestimmten Momenten zu kippen oder schleichend den Tod zu erleiden und in einer Gestalt wieder aufzuerstehen, die den Zuschauer das Fürchten lehrt, während der Leidende zum Zwitter wird: einerseits leidet er wirklich, er leidet ›tierisch‹, nicht menschlich, während er gerade menschlich zu leiden glaubt, sich in seiner Menschensubstanz angegriffen fühlt, so dass er instinktiv die Würde auf der Skala der zu verteidigenden Güter nach oben schiebt und sich dadurch andererseits ein unwirkliches Leiden schafft, eines, das mehr oder weniger aus eingebildeten Kränkungen besteht, wo doch die Ur-Kränkung, die ihm zugefügt wurde, auf der gegnerischen Seite längst vergessen und einem Routinesystem gewichen ist, in dem für Empfindlichkeiten kein Raum besteht. Die Würde des Hundes ist unangreifbar – es greift sie auch keiner an, weil sie nirgends in Frage steht. Was immer ihm an Traurigem, Groteskem, Brutalem angetan wird, es bewegt sich innerhalb einer kulturellen Skala, in der dem Hund ein Platz angewiesen wurde – »Platz!« –, den er nicht verlassen kann, weil er ihn nicht verlassen darf, er muss leiden, er darf leiden, er kann leiden, was ihm geschieht. So sieht es aus mit dem ersten und treuesten Gefährten des Menschen, dem die erste und treueste Behandlung widerfuhr, deren der Mensch einem Wesen gegenüber fähig ist, in dem er seine Reflexe erkennt – also sich –, ohne sich zu respektieren. Das hündische Gefühl trennt nicht zwischen den verschiedenen Formen des Ausgeliefertseins – extremem Zwang, physischem Elend und psychischer Fesselung –, es trennt nicht und es trennt zu sehr, es nimmt, wo ohnehin alles eins ist, sich das Erträgliche heraus. Sei kein Hund! Lebe in Verhältnissen, die deiner würdig sind! Wer die Fähigkeit verliert, das Erträgliche unerträglich zu finden und daraus die fälligen Konsequenzen zu ziehen, der verliert sich selbst und findet sich wieder – als treuer Gefährte.

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Diese Frauen hielten auf Unordnung, sie dressierten ihre Hunde nicht, sie ließen sie laufen und beschränkten sich darauf, den Radius zu kontrollieren, innerhalb dessen sie sich bewegten. Die Kontrolle geschah durch Blickkontakt und ein fortwährendes Lockern und Anziehen der imaginären Leine, die sie mit ihren fellgepanzerten Lieblingen verband. Sie variierten den Radius des Erlaubten – nicht dann und wann, sondern unentwegt: von der Weite des einsehbaren Geländes bis herunter in den Kraulbereich, ein ewiges Hin und Her, gesteuert durch Lockrufe, die bei Säumigkeit rasch in Gekeife übergingen. Tronka beobachtete sie im Park. Die längste Zeit seines Lebens hatte er nicht gewusst, wie viele Frauen zu allen Tageszeiten mit Hunden unterwegs sind, vom kleinsten Kläffer bis zum muskelstrotzenden Zerrer, von dessen Anschaffung er, hätte man ihn um Rat gefragt, instinktiv abgeraten hätte. Auch sie hatte sich, ohne ihn zu fragen, einen Hund mittlerer Größe zugelegt und sich der Parkprozession angeschlossen. ›Sie redet mit dem Hund wie mit ihresgleichen‹ – im Grunde wusste er ganz gut: so war es nicht. Sie redete mit dem Hund wie mit seinesgleichen, in jener subkutanen Sprache, die längst in all ihren Unterhaltungen mitlief. Hätte er nicht, aus den bekannten Gründen der Selbstachtung, weghören müssen, er hätte ihrem Zwiegespräch mit dem Hund jederzeit entnehmen können, was sie von ihm hielt. Nein, so war das nicht richtig: er hätte lernen können, wie er gesteuert wurde. Hätte er genauer hingehört, dann hätte er verstanden, dass sie den Rüden brauchte, um an ihm Beziehung zu trainieren; hier, auf diesem leicht überschaubaren Reiz-Reaktionsgelände, probierte sie die Tricks und Tonlagen aus, mit deren Hilfe sie die kleinen und großen Triumphe ihres Zusammenlebens erzielte. Hätte er ganz genau hingesehen, so hätte er begreifen müssen, dass der Hund nichts weiter war als eine Gestalt der Resignation, dazu bestimmt, die Blase mit ›konkreten Reflexen‹ zu füllen, die eine ganz auf spontane Wunscherfüllung gestellte Lebensform in ihr aufgetrieben hatte. Zweifellos stand sie unter Erfolgsdruck, dafür sorgten schon die teilnehmenden Redensarten der Freundinnen, wenn nicht die hin- und herlaufenden Blicke, die er gelegentlich auffing, sie musste sich an der Beziehungsfront bewähren, wobei ihm nicht ganz klar wurde, ob die Bewährung im Gelingen oder im Scheitern bestand, aber das variierte vielleicht je nach Lebensgeschichte, vielleicht auch nach dem Grad an fein gesponnener Missgunst, wie er sie gelegentlich aus den Gesprächen heraushörte.

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Natürlich hatte er hingehört, er hatte ziemlich genau hingehört, beinahe zu genau, mit diesem gesteigerten Sinn für Nuancen, wie ihn Abhängige ausbilden, einem Sinn, dem jede halluzinatorische Steigerung recht kommt und der deshalb, schon aus Selbstschutz-Gründen, unter Verschluss gehalten werden muss. In gewisser Weise – es lag eine gewisse Betonung in diesem Ausdruck, die hier angebracht schien –, in gewisser Weise erfüllte die Beziehung als solche für ihn die Ansprüche an eine erwachsene Lebensgemeinschaft, wie sie das Nebeneinander zweier Personen erzeugte, die sich nicht unter die Gewalt eines Herkommens beugen wollten, das vielleicht im Augenblick zahnlos erschien, aber in Form diffuser Erwartungsmomente nur darauf wartete, den Gestaltungsspielraum des Einzelnen dem Diktat Dritter zu unterwerfen. Wer weiß schon, was eine Beziehung ist? Niemand. Wer sie eingeht, betritt Neuland, Probierland, eine Strecke voller Überraschungen, die man sich selbst gegenseitig bereitet, solange auf beiden Seiten der feste Wille vorhanden ist, die Entscheidungsfreiheit des anderen nirgends anzutasten. Niemand, auch keine innere Instanz, konnte daherkommen und erklären: du bist jetzt verheiratet, daraus folgt das und das, halte dich dran oder es wird dir übel ergehen, Schande über dein Haupt und Fluch über dein Geschlecht. Selbstverfügung – das war das Wort, er erinnerte sich ausnehmend gut daran, wie er und Pida einander geschworen hatten, niemals davon zu lassen, allerdings auch, dass Pida ihm gleich anschließend eine Szene gemacht hatte, die den Sinn des Schwurs mit leisem Zweifel umrankte. Vielleicht war die zwanghafte Illoyalität, deren er sie heute bezichtigte, ihre Weise gewesen, den Schwur zu halten. Mag sein, die anerzogene Rollenerwartung hatte sich als zu stark entpuppt, um ignoriert zu werden, gemäß dem Motto: wenn er nicht daran dachte, seine Rolle als Ehemann auszufüllen, dann fühlte auch sie sich nicht an ihre Pflichten gebunden und alles weitere folgte daraus – punktum. Hingegen war für sie die Ehe kein Thema gewesen, damals nicht und heute erst recht nicht. In diesem ›erst recht‹ steckte ein Hintersinn, dessen er nicht recht habhaft wurde, so sehr er sich auch bemühte, selbst ein erneuter Besuch im Bad änderte nichts daran, im Gegenteil, er brachte eine gewisse Ratlosigkeit in seine Überlegungen, die sich bisher so nicht eingestellt hatte.

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Nirgends war sie allein. Kam sie aus der Schule, so brachte sie Schule mit. Das wäre nichts Besonderes gewesen, hätte sich nicht der Eindruck verfestigt, sie komme gerade nicht zurück, sondern habe sich irgendwie dort verfangen. Wie entsteht so ein Eindruck? Ganz einfach – aus vielen kleinen Abweichungen von einer Norm, die heißt: nach Hause kommen. Jemand kommt nach Hause: er streift die Kleidung ab, die er dort draußen getragen hat, er nimmt ein Bad, er isst, er berichtet von dem, was ihm widerfahren ist – im angemessenen Rahmen, in angemessenen Worten, auch dafür gibt es Regeln, die jeder mit sich sich herumträgt –, er erkundigt sich nach dem, was in seiner Abwesenheit vorfiel, seine Vorstellungen gruppieren sich um, sie werden häuslich, er findet zurück … was passiert, wenn einer nicht zurückfindet? Bleibt er für immer fort? Was bedeutet fortsein? Fort von was, fort von wem? Nicht zurückzufinden bedeutet Unglück, es bedeutet, sich nicht mehr zurechtzufinden, es bedeutet, unter anderem, unbrauchbar zu werden, unbrauchbar für diejenigen, die darauf gewartet haben, dass einer zurückkehrt, die, aus irgendeinem Grund, seiner Gegenwart bedürftig sind und nun erkennen, dass ihrem Bedürfnis nicht abgeholfen wird – also vor allem die Kinder, die Bedürftigsten von allen, aber nicht sie allein. Fremd sein, fremd werden wiegt doppelt durch die täuschende Nähe, die von einem ausgeht, der wegging, um nicht zurückzukehren, obwohl er, äußerlich gesehen, da ist: da sitzt, steht, geht er doch, fass ihn an! Es wird dir nichts nützen. Zurückgekommen ist ein Doppelgänger, ein Trugbild, ein Falschmünzer vielleicht. Das Original bleibt verschwunden, eingekapselt ins Gedächtnis, wo es Prozesse durchläuft, die keiner steuern kann, schon gar nicht der, dem es widerfährt, dass ihm ein lieber Mensch abhanden kam, der vielleicht gar nicht lieb ist, aber vom anderen dazu gemacht wurde, aus Liebesbedürfnis, womöglich aus Leidenschaft. Womöglich! Standardformel der Resignation.

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Was, wenn jemand das Ritual durchläuft, die Schultasche in die Ecke stellt, sich der Straßenkleidung entledigt, ein Bad nimmt, ein wenig isst, ein wenig redet, aber die Norm verfehlt? Sie vielleicht verfehlen will? Sie vielleicht gar nicht in sich trägt? Sie vielleicht ablehnt? So jemand kommt vielleicht nicht nach Hause, weil das Zuhause keines ist oder das falsche. Das mag vorkommen, sicher kommt es vor, vielleicht auch in ihrem Fall, wer soll das entscheiden? Er denkt aber – er denkt es wirklich, das Empfinden ist daran wenig beteiligt, eher eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen, die sich, wie in einem Kaleidoskop, einmal so, einmal so zusammenfügen –, dass dieser Fall, ein wirklicher ›Fall‹, anders liegt, vielleicht, weil vor dem Ankommen schon der Aufbruch misslang … Misslingen ist, jedenfalls in diesen Belangen, ein missliches Wort, es verfehlt die Sache, weil auch ein misslungener Aufbruch ein Aufbruch ist, jedenfalls ein Versuch. Was aber, wenn gar kein Versuch stattfand? Kinder, Schule ist aus, geht nach Hause – wer das sagt, bleibt zurück; sie hat vielleicht noch etwas vorzubereiten, ein Kollegengespräch wartet, es bleibt immer zu tun. Am Ende sind alle gegangen und sie geht auch, aber nicht im Bewusstsein zu gehen, sondern…? Nicht dass sie an einem Problem hängenblieb, das sie weiter beschäftigte – so etwas hätte er herausgefunden –, eher umgekehrt, dass ihr Bewusstsein, einem Staubsauger gleich, den ihr zugefallenen Aufgabenbereich immer und immer wieder bestrich, um noch das letzte Problemfädchen einzusaugen, aus Sorge, aus wirklicher Sorge, die keiner möglichen Verfehlung galt, auch nicht dem einen oder anderen Schüler – auch das hätte er bemerkt –, sondern, es fiel ihm kein anderes Wort dafür ein, der Institution: der nackten, kahlen, abstrakten, sinnlich überaus präsenten, vom Rektorat bis herunter zum letzten Lineal und den auf dem Klassenboden verstreuten Kreidekrümeln alles umfassenden Institution Schule. Ihr gehört diese Schule nicht, diese nicht und keine andere, sie war, ist und wird keine Unternehmerin sein, in ihrem Inneren brodelt nicht die Leidenschaft des Besitzes, eher – Tronka schluckt – gehört sie zu ihr, sie gehört ihr an, sie ist ihr ›hörig‹, das Wort in seinen vielfältigen Nuancen genommen, sie kann und will sich ihr nicht entziehen, es sei denn in jenem klar umgrenzten Zeitareal, ›Urlaub‹ genannt, in dem sie ihre Freiheit beansprucht und für sich sein, also leben will, auch das im Pulk der Lehrerinnen, der sich in kleine wechselnde Grüppchen zersplittert und sich nachher untereinander abfragt, wie es gewesen ist, damit man die nächsten Kombinationen planen kann.

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Angenommen, sie war also doch verheiratet – nicht mit dem ›Partner‹, nicht mit ihm, Tronka, das wäre verboten gewesen –, wohl aber mit der Schule, mit – der Sache auf den Grund gegangen – dem Staat, der sie bezahlte, ihr ein Auskommen, einen Stand, eine Lebensform, ein Heim bot, eines, in dem es immer warm war, in dem immer Betrieb herrschte, in dem jeden Tag eine andere Erziehungsaufgabe sich stellte, die keinen Abgrund zwischen Ausbildung und Tätigkeit aufriss, sondern professionell angegangen sein wollte –, angenommen, das war so, dann erhob sich die Frage: Wohin ging sie, wenn sie den Weg nach Hause antrat? Was war, mit ihren Augen gesehen, dieses Rest-Zuhause? Eine Schlafstelle? Ganz ohne Zweifel. Eine Ruhezone, in der Entspannung angesagt war? Reell war das Bedürfnis nach Ruhe, wie der nachmittägliche Rückzug ins Schlafzimmer auswies (wenngleich die offene Tür, wenngleich das ganze installierte Kontrollsystem bewies, dass hier zwei Impulse im Widerstreit lagen, Rückzug und Aufsicht, als leite sie zur linken Hand ein Heim für schwer erziehbare Personen, die selbst im Schlummer einer gewissen Aufmerksamkeit bedurften). Eine Kampfzone? Auch das. Hier gingen die Geister einer Vergangenheit um, in der die Hausfrau ihren sogenannten Pflichten oblag. Ein Mann, ein Kind, am Ende zwei – mehr Anwesenheit war nicht vonnöten, um den Doppelimpuls auszulösen: Ich muss mich um den Haushalt kümmern und Ich bin keine Hausfrau. Wie lebt man mit diesem Doppelimpuls? Gar nicht. Man geht ihm aus dem Weg. Schulluft macht frei. Hörigkeit macht frei. Aber irgendwann ist man zu Hause und muss sich ihm stellen. Wie schafft man es, anwesend abwesend zu sein? Ganz einfach: man kapselt sich ab. Man schafft sich einen zweiten Raum im ersten, einen, den man nur selbst betritt. Ah, du bist da: schön. Schön für dich. Nein, ich habe jetzt keine Zeit. Wir können später darüber reden. Der Raum besitzt einen Ausgabeschalter: Ich muss jetzt weg. Kannst auf die Kinder aufpassen und den Flur fegen? Die Schuhe müssten geputzt werden und denk dran, dass die Hausaufgaben gemacht sind, wenn ich wiederkomme. Wann ich wiederkomme? Das weiß ich noch nicht. Essen steht auf dem Herd. Wenn es ihnen nicht schmeckt, gib ihnen was anderes. Der Schalter geht zu, geht auf, geht zu: eine Kuckucksuhr, denkt Tronka, sie hat uns eine Kuckucksuhr ins Nest montiert und der Kuckuck ist sie. Warum zum Kuckuck ist sie der Kuckuck? Warum nicht irgendeiner von uns? Jeder hat hier seinen Tagesplan. Die Kleine weiß, dass sie mich in Bedrängnis bringt, wenn sie ihre Hausaufgaben vertrödelt, also trödelt sie, was das Zeug hält. Oder das Essen: es schmeckt ihnen nicht, also koche ich. Das gefällt ihnen, aber … es schmeckt nicht. Warum? Weil es nicht gilt. Das hier ist ihr Haushalt und sie führt ihn mit eiserner Hand – wie? Indem sie sich weigert, ihn zu führen. Die Kinder antworten darauf mit Erzwingungsverhalten: nur was von ihr kommt, gilt. Das gefällt ihr. Es gefällt ihr ausnehmend gut.

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Und du? Wie reagierst du? Was willst du erzwingen? Eigentlich nichts. Eigentlich willst auch du: berührungsfrei leben. Was ist das für ein Impuls? Die Berufsfrau, sie ist für dich: kostbar. Was Pida niemals war, was sie niemals erreichte (wann immer sie es versuchte, endete es in Zuständen), das gab es hier fix und fertig, zum Mitnehmen, samt Verpackung, nur das Preisschild fehlte. Schon klar, der Preis würde hoch sein, unklar nur, worin er bestehen würde. Ganz sicher: er konnte nur niedriger sein als der, den du entrichten würdest, sobald du dich weiter zum Anhängsel jener Zustände machtest. Was du suchtest, war: Entlastung. Seltsam nur, dass sie nicht eintrat. Seltsam, dass du vor ihr davonliefst. Seltsam, dass du auf sie zurückkamst, als klar wurde, dass du nicht allein kommen würdest. Soviel falsche Klarheit: nein, nicht der Wunsch nach Entlastung, Verantwortung war es, die dich trieb. Trieb sie dich denn? Wenn nicht sie, was trieb dich dann? Ein Getriebener warst du, im Handumdrehen dazu geworden, warum? Diese verstörende Kindesfrage, die nur ein Verlangen ausdrücken konnte – Willst du meine Mama sein? –, überliefert von der Adressatin, die zögert, die ausweicht, die es dir überlässt, dir deinen Teil zu denken, sie hatte dir wenig Wahl gelassen, im Grunde keine, sie hatte den Ermessensraum dicht gemacht. War das die Berufsfrau gewesen, die damals gesprochen hatte? War es die Berufsfrau gewesen, die das Sprechen verweigert hatte? Falls nicht, wie hatte die Berufsfrau sich zu alledem verhalten? Hatte sie sich in die Kulisse zurückgezogen, bis … bis das Drama seinen Ausgang gefunden hatte? Doch es gab keinen Ausgang in diesem Drama, dafür sorgte schon Pida, keinen richtigen jedenfalls, eine Menge falscher Schlüsse stattdessen, die allesamt ins Offene wiesen, allein die Offenheit stellte sich niemals her.

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Stattdessen ging es weiter, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr. Wo steckte die Berufsfrau in alledem? Undeutlich war sie geworden und kehrte, als die Zeit reif war, frisch aus der Maske als Zwangsneurotikerin zurück. Jedenfalls schien es ihm so. Aber vielleicht war sie nicht weggewesen? Vielleicht war sie die ganze Zeit da und er hatte sie nicht erkannt? Vielleicht war der Übergang ihr Werk? War sie es gewesen, die Pida immer und immer wieder ins Spiel zurückgebracht hatte? Hatte sie die Einmischung verweigert, die dem Wahnsinn ein Ende gesetzt hätte? Warum? Weil sie ihn brauchte? Wozu? Um ihn zu erziehen? Nochmals: wozu? Zu einem Hanswurst? Nein, einen Hanswurst konnte sie nicht brauchen … dazu konnte nur er selbst sich erziehen. Wen konnte sie brauchen? Eine Plappermaschine … was mochte das sein … in seinem Fall? Was konnte er, mit ihren Augen gesehen? Reden, ganz sicher, reden, was sonst? Was aber, wenn seine Reden ihren Ohren anstößig klangen, seit sie begriffen hatte, dass ihre Freundinnen darin eine … gewisse Anstelligkeit vermissten? Dass sie Untertöne heraushörten, die ihnen nicht passten? War das so, Tronka? Sei vorsichtig, Eitelkeit ist die Mutter aller Verirrungen. War nicht das Gegenteil ebenso richtig? Hatte er ihren Beruf zu wichtig genommen? Hatte er sie der Gelegenheit beraubt, seine Wichtigkeit gegen ihn zu verteidigen? Hatte er sie der Gelegenheit beraubt, sich gegen den Mann zu verteidigen? Hatte er Widerstand verweigert, wo Widerstand gefragt war? Lag der Fehler darin, dass er sich auf ihrer Seite wähnte? Lag darin der wirkliche Angriff auf ihr Selbstwertgefühl? Woraus, sollte das stimmen, bestand dieses Selbstwertgefühl? Aus dem Gefühl, sich verteidigen zu müssen? Gegen wen? Gegen den Mann? Aus welchem Grund? Führte sie einen Auftrag aus? Wessen Auftrag? Den der Freundinnen, die an ähnlichen Fronten kämpften? Der Schule? Trug sie ihre Unterrichtsstunden nach Hause? Möglich, wahrscheinlich sogar, aber dahinter lagerte, langsam dämmerte ihm ein Umriss, der Staat. Wenn sie den Mann abwehren musste, dann deshalb, weil der Staat von ihr Treue verlangte. Sie hatte ihr Jawort gegeben, sein war die Macht und die Herrlichkeit, da durfte ein Mann, der sich auf ihre Seite schlug, nur eine sentimentale Episode sein, sonst nichts. War er, Tronka, der Lover gewesen, den sie verabschiedet hatte? Hatte er die Pointe bloß deshalb nicht mitbekommen, weil sie ihm längst vertraut war? Versammelten sich an jenem Abend drei Düpierte an einem Tisch, um dem verhuschten Eingeständnis zu lauschen, dass sie seit langem vergeben war und ihr jahrelanges Werben, nicht unähnlich dem der Freier Penelopes, von Anfang an vergeblich gewesen war? Dann wäre die Frage, die sie ihm im Hinausgehen stellte, die Frage aller Fragen gewesen: »Wie geht es jetzt weiter?« Er hatte es nicht begriffen. Er hatte es nicht begreifen können, weil … er immer auf ihrer Seite gestanden hatte und wusste, es hat keinen Zweck. Dieses Wissen, längst vorhanden, hatte sich bei ihren Worten aufgerichtet und jede andere Überlegung aus seinem Kopf gefegt. Darin also hätte die genauere Pointe gelegen: sie konnten einander nicht verstehen, weil sie beide in diesem Augenblick dasselbe dachten – aus unterschiedlichen Gründen, mit unterschiedlichen Aussichten, nichtsdestoweniger dasselbe.

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War das ›Literatur‹? Aber was war Literatur? Die Sorge um das weibliche – angesichts des Anteils an der Literatur, den die Homosexuellen beanspruchen durften, vielleicht eher: das andere – Geschlecht, das jedoch nicht ›das andere‹ sein darf, um keinen Preis, stattdessen das wirkliche, vielleicht das absolute Geschlecht, wer mochte das wissen? Eine Form der Sorge, in der Nach- und Vorsorge sich ununterscheidbar verschränkten, jedenfalls etwas, dessen Höllensturz er seit Jahren mit Neugier verfolgte, nachdem die Jetzt-rede-ich-Bücher der neuen Autorinnen sang- und klanglos aus den Regalen der Buchhändler verschwunden waren und stattdessen schlichte Kriminalromane das Sortiment füllten. Das Geschlecht der Leserinnen hatte die männliche Sorge satt. Es freute sich diebisch, sobald ein Mordverdacht auf eine der ihren fiel, ohne sich forensisch erhärten zu lassen – ein weicher Verdacht, damit ließ sich leben, damit ließ sich gut leben, ein Gläschen Rotwein belebte die Lektüre und hinterließ Flecken, an deren Anlass ›frau‹ sich gern erinnern ließ. Das Buch, das eines Tages griffbereit neben ihrem Sessel auftauchte, um alsbald ins Schlafzimmer abzuwandern – ein Büchlein eher, gemessen an seinen Maßstäben, aber was bedeutete das schon in diesem Genre –, trug den Titel Die Giftmischerin (oder so ähnlich, er wusste noch, wie ihn das erheiterte, vor allem, als er in der Buchhandlung die vor der Kasse aufgetürmten Stapel entdeckte, neben denen jede andere Lektüre zur Bedeutungslosigkeit schrumpfte) – das erste Buch, zu dem sie nicht sein Urteil einholte, offenbar war es zur Lektüre ausgegeben worden und stellte ein Lesepensum dar, das bewältigt werden musste, wollte sie im Kreis der Freundinnen nicht den Anschluss verlieren. Deren frenetische Freude über das Büchlein ließ ihn zart an die überbordenden Feiern denken, die Alfons XI, König von Kastilien und León, nach der Schlacht am Salado ausgerichtet haben mochte, um den Erfolg der Reconquista nach Christenart zu begehen. Allgemein war, bis das Büchlein erschien, die Gestalt der Giftmischerin als Männerphantasie gehandelt worden, als finsteres Beispiel jener überaus verletzenden und historisch folgenreichen Misogynie, der sich auch die Praxis der Hexenverfolgung verdankte. Jetzt zeigte es sich, dass weibliche Selbstvergewisserung neben der umkodierten Hexe auch diese Figur im Triumph einzuholen verstand. Tronka erinnerte sich gut daran, dass sie einen Moment lang an der Schwelle stockte, um sie dann energisch zu überschreiten – auch eine der unbegriffenen Stationen ihrer Beziehung, die der Entschlüsselung harrten. Die Roman-Giftmischerin jedenfalls war eine Frau, die davonkam, das berührte ihn seltsam, unangenehm sogar, um genau zu sein, obwohl es einem gesellschaftlichen Klima entsprach, in dem Opfersein und Opferstatus sich voneinander gelöst hatten und wie schmutzige Flecken auf dem Fluss der Zeit langsam in unterschiedliche Richtungen davontrieben. Der Opferstatus der Frau, die ihre Männerprobleme mit dem Samen der Brechnuss löste (nein, es handelte sich um einen komplizierten Cocktail, dessen Zusammensetzung nur ansatzweise verraten wurde), er wirkte wie ein Säurebad, in dem die Opfer sich auflösten und spurlos verschwanden, ›als habe es sie nie gegeben‹, ähnlich gewissen Mitmenschen, die in den Städten lateinamerikanischer Staaten ›an einem ganz normalen Wochentag‹ ihrer Familie oder ihren Freunden abhanden kamen. Von ihnen hieß es, sie seien Kämpfer gewesen, man fand ihre Körper, verstümmelt und anonymisiert, in Abfallgruben und auf Müllkippen am Rande der Slums. Davon konnte im Roman nicht die Rede sein.

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Da war etwas, das sie anmachte und das er nicht verstand: ihre Sicherheit, die ihn anfangs so beruhigt und mit einem etwas gockelhaften Stolz erfüllt hatte, wuchs, wie es schien, im Quadrat der Entfernung – zunächst im physikalischen Sinn, ablesbar an den Telefonaten, die sie führten, wenn einer von ihnen unterwegs war, aber natürlich auch im Bereich des Fühlens und Ahnens, dessen Vagheiten sich leicht mit dem Begriff der Entfremdung deckeln ließen, am brutalsten schließlich – wie sollte es anders sein – zwischen den Körpern, bezeugt durch die unausweichlichen Rituale des Nebeneinanderherlebens, jenes Gewimmel fast absichtsloser Kleinstberührungen, vom Blickkontakt bis zum Ausweichen vor der Zimmertür, die der Alltag in die Beziehung einschwemmte. Hier zeigte sich hart und kurz, was aus ihnen geworden war. Obgleich ihre Zimmerpfade sich zwangsläufig kaum verändert hatten, hielt jeder spontan auf Abstand und kalkulierte Distanzen im voraus, um keine ›Peinlichkeit‹ eintreten zu lassen, so wie dies flüchtig miteinander bekannte Personen, die sich in einem Café auf dem Weg zur Toilette begegnen, zu tun pflegen. Wagte er mit einer Geste, einem Lächeln, einem Wort diese gepanzerte Balance aufzuheben, ergriff Unsicherheit von ihr Besitz: ihr Gesicht verrutschte, als schnelle sie auf einer Wippe in die Höhe, die ganze Person machte den Eindruck, als hätte sie sich am liebsten am Türrahmen oder an der Stuhllehne festgehalten. Die ganze Person … erstaunlich eigentlich, dass sie in diesem Eindruck Platz fand, als sei sie in ihn hineingeschlüpft, um die unangenehme Situation in einem leidlich passablen Zustand zu überleben, vergleichbar einer Passantin, die unvermittelt in einen Gussregen gerät und sich in einen zufällig verfügbaren Hauseingang drückt. »Eine Epiphanie«, ging es ihm durch den Sinn, etwas Kostbares demnach, etwas, in dem sich dem Aufmerksamen vielleicht der Sinn von ›Geschlecht‹ offenbart, seine vielberedete Verletzlichkeit, die der Unredlichkeit so nahe verwandt ist, dass sie Gefahr läuft, mit ihr verwechselt zu werden. Aber man nötigt niemanden zu erscheinen, schon gar nicht die Frau, mit der man zusammenlebt.

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Mann reißt Frau auf – vertrauter ’68er-Jargon! –, schält sie wie eine Orange, genießt das Fruchtfleisch und wirft den unbekömmlichen Rest hinter sich: legte er die kurrente Auslegung des Geschlechterverhältnisses zu Grunde, dann hätte er sich längst davonmachen müssen, ›vom Acker‹, wie der häufig angewandte, zweifellos rüde Ausdruck lautete, so wie es vermutlich jener Lover getan hatte, falls er nicht selbst damit gemeint war. Legte er die Maßstäbe ihrer Umgebung an, so wäre es in diesem Fall wohl seine Pflicht gewesen, die Konsequenzen zu ziehen und sich ihrer auf männliche Art zu entledigen, nachdem sie ihn auf weibliche Art dazu aufgefordert hatte, aus ihrem Leben zu verschwinden. Begriffsstutzig hatte er seinen Abgang verpasst und begriffsstutzig verpasste er ihn noch immer, obgleich sich seine Begriffe inzwischen geschärft hatten und er besser zwischen den Zeilen des Beziehungsvertrages zu lesen verstand. Was er dort las, erfüllte ihn, das Wort stand unberufen in ihm auf, mit Trauer – keiner heftigen, die sich in der Klage über einen so schmählich zu Ende gehenden Lebensbund hätte entladen können, eher mit stummem Entsetzen über die verlorene Lebenszeit, in die das Wörtchen ›unwiderruflich‹ eingeritzt war wie das Dante-Wort über dem Höllentor. So abgehen hieß, umsonst gelebt, hieß, sein Leben verschleudert zu haben, als besäße er mehr davon und es käme auf dieses eine nicht an. Aber wenn er so empfand – was ohne Zweifel der Fall war –, dann war diese Beziehung, jedenfalls von seiner Seite, über all die Jahre eine Zweckbeziehung gewesen. Stieg er wie ein desillusionierter Investor jetzt plötzlich aus, dann gestand er damit ein, dass sie den ihr zugedachten Zweck nicht erfüllt hatte. Zog er es vor – die Investoren-Geschichte einmal weitergesponnen – nicht auszusteigen, dann allerdings lief er Gefahr, über den ursprünglichen Ansatz hinaus geplündert, also Zwecken dienstbar gemacht zu werden, die mit den eigenen nicht länger konform gingen. Durfte er das zulassen? Natürlich nicht, es sei denn, die gescheiterte Beziehung diente noch einem weiteren Zweck, der durch das Scheitern nicht tangiert, jedenfalls nicht völlig ausgelöscht, vielleicht sogar – jedenfalls verlangte das die Logik des Arguments – insgeheim begünstigt wurde.

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Diese Investorengeschichte … sie ging ihm deswegen nahe, weil sie ein Befremden unterlief, mit dem er sich lange getragen hatte. Offenbar sah sie Gefühle als Investitionen an, die klug überlegt sein wollten und rechtzeitig revidiert werden mussten, sobald sich absehen ließ, dass dabei mit Gewinn nicht zu rechnen sei. Ihm widerstrebte das. Gefühle waren Gefühle, sie entwickelten sich, verkümmerten, wenn sie keine Nahrung erhielten oder verkehrten sich, wenn sie die entsprechenden Reaktionen auslösten, ins Gegenteil. Zur gegebenen Zeit musste man sie, um nicht vor die Hunde zu gehen, einer rationalen Kur unterziehen – was schwer genug fiel, da sie sich jede Einmischung von außen verbaten und als eine Art Welt-Wünschelrute den Ausschlag gaben, wenn es darum ging, sich an einem Ort oder in einem Kreis niederzulassen und Wurzeln zu schlagen – was sollte das schon heißen, wenn nicht: Menschen und Orte in einen Gefühlskokon einzuspinnen, sie auf diese Weise ›anzunehmen‹, das heißt, sich für sie und ihre Belange zu öffnen und peu à peu sich von ihnen einnehmen zu lassen? Zusammenleben hieß, für den Freundeskreis des anderen offen zu sein, ihm ›mit einem freundlichen Herzen‹ entgegenzukommen; Tronka wusste zwar, vornehmlich aus der Literatur, dass es auf diesem Gebiet verdammt kalte Hunde gab, aber er war zu selten einem begegnet – und wenn, dann nur auf sichere Entfernung–, um daraus Schlüsse zu ziehen, die sein Empfinden beeinträchtigt und ihn genötigt hätten, das eigene Verhalten zu überprüfen. Eine Zeitlang war er verwundert gewesen, seine Freundschaften, soweit sie die Trennung von Pida unbeschadet überstanden hatten, von ihr wie mit dem Skalpell behandelt zu sehen. Er hatte sich daran gewöhnt und es ein Stück weit vergessen, so wie man vergisst, was ohnehin nicht zu ändern ist und dadurch an Wichtigkeit verliert, vor allem deshalb, weil die Ernüchterung, ihren eigenen Zirkel betreffend, auf dem Fuß folgte. Abgesehen von den Sportlerinnen, von denen er annahm, sie hätten ihn nach den ersten Treffen kollektiv wieder ausgeladen – ein Irrtum, wie er später erfuhr, als es nichts mehr bedeutete –, beschränkte sich letzterer mehr und mehr auf die Rohrdommel und ihr Gefolge, einen Damenclub, in dessen Mitte, sonderbar hofiert, das Feistgesicht thronte, ein ›Barbar in einem Garten‹, wie der Titel eines beliebten Toscana-Büchleins lautete, das sein flüchtiges Interesse erweckt hatte.

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Es hat keinen Zweck, sich als solus ipse, als ›einsamen Wolf‹ oder einfach als Einzelnen zu betrachten und sich zu verhehlen, dass er nicht allein unterwegs ist, sondern zu zweit, dass bei seinen Entscheidungen der Sohn ein gewichtiges Wort mitspricht, auch wenn der Austausch zwischen ihnen in der letzten Zeit mühsam geworden ist und sich dem Schweigepunkt nähert – es hat keinen Zweck, obwohl er sich immer als Einzelnen konzipiert hat, in bewusstem Gegensatz zum ›isolierten bürgerlichen Subjekt‹, an dessen Erlösung im Kollektiv seine linken Freunde sich abarbeiten, als sei in ihm die unerlöste Seele Adams zu neuen gesellschaftlichen Ehren gekommen. Wenn er sie beide, als lebendige Einheit mit vier Armen und Beinen, zusammennimmt, dann muss er zugeben, sie haben am Glücksrad gedreht, im unbedingten Vertrauen auf die Wahl, die sich in jenem kindlichen Satz bekundete, so dass nichts anderes möglich schien, als ihm Folge zu leisten und die kindlicherseits Erwählte nun seinerseits ohne Wenn und Aber ins eigene Leben hineinzunehmen. Die Gemengelage aus Anziehung und Widerstand, wie sie bis dahin galt, sie schmolz dahin, verschwand, ohne zu verschwinden, trat zurück hinter einem gebieterisch auftrumpfenden Bedürfnis, das sich von seinem eigenen nirgendwo trennen ließ: wie anders hätte sich der alsbald ausbrechende Kampf ums Kind motivieren lassen, von einer Rechtfertigung ganz zu schweigen – auch wenn diese damals von unerwarteter Seite kam und rasch die Gestalt der Nötigung annahm. Und es waren Frauen, die kategorisch von ihm verlangten: Sei Vater! – zweifellos anders gestrickte Frauen, möglicherweise nicht so bewandert in den Winkelzügen ihres neuen gesellschaftlichen Rollen entgegenfiebernden Geschlechts, möglicherweise allzu bewandert und irgendwann aus dem Programm ausgestiegen angesichts der Verwüstungen, die der kindlichen Psyche damit zugefügt wurden, jedenfalls aufmerksame Beobachterinnen, die keinen Hehl daraus machten, dass er seine Entscheidung vor ihnen würde rechtfertigen müssen, wie immer er sich verhielt. Also war er auch von dieser Seite her unter Zugzwang geraten. Allerdings hat er ihn damals nicht stark empfunden, es überwog die Verblüffung, sich unversehens von Frauen flankiert zu finden, vor deren Blick die komplizierten Spiele der Emanzipation auf einen Milieuschaden zusammenschrumpften. Nicht dass sie sonderlich unemanzipiert auf ihn gewirkt hätten. Sie waren Frauen, auf eine schwer zu beschreibende Weise zugleich runder und entschiedener, ohne den frenetischen Zug, der die Alltagsdinge oft bis zur Unlösbarkeit komplizierte. Sein Körpergedächtnis ließ sie größer erscheinen, als sie vermutlich gewesen waren. Sie bewegten sich in einem anderen Rahmen, sie wirkten, als hätten sie in dem, was sie taten, frei.

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Hatte er frei? Natürlich hatte er frei. Es stand ihm frei zu kommen und zu gehen, wann immer es ihm passte. Tatsächlich kam und ging er, wie der berufliche Alltag es nötig werden ließ, genötigt-ungenötigt, denn dieser Alltag ließ ihm Spielräume, über die andere nicht verfügten, auch sie nicht, wenn sie morgens dem Klang der Schulglocke folgte. In gewisser Weise ersetzte das kleine Kommen und Gehen das große, es schob sich an seine Stelle, es überwucherte das Verlangen zu gehen, es trieb seltsame, im Aufgehen verwelkende Blüten, Freiheitsgefühle zwischen zwei Gremiensitzungen, das jungenhafte und zugleich müde Bewusstsein entronnen zu sein, sobald er im Erste-Klasse-Abteil der Bahn einer Tagung entgegen reiste, die ihn bereits im voraus zu Tode langweilte, die Empfindung des Komforts, sobald das Beziehungsleben für ein paar Stunden oder Tage ausgeknipst blieb: das war schon etwas, auch wenn unklar blieb, was es denn eigentlich sein mochte. Menschlich unklar – so schätzte er die Lage und so schätzte er die Mittel ein, die er instinktiv anwandte, um sie zu meistern, als ein mit Annehmlichkeiten beranktes Sich-Treiben-Lassen, das er nicht ganz so hoch ansetzte wie seine Kollegen, welche darin, soweit er sich ein Urteil darüber erlauben konnte, zur Gänze aufzugehen versuchten – auch das ein frenetischer Zug, denn letztlich würde ihnen damit gelingen, woran sie, seiner Auffassung nach, nur scheitern konnten: die große Trennung restlos in das System der kleinen Trennungen zu überführen… Es sei denn, einer führte ein ausgesprochenes Doppelleben. Recht betrachtet, traute er es ihnen nicht zu. Friedenwanger zum Beispiel, dieser so selbstsicher in seinen Rundungen aufgehobene Mensch, besaß ein ernsthaftes Tinnitus-Problem, dem er mit gelegentlichen Klinik-Aufenthalten entgegenzuwirken versuchte, bei Dürrobst hatte sich, den ›Vorschein der Freiheit‹ im Blick, eines schönen Tages am linken Auge – erraten! – die Netzhaut vom Untergrund gelöst, der quecksilbrige Historiker Hölzchen, so vernahm man, litt an – oder musste man sagen: unter? – Neurodermitis, einer schleichend-tückischen Krankheit, die ihm, Tronka, ›nur‹ von den Kindern her geläufig war, ehe er sich zwischen zwei Migräne-Perioden näher mit den Wundstellen auf seinen Handrücken zu befassen begann, die er lange seiner nervösen Kratzsucht zugute gehalten hatte. Sie alle, Theoretiker der Freiheit, überzeugt davon, das Lebensproblem auf die eine oder andere Weise gelöst zu haben, stolze Träger des Ordens Pour l’Infini, heterosexuell orientiert bis auf die Knochen, besaßen ihr kleines ›Objekt‹ mit Garten in der Nachbarschaft von Zahnärzten, Kinderpsychologen und Ausstellungsmacherinnen, dem sie gesenkten Hauptes zustrebten, als gehe irgendeine Schwellenangst in ihnen um, während sie doch nur, nach dem Austausch flüchtiger, in die Andeutung einer Umarmung verwickelter Alltagsinformationen, einen Schreibtisch mit dem anderen tauschten.

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Hatte er frei? Natürlich nicht, dafür sorgte allein der Sohn – nein, so ließ sich das nicht sagen, Alba war Gegenstand einer Sorge, die niemals wegging, einer aggressiven Sorge, die das Gerüst seines hoch aufgezogenen Vertrauens umspülte, um es irgendwann zum Einsturz zu bringen. Noch stand das Gerüst. Vertrauen und Sorge, miteinander verklammert, hielten es verlässlicher aufrecht als jedes unbegrenzte Vertrauen, das, einmal enttäuscht, rasch ins Gegenteil umschlagen konnte. Das Vertrauen des Vaters, der er nun einmal war, in den Jungen ging weit in die Zukunft, es stattete dessen unklares Bild mit Zügen aus, die ihm eine gewisse Unverwüstlichkeit attestierten, gleichgültig, welche Unbill ihn im Leben erwartete – darin lag, Tronka sehr bewusst, eine extreme Umkehr dessen, was er im eigenen Elternhause erfahren hatte, zu extrem vielleicht, um nicht mit der als Kindheitsfluch empfundenen Sorge getränkt zu sein, so dass von dem, was er als Vertrauen empfand, näher betrachtet wenig mehr übrigblieb als die verzweifelte Übertragung von Stärke: einer Stärke, die sich in Verlässlichkeit äußerte, wie er selbst sie aufzubringen sich mühte (ein Wort, das am Kern vorbeiging, denn wann immer etwas sie strapazierte, empfand er ihre unverwüstliche Anwesenheit, als liege hier der am schwersten zu beseitigende Teil seines Wesens). Ließ Stärke sich übertragen? Bis in die Poren hinein war er davon überzeugt. Umso schwerer hatte er in Situationen zu schlucken, die ihn zu dem Geständnis drängten, dass die starke Verbindung, Voraussetzung aller Übertragung, zwischen ihm und seinem Sohn mehr und mehr einer Fata Morgana ähnelte, so als habe sich die Grundlage der Existenz, die er führte, in ein Ziel verwandelt, dem er geduldig zustrebte, in eine Nähe, die sich entfernte.

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Hatte sie frei? Es fiel schwer, sich diese Frage zu stellen, erst recht, mit der Geduld auf sie einzugehen, die hier erforderlich wurde. Frei haben, sich freimachen, frei sein, Freiheit genießen, sich frei fühlen, in Freiheit leben, das Gefühl der Freiheit genießen, sich frei nehmen, so frei sein –: das alles lief, mit den Augen betrachtet, die so nüchtern in ihrem Gesicht saßen, gleich links und rechts neben der Augenwurzel, unter Brauen, deren ausgezirkelte Erotik einen Zug zur Rechthaberei andeutete, auf die Bereitstellung von Freizeit hinaus, einem Genussmittel, das in seinem eigenen Leben keinen Platz besaß und deshalb von ihm mit Misstrauen beäugt wurde … mit Misstrauen, ganz recht. Freiheit ist Freizeit. Ein Schmerz rührte sich in seiner Seele, er wusste um das denunziatorische Potenzial, das in diesem Satz steckte, aber nein, er war nicht bereit, ihn zurückzunehmen. Freizeit ist Freiheit. Auch so herum ließ sich ihr bei vielen Gelegenheiten über die Lippen tretendes, nicht gerade überschäumendes Lebensgefühl deuten. Die fraglose Selbstverständlichkeit einer fremdgeschuldeten Existenz lag darin, mit sämtlichen Unterabteilungen des Verlangens, das sie in die Ferne trieb, sobald der große Freiheitsspender Schule seine Pforten geschlossen hatte. Die Schule zog ihre Lebenszeit ein und teilte ihr, in abgemessenen Abständen, Stücke davon zu freiem Gebrauch zu – das ›ging in Ordnung‹, denn es bildete die Grundlage eines Versorgungssystems, das ihr Unabhängigkeit bis in den Tod garantierte, es ging so lange in Ordnung, wie sie sich die Freiheit des Gebrauchs erhielt und in den Ferien nicht in Verhaltensmuster zurückfiel, die durch das System aufgehoben und, genau genommen, ihres Kredits entledigt wurden. Nichts empörte sie und ihre Freundinnen mehr als der vielfach erhärtete Verdacht, dass der eine oder andere ihrer männlichen Kollegen nach gehaltenem Unterricht zu seiner Familie zurückkehrte, zu ›Weib und Kind‹, wie sie süffisant formulierten, ›einfach nach Hause ging‹: ein Ausdruck, in den sie ihre ganze Verachtung legten, gleichgültig gegen das Befremden, das in solchen Momenten in ihm oder einem anderen ›Partner‹ aufstieg – so selbstverständlich war in die ihnen eigenen Reiz-Reaktions-Apparate eingeschrieben, dass von der Schule kein einfacher Weg nach Hause führte, dass ›das‹, was sich ihr männlicher Kollege da leistete, zu einfach war, dass es vor allem ein Stück ungebremsten Patriarchalismus zur Schau stellte, dem sie nun einmal den Kampf angesagt hatten und dessen argwöhnisch unterstellten Erscheinungsweisen sie entschieden Widerstand leisteten, jedenfalls in den eigenen vier Wänden. Die Person des Rektors blieb bei alledem sakrosankt – und inwieweit sie den aufs Korn genommenen Kollegen am Arbeitsplatz verlästerten, womöglich schikanierten, entzog sich naturgemäß seiner, Tronkas, Kenntnis. So hielt der Widerstand doch noch in ihre Freiheitsvorstellung Einzug. Er erfüllte den Begriff ›Freizeit‹ mit sanftem, aber unbezwingbarem Kampfeswillen und demselben Bedürfnis, alles richtig zu machen, ›perfekt‹ zu sein, das ihre berufliche Anstelligkeit beflügelte.

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Tronka schwitzte. Die Freizeit musste, um Gestalt anzunehmen, eine Reihe von Operationen durchlaufen, um als wirkliche, das heißt freiheitstaugliche Freizeit Anerkennung zu finden. Die erste – und wichtigste – dieser Operationen bestand darin, die Familie beiseitezuschieben. Warum das? Tronka verstand, dass hier, an dieser Stelle der Produktionskette Frau, die unmittelbarste Gefahr für sie lauerte, überrumpelt zu werden, er verstand es nicht aus sich heraus, sondern durch einen Akt der Einfühlung, von dem er nur eines wusste – er war ihm zur zweiten Natur geworden, zur Beziehungsnatur, die darauf bestand, die andere Seite mitzudenken, ohne Rücksicht darauf, was diese Seite momentan dachte oder empfand, jedenfalls im gegebenen Fall: füllte sich jetzt dieses Loch, das sich mit dem Schulschluss auftat, wie selbsttätig mit dem scheinbaren Naturprodukt ›Familie‹ – dem dicht mit falschen Emotionen umwobenen Resultat jahrtausendealter, männlich gesteuerter Unterdrückung weiblicher Lust –, so wie sich ein von Kinderhand gebuddeltes Loch am Meeresstrand von selbst mit Salzwasser füllte, dann war die ganze beruflich investierte Arbeit vergebens gewesen, für die Katz, genauso gut hätte sie gleich zu Hause bleiben können, der ganze Aufwand hätte sie nicht weiter gebracht als bis an die Haustür, aus der sie schreiend herausgelaufen wäre, hätte irgendjemand irgendwann sie an der Verwirklichung ihres … Traums vom anderen Leben hindern wollen. Das andere Leben … wo spielte es sich denn jetzt ab? Im Unterricht? Auf dem Pausenhof? Dann doch eher in Schülerfreizeiten und auf Klassenfahrt, bei der zwingend zwei Betreuer vorgeschrieben waren, Lehrerin und Lehrer, um die sexuelle Provokation, die von der räumlich erzwungenen Nähe der als ›unreif‹ deklarierten Geschlechter ausging, genderspezifisch einzudämmen. »Wie war er?« Die Frage vagabundierte nach solchen Ausfahrten durchs weibliche Kollegium, die Antwort hielt sich meist lange bei den organisatorischen Qualitäten des zugeteilten Begleiters auf, wechselte dann zu den ›mehr menschlichen‹ hinüber, um rasch auf Faktoren wie allgemeine Verlässlichkeit, die ›Bereitschaft sich einzubringen‹ und dergleichen mehr einzuschwenken. Manchmal fiel sie auch karg aus. Dann war etwas vorgefallen, das der Aufarbeitung im kleinen Kreis harrte. Sie beflügelte das Verlangen, bei kommenden Exkursionen die mitreisende Bezugsperson zu wechseln, im speziellen Fall vielleicht auch den stillen Wunsch, den erprobten Partner bei nächster Gelegenheit behalten zu dürfen. Darin lag ein Modell, ein reales Modell für jene schülerlose Freizeit, die sich mit den Ferien auftat.

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Der Eifer! Was brachte ihn plötzlich in Rage? Das Gefühl, gegen sie im Recht zu sein, womit wurde es erkauft? Das war nicht schwer zu erraten. Es blendete ihr Gefühl, im Recht zu sein, in einem Punkt aus, ›der ihr wichtig war‹, auf dem sie beharren musste, sollte ihre Existenz nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen. – ›Wie ein Kartenhaus‹: der Ausdruck, in ihrem Beisein verwendet, würde sie verstummen lassen, sie würde ihn als Vorwurf auffassen und er würde sich fragen weshalb, wie er es oft getan hatte, wenn er verstehen wollte und unwillkürlich Ausdrücke verwendete, die sie verletzten (oder sollte er sagen: die ihre Verletzlichkeit stimulierten): oft gab er sich dann damit zufrieden, ihre Reaktion einfach ›weiblich‹ zu finden, als sei die Sache damit geklärt. Welch ein Unsinn! Die wirkliche Klärung hätte hier ansetzen müssen. Er wusste es, sie wusste es, aber er wusste auch, dass sie an dieser Stelle blockierte, dass sie immer blockieren würde, so wie seine Erregung in ihm eine Blockade errichtete, weil dies nun einmal heraus musste, bevor es durch Vorwürfe zum Verstummen gebracht würde. Erregung stand gegen Erregung, ihre gegen seine, Schuldgefühl gegen gefühlte Schuld, ihr am Schnürchen laufendes Gefühl, sie müsse perfekt sein, gegen sein Gefühl, als Mann und Partner sei er verpflichtet, ihr diese Perfektion zu ermöglichen, wohingegen der gesunde Menschenverstand ihm eingab, dass es sich um eine Schimäre handelte und immer handeln würde, die, bloß durch ihr Vorhandensein, die Aussicht auf erreichbare Harmonie in ihrer Beziehung vernichtete.

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Vernichtete? Ganz recht – vernichtete. Das starke Wort wollte wiederholt werden, ein Gedanke verbarg sich in ihm, der ans Tageslicht drängte, er musste absetzen, um seiner Geburt beizuwohnen. Jene unerreichbare Perfektion, auf der sie bestand – worauf lief sie hinaus? Auf ›Perfektibilität‹, auf den täglich erneuerten Wunsch, es besser zu machen, um irgendwann – was zu erreichen? Den Zustand der Perfektion? Aber nicht doch. Den Zustand der Schuldfreiheit? Das schon eher. Die Perfektionsmaschine lief, in Schwung gehalten durch die Ahnung eines Versagens, das sich durch alle häuslichen Gegebenheiten hindurchzog und kompensiert werden wollte. Diese Ahnung, diese unentwegt im Hintergrund flüsternde Ahnung sprach mit geborgter Stimme, sie kannte sie wohl, seit sie in frühen Jahren vor ihr davongelaufen war, um sie selbst zu sein, so wie sie noch immer vor ihr davonlief, obwohl sie ganz verständig darüber berichten konnte … die Stimme der Frau, aus deren Bauch der Medizinmann sie fast gewaltsam hervorgeholt hatte, weil sie sie einerseits nicht mehr festhalten konnte, andererseits nicht hergeben wollte – um nichts in der Welt.

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Um nichts in der Welt. Pida dagegen…? Pida wollte nicht perfekt sein, das bezeugten schon die grotesk gesteilten Augenbrauen, sobald sie das Wort aussprach, sie strapazierte es wie einen klapprigen Fön, den ihr jemand geschenkt hatte und den sie loswerden wollte, weil das Design ihr nicht passte. Im übrigen brauchte sie keinen Grund, um Menschen und Dinge nachlässig zu behandeln, es stand ihr zu, von Geburt oder aus vorgeburtlichen Zuständen, die Perfektion machte da keine Ausnahme. »Nobody is perfect.« Wer war Nobody? Der Dritte in ihrer Ehe? Aber nicht doch: der Perfekte war er gewesen, ihr perfekter Nobody, ein Allesreparierer, der mit dem Reparieren nicht nachkam, weil sie alles hinter sich warf. Kein Mensch, den er kannte, hatte jemals in vergleichbarer Weise den Eindruck erweckt, Bug zu sein, alles, was auf ihn einströmte, links und rechts an sich abgleiten zu lassen, beiseite zu werfen, sobald der Wellengang stärker wurde –: oft war ihm, als provozierte sie Stürme, bloß um auf den Wogen zu tanzen und tief in sie einzutauchen, von dem tieferen Vertrauen beseelt, wieder aufzutauchen, wann und wo es ihr passte. Zweifellos galt das Vertrauen ihm, ihrem jederzeit ersetzbaren Nobody, dessen Aufgabe darin bestand, sich für unersetzbar zu halten wie der erstbeste Buchhalter einer dem Bankrott entgegen taumelnden Firma, auf dessen Schreibtisch jede sich ankündigende Katastrophe landet, um in letzter Sekunde doch noch abgebogen zu werden. Müde des Jobs, hatte er gekündigt, als er begreifen musste, dass sein Nervenkostüm ihm nicht länger standhielt, und unversehens war er in den Bann einer Perfektionsmaschine geraten, die keinen Reparierer benötigte. Was benötigte sie? Welche Rolle war ihm in ihrem pingeligen Universum zugedacht? Was wollte sie überhaupt von ihm? Ein Kind? Das wäre erledigt. Ein Haus mit einem Garten? Er verweigerte es ihr zäh. Warum? Wusste es in ihm, dass seine Aufgabe damit erledigt wäre und er zu gehen hätte? Lag hier der Grund dafür, dass er noch nicht gehen durfte, obwohl sie ihn längst loswerden wollte? Hatte er sein ökonomisches Soll noch nicht erfüllt? Schämte sie sich vor ihren Freundinnen, ihn so gehen zu lassen? Wäre das zu einfach – für ihn (aber natürlich auch für sie, da ihr die Aufgabe oblag, es ihm abzugewinnen)? So zu denken war ›realistisch‹ und sie, Tronka wusste es, wollte Realistin sein, es war ihr Ehrgeiz, Realistin zu sein, darin, so hoffte sie, würde sie ihre Freundinnen ausstechen, hier lag ihr Talent.

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Ihr Talent … aber auch ihr Ziel? Immerhin bestand sie darauf, eine gute Haushälterin zu sein. Es lag ihr, die Dinge von der haushälterischen Seite her anzusehen, auch wenn ihr eigener Haushalt bei aller Perfektion zu wünschen übrig ließ, vermutlich, weil die Kinder und er nicht so mitspielten, wie sie sich das ausgedacht hatte. Nein, es gelang ihm auf keine Weise sich auszumalen, er besaß keinen blassen Schimmer davon, wie ihr Traum vom perfekten Zusammenleben aussehen mochte. Er spürte nur, dass sie ihn zum Gegner erkoren hatte. Zäh und unerbittlich arbeitete sie sich an ihm ab. Wenn sie einer Utopie anhing – ganz sicher durfte er nicht sein, da sie ihre letzten Ansichten verborgen hielt –, dann musste er die lenkende, leitende, irreführende und letztlich zerrüttende Instanz hinter der schlechten Realität sein, deren Miasmen ihr ins Gesicht schlugen, sobald sie, die Schultasche unterm Arm, die Wohnungstür aufschloss. Recht hatte sie. Nie und nimmer konnte aus dem bestenfalls holprigen, schlimmstenfalls destruktiven Zusammenspiel dieses Menschengrüppchens der am Schnürchen laufende Betrieb hervorgehen, der ihr vorschwebte.

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Das Ideal, ›Perfektion‹ genannt … wo stammte es her? Gut konnte er sich daran erinnern, dass ein Hauch von Lächerlichkeit es umwölkte … damals, als die Generation antrat, mit deren Reflexen er sich herumschlug, als die Begriffe sich bildeten, deren unwillkürlicher Gebrauch auch heute noch den Alltag bestimmte, als das, was an der Zeit war, sich schroff von dem trennte, was seine Zeit gehabt hatte und dazu bestimmt war, den Gang in den Orkus anzutreten. Perfektion? Zum Teufel mit der Perfektion. Perfekt las sich die Welt der Ausbeutung und der Auslagen, dazu bestimmt, zerbeult, zerfetzt, destruiert zu werden, perfekt die Organisation, der eine Welt voller schreiender Widersprüche entquoll, dazu bestimmt, dass man ihr in die Speichen griff, wo immer man ihrer gewahr wurde, perfekt der sklavische Gehorsam, der dies alles ermöglicht hatte und weiter ermöglichte: ein Ärgernis, dazu bestimmt, mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden… Nun, die Perfektion, sie ist zurückgekehrt, sie lächelt, ihre aggressive Melodie erklingt, sobald eine der neuen Frauen den Mund öffnet, um den Druck zu erklären, unter dem sie steht, den abzuwerfen zu einfach wäre wie vieles andere, was Männer zu raten sich erdreisten, weil sie einfach keine Ahnung haben. Perfekt sein … ein Maschinen-Ideal, dazu auserkoren, die Widersprüche zu überkleistern, die jenes gesellschaftliche, tief inkorporierte Anforderungsprofil an sie heranträgt, das sich im Fluge gebildet hatte, sobald sie erst einmal den häuslichen Dunstkreis verlassen hatten, um … um was? Um ihre Arbeit zu machen und die Früchte der Freiheit zu genießen.

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Nicht Realismus, Perfektion ist das Ziel. Gebieterisch verlangt die Organisation der Freizeit die Organisation der kleinen Patchwork-Familie, die sie in ihren Augen nun einmal darstellen, ganz wie der Versand von Gegenständen ihre Umwandlung in Gepäckstücke bedingt, auf die man sich nur zu Transportzwecken einlässt: die Familie hat zur Hand zu sein, anspruchslos, weil die Ansprüche durch die Organisation gesetzt werden, gefügig, weil jeder Eigenwille Komplikationen hervorruft, die Zeit kosten, Zeit vor allem, aber natürlich auch ›Nerven‹, deren Einsatz für andere, für positive Zwecke annotiert ist, überschaubar, damit die Organisation nicht aus dem Ruder läuft… »Tja, daran hättest du früher denken müssen … Tja, dann lass dir mal was einfallen … Tja, da kann ich nun auch nicht helfen … Tja, da musst du jetzt durch … Tja, so ist das nun mal … Tja, dann sieh mal zu, wie du das geregelt bekommst…« – schauderhafte Phrasen, die aber, auf Dauer gesehen, einen erzieherischen Effekt entfalten, die Abrichtung zur Mutlosigkeit, zum Fatalismus der Abhängigen: Tja, da kann man nichts machen. Das Kind, das Familienmitglied wird in seinen Verpflichtungen, in seinen Interessen rasiert, so dass nichts mehr übrig bleibt außer dem, was die glatte Haut umspannt: Das kommt mit, das muss reichen. Reicht es denn nicht? Gibt der Erfolg ihr nicht recht? Aber worin besteht der Erfolg? Zweifellos darin, sie zu entlasten. Entlasten wofür? Für den Genuss? Er kann, nach so langer Zeit, keinen Genuss erkennen. Welcher Genuss soll das sein? Gut in der Zeit zu liegen? Eine Liste abzuarbeiten, deren Posten man sich bei anderen abgeschaut hat? Was ist das für eine Liste? Dumm gefragt. Schau, sie verfügt über eine Agenda, das ist schön für sie, das hebt sie, das hebt sie aus der Masse derer heraus, die ihr Leben vertrödeln, derer, die sich okkupieren lassen, derer, denen die Zeit vergeht, in der sie bei den anderen sind, ganz recht, bei den anderen, auch die Kinder sind schließlich andere, auch er ist ein anderer, kein Zweifel, da hat sie recht, da ist sie ›voll im Recht‹, wie ihre Freundinnen das unisono ausdrücken würden, allein schon deshalb, weil sie … weil sie es so stellt. Bloß nicht aufgehen im anderen, bloß das nicht, denn, denn … es wäre Sünde … die unverzeihliche, unsühnbare Sünde gegen sich selbst. Das Ideal der Perfektion lässt es nicht zu.

Schau an. Schau zu, wie sie es macht, vielleicht lernst du etwas dabei.

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Auch er wird rasiert. Es geht ihm nicht anders als den Kindern. Lange hat er es nicht gemerkt, nicht merken wollen, es war eine Frage des Respekts, sich zurückzunehmen und dem anderen Raum zu geben, eines wechselseitigen Respekts, von dem er blind annahm, dass er auch auf der anderen Seite zuverlässig seinen Dienst verrichtete, ohne dass man ein Aufhebens davon machen musste. Man fordert keinen Respekt ein, wenn man sich mit einem Menschen zusammentut. Vielleicht liegt darin bereits der Fehler. Warum sonst gäbe es den Ausdruck ›respekteinflößend‹? Manche Menschen flößen Respekt ein, andere nicht. So ist das. Kann man Respekt einflößen, ohne respektiert zu sein? Seltsame Frage. Kann, wer keinen Respekt einflößt, Respekt fordern? Vergebliche Mühe… Aber Respekt ist die Grundlage aller Beziehung – nicht der auf Unterordnung zielende Respekt, den der Hochfahrende einfordert, sondern jener stille, selbstverständliche, im Unscheinbaren wirksame Respekt, der auf Gegenseitigkeit gründet: ich gebe dir, was du mir gibst, ich gebe dir, was ich von dir ohne weiteres Zutun erwarte, nicht Zug um Zug wie ein Geschäftspartner, nicht im Gegenzug, sondern absichtslos, ›einfach so‹, selbstverständlich wie das Dasein selbst, wie die Luft zum Atmen, die niemand gewährt, weil sie für alle reicht, obwohl es in Gesellschaft keine besondere Mühe macht, sie dem anderen zu nehmen, sobald einer es darauf anlegt. Legt sie es darauf an? Legt sie es darauf an? Das ist die Frage – plötzlich steht sie im Raum, bedrängend, verdrängend, unbeantwortbar, antwortheischend.

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Er wird rasiert. Wie lange geht das schon? Schwer zu sagen, das jäh hochschießende Gefühl der Beengung, es kam mit ihrer Schwangerschaft, nein, es kam mit ihrem Schwangerschaftswunsch, auch hier sind alle Karten gezinkt. Was Druck, was Gegendruck wäre, wer mag das entscheiden? Es beginnt mit der Zerstörung einer Freundschaft, der umfassenden, systematischen Zerstörung einer alten Freundschaft: Damit fängt es an. Fängt es damit an? Fängt es wirklich damit an? Wirklich … ja wirklich … es gibt keinen Anfang im Anfang, schon gar keinen wirklichen. Vielleicht gab den Anfang ein Wort. Er kann sich nicht daran erinnern, wann es fiel, er kann sich nicht daran erinnern, dass es fiel. Aber einmal muss es zwischen ihnen gefallen sein, soviel steht fest. Eine Beziehung besteht aus Worten und Widerworten, eingepfercht zwischen die Marken ›Zusammenziehen‹ und ›Trennen‹. Viele dieser Worte sind schmerzhaft, sollen es sein. Andere, auffällig durch ihre Unauffälligkeit, graben sich ein, ohne ersichtlichen Grund. Wurden sie gesetzt? Natürlich werden Worte gesetzt, das gehört zum Experiment, die einen gezielt, die anderen unwillkürlich, mit unabsehbaren Wirkungen. Apropos … welches deiner Worte würdest du gern zurücknehmen? Es fällt dir gerade nicht ein, aber du weißt, es existiert, du weißt auch, du kannst es nicht zurücknehmen, es hat seine Wirkung längst vollbracht. Du kannst nicht sagen: »Ich nehme das zurück« – lächerlich wäre das und unwirksam obendrein, im Erstfall verheerend, sie würde dich anblicken, den Kopf leicht angehoben, mit aufmerksamen Augen, und nüchtern konstatieren: »Das hast du gesagt? Gut, dass ich das weiß.« Doch, du hast es getan, du weißt es, du hast dich ihr ausgeliefert, mit Haut und Haaren, du weißt das Wort nicht mehr, aber sie weiß es und beutet es aus. Beutet es aus.

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Ehrlich gesagt – er will es nicht wissen. Es ist ihm gleichgültig, dieses Wort, gleichgültig, wessen Mund es entschlüpfte, gleichgültig, welche Wirkung damit beabsichtigt oder nicht beabsichtigt war, gleichgültig, welche damit letztlich erzielt wurde. Viele solcher Worte sind gefallen, zu viele, um sich über eines zu beugen, geschweige denn, sich darüber zu ereifern. Die Wörter seiner Beziehung sind stumpf geworden, sie berühren ihn nicht, sie liegen wie blecherne Orden in einer Pappkiste und warten auf eine Kinderhand, die darin kramt, unwissend, von welchen Schmerzen sie Zeugnis geben. Nein, er muss lernen zu unterscheiden zwischen dem anfänglichen Gefühl der Beengung und den blinden Flecken, die inzwischen die Oberfläche seines Lebens sprenkeln, überall dort, wo es an das ihrige grenzt: Zonen wachsender Taubheit, wachsender Empfindungslosigkeit, wachsender Teilnahmslosigkeit, wachsender – auch das muss heraus – Fremdheit, auch wenn es wie eine Parodie ehelicher Verhältnisse klingt: »Wir sind einander fremd geworden über die Jahre.« Nein, so ist es nicht, grundfalsch vor allem das ›wir‹ darin, die Ankündigung einer neuen Gemeinsamkeit des Aufarbeitens und des immer möglichen Neuanfangs. Diese Fremdheit verweigert sich jedem Wir, sie wittert in ihm den Feind, der auf Ressourcenklau aus ist und dem man keinen Fingerbreit nachgeben darf, gerade weil man ihn in- und auswendig kennt, weil er ausbuchstabiert wurde, ehe die pilzartig wuchernde Resignation ihn über die Grenze schob.

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Das Erschrecken, banal und abstoßend. Er betritt das Badezimmer und überrascht sie, absichtslos, wie so viele Male zuvor, nackt. Wer erschrickt? Sie, weil der Blick eines bereits Fremden sie trifft? Er, weil er sieht, wie sie zusammenzuckt? Sie, weil sie bereits anders unterwegs ist? Er, weil er bereits anders unterwegs ist und sich ertappt fühlt? Ertappt wodurch? Sie, weil die Fremdheit ihm bereits aus den Poren kriecht? Sie und er, weil sie beide sich ertappt fühlen? Er und sie, weil in ihnen beiden jäh das Gefühl aufbricht, den anderen zu ertappen, ohne dass einer zu sagen wüsste wobei? Er und sie, weil dies der Moment ist, der ihnen sagt: Es ist aus und vorbei? Er und sie, weil dies der Moment ist, der ihnen vor Augen führt: Es ist aus und vorbei und der andere weiß es auch? Er und sie, weil dies der Moment ist, der ihnen klarmacht: vor ihnen liegen die Mühen der Trennung und keiner ist bereit, sie auf sich zu nehmen? ›Noch nicht, jetzt noch nicht, Leben ist Aufschub, warum nicht auch dieses Leben, warum nicht im Aufschub leben, leicht leben, auch wenn es schwer wird?‹ Mag sein, mag nicht sein. Warum ihnen beiden? Dieser Schluss, dieser schlechte Schluss auf den anderen: was kann ihn rechtfertigen? Nichts. Aber das ungeheure Nichts, es brennt in ihm, es verbrennt die Prämissen, es erzwingt ein letztes starkes Gefühl der Gemeinsamkeit, das vielleicht nur auf Täuschung beruht, vermutlich nur eine Täuschung darstellt, ganz sicher … was soll es anderes sein als Täuschung? Andererseits: die Trennung ist die letzte gemeinsame Aufgabe in der Beziehung. Warum sollte die Aussicht auf sie keine Gemeinsamkeit erzeugen? Warum sollte sie nicht die niedergebrannte Gemeinsamkeit noch einmal auflodern lassen? Ganz einfach: das Erschrecken treibt auseinander. Dieses Auflodern … ist eine Farce.

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Wie auch immer, er weiß Bescheid. Das Bad – ab sofort tabu, wann immer sie sich darin aufhält. Körperkontakt? Eine schwierige Sache. Zu vermeiden, wo immer es geht. Die Augen… Den Ausdruck der Verstörung darin, nie wieder will er ihn sehen. Sieh mich nicht an. Er hat ihre Augenfarbe vergessen, das ist die Wahrheit, er wüsste nicht warum er sie vor sich verbergen müsste. Er hat sie vergessen, ›aktives Vergessen‹ heißt dieser Vorgang, das Phänomen ist ihm bekannt. Vergessen hat er, wie es im Schlafzimmer aussieht, das einmal ihr gemeinsames war, bis sie die von ihm eingeschleppten Möbel hinauswarf und sich die perfekte Überwachungsstation einrichtete, in der jedes winzige Arrangement, einem klar erkennbaren Bedürfnis folgend, ihn ausschließt. Er betritt es nicht mehr, er nächtigt auf dem Sofa, auch so geht die Nacht vorbei. Er verzichtet darauf, unangemeldet die Wohnung zu betreten … sie ist ihm fremd geworden, die Wohnung, er bewegt sich in ihr, als hätten entfernte Freunde sie für unbestimmte Zeit zur Verfügung gestellt. Er achtet darauf, keine Spuren zu hinterlassen – Spuren, ganz recht, bis dahin wusste er gar nicht, was Spuren sind. Das Wort ließ ihn an Hasen und Iltisse denken, an Spurenleser im Wilden Westen, aber nicht ans Zuhause, in dem man die Füße unter den Tisch streckt. Inzwischen weiß er es. Da hat man doch was gelernt. Oh ja. Gewiss doch. Man lernt nie aus – ein Handwerker-Spruch, zu dem der Wissenschaftler andächtig nickt. Ansonsten hält er sich heraus. Wieviel Prozent Anteil am Leben hält der Wissenschaftler?

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Wenn einer Beziehung eine Verheißung innewohnte, dann dieser. Die Verheißung des leichteren Lebens hat ihn verführt. Ihr gleißendes Licht umhüllte einst diese Frau, er hatte es nicht vergessen, sie hatte ihn nur leicht zu streifen gebraucht, um die reife Frucht fallen zu sehen. Nein, es war nicht das sexuelle Begehren gewesen, nicht der Wunsch, verstanden zu werden, nicht der Wunsch, alles richtig zu machen, nachdem Pida alle Parameter auf ›falsch‹ gestellt hatte und sich so immer tiefer in die Beziehung hineinbohrte, aus der sie herauswollte, nein, nein und nochmals nein, es war die Verstrickung, die absolute Verstrickung, die ihr Gegenbild auf diese Person projizierte, ihr magische Kraft verlieh, die Kraft zu lösen und zu binden … warum sie? Weil sie da war. So zu denken erleichtert, aber das Resultat ist deswegen nicht weniger falsch, nicht weniger unbefriedigend: es fehlt die Schärfe. Sie war Pidas Zwilling. Auch das bringt Erleichterung und ist falsch. Aber es ist ein Gedanke, es lohnt, ihn weiterzudenken. Wo Pidas Schweigen ihn verstummen ließ, öffnete ihres die Schleusen. Wo Pidas bloßer Anblick ihm jahrelang ›Kummer & Pein‹ bereitete, verscheuchte der ihre sie im Handumdrehen. Genügte das, um eine solide Schwesternschaft zu begründen? Natürlich nicht. Aber es hatte damit zu tun, es führte in diesen Komplex hinein, ein wenig Geduld musste er schon aufbringen, um ihn zu erschließen. Sie war da… Wie war sie da? Wie … die Taube auf dem Dach, nicht wahr? Sie saß auf dem Dach und gurrte, gelegentlich flog sie herab und pickte in seiner Nähe. In seiner Nähe? Hatte sie seine Nähe gesucht? Das erschien ihm, aus welchen Gründen auch immer, unwahrscheinlich. Hatte sie Pidas Nähe gesucht? Das schon eher. Was hatte sie in ihrer Nähe gesucht? Das Leben? Pidas erstaunliche Lebendigkeit, deren Kehrseite, die Versteinerung, sich in ihrer Ehe manifestierte? Aber sicher. Pida besaß, was ihr fehlte, das innere Feuer, die verrückte Bestimmtheit, die sie alle Schranken durchbrechen ließ, um sich in der engsten zu fangen … und sie besaß ihn. Pida hatte ihn eingemauert, perfekt oder beinahe perfekt, handwerklich gesehen ein Meisterstück, ganz ohne Frage. Da lohnte es hinzusehen, da lohnte es nachzusehen, ob alles so solide gearbeitet war, wie es sich auf den ersten und zweiten Blick ausnahm. Es lohnte sich, ihn zum Reden zu bringen, es lohnte sich zuzuhören, geduldig, über eine lange, fast zu lange Zeit, zu lang, um bloß einen Mann zu schnappen, aber lang genug, um das Rezept einer anderen Frau zu studieren. Rezept wofür?

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Ein Verdacht, abstoßend wie kein zweiter bisher. Ein Wurm. Ein Gedankenwurm, gemächlich sich den Weg bahnend. Ein Beenger. Ein Schweißtreiber. Was konnte sie bei Pida gelernt haben? Wie man eine Beziehung ruiniert? Das durfte nicht schwer gewesen sein. Wie man eine ruinierte Beziehung aufrechterhält? Da gab es nichts zu lernen. Oh doch. Er hätte gehen können, er hätte gehen müssen, ›als noch Zeit dafür war‹ (eine Auskunft, die Pida ihm oft genug ins Ohr gesteckt und die er nie, bis heute nicht, verstanden hatte: Wann war ›Zeit dafür‹, wenn nicht jetzt, in naher Zukunft vielleicht, später vielleicht? Wann war noch Zeit gewesen, sich zu trennen? In jener Nacht vor der Trauung? Als es für ihn keinen Grund gab, sich zu trennen? Als die gefühlte Tatsache, dass es keinen Grund gab, sich zu trennen, ihn über die Eheschwelle schaukelte? Oder davor? Immer davor? Vor der Beziehung? Pida hat ihn gelehrt, dass, wer im Aufschub lebt, immer zu spät kommt. Eine bittere Lektion. Jenes Damals, ›als noch Zeit dafür war‹, war ihre Erfindung. Kann man dergleichen erfinden? Man kann es fühlen lassen. Muss es dazu vorhanden sein? Ein Damals ist nicht vorhanden, es sei denn, in der Erinnerung. Wenn die Erinnerung es nicht hergibt, heißt das, der andere verfügt über das, was dir fehlt: über deinen Teil der Schuld, den Teil, an den du dich nicht erinnerst, den nicht genutzten Moment der Freiheit, den konkurrenzlosen Augenblick, in dem du über sie verfügtest, und du hast es nicht begriffen. Seither wart ihr beide Gefangene, du und sie, aber durch deine Schuld. Sie hatte gesehen und nichts gesagt. Du allein hättest es wissen und handeln müssen. Warum hatte sie nicht gehen können? Dumme Frage. Hätte sie gehen können, so wäre sie gegangen. Offenbar handelte es sich um deine Aufgabe. Die Trennung, sie hätte nicht gegolten, wäre sie einfach gegangen. Es wäre zu einfach gewesen, so einfach durfte sie es dir nicht machen. Du durftest dich bewähren und du hast versagt. Sie durfte dir die Möglichkeit, dich zu bewähren, nicht nehmen: sie hätte sich an dir schuldig gemacht. So jedoch… »Wenn du jetzt gehst, dann gilt auch das nicht. Es gilt einfach nicht. Du willst mich loswerden? Mich wirst du nicht los. Niemals wirst du mich los. Warum? Weil du die Freiheit verraten hast, deine und meine, damals, ›als noch Zeit dafür war‹. Du hast nicht nur deine, du hast auch meine Freiheit verraten damals, jetzt existiert sie nicht mehr. Wir sind beide gefangen, aber mit einem Unterschied: ich könnte dich, wenn ich wollte, gehen lassen. Aber ich will nicht. Ich will nicht, ich kann nicht: das ist alles eins. Ich will, dass du gehst, aber ich verschließe den Augenblick, in dem du hättest gehen können, und gebe ihn nicht mehr her.«

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Was gilt, was gilt nicht in einer Beziehung? Wer hütet die Regeln? Beziehung ist spontan. Beziehung kennt keine Regeln, sie erfindet sie jeden Augenblick neu. Beziehung ist nicht, sie findet statt. Beziehung ist lustvolles Dasein, Lust kennt keine Regeln außer der einen: Suche Erfüllung! Ist auf diesem Weg keine Erfüllung zu finden, geh einen anderen! Wechsle den Weg, wechsle die Füllung! Das war der Sinn. Woher kam dieses Wort: Beziehungsarbeit? Es kam nicht mit der Beziehung, es kam in die Beziehung, als Korrektiv, wer warf es ein? Wenn ihre Jahrgänge zu den ersten gehörten, die es wagten, Beziehung zu leben, nicht aus Wagemut, sondern weil es an der Zeit war, weil ›die Zeit, die sie waren‹, es über sie verhängt hatte, dann gehörten sie auch zu den ersten, die sich darin verfingen. Beziehung gibt es nicht, Beziehung will gelebt sein. Ein fremder Wille also, ein verhängter Wille, ein Wille, der sich dazwischendrängt, weil zwei nicht ausreichen, eine Beziehung zu führen. Drängt er? Oder wird er geholt? Heimlich, verstohlen, herangewunken, entlohnt, ein dienstbarer Geist? Wer sich in den Besitz der Regeln setzt, beendet die Beziehung, er setzt etwas an ihre Stelle, das ab sofort gilt: der andere weiß es noch nicht, aber er bekommt es zu spüren und wird sich fügen. Oder auch nicht – dann muss er begreifen, dass er den Moment verpasst hat, in dem er hätte aussteigen können, den entscheidenden Moment, in dem der Hebel umgelegt wurde und er, mit Blindheit geschlagen, nicht begriff, was vorging.

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Die Beziehung … setze sie unbedingt und mach’ dich in ihr rar – über kurz oder lang befördert dich das zum Meister, nicht unbedingt aller Klassen, aber gewiss aller Tonlagen: du verteilst die Beziehungsarbeit, die du zu leisten beanspruchst und deshalb vom anderen ›einforderst‹, obwohl keiner begreift, was hier zu leisten wäre. Beziehungsarbeit ist ein Leerkarton, versehen mit einem Schleifchen – wer ihn zugestellt bekommt, sollte wissen, dass die Beziehung zu Ende geht, dass dies das Ende ist, aber er weiß es nicht, er soll es nicht wissen, schon blendet ihn das Wort ›Arbeit‹, er will etwas leisten, denn davon absehen hieße ja das Gegenteil wählen, aufgeben, die Beziehung durch Bräsigkeit schänden, hieße, ihrem unendlich zarten und bedürftigen Charakter nicht gewachsen sein. War sie nicht eben noch kräftig, stabil, gesund, strahlkräftig? Ist sie plötzlich krank, die Arme? Nein, nur das nicht. Sie ist auch nicht krank, sie braucht bloß Zuwendung, sie braucht den Kümmerer, sie braucht … was braucht sie denn? Wer braucht sie denn? Er braucht sie? Gut, dann zahle dafür. Je mehr du zahlst, desto höher steigt deine Schuld, denn desto mehr kannst du leisten. Du würdest gern aus eigenen Beständen liefern, aus dem, was du nun einmal bist, aber gerade das ist nicht gefragt. Du sollst dich verschulden, du darfst Schulden aufnehmen, um abzutragen, was niemals abzutragen sein wird, ein circulus minutiosus, der nirgends endet, ein Hamsterrad, in dem du verenden darfst, falls du nicht einmal in einem Anfall übergroßer Erschöpfung herausfällst. Er hat Glück gehabt, dass er herausfiel, doch dieses Glück war gezinkt, denn er verdankte es ihr.

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»Was starrst du?« Nun, man starrt. Der Preis des Starrens ist die Verachtung. Du nimmst sie in Kauf, denn sie ist nicht wichtig, nicht wichtiger als die Fliege, die sich dir aufs Handgelenk setzt. Eine Bewegung, und sie ist verscheucht. Doch sie kommt wieder. ›Im Starren erstarrt‹ – siehst du dich so? Dumme Phrase, der Spiegel, der das hergibt, müsste erst noch erfunden werden. Im Starren findet dein Blick zurück, er findet zurück zu seinem ›Objekt der Begierde‹, es hat ihn, nach all den verflossenen Jahren, nicht aufgegeben. Zeitversetzt, im Starren erstarrt, unfähig wie eh und je, den Blick von der jungen Frau zu lösen, verstohlen starrend, vom Wunsch getrieben, sich bemerkbar zu machen, ein wenig bemerkbar, nicht mehr, er will keinen Lärm, bloß das nicht. Nein, er will keinen Lärm, um keinen Preis. Ist das falsch? Vielleicht wäre es an der Zeit aufzubrausen und sich ins Unrecht zu setzen. Na los! Setz dich ins Unrecht! Warum? Was er damit erreichen könnte, ist schon geschehen. Sie hat ihn ins Unrecht gesetzt und da sitzt er nun. Das Unrecht, das ihn umgibt, ist ein Glashaus, nein, eine Schneekugel, eine Bewegung und es stäubt. Sieh dich an! Wie konnte das Recht so auf ihre Seite wandern? Wie unstet! Und doch: es ist geschehen. Er hat kein Recht mehr, es wurde ihm abgeschnitten, nun liegen die Dinge so, wie sie liegen. Seine Blicke umkreisen Pida, versuchen ihren Blicken den Weg abzuschneiden – vergeblich, im Streunen sind sie den seinen weit überlegen, sie streunen fort, sie haben es nicht nötig auszuweichen, sie sind unberührbar. Pida telefoniert, sie wirft sich in dieses Gespräch, sie tanzt, sie bebt, sie girrt, sie gluckst, sie leuchtet, sie ist ganz dort draußen bei einer Person, die er nicht kennt, über die sie ihm, wenn er sie nach ihr fragte, Lügen erzählen würde, sofern sie es nicht vorzöge zu schweigen, so wie sie seit Tagen schweigt, so wie sie wieder schweigen wird, sobald sie aufgelegt hat. Pida ist depressiv. Ist sie das? Er weiß es nicht. Er will es glauben und glaubt es nicht. Er will es nicht glauben und glaubt es doch. Wäre er ihr Therapeut, sie würde ihn einwickeln wie jeden anderen und er wüsste – nichts.

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Was treibst du da? ›Beihilfe zum Beziehungsmord‹: so könnte man es nennen. Könnte man? Vielleicht hättest du es längst so genannt, aber etwas, wie so oft, hält dich zurück. Stirbt die Beziehung, so stirbt der Gefangene. Ein Wortschatten, ein Schatten, der von der Worthülse auf dich fällt. Der Verdacht, der sich da andeutet, ist so ungeheuerlich, dass du ihn durchstreichst: lächerlich. Dennoch – sieh hin. Sieh genau hin. Mord durch Beziehung, welche Geschichte deutet sich da an? Mach das Licht aus, studiere die Schatten. Wem willst du davon erzählen? Wem kannst du davon erzählen? Wem darfst du davon erzählen? Keinem? Ja sicher … gewiss. Diesen Argwohn darfst du nicht zulassen, niemals – nicht gegenüber anderen, nicht gegenüber Freunden, nicht gegenüber dir selbst, nicht im Selbstgespräch. Irgendwann würde es dich verraten. Mit diesem Verdacht stündest du allein. Der Verdacht allein bedeutet … Isolation. Nicht für eine Stunde, nicht für einen Tag, sondern für alle Zeit. Der Augenblick, in dem er mit am Tisch sitzt, zerstört dich. Dazu musst du nichts äußern. Er frisst sich durch, er frisst dich auf, von innen, wie sonst? Jede Umgebung weicht da zurück.

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Ist sie nicht schon zurückgewichen? Wieviel Umgebung besitzt deine Beziehung? Wieviel davon ist deine Umgebung? Diese Leute da draußen, was gehen sie dich an? Was hast du mit ihnen zu schaffen? Nimm an, du seist mit ihnen befreundet – annehmen musst du es, andernfalls hättest du dich zu fragen, warum du überhaupt hier bist, nimm’s also an –: sind sie mit dir befreundet? Natürlich nicht, keine Sekunde lang, du selbst würdest sie bitten, jeden Versuch in dieser Richtung tunlichst zu unterlassen. Worüber sprichst du, wenn du mit ihnen sprichst? Über nichts besonderes? Denk nach! Du drängst dich in ihr Gespräch, es gibt nach, es weicht zurück, aber es öffnet sich nicht, es schließt dich nicht ein, im Grunde macht sie deine Gegenwart ratlos. Ganz sicher, das ist es: sie sind nicht feindselig, sie sind ratlos. Wieviel davon fällt auf dich zurück, wieviel auf die präparierte Beziehung? Aber ohne Beziehung würdest du diese Personen nicht kennen, du würdest sie nie und nimmer als Gesprächspartner akzeptieren, sie wären für dich einfach Luft… Wissen sie es? Ahnen sie es? Sind sie befangen? Oder ahnen sie deine Befangenheit und triumphieren? Ihre Blicke … in ihren Augen bist du ein seltener, nicht besonders attraktiver Fisch, ein bleicher Exot in einem Aquarium. Die Glaswand, die immer zwischen euch liegt, spiegelt sich in ihren Blicken, du spiegelst sie zurück, denn auch du nimmst sie wahr, ohne Bedenken übrigens, denn für dich sind sie es, die im Aquarium leben – Fische, Muscheln, Krebse, die eine oder andere Alge dazwischen, selbst Korallen hast du bereits entdeckt.

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So isoliert warst du schon einmal. Du warst es und jetzt bist du es wieder. Ein Unterschied bleibt. Es bleibt immer ein Unterschied. Warum nicht auch in dieser Sache? Damals hattest du mit dem Leben nicht abgeschlossen. Du warst nicht bereit, den Weg zu Ende zu gehen. Es bedurfte nur einer Berührung und es brach auf, eine mächtige Blüte auf einem toten Zweig, der sich schnell begrünte und heute wieder tot scheint. Ist er es diesmal? Du lebst im Aufschub, aber es lässt dich kalt. Was lässt dich kalt? Der Sinn des Aufschubs ist die Erwartung. Wer nichts erwartet, bedarf keines Aufschubs. Er hat ihn nicht nötig, er lebt im Jetzt. Du lebst einen Aufschub ohne Erwartung. Du bist hineingeglitten und weißt nicht wie. Damals erwartetest du ein zweites Leben. Heute weißt du: das hier ist das zweite Leben. Ein drittes, ein viertes, sie wären immer das zweite noch einmal. Du könntest deine Hoffnungen auf ein Jenseits richten, aber das wäre … ziemlich verzweifelt. Du bist nicht verzweifelt. Wenn es etwas gibt, das dich nicht anficht, dann ist es Verzweiflung. Du hast dich entschlossen, diesen Weg zu Ende zu gehen. Das klingt entschieden, es klingt, als habest du resigniert. Eine Beziehung ist keine Ehe. Welchen Sinn soll es haben, sie wie eine Ehe zu führen? Doch nur den einen: dem Unglück eine Bedeutung zu geben. Eine unglückliche Ehe – ist das nicht geradezu … ein Pleonasmus? ›Dann hättest du auch heiraten können…!‹ Hättest du? Aber du warst verheiratet, in einer Ehe, die sich anfühlten sollte wie eine Beziehung, und sie war ein Unglück, ein Unfall geradezu. Heute lebst du in einer eheähnlichen Beziehung – so nennen sie das! – und sie ist … ein Unglück. Kein Unfall vielleicht, aber ein Unglück, ein Fall, der das Nachdenken lohnt, auch wenn keine Belohnung winkt. Warum der Aufschub? Wie kommt er überhaupt ins Spiel?

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Heute? Heute bist du bereit. Genau genommen gibt es kein Heute, nicht für dich, nur dieses korrigierte Gestern, das sich durch deine Tage hindurchzieht, das Besserwissen, das Besserhandeln, die Illusion. Sie umfängt und sie bettet dich, ja, sie bettet dich, sie gibt dir ein gutes Gefühl, sie beruhigt, sie beruhigt ganz ungemein. Aber auf dem Grunde dieser Beruhigung liegt die Panik, mach dir nichts vor, sie will nur nicht heraus, sie will noch nicht heraus, und es ist keineswegs ausgemacht, ob sie schwindet oder ob sie wächst. Was zum Teufel bedeutet dieses Bessersein, dass du es nicht wagst, ihm auf den Grund zu gehen? Zunächst einmal ist es kein Besser-Sein, es ist ein Besser-Haben – damit fängt es an. Du hast es besser … getroffen. Womit? Ist sie besser als Pida? Besser für dich? Sie war besser für dich als Pida, viel besser, denn Pida war … auf Kampf gestellt. Auf Kampf? Welcher Kampf sollte das sein? Es war ein Schattenboxen, ein Schattenboxen mit sich, die Gegner hießen ›meine katholische Seele‹ und ›das freie Geschlecht‹, ganz wie es sich gehörte, wenn man aus einem katholischen Internat kam und studieren wollte … sie wollte studieren, meinst du das? Du hast ihr ein bisschen geholfen dabei, sie wollte, dass du ihr hilfst, das gab ihr Sicherheit, es gab ihr auch Überlegenheit, denn dass du ihr halfst, das gab ihr Macht über dich, keine kleine, keine kleine Macht, es gab ihr Macht, viel Macht, jedenfalls Macht, attributlos, einfach: Macht. Natürlich hat sie das ausgenützt, nicht schamlos, nein, die Scham kam mit, sie kam immer mit. Pida schämte sich gern und oft, sie ließ auch schämen, gern sogar. Sobald sie merkte, dass du dich schämtest, hatte sie Oberwasser. Du hast dich geschämt, für sie, für dich, du hast dich geschämt, weil du ihr halfst, weil du ihr zeigtest, was sie zu tun hatte, und es dann praktischerweise gleich selbst erledigtest, für ein Lächeln, für einen gehauchten Kuss, weil du, der Dozent, ihre Seminararbeiten und am Ende auch die ihrer verzweifelten Freundinnen schriebst, weil du … es tut weh, sich daran zu erinnern, nicht wahr? Du hast ihr geholfen, weil du sie wolltest, nicht wie wie war, sondern als Freie und Gleiche, also so, wie sie sich haben wollte, wenngleich sie alles tat, um das zu verhindern. Sie schlitterte in diese Abhängigkeit von dir, aus der herauszuhelfen du ihr zu Diensten warst: war es nicht irgendwie plausibel, dass sie dich betrog, weil du dich mit ihr betrogst, indem du ihr beim Betrügen halfst?

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Du hast gelernt, nicht wahr? Nie wieder hast du seither Seminararbeiten gefälscht, teils, weil sie dich nicht auf die Probe stellte, teils, weil du ernsthaft an Heilung glaubtest, nie wieder hast du, wie bei Pida später, Unpässlichkeiten gedeckt, die just so lange anhielten, bis die Schulglocke schrillte und alle Kollegen sich in die Klassenzimmer verfügten – danach war sie frei und ging, mit einem seligen Lächeln im Gesicht, das ihr zu rauben dir nicht anstand, ihrer Wege. Wohin diese Wege führten? Erfahren hast du es nie – in die nächste Fußgängerzone vermutlich, zum Klamottenkauf. Aber das bleibt, wie vieles, Vermutung. Es war zu banal, als dass du dich damit hättest beschäftigen wollen. Beschäftigen! Du warst dann weg. Wer sagt dir, dass du der einzige warst, bei dem sie diesen … Schutz suchte? Niemand. Das Leben ist kompliziert. Ein einzelner Mann mag brauchbar sein, aber nicht in allen Fällen. Vermutlich kanntest du einige ihrer Helfer, andere nicht, besser nicht. Du kanntest die Währung, in der Pida bezahlte, schließlich warst du der Ehemann, wie er im Buche stand. Die Sache mit dem Schutz hast du erst spät begriffen, zu spät, du hast sie nicht ernst genommen, es entsprach nicht … deinem Frauenbild? Hattest du ein Frauenbild? Wie sah das aus? Sagen wir … es bestand aus lauter Negationen, aus lauter durchgestrichenen Frauenbildern, zufällig denen der Literatur, dieser erfahrungsgesättigen Prostituierten, die allen, die zu lesen verstehen, alles verrät, vorausgesetzt, man versteht ihr Gewerbe. Du verstandest zu lesen. Wenn es etwas gab, worauf du dich verstandest, dann war es das Lesen. War Pida nicht der personifizierte Kampf gegen das Lesen? Wann fiel dir das auf? Fiel es dir überhaupt auf? Konnte es dir überhaupt auffallen? War sie nicht deine neue Lektüre, die dir zerfleddert irgendwann aus der Hand fiel? Was heißt es, wenn du sagst, du hättest sie geliebt? Wenn du es sagst. Sagst du es denn? Sie hat dich dem Lesen, dieser schmerzfreien Art, Erfahrungen zu sammeln – so wie die Bienen ›sammeln‹ –, entfremdet, ganz recht: ent-fremdet.

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Du hast die Literatur, die Quelle deiner wirklichen Lebenserfahrung, beiseite gelegt wie ein Hemd, das in die Wäsche gehört. Sie kam dir schmutzig vor, sie kannte diesen Typus, mit dem du dich einzulassen im Begriff standest, im voraus, es sah nicht gut aus, was die Hure Literatur dir verriet, du entschiedest dich gegen die Hure und für … für … das, wovon sie sprach, unter der einen Bedingung, dass es ganz anders war als dort, wo du es beschrieben gefunden hattest. Es sollte anders sein, also hattest du dafür zu sorgen, dass es anders wurde, dass es mit dir anders wurde. Mit dir sollte Pida all das werden, was anders zu sein hatte an dem Typus, den sie repräsentierte, solange es eine Literatur gab, also ziemlich lange, verglichen mit der Zeit, die an ihrer Abschaffung arbeitete, weil sie ihre Traumbilder einzulösen beschlossen hatte. Wer beschließt so etwas? Bücher schreibende Sanguiniker? Entflammte Graubärte? Leute, die das Buch nur als Waffe gelten lassen? Junge Menschen, die einer überschwänglichen Idee von Befreiung folgen? In deinen Büchern werden keine Traumbilder geschaffen, es werden auch keine eingelöst. Wenn sie etwas fordern, dann Wissenschaft – den ›Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit‹. Diese Formel steht über deinen Büchern und denen deiner Generation, die zählen, wie das ›Lasset alle Hoffnung fahren‹ über Dantes Hölle. Lasset alle Träume fahren – sie fahren aber nicht, es wird weiter geträumt, es wird weiter gepatzt im Leben, Gesellschaft denkt nicht, sie denkt nur, sie könne es besser, darin liegt das Übel. Sie ist nicht schlecht, die Gesellschaft, erst recht nicht böse, sie ist nur … Oberfläche. Gesellschaft verschließt die unlösbaren Konflikte und widmet sich den lösbaren. Welche Konflikte sind lösbar? Pidas Konflikt war nicht lösbar, also war er inexistent. Dein Konflikt … hattest du einen? Oder hast du nur ihren aufgesogen, gierig wie ein Schwamm, weil darin etwas lag, was Zukunft versprach, das berühmte richtige Leben im falschen, wenn man es nur heraushob aus dem Schlamassel. Aber Pida lebte von Schlamassel zu Schlamassel fort, sie nickte deinen Deutungen freudig zu, während schon das nächste Unwetter über sie hereinbrach und sie ihre Misere fleißig zu deiner umbog.

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Vor dir hast du verleugnet, wer Pida war, du hast es nach Kräften verleugnet, genauer, mit aller Kraft, und als sie am Ende war, aufgesogen von einer Macht, gegen die du nicht ankamst, obwohl sie sich scheinbar aus lauter Kleinigkeiten zusammensetzte, selbst damals schrie noch eine Stimme dagegen an, dass dies das Ende sei, dass dies das Ende sein könne. Nicht Einsicht – Erschöpfung setzte den Schlussstrich, der keiner war, stattdessen Ausgangspunkt neuer Erbärmlichkeiten. Die bitteren Spiele der Unvernunft … niemals hast du dich gegen sie wehren können, all deine Gegenwehr blieb mit ihr im Bunde. Du brauchtest die Vernünftige. Du hattest sie bitter nötig,, um durchzuhalten. Warum sie damals zur Stelle war, gerade damals, das hast du dich nicht gefragt. Warum sie einsprang – gerade sie? Auch das hast du dich nicht gefragt. ›Einspringen‹, seltsames Wort. Wofür ist sie gesprungen? Was fehlte, damit sie dafür einspringen konnte? Wärme? Anwesenheit? Mitgefühl? Falsch. Ganz falsch. Das alles strömte auf dich über, als sie sich anbot, aber es war nicht das, was fehlte. Eine Verbündete? Gegen wen? Gegen Pida? Nein. Gegen die Unvernunft? Ja. Gegen Pidas Unvernunft? Ja. Jemanden, der half, Pida von ihrer Unvernunft zu trennen? Exakt. Nur eine gute Freundin konnte das sein. Was du brauchtest … eine Freundin, bereit, die Seite zu wechseln und zu erkennen, wie es um Pida stand. Woran erkennt man Bereitschaft? Am Zuhören. Sie hörte dir zu, sie war bereit, mit dir zusammen die Diagnose zu stellen, eure Diagnose, nicht deine, nicht ihre, gemeinsam erarbeitet, durch Reden und Zuhören. Wodurch sonst? Du brauchtest jemanden, der dich für vernünftig hielt, war es nicht so? Hielt sie dich für vernünftig? Ja sicher. Hieltest du sie für vernünftig? Ja sicher. Die Vernünftigen, das wart ihr: eine Notgemeinschaft der Vernünftigen gegen die brausende Unvernunft.

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Die Beziehung zu Pida war die Diagnose nicht wert, sie war tot. Auch eure Beziehung ist tot. War es das wert? Eine Ablösung unter Qualen für die Qual der Ablösung… – nein. So symmetrisch liegen die Dinge nicht. Heute? Heute empfindest du keine Qual. Eher … Verwunderung. Ganz recht: langanhaltende Verwunderung.

Darüber, dass dieses Band gehalten hat.

Darüber, dass es noch hält.

Darüber, dass es angebracht ist, zu spekulieren, wie es jetzt weitergeht.

Darüber zu spekulieren, warum es in diesem Fall kein Jetzt gibt.

Das wären vier Punkte. Gibt es noch mehr? Falls nicht, solltest du diese hier abarbeiten, solide, einen um den anderen. Diese Arbeit, sie ist dir unwillkürlich, nicht wahr? Sie geht dir leicht von der Hand, nicht wahr? Falls es dir gelingt – gelingen sollte! –, das Verhältnis auf eine methodische Basis zu stellen, was wäre damit gewonnen? Zeit? Auf jeden Fall Zeit. Der Aufschub hätte eine neue Schlacht gewonnen. Du wusstest nicht, dass er Schlachten schlägt? Dann weißt du es jetzt. Das innere Gemetzel, es nimmt seinen Gang. Forever.

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Frage, vorab zu klären: Welches Band? Was hält euch? Was hält dich? Gibt es da einen Unterschied? Offenbar nicht. Nein, es gibt keinen erkennbaren Unterschied. Das Band, das euch hält und das Band, das dich hält, ist ein und dasselbe. Wusstest du das? Nein, nicht wirklich. Du wusstest, aber vage. Das Band, das dich hält, ist das Band, mit dem sie dich hält. Ist das richtig? Es ist das, was du eine polemische Wahrheit nennen würdest, würde dich jemand fragen. Du willst es so sehen, also siehst du es so. Das ist nicht ganz richtig. Du bist erfüllt von Argwohn, dass sie es in Wahrheit so sieht. Da steckt die Wahrheit und will nicht heraus. Deine Angst vor der Wahrheit ist doppelstöckig. Du willst, dass es wahr ist, weil es dich entlastet. Du willst, dass es wahr ist, weil es dir Klarheit verschafft – eine grausame Klarheit, aber immerhin: Wahrheit. Deine Seele dürstet nach Wahrheit. Jedenfalls graust es ihr nicht davor. Welchen Sinn hat es hier, von Seele zu reden? Was du Seele nennst, was ist es mehr, was ist es anderes als eine Funktion des Bandes? Es ist das Band, das diesen Durst nach Wahrheit hervorruft. Natürlich willst du nicht, dass es so ist. Dein Stolz etcetera… Der Stolz will, dass das Band, das dich hält, selbstgefertigt ist, er will, dass du die Zügel in der Hand hältst, jede Sekunde deines Lebens. Weit ist es nicht her mit diesem Stolz, jedenfalls hier nicht, aber er existiert. Er wälzt sich in seinem Bett, er wälzt sich in deinem Bett, er wälzt dich in deinem Bett, er wälzt dich von einer Seite auf die andere, hin und her, hin und zurück, hin und wieder jedenfalls, heute treibt er es bunt. Auch dein Stolz will seine Wahrheit. Er will sie unbedingt, ohne Abstriche. Trotzdem … gerade er muss Abstriche vornehmen. Er muss sie hinnehmen. Er muss sie vornehmen, hinnehmend, wie ihm geschieht. Die Wahrheit des Stolzes ist eine, die ihn verletzt. Ein Stolz, der sich zufriedengibt, ist keiner. Wohl wahr: das wirft ein unangenehmes Licht auf den Stolz und die verletzende Wahrheit. Dein Stolz ist ein düsterer Geselle.

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Diese Vernunft, dieses Vernünftigsein, das euch zusammengebracht hat, wie hält es das aus? Wäret ihr beide so vernünftig, wie ihr euch gebt, ihr müsstet den Modus vivendi finden, der es euch erlaubt, das Gesicht zu wahren und so zu leben, wie ihr es für richtig befindet. War es richtig, hierher zu kommen? Bis gestern Abend glaubtest du: ja. Seit gestern Abend weißt du: nein. Das ist eine Clique. Alles in dir strebt von hier weg. Dennoch: du bist geblieben. Heute wie gestern, morgen wie heute, das weißt du doch. Das Band hält, weil es immer gehalten hat. Es hat gehalten, weil immer Heute war, aus keinem anderen Grund. Die Kraft des Heute zwingt dich nieder. Wie kann das sein? Sie zwingt dich in die Knie, sagt dir das etwas? Das Vernünftigsein und die Kraft des Heute, sie sind ein und dasselbe, zwei Ansichten einer Sache, zwei sehr unterschiedliche Ansichten, aber unter Alltagsgesichtspunkten fließen sie ineinander. Wie sich von jemandem trennen, dessen ganzes Wesen tagtäglich zu dir spricht: Sei vernünftig? Wie sich von jemandem trennen wollen, dessen ganzes dir zugewandtes Wesen spricht: ›Begeh’ keinen Fehler…‹? Gerade hier liegt der Fehler. Es zwingt sich, keinen Fehler zu begehen, jedenfalls hält es dich dazu an, sie nötigt dich, nicht das Gesicht zu verlieren, nicht vor ihr, denn sie ist dein Vernünftigsein, du verfügst über kein anderes, nicht in dieser Beziehung. Sie war Ariadne, sie hat dich am Faden deiner Vernunft aus dem Labyrinth gezogen, demselben, das Pida um dich geschlungen hatte, als sie dir ihr Inneres andrehte, ja andrehte, etwas Unlauteres war dabei und ging niemals weg. Aus diesem Labyrinth hat sie dich herausgezogen – fort, nur fort! welch Glück, dass ich weg bin –, aber nicht ganz, nicht wirklich, noch immer befindest du dich im Eingangsbereich, auf der Schwelle, im Halbdunkel, gerade deshalb behauptet das Vernünftigsein seinen Wert, einen Wert ohne Grenzen, einen Wertzwang, wenn du es richtig betrachtest, das willst du doch. Willst du es? Sie hat dich an der Vernunft erwischt, an deinem Willen, vernünftig zu leben, gib’s zu, an deiner Vernunftanfälligkeit, so sah es für sie aus.

Und sie machte ihr Bestes draus. Perfekt.

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Einmal im Leben tritt jeder vor seine Sphinx. Sie weiß schon, was er will, sie ist im Bilde, denn sie ist Teil des Bildes. Wissen will er, wie es weitergeht, mit ihm und überhaupt. Doch dieses kleine kriechende ›es‹ ist ihm vorausgeschlüpft und starrt ihm aus ihrem Antlitz entgegen. Das ist eine Redensart, denn die Sphinx verfügt über kein Antlitz. Jeder sieht, was er sieht, nach Kräften, könnte man sagen, das nähert sich schon der Zone des Kalauers. Dieser Drang zu kalauern, gerade an dieser Stelle, wo kommt er her? Die Sprache wird weich, wenn die Gegenwart sich verrätselt, sie fließt und gerinnt, fließt und gerinnt. Worüber verfügt die Sphinx? Über dich, wen sonst? Besessen bist du, nicht wahr? Wissen willst du, wie es weitergeht, statt zu entscheiden, was zu geschehen hat. Dein Wissenwollen ist ein Ausweichen, nicht wahr? Du weichst der Gegenwart aus. Du hast keine Gegenwart, nur diese beklommene Frage, wie es nun weitergeht, mit ihr, mit dir, mit allem. In dieser Frage verklumpt sich die Gegenwart. Welchen Wert besitzt so ein Klumpen? Wie schwer wiegt er? Gerade noch schwer, jetzt ganz leicht: Rühr mich nicht an! Ganz recht: Rühr ihn nicht an. Die Sphinx, das ist: die schlimme Lösung. Sie vernichtet den Wunsch, ein für allemal, die Seele dessen, was ist, ganz recht, die Seele, das Erträglichkeitsmoment, das ›falsche Bewusstsein‹ der Ideologen, das ist komisch und ein wenig gruselig, du könntest tot sein und alles ginge weiter, was soll das sein? Reiß dir die Voodoo-Maske vom Gesicht, sie passt nicht zu dir, sie steht dir nicht, du willst so nicht sein. Warum bist du’s? Diese Frau will dich genau so, wie sie dich will, nicht anders. Keinen Deut will sie dich anders. Sie will dich zappeln sehen. Nein, das ist nicht richtig. Sie verlangt, dass du aus deinen Deutungen heraustrittst und ihre annimmst. Sie will Deutungshoheit. Es stört sie, dass du unter ihr leidest, das will sie nicht. Sie will, dass auch du perfekt bist. Perfektsein ist schwer, das weiß sie, sie weiß es von sich, sie weiß es von Pida, die dagegen rebelliert. In dir will sie Pida töten.

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So hat er es nie gesehen. Sie führt Krieg gegen Pida, als müsse sie an ihm ausbrennen, was sie an Pida fürchtet. Pida oder das Unberechenbare: in dir, in ihr, vor allem in ihr. Sie verhält sich gegen Pida, als sei sie nicht vorhanden, als rede sie mit sich selbst, das ist ihm immer aufgefallen, schon als sie schwesterlich nebeneinander saßen und sich über ihn oder die Männer austauschten. Ihr Kampf gegen das Unberechenbare: wie alt mag er sein? Was war das erste Unberechenbare in ihrem Leben? Die Mutter? Müßiges Rätselraten. Unberechenbar ist der Partner, der sich entzieht. Hinter ihm wird sichtbar: der Mann, der geht. Wer die Beziehung will – und sie will die Beziehung –, der will bestimmen, wann sie zu Ende ist. Nur so vermeidet er, Opfer zu sein. Beziehung ist der gelebte Anspruch, nie wieder Opfer zu sein. Nie wieder? Wann war sie Opfer? In welcher Beziehung? Das ist leichter gesagt als erforscht: in jeder. Sein Vorgänger ist gegangen, also wird auch er gehen. Ginge er nie, es wäre die Katastrophe. Ginge er, es wäre die Katastrophe noch einmal. Zwei Ausgänge, zwei Katastrophen: über dem einen steht: ›Nie wieder!‹, über dem anderen: ›So nicht!‹

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»So geht das nicht!« Mehrfach dieser Satz aus ihrem Mund, hart, überzeugt, mit sich selbst im Reinen, wenn sie, den Blick ins Leere gerichtet, zu berichten wusste, wie es einer Bekannten in der Beziehung erging. Aber gerade so ging es. Sie wusste es, ihr Mund sagte es, während er jenen Satz formte. So geht das nicht – warum nicht so? Wie anders? Seine Antwort, gerade so unwillkürlich: »Es geht auch so« – eine tiefe Kränkung, ein Zeichen seines uneinsichtigen Charakters, ein Zeichen, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Aber das wusste sie längst, seit Pida wusste sie es, sie wusste es von Pida, aber vor allem durch sie, durch sie hindurch, als sei sie ein Vergrößerungsglas, auf ihn zu richten, wann immer es ihr angebracht schien. Wer war Pida für sie? Tronka fühlte, wie der Gedanke ihn straffte. Pida, sie war die Frau, die sich nicht lösen konnte. War sie ihr Ebenbild? Wo lag die Beziehung, aus deren Umklammerung sie sich nicht lösen konnte? Argwohn, mit Hoffnung getränkt: es war seine, es war ihrer beider Beziehung – ein leerer Argwohn, der an den Realitäten kratzte und nicht hineinpasste. Fast selbsttätig stieg hinter ihm das Feistgesicht auf, die Beziehung hinter ihrer Beziehung, eine, die nach den Regeln der Kunst keine war, eine Beziehung ohne Coming-out, also ohne Geltung, eine Beziehung zu dritt vielleicht, eine, an der womöglich die Rohrdommel wider alle Vernunft festhielt, uneinsichtig, wie nur Freundinnen-Egoismus es ›bringen‹ konnte – ein Egoismus, der aus der Konstellation Genuss zog, weil sie ihm Macht über die Konkurrentin verschaffte. Mit ihr hatte sie sich verbündet, weil sie nicht mit ihr fertig wurde, mit Pida hingegen wurde sie nicht fertig, weil sie sie längst besiegt hatte und weiter im Schatten einer übermächtigen Konkurrentin stand, weil sie nicht loslassen konnte. Die nicht gelebte Beziehung strafte die gelebte Lügen. Sie allein lebte fort, wohingegen die andere längst auf der Strecke geblieben war und deshalb, so wie die andere, aber aus entgegengesetztem Grund, nicht mehr angemessen aufgelöst werden konnte. Nur wer zusammenzog, kann auseinanderziehen, Erklärungen sind Schall und Rauch, leeres Gerede von Leuten, die nicht wissen, was sie zu tun haben. Pidas Drohungen, Pidas Wutausbrüche, Pidas gespielte Verzweiflung: nichts weiter als fortgesetzte Vertuschungsversuche angesichts der nicht wegzuleugnenden Tatsache, dass sie es versäumt hatte, die Beziehung zu liquidieren, bevor ihr die Konkurrentin das Heft aus der Hand nahm. Pida wollte ihn wiederhaben, um ordentlich Schluss zu machen, Grund genug für die andere, ihn nicht wieder herzugeben, koste es, was es wolle.

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Perfektionsfrei war Pida nicht. Ihre Perfektion lag im Auftritt, danach versank sie im traurigen Chaos ihrer Gedanken und allem, was daraus entstand. Die Perfektion der Nachfolgerin lässt den Auftritt aus. Sie lässt ihn passieren, sie sorgt dafür, dass aus ihm nichts entsteht. Tronka erinnerte sich an eine Reihe von Szenen, in denen er sich ebenso heftig wie folgenlos zur Wehr setzte, nachdem sie wieder einmal einen ihrer nach ausgiebigem Gespräch gemeinsam gefassten Beschlüsse geräuschlos annulliert hatte. Er erinnerte sich nicht wirklich, er legte – jetzt und an dieser Stelle – Wert darauf, sich zu erinnern, beschwor Erinnerungen wie ein müde gewordener Hexenmeister, der zwar noch weiß, wie’s geht, aber der Effekt bleibt im Ungewissen, der alte Mann mischt Erlebtes und früher Beschworenes, er legt ein wenig zuviel Nachdruck darauf, Bescheid zu wissen, als liege hier der Schlüssel zu allem, auch wenn er ihn gerade nicht findet. Ist er das: ein alter Mann? Nach den Maßstäben jener frühen, zauberschwangeren Gesellschaften: ja. Nach denen seiner Gesellschaft: nein. Nach den eigenen: Alter, was soll das sein? Eine offene Rechnung mit dem Feind, dem Vergessen, dem müde gewordenen Wüten gegen sich selbst, den Selbstzweifeln ohne Ausgang, den offenen Rechnungen ohne Aussicht, sie bezahlen zu können, der alles überdauernden, hinter jeder Leugnung sich wieder zusammenstellenden Schuld, ein Buchhalter-Trick, eine Abschreibungsroutine, ein Haus am Hang vor dem Bergsturz. Die zweite Beziehung, was erlaubt sie sich? Erlaubt sie die prima vita ›danach‹? Das erste Leben noch einmal? Den erneuten Anfang? Du musst neu beginnen, flüstern ihm die Kollegen von der Psychofront zu, als handle es sich um eine neue Versuchsreihe, nachdem die eingeworbenen Mittel freigegeben wurden, Neue Liebe, neues Glück, kreischen die Blättchen der Yellow Press, die, allen Umbrüchen an der Gesinnungsfront zuwider, wie eh und je in den Cafés und in den Wartezimmern der Ärzte ausliegen, ein unverwüstliches Gestrüpp. Du musst dein Leben ändern – Parole der Scharlatane aller Länder, auch Fachkollegen turnen unter ihr mit, üben Handstand und Rolle vorwärts, vermutlich haben sie die erste oder zweite Scheidung hinter sich und wollen ihr Rezept weitergeben. Das erste Leben noch einmal, die gemütliche Hölle, die Hölle fürs Gemüt, das glaubt, ihr entronnen zu sein, weil es anders nicht leben kann, es will aber leben, es bastelt sich sein Entronnensein. Da es allein nicht zurechtkommt, holt es sich Hilfe und bekommt sie auch, aber anders als erwartet. Es bekommt Nachhilfe: Du bist du selbst, dir kannst du nicht entfliehn. Ist das wahr? So hoch würde er das Selbst nicht hängen, es bleibt, bei alledem, der ruhige Kamerad im Hintergrund, kaum möglich, es aus der Reserve zu locken. Selbst ist der Tod. Was noch? Was noch? Ein anderer Satz ist sein Begleiter geworden, unauffällig, beharrlich wiederkehrend: Hier ist kein Ende des Irrens, denn der Weg ist der Irrtum. Hin und wieder ertappt er sich dabei, wie er ihn sich vorspricht, halbmechanisch, ein Greis, eine Sprechmaschine, ein ›Iteratur‹.

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Die Clique ist ausgeflogen, das Nest ist leer. Sie haben ihn nicht ins Bild gesetzt. Ist das Respekt? Mangel an Respekt? Beides? Es hat etwas Verletzendes, es ist roh, es ist gerechtfertigt, denn es rechtfertigt sich selbst. Diese Menschen rechtfertigen sich selbst. Was immer sie sind, vor sich selbst sind sie im Recht. Keiner muss sich rechtfertigen, es sei denn vor Gericht oder vor ihrer Frau. Liegt hier der Grund, dass die Zahl der Lesben nicht steigt? Welche Frau will schon eine Frau? Eine Freundin, das ist etwas anderes, das ist rechtfertigungsfreie Zone. Drei Freundinnen haben sich hier versammelt, Kind und Mann haben sie mitgeschleppt und behandeln sie wie Trophäen, die ihren Wert unter Beweis stellen müssen: gütig, die Kralle im Ärmel. Zusammen bilden sie eine Gruppe, eine bewegliche soziale Einheit, in der das Recht des Stärkeren gilt, austariert durch die Gemeinschaft der Frauen: mit Sicherheit hat das Feistgesicht das Ziel für den heutigen Ausflug festgelegt und nun brausen sie dahin. »Schlag’ etwas vor!« wird eine der Frauen, stellvertretend für alle anderen (sie wahrscheinlich, denn in dieser Hinsicht tut sie sich vor den anderen hervor), ihn aufgefordert haben, mit heller, offener Stimme, so dass alle die Ohren spitzten, und er wird, scheinbar in die Runde, in Wahrheit an die Adresse seines männlichen Rivalen, die Frage geworfen haben: »Hat jemand einen Vorschlag? Also gut, ich schlage vor… Der Nachmittag bleibt dann offen, vielleicht will eine der Frauen… Aber ich will mich nicht vordrängen. Überlegt’s euch gut. Ich bin für alles offen.« Es ist wichtig, für alles offen zu sein. Es ist das Credo der Gruppe und das Fanal seiner Stärke. Er ist der Offenste. Seine Offenheit hebt sich wohltuend und bedrohlich von der Beschränktheit der restlichen Männer ab. Bleich und abgespannt sind sie aus ihren Berufen hervorgequollen und blinzeln, nach langer Anspannung, ins gliederlösende Licht. Holger, der Arzt in der Runde, ein ruhiger Kunde, dem man den Kittel ansieht, hat sich gleich gestern an Feistgesicht angeschlossen, er kennt das Ritual und sucht Entlastung durch Anschluss. Das beruhigt die Gemeinschaft der Frauen und nährt die Geringschätzung, die seine Gefährtin für ihn empfindet. Der Zweck der Gruppe liegt darin, etwas zu unternehmen, irgendetwas, um es anschließend zu bereden. War es gelungen? Hat es sich gelohnt? Sollte man es irgendwann wiederholen? Die gelungene Unternehmung funktioniert wie ein Crevetten-Cocktail, dröhnend vom Feistgesicht zelebriert: man erkundigt sich nach dem Rezept, notiert es in Gedanken und legt es dort ab, wo so viele seiner Vorgänger schimmeln.

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Hol’s wieder! Vergebliche Mühe. Feistgesicht kennt seine Pappenheimer, er hat seine Routen im Kopf, während die anderen in Erwartung verharren, er legt sein Gewicht auf die Waagschale, wann immer die andere Seite nach unten geht. Seine Lenkung bürgt fürs Gelingen. Den Frauen gibt sie das Gefühl, so ist es richtig, so und nicht anders. Schöner wäre es, eine Frau würde die Führung übernehmen, aber so wie die Dinge liegen, sind sie beruhigt. Tronka, das kommende Gruppenleben bedenkend, reibt sich die Augen. Die anderen Männer, das sind: der Arzt und er. Es liegt am Zahlenverhältnis – er wird gebraucht, um den Sektor der anderen Männer zu komplettieren. Sein heutiger Ausfall lässt die Gruppe lahmen, er spürt den aus der Ferne des Ausflugs nach ihm greifenden Sog, er spürt eine blinde Bereitschaft zu geben, was er verabscheut, das gesellige Zweitwesen, das in ihm steckt und herauswill … irgendwie fühlt es sich blockiert und verstrahlt Unruhe … voilà, da ist er, der Stellvertreter, den, wie zuvor Pida, sie in ihm induziert hat, ein Pappkamerad, eilfertig, immer zur Stelle, sobald einer ihrer Ansprüche auf ihn zielt und er achselzuckend feststellen muss, dass nicht er gemeint ist, sondern der Pudel. Der Pudel, ganz recht, der gefügige Partner-in-der-Beziehung, der sich willig verhält, wie das Kollektiv es verfügt. Das Kollektiv, das ist … das ist heute diese Gruppe, morgen eine andere, die Peripherie wechselt, der Anforderungskern bleibt bestehen. Aber er wechselt das Aussehen mit der Peripherie. Sei der, mit dem ich vor der Gruppe bestehen kann. Nichts spricht, für sich betrachtet, gegen eine solche Forderung, es sei denn die Impertinenz, mit der sie sich vorträgt: unpersönlich, als allzeit bereites Enttäuschtsein, als Fleißkärtchen verteilende Missachtung, als Distanz. Ich und die Gruppe sind eins, sieh du zu, wie du zurechtkommst. Die Gruppe ist stärker als die Zweierbeziehung. Sie nähert sich darin dem Rudel, das gibt und nimmt und jedes Mitglied gnadenlos ausbeißt, das zu fremdeln beginnt, wenn erst ein eigener Gedanke in ihm aufsteigt.

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Wenn die Gruppe stärker ist als die Beziehung, was ist dann die Beziehung? Denk um, Tronka, denk um. Es ist ja nicht so, dass die beiden miteinander im Kampf stehen und am Ende die Gruppe sich durchsetzt. Der Kampf, soweit es ihn gibt, vollzieht sich in dir, ausschließlich in dir, er wütet in der Beziehung, wenngleich nicht gegen sie. Wundere dich also nicht, wenn deine geliebte, geschätzte, gemiedene Partnerin dich als Wüterich markiert, wie du manchen Äußerungen aus Kindermund in der letzten Vergangenheit unschwer entnehmen konntest: sie tut es im Dienst der Gruppe, der augenblicklich ihre Hingabe gilt. Das Wort ist tabu, der Wunsch nach Hingabe gilt als Verbrechen gegen die Weiblichkeit, aber die Sache ist weiterhin in der Welt, sicherlich diffus, ganz sicher nicht in der ›auf Partnerschaft gebauten‹ Beziehung, aber in der Gruppe, die nie darüber spricht, wird sie selbstverständlich erbracht. Wenn die Gruppe die Beziehung fördert, sie honoriert und gewissermaßen auf ihr besteht, dann deshalb, weil sie, nun ja, ihrem Bedürfnis entgegenkommt, zumindest einem ihrer Bedürfnisse, nur zu, nur zu –: was soll es anderes sein als das Bedürfnis, den sexuellen Unfrieden aus ihr zu verbannen, ihn wenigstens soweit zurückzudrängen, dass er ihren Zusammenhalt nicht gefährdet, den geheiligten Zusammenhalt, denn sie ist, nüchtern betrachtet, abseits von Staat, Gesellschaft, Familie, Liebe das, was in ihrem Universum wirklich zählt. Im Allerheiligsten der Gruppe nehmen die Verhältnisse Licht, Farbe, Gestalt an und fügen sich so zusammen, wie sie zu sein haben, um genehm zu sein: ›Passt/passt nicht‹.

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Ein seltsamer Anspruch spricht aus der Person, die sich bereitwillig an dich gebunden hat, um dich zu binden … wie zufällig in dem Augenblick, in dem du dich zu lösen glaubtest. Nicht diese Beziehung will er, er will eine Beziehung wie alle anderen auch. Dich erstaunt seine Stärke, dich erstaunt seine Durchsetzungskraft, warum? Die du zu lieben glaubst – du musst es so sagen, denn das, was du als Liebe bezeichnest, schwingt wie ein Pendel in einem entfernten Schließfach, zu dem nur der Glaube Zugang verschafft –, diese Person wäre, auf sich gestellt, viel zu schwach, viel zu unbedeutend, als dass sie erzwingen könnte, was sie spielend erzwingt: dein Mittun. Deine Abneigung, dich ›vereinnahmen‹ zu lassen, dieses Widerstreben, diese Missempfindung, dieser Wider-Wille, der niemals – oder nur in den seltensten Ausnahmen – Wille wird und sich durchsetzt, sie gelten nicht der Zweiergemeinschaft, der Zweisamkeit, sondern dem Befehl, der hinter allem aufblitzt: Gehorche der Gruppe! Die Gruppe setzt die Standards. Wie eine geht, sich kleidet, sich gibt, wohin sie geht, sobald das zum Stigma gewordene Signal ›Freizeit‹ vor ihrem geistigen Auge aufleuchtet, darüber wacht, ebenso ein- wie vielstimmig, schwer zu unterscheiden vom chaotischen Geräusch der Umwelt, die ›ingroup‹, der um einen temporären Pascha gelagerte Chor der Weiber, dem sie sich zugehörig weiß. Man muss leidgeübt sein, um seine Stimme aus dem allgemeinen Gequatsche herauszuhören, die Stimme des Kollektivs, du musstest erst leidgeübt sein, um dieses Allerweltswesens ansichtig zu werden. Alle paar Wochen versammelt es sich in deinem Haus, um deinen Tisch – ein Revisionsgericht, das verköstigt werden will, solange es tagt, und sie in nicht geringe Umstände stürzt, das deine Anwesenheit gnädig zur Kenntnis nimmt, um sie gleich wieder zu ignorieren, sobald es seiner Arbeit nachgeht, und dabei unauffällig nach dem Rechten sieht.

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Die Kleingruppe hier, darauf eingestimmt, in den kommenden Wochen gemeinsam zu kochen und jedes Ausflugsziel in der Umgebung abzugrasen, um sich ihrer Lebensart zu versichern – was stellt sie anderes dar als einen Außenposten, eine Zollstation in der Wildnis, deren Besatzung darüber wacht, dass kein auf eigene Faust operierendes Schmugglerpärchen aus der Zweierbeziehung erwächst? Dieses Wort … idyllisch, nicht wahr? Es sollte dich aufrichten, Tronka. Es leistet etwas, nicht wahr? Ein Schmuggelwort selbst, dem vertrauten ›Liebespaar‹ untergeschoben, um es auf klinischem Weg zu verändern… Es leistet, unter Kollegen und ausstrahlend auf die von ihnen herangezogene Heerschar der Therapeuten, Paar-Berater und schreibenden Sex-Spezialisten, dasselbe wie das Wort ›vögeln‹ für die akademisch angehauchte Plebs. Es bricht die befreiende Kraft des Sexus, das Mantra ihrer Arbeit am sozialen Körper, herunter auf die sozial verträgliche Norm. Eine Zweierbeziehung, was soll das sein? Was, wenn nicht eine Sonderform, eine von vielen möglichen Beziehungen, man könnte sie ›klassisch‹ nennen, da sie so oft nachgefragt wird, aber meine Güte, das muss nicht so sein, das muss nicht so bleiben, das lässt sich ändern, das werden wir ändern, Schritt für Schritt. Die Zweierbeziehung ist ein Labor, eines von vielen, welche die Gesellschaft unterhält, um zu erkunden, was ›dran‹ und ›drin‹ ist, wie die Sache funktioniert und wie sie sich ändern lässt. Du verweigerst den Therapeuten, Tronka. Vergiss das nie. Gewiss sähe sie es gern, wenn du ihn aufsuchen würdest. Es wäre ihr Erfolg. Dein Geschlechtsteil gehört ins Behandlungszimmer. Wie heißt das Spiel? Weigere-dich-nicht. Dass du dich weigerst, zeigt das Ausmaß deiner Verblendung. (So müssen Frauen früherer Jahrhunderte ihre Männer vor den Beichtstuhl geschleppt haben: Geh hinein! Erleichtere dich! Lass dir sagen, wie’s geht! Mach’s uns leichter! Erleichtere mich!) Sie weiß, du weigerst dich, sie fand deine Weigerung gut, damals, als es um Pida ging, jetzt weiß sie Bescheid und findet sie nicht mehr so gut, kein Wort darüber, das versteht sich von selbst. Sie kennt deine Einstellung, vermutlich bedrückt sie das, vermutlich weiß der Chor der Weiber längst, dass es sie bedrückt, und zerreißt sich das Maul.

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Das zweifelhafte Vergnügen, entronnen zu sein – ein, zwei, drei Stunden, nicht durch Willensbekundung, stattdessen gedeckt durch eine Attacke, deren Ausläufer weiterhin spürbar sind, aber auf ihrem langen, langsamen Rückzug stückweise die Empfindung freigeben, hoher Mittag, hinter Jalousien verborgen, hinübergleitend in einen kurzen, mediterranen Nachmittag… Ein Tag ohne Dienstbarkeit. Leere Schale. Tag, der vergeht, ohne sich seinen Teil genommen zu haben. Du willst ihn nicht halten, du willst, dass er vergeht, aus einem störrischen Impuls heraus verlangst du, dass er vorbeigeht, als spiele der eigentliche Tag jenseits der Jalousien, als streife er nicht breit durch dich hindurch. Der eigentliche Tag, das eigentliche Leben, die eigentliche Beziehung: das Wort war einmal markiert, es war durchgestrichen, verboten, bei Strafe der Lächerlichkeit, und doch – eigentlich hat es überlebt, eigentlich wartet es noch in der Kulisse, sein Auftritt, eigentlich vorgesehen, verschiebt sich von Szene zu Szene, von Akt zu Akt. Auch die Theorie kennt ihre Meister des Aufschubs, kennt die Lust, ihn zu denken, als sei eigentlich er es, der die menschlichen Angelegenheiten ordnet und lenkt. Dabei setzt er das Eigentliche voraus, er setzt es ganz oben auf die Rechnung, er gibt den Zahltag vor, den Tag ohne Täuschung, an dem den Augen die Binde abgenommen wird und es wie ›Schuppen‹ von ihnen fällt: Sei kein Fisch. Du kennst das Bild, du hast es selbst oft gebraucht. Wie oft hast du Kollegen, nach Abteilungen abgesondert und nummeriert, in ihren Aquarien betrachtet, wie verwundert warst du, wann immer sie sich in ihrem Element befanden: warum zögerst du, die Empfindung nach Hause zu tragen und zuzugeben, dass dein Leiden, dein Überdruss, deine Blockade einsetzt, sobald sie sich in ihrem Element befindet, dass deine Schwierigkeiten dort beginnen, wo sie sich ›wie selbstverständlich‹ in ihrem Element bewegt, eine rüstige Schwimmerin, geübt und zielsicher?

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Einer setzt die Norm, ein anderer unterwirft sich ihr. Einer gibt vor, einer nach: so entsteht Kontakt in die Fläche, so entsteht Verwobenheit. Du fühlst dich gut, solange du glaubst, die Dinge laufen nach deiner Norm. Verhältst du dich redlich, so ist sie nicht deine, sondern aller Norm, vernünftig, durchsichtig, beistimmungsfähig, beistimmungspflichtig, reell. Störrisch ist immer der andere: er wird sich fügen. Lange fühlst du dich gut, bis du begreifst, dass die Dinge andersherum laufen – eine andere Norm hat sie, in aller Heimlichkeit, unterspült und in ihrem eigenen Bett umgedreht. Nun bist du es, der gegen den Strom schwimmt, der die Mühsal spürt, mit dem anderen mitzuhalten, dessen Gesicht keinerlei Anstrengung zeigt. Etwas läuft schief: so denkst du, aber das Bild ist schief, es führt dich auf Abwege, es verdoppelt, es vervielfacht deine Mühen und mindert den Ertrag. Eigentlich mindert es ihn nicht, sondern verkehrt ihn ins Negative. Es gibt keine Arbeit an der Beziehung. Das ist das erste, das zu begreifen dir aufgetragen ist. Wer dich dazu anhalten will, an ihr zu arbeiten, der hat sich bereits verabschiedet. Nicht aus, sondern in der Beziehung vollzieht sich der Abschied: lautlos, eigentlich, aus Gründen, die dir notwendig verborgen bleiben, weil die andere Seite sie vor sich selbst versteckt hält und mit Scheingründen überschüttet, die allesamt dich aufs Korn nehmen – warum? Weil du da bist, ein Stellvertreter all derer, die heute, morgen, übermorgen an deine Stelle treten könnten, weil deine bloße ansteckende Gegenwart all jene verdeckt, mit denen Leben, Bewegung, freie Gangart, ein lustbetontes Dasein möglich wäre. Du musst dich ändern und du kannst es nicht, du könntest dich ändern, wenn du es wolltest, aber du willst es nicht, du willst dich ändern, aber eine unerklärliche Trägheit hält dich davon ab, obwohl du, genau betrachtet, ganz und gar nicht träge bist, also willst du dich nicht bewegen. Aber bewegen musst du dich: wenn das für dich Arbeit bedeutet, gut, dann arbeite!

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Der Anspruch, in einer Beziehung zu leben wie alle anderen auch, unterwirft das Verlangen nach sexueller Befriedigung einer Norm, von der vorher nirgends die Rede war. »Das gilt nicht!« rufen in solchen Fällen die Kinder, und Recht haben sie, auch wenn sie es nicht bekommen. Das Recht hat sich versteckt, es rumort hinter der Sache, um die es jetzt geht, ein anderes Recht ist an seine Stelle getreten, das Recht des Stärkeren, das auch den Erwachsenen beugt. Der Anspruch, in die Beziehung geweht wie ein verfrühtes Herbstblatt, entzieht den ›Partnern‹ die Kontrolle über die eingebrachten Organe und erschafft sich aus ihnen ein Instrument aktiver Kontrolle. Ein Geschlechtsorgan ist noch frei, es ist unbesetzt, es reist einem Ziel entgegen, von dem der Besitzer sich alles verspricht – alles in jenem Sexualsinn, der zu gewissen Zeiten jeden anderen überströmt. Zwei Geschlechtsorgane sind ein System, eine soziale Zelle, die ein- und ausschließt, ein pulsierendes Stück Gesellschaft, das nicht lockerlässt, bis es im gleichen Rhythmus wie seine Umgebung schwingt. Wer wen wie, das bleibt jedem freigestellt, doch in der Handhabung lauert der Chor. Schafft sie es? Was ist da zu schaffen? Was soll sie schaffen? Bedenke es gut. Dein Glück hängt daran, bedenke es gut. Dein Glück ist abgehängt, was gibt es da zu bedenken? Die Gruppe, die ohne dich losfuhr, deren Wiederkehr du mit gemischten Gefühlen erwartest, obwohl du dich hier mit ihr getroffen hast, um deine Beziehung zu leben und nichts weiter, sie spricht eine deutliche Sprache. Was verlangst du mehr? Nicht Lust, sondern sorgsam dosierte Unlust regelt eine Beziehung, das weiß doch jeder, der sich einmal in ihr umsah, du wärest der erste nicht. Diese Frau, die sich dir einmal geschenkt hat, wie es in der Sprache des Gabentausches so wunderbar eindringlich heißt, ist dünn wie ein Stück Papier, ein Osmose-Häutchen, durch das die Gruppe in dich einsickert, nicht, weil ihr an dir gelegen wäre, sondern weil sie zufällig diese Frau verwaltet, weil die Schenkung, der freie Akt einer freien Person, gezinkt war.

Erst die gescheiterte Beziehung führt dem Chor den Stoff zu, den er braucht.

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Du musst dein Leben ändern. Das ist leichter gesagt als getan. Vor allem: auch diese Aufforderung ist gezinkt. In ihr sammelt sich der Chor all derer, vor denen du glänzen willst. Denn glänzen, das willst du doch. Vor dir oder vor anderen, wo liegt der Unterschied? Du siehst dich gar nicht, es sei denn in den Augen der anderen, es sei denn mit den Augen der anderen. Du musst dein Leben ändern, das heißt: Zerstöre dich, um dich neu zu errichten. Bist du ein Haus? Wer soll dich bewohnen? Wer will dich bewohnen? Wer wird dich bewohnen? Wer bewohnt die Frau, die das von dir verlangt? Das Geschnatter des Chors, das aus ihr herausdringt, lässt nichts Gutes erwarten. Sie ist ein guter Filter, noch hält sie das Gröbste von dir ab. Das kann sich ändern, das wird sich ändern, wenn erst der Neubau steht. Doch die Arbeiten stocken. Es will nicht recht vorangehen mit dem Bau, manchmal, du siehst es, wird sie blass vor Zorn, ohne dass du den Grund davon zu Gesicht bekämest. Dann muss der Druck groß sein, dem sie sich ausgesetzt sieht. Dennoch ist sie frei. Es genügt ihr nicht, fremden Druck weiterzugeben, sie will, was sie will, unbedingt, sie spitzt alles, was sie bedrängt, in diesem Willen zu, der unaufhörlich auf neue Mittel und Wege sinnt und zur Weißglut anwächst, wenn er an einer Stelle nicht weiter kommt. Warum fällt er dir jetzt erst auf, dieser Wille? Ganz einfach: weil er kein entschiedener Wille ist, sondern ein absoluter. Der absolute Wille bleibt unsichtbar, solange er nicht, wie blanker Hass, ins Gesicht tritt. Was du instinktiv für Unwillen hältst, für Willenserwartung: das ist er.

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Du musst dein Leben ändern: du musst es wirklich. »Krebs« hatte der Schamane getönt, der Scheidungsmacher, die fahlen Backenhäute nachlässig übers Gebiss geworfen – die biologische Antwort lautet: »Krebs«. Gibt es auch eine nicht-biologische Antwort? Perfektion. Wie konnte dieses Buchhalter-Ideal ein Geschlecht befallen, das drei Generationen vorher angesichts der Möglichkeit eines durch Zufall entblößten Knöchels zuinnerst erbebte und seither Sex-Illusionen aufträgt, als habe es nie etwas anderes im Sinn gehabt? Die biologische Lösung für ein soziales Problem: Krebs. Die soziale Lösung für ein biologisches Problem: Perfektion. Wenn die Frau sich dauerhaft in eine Maske verwandelt, was bleibt dann dem Mann? Der trunkene Wunsch, die Maske herunterzureißen, verendet an der Schwelle des leeren Haushalts, durchquert von Wesen, die bestimmen, ohne sich auf das Spiel der Bestimmungen einzulassen, das jedem, der an ihm teilnimmt, das Recht auf die eigene Stimme verleiht. Die Maske der Selbstbestimmung tönt: Du musst gehen! Du kannst nicht gehen! Ich kann gehen. Ich will nicht gehen, es sei denn, du zwingst mich dazu. Zwinge mich nicht! Aber du zwingst niemanden, auch sie nicht, gerade sie nicht. ›Zwinge mich nicht‹ heißt: Ich habe völlige Freiheit, zu gehen, wann es mir passt, und alles kann der Auslöser sein. Bewege dich oder bewege dich nicht: Es ist alles gleich. Es ist alles ungleich, denn was gleich oder ungleich ist, das bestimme ich. Ich will, dass du dem gleichst, dem du nicht gleichen darfst. Der hässliche Mann, der geächtete Macho, der Misstrauische, der beleidigte Hahnrei, der Schwanzbesessene, der Fuchtler vor leerem Haus – das alles bist du, so oft ich es will. Ich weiß, du leidest an diesen Unterstellungen, sie kommen dir unsinnig vor, du denkst, in Wirklichkeit seist du ein anderer. Gerade das zieht mich an. Ich will dich leiden sehen. Warum? Weil es mir zeigt, dass ich perfekt bin. Dein Krebs ist der Spiegel meiner Perfektion. In diesem Punkt unterscheide ich mich nicht von einer Kokotte des neunzehnten Jahrhunderts. (glaub nicht, dass ich nichts lese – auf dem Auge bist du blind!) Du musst dein Leben ändern? Nur zu! Gerade darum geht der Kampf. Wenn du meinst, du kannst ihn gewinnen, dann sieh zu, dass du ihn gewinnst. Ich gewinne in jedem Fall.

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Wenn die Widerstände so groß sind, dass du, sie durchdenkend, von ihnen eingeholt wirst, ist das dann Psyche? Dazu müsstest du wissen, was dein Widerstand ist und was nicht. Spürst du ihn? Ja. Wie spürst du ihn? Als Jucken am linken Zeh? Nein. Meldet sich eine alte Verletzung? Das kann sein. Das kann gut sein. Das wird schon so sein. Kannst du sie benennen? Nun ja … im Augenblick… Denk nach! ›Sobald ich nachdenke, fällt mir alles Mögliche ein‹ – meinst du das? Das meinte ich. Jetzt meine ich etwas anderes. Was passiert, wenn du das Wort ›Widerstand‹ denkst? Du kommst nicht weiter, gut, das verstehe ich. Ist der Gedanke zu Ende? Hängt er in der Luft? Tritt kein weiterer an seine Stelle, damit es weitergeht? Fühlst du dich ermüdet, erschöpft, ausgelaugt? Oder schaltest du um? Straffst du dich? Wird das, was du Denken nennst, vehement? Du schweigst? Das verstehe ich nicht. Sag irgendetwas. Zum Beispiel: »Ich fühle mich gebremst. Die alte Verletzung spricht: ›Ab hier tut’s weh. Ich will das nicht. Lass ab.‹ Die alte Verletzung zeigt sich nicht, sie spricht und verschweigt dabei sich, obwohl sie von nichts anderem spricht: ein Paradox, aber eins von den kleineren. Wir wollen kein Aufhebens davon machen.« Die alte Verletzung hat Macht über dich, das ist wahr. Aber sie bestimmt dich nicht. Was dich bestimmt – ich stelle das jetzt so in den Raum –, ist das Wissen: Ich kann dieses Spiel zerstören – jetzt, zu jeder Zeit. Ich kann aufstehen und gehen, so wie ich schon einmal aufgestanden und gegangen bin. Die Tür steht offen. Das große Paradox besteht darin, dass die offene Tür dich am Denken hindert, so wie sie dich daran hindert zu gehen. Es wäre zu einfach.

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Das ist kein einfaches Wissen. Es ist eingebrannt. Dir? Ja sicher. Mehr: der Beziehung. Eine Affäre geht irgendwann zu Ende – das kann, zur Verwunderung Dritter, dauern. Eine Beziehung, gleichgültig, ob du es realisierst, ob einer von euch es realisiert, gleichgültig, ob sie hält oder nicht, trägt das Ende in sich. Die Freiheit, eine Beziehung einzugehen, ist identisch mit der Freiheit, sie aufzulösen, wann immer, wie immer, aus welchen Gründen auch immer. Es gibt keine ehrenhaften oder unehrenhaften Gründe, mit der Beziehung Schluss zu machen, es gibt keine Gründe, die es verhindern könnten, sie zu beenden. Der einzige Grund, es nicht zu tun, lautet: Es wäre zu einfach. Warum das so ist? Weil es an der Zeit war. Einmal musste das spontane Begehren als Norm für das Zusammenleben der Geschlechter durchgesetzt werden – Die Liebe dauert oder dauert nicht / An dem oder jenem Ort. Dass es zufällig von deiner Generation implantiert wurde, hat nicht verhindern können, dass auch das Gift in ihr frei wurde, mit dessen Hilfe die verbotene Dauer, die geächtete Zwangsgemeinschaft sich gegen das Lustprinzip durchsetzen lässt, eben jenes ›Es wäre zu einfach‹, das dem Wunsch, eine fruchtlose Beziehung zu beenden, wirksam entgegensteht. Es wäre wirklich zu einfach, im Rhythmus der wechselnden Empfindungen ein- und wieder auszuziehen, es wäre zu einfach, denn es wäre zu kompliziert, die praktischen Aspekte des Lebens kämen dabei entschieden zu kurz und es nützte auch nichts, da jede neue Beziehung selbstverständlich allen Schattierungen dessen ausgesetzt wäre, was sich gerade jetzt und gerade hier abspielt – ›an dem oder jenem Ort‹.

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Die Beziehung, wie Tronka sie kennt, ist der anstrengende Versuch, die studentische Lebensform auf Dauer zu stellen. Pida war Studentin, als sie sich kennenlernten, sie war eine ›reife Frau‹, als sie sich trennten, dazwischen lagen Jahre, in denen der Krampf des Festhaltens und Festhalten-Wollens alles andere überwog, ehe die Hand sich öffnete und ihr alles entglitt. Alles? Eine geheimnisvolle Größe, angekündigt durch simple Immer-und-nie-Sätze – ›Immer vergisst du, das Badlicht auszuschalten‹, ›Nie bist du da, wenn man dich braucht‹, ›Immer geht es dir ums Geld‹, ›Dir ist es doch egal, wie es mir geht‹ –, belanglose Sätze, die Tronka erst nicht recht ernst nahm, bis er begriff, dass sich in ihnen, wie Regenwasser in einer Pfütze, etwas sammelte, was nicht mehr wegging. Wieder etwas später begriff er, dass auch er sich solcher Sätze bediente – ein Schock, dem er mit vermehrter Aufmerksamkeit auf seine Sprache begegnete, bloß um nach einiger Zeit festzustellen, dass ihm der Gebrauch dieser Sätze, die er verachtete, Lust bereitete: die kleine, gemeine Lust des Sich-Gehenlassens, nicht vor sich selbst, sondern vor dem anderen, nicht durch Selbstentblößung, sondern durch -maskierung. Die Sätze flogen hoch wie Schläger an der Tischtennisplatte, um einen Schlag zu parieren oder eine Blöße auszunützen, die sich der andere gab, manchmal gefolgt von einer Spur des Bedauerns, wenn der eigene Schlag allzugut saß. Das bin nicht ich. Wer dann? Wer sonst? Der Pingpong-Spieler, der nicht zulassen konnte, dass die Bälle, die ihm der andere zuspielte, ungenutzt von der Platte sprangen, weil er überall die Möglichkeit des Konters sah, fühlte, in den Fingerspitzen ermaß, weil der Konter so überaus leicht fiel, so leicht, dass der andere ihn nie und nimmer ernst nehmen konnte? So ungefähr. Da lag wohl der Fehler.

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Wenn Pida eskalierte, dann tat sie es ihr zügig nach: »Das hättest du dir früher überlegen müssen«, »Dann musst du dir eine andere nehmen«, »Dann gehe ich eben«, »Dann machen wir gleich Schluss« – ernst nehmen konnte er diese gezischten, gemurmelten, geschrienen, bei alledem plazierten Ausbrüche auch diesmal nicht, es war ihm verwehrt, sie ernst zu nehmen, obwohl er sie auf der Stelle wieder erkannte und er um ihre Brisanz wusste. Es konnte nicht sein, dass er wieder an dieser Klippe scheiterte, es war zu einfach: sie hatten darüber gesprochen, nein, er hatte in jener ersten Zeit davon gesprochen, in der es ihm Erleichterung verschaffte, seine Ehe-Misere vor ihr auszubreiten, sie hatte ihm aufmerksam zugehört. Dennoch wusste er diesmal, dass es sich um Frühindikatoren handelte. Bei alledem erstaunte ihn die Leichtigkeit, mit der sie die Beziehung aufs Spiel setzte, jetzt, da sie wusste, wie ernst er diese Ausbrüche nahm und wie ängstlich er selbst sie zu umgehen suchte. Offenbar hatte er nicht verstanden, dass sie ihn gerade dadurch zwang, die Beziehung in Schutz zu nehmen und auf Dauer zu stellen. Diesmal darf sie nicht so einfach zerbrechen – so hieß das Verbot, das er in seinem Inneren aufrichtete und an dem er jede seiner Handlungen maß, bis … er sich dadurch gelähmt und erschöpft fühlte und es ihm einfiel, dass er auf Pidas kleine und große Perfidien bereits genauso reflexhaft reagiert hatte. Wo lag der Unterschied? Es gab keinen. Darin lag der ganze Unterschied. Wenn damals ein Wort das andere gab, so gab diesmal jedes Wort ein Stückchen dazu, ein Stück Wissen, ein wenig von einem Gift, dessen Geschmack dem anderen bereits bekannt ist und ihn anzunehmen zwingt, dass dieses Attentat ihm gilt und nicht allein der Beziehung.

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Nicht die halbe, nein, die ganze Trübsal macht die Beziehung. Da ihr das Ende eingebrannt ist, nimmt jede Qual, die einer ihretwegen wegsteckt, den Charakter einer freiwilligen Tat an. Das mindert das Verdienst, aber es vergrößert es auch. Dies alles füge ich mir zu – nicht deinetwegen, denn von dir geht es aus, sondern meinetwegen, immer meinetwegen, denn ich will diese Beziehung, jedenfalls, solange ich sie will. Allerdings keinen Tag länger, darüber sollte die andere Seite im Bilde sein und ist es natürlich längst, da sie spiegelbildlich unterwegs ist. Alles, was die gegenwärtige Beziehung leert, nährt die kommende. Die kommende Beziehung geht nie ganz weg. Wenn du dich fragst, was sich in ihr verbirgt, so findest du wenig Neugier auf die künftige Partnerin – ehrlich gesagt interessiert sie dich nicht, solange kein Bild von ihr existiert, dann allerdings interessiert sie dich brennend –, umso mehr darauf, endlich den göttlichen Boden der ›kommenden Geschlechterbeziehung‹ betreten zu können, der euch und euresgleichen verheißen wurde – verheißen von Leuten, deren Theorien zwar in deinen Augen das Lächerliche streifen, wofern du sie nicht längst als baren Unsinn durchschaut hast, die aber weiterhin als Fixsterne in der Nacht des Geschlechts blinken und ihr sparsames Gedankenlicht über Gerechte und Ungerechte, über Gerächte und Ungerächte des Geschlechterkampfs leuchten lassen. Warum? Weil ihre Verführungskraft ungebrochen ist. Weil sie irgendwann an der Zeit waren und ihre Einfälle, unendlich verdünnt, Allgemeingut wurden, so dass sie dir jetzt als weibliches Empfinden entgegentreten, wann immer du dich um das andere Geschlecht bemühst. Weil sie dich selbst geprägt haben (nenne es ruhig ›gezeichnet‹, das ist das richtigere Wort, in ihm liegen Folgsamkeit und Aufruhr so dicht nebeneinander, wie es sich für einen wie dich gehört).

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X+1, die kommende Beziehung, entleert die gegenwärtige (X). Das wäre eine Katastrophe, hätte die gegenwärtige eingelöst, was sie versprach: Wärme-Weite-Bewegung, Freiheit in Gleichheit, Erfüllung. Stattdessen reicht sie, nach gehöriger Inkubationszeit, das Erfüllungsversprechen weiter: an die eigene Zukunft zunächst, als Lockung, aber in der Lockung bereits als sich abzeichnender Entschluss, mit ihr zu brechen, sollte sie weiter die ihr gesetzte Norm unterlaufen, die Grundnorm aller Erlösung, Frustfreiheit. Die Beziehung ist wertlos, gelingt es ihr nicht, den auf der Ehe liegenden Fluch zu brechen, und zwar auf Dauer. Das Flimmern, das auf diese Weise in sie hineinkommt, endet abrupt an dem Tag, an dem du begreifst, dass die andere Seite schon weiter ist und du dich sputen musst, willst du ihrer Entschlossenheit, bei passender Gelegenheit Schluss zu machen, Paroli bieten, um dir selbst die Freiheit der Wahl zu erhalten. An diesem Tag erhält die Lockung ein anderes Gesicht, eine andere Färbung, einen anderen … Namen: Trennung. Aus dem kausalen Wenn-dann (›Falls es nichts mit uns wird, trennen wir uns eben wieder‹) ist ein temporales geworden (Sobald es an der Zeit ist, werde ich mich trennen). Den Wettlauf gewinnt, wer die besseren Nerven besitzt, wer nicht zu früh aufgibt und nicht den Absprung verpasst.

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Der richtige Zeitpunkt … gibt es ihn überhaupt? Wer legt ihn fest? Wodurch ist er festgelegt? Sei heiter, Tronka, du bist auf der richtigen Fährte. Es ist die Option auf die nächste Beziehung, die den richtigen Zeitpunkt festlegt. Sie ist es, die du opferst, falls du zu früh aufgibst, denn du wüsstest, tief in deinem Inneren, dass du versagt hast, dass du das Handtuch zu früh geworfen hast, weil du nicht imstande warst, die Beziehung auszuloten, zu erkunden, was ›drin‹ ist, weil du selbst den Ruf des Versagers, der zu sein die andere Seite dir bereits heute gnadenlos attestiert, in jede künftige Beziehung hineintragen würdest. Das darf nicht sein. Um keinen Preis darf das sein. Schon bist du bereit, jeden Preis zu entrichten, willst du verhindern, dass am Ende du als Versager dastehst. Am Ende du – das gilt für dich, es gilt, spiegelbildlich, auch für die andere Seite. Als Versager dastehen – das ist das Schreckbild aller Beziehung. Es wäre zu einfach. Der gnadenlose Wettlauf nach dem Ende schiebt das Ende ohne Erbarmen hinaus – willkommen im Hamsterrad der Beziehungskrisen, willkommen in der Beziehung.

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Bleibt die Frage, welche Seite im Vorteil ist, sind die Dinge erst soweit gediehen. Die gegenwärtige Beziehung lebt von der kommenden, sie kassiert sie rücksichtslos ab, als handle es sich um einen Vorschuss auf ein Gehalt, das irgendwann, nach noch zu erbringenden Dienstleistungen, ohnehin ausgezahlt werden müsste. Im Vorteil ist, wer die Vorschüsse einzustreichen versteht. Du könntest dir sagen, im Vorteil ist immer die andere Seite. Schließlich nimmst du selbst die Umbuchung auf ihr Konto vor, um weiter mit ihr zusammenleben zu können. Aber diese Sicht der Dinge wäre zu einfach. Vielleicht ist, was du vornimmst, nur eine Luftbuchung, und die Beträge fließen auf eins deiner vielen Konten zurück. Ausschließen kannst du das nicht. Eine Erkenntnis, die auf einem falschen Ausschluss beruht, ist nichts wert. Tronka, Tronka, du gehst einen schweren Gang. Die Wahrheit, auf deren Spur du dich hier bewegst, liegt im Bekennen.

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Eine Beziehung kann nicht scheitern. Sie kann nur auseinandergehen. So wurde sie konstruiert. Dafür wurde sie konstruiert. Wo Unglück war, soll Glück werden, so lautet die aus dem sexuellen Elend gewonnene Beziehungsformel, in ideologisch veranlagten Köpfen als Freisetzung der sexuellen Produktivkraft der Frauen proklamiert, kurz, als ›Befreiung‹, als läge der Zweck der Freiheit nicht in der Freiheit, sondern in der sexuellen Befriedigung, am besten in der permanenten Befriedigung aller, denn selbstverständlich wollen die Männer am Glück der Frauen partizipieren, als Beglückte gewissermaßen, aber natürlich als Selbstbeglücker, als Befreiungs-Onanisten, insofern sie den Frauen Wege ins Freie bahnten, darunter auch solche, die diese, wer weiß, aus eigenem Antrieb vielleicht nicht genommen hätten, an denen sie vielleicht nicht so brennend interessiert gewesen wären, hätten sie sich nicht unentwegt von Männern geschoben und genötigt gesehen. Auch du hast geschoben und letztlich genötigt, Pida zumindest, deren Freiheitswille, nüchtern betrachtet, kaum anderes war als leidenschaftlich verneinte Bereitschaft zur Unterwerfung … unter was? Unter das Gesetz der Liebe? Unter den Mann? Unter jede Instanz, Hauptsache, sie verfügt, wo es langgeht? Aber Pida war ein besonderer Fall, auffällig durch ihre Ausbrüche, Emanationen psychischer Gewalt, die sich ebenso ungebremst gegen sie selbst wie gegen ihre Umgebung richtete … vielleicht täuschte er sich auch da. Pida war nicht klug, sie wollte nicht klug sein, sie verabscheute die Klugen. Mitstürmen wollte sie, aber da war kein Sturm. Also stürmte sie auf eigene Faust, auf eigene Rechnung, die so nicht aufgehen konnte. Als sie das endlich begriff – vielleicht war ›begreifen‹ nicht das richtige Wort, es sei denn, er verstand es urwüchsig, als den Körper-Sinn dessen, was er ihren Klammergriff nannte –, als sie auf ihre Weise begriff, ging sie dazu über, seine Rechnungen durcheinanderzuwerfen, wo immer sie ihrer ansichtig wurde oder sie vermutete, um sich zu rächen – nicht für etwas, was er getan hätte, sondern dafür, dass er, so wie er war, nicht wegging. Sie hatte mit ihm durchgehen wollen, stattdessen hatte er sie zu sich genommen: eine unverzeihliche Diskrepanz, die förmlich nach Empörung und Aufruhr schrie; zur gleichen Zeit hatte sie darauf gebaut, dass er ihr die Lebensangst abnehmen, sie zumindest soweit dämpfen würde, dass nichts mehr gegen ihre schiere Existenz und ihre Ansprüche an das Leben sprach, und hatte erleben müssen, dass seine Gegenwart, je länger je deutlicher, Angstzustände herbeiführte, die sie so nicht gekannt hatte, bevor sie sich mit ihm einließ, so wie sie nicht gewusst hatte, was es bedeutet, in einer Beziehung zu leben, ehe sie es durch ihn erfuhr.

Dasselbe konnte er von sich sagen.

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Woran Pida auflief, woran er sie endlich auflaufen ließ, nachdem er lange seine schützenden Hände über ihre Unzulänglichkeiten gebreitet hatte, war die eisige Antwort des Leistungsprinzips auf alle Fragen, mit denen sie ihn beinahe täglich anfiel, ohne sie, außer in ebenso kurzen wie folgenlosen, von ihm als Kostbarkeiten im Gedächtnis bewahrten Momenten der Einsicht, als Fragen zu formulieren. Das konnte ihre Erregung nur steigern, sie übernahm den Tonfall der Überlegenheit, den sie aus all seinen Äußerungen – und vielleicht nur seinen – heraushörte und verleibte ihn jenem ständig wachsenden Repertoire erschreckend konvulsiver Sprechmuster ein, mit dem sie ihn, zunehmend nachts, traktierte, während sie bei Tage verstummte, damit die Anklage ihre Wirkung entfalten konnte. Und richtig: auf seiner Stirn fühlte er das Brandzeichen des Verräters, wenn er bei seinen Antworten blieb, obwohl er doch vor kurzem noch der Mann an ihrer Seite gewesen war, fahrlässig bereit, Schwierigkeiten wegzubügeln, wann immer seine ihm seltsam fremde Pida sie, willentlich oder nicht, durch ihr verantwortungsloses Verhalten auftürmte, als verfüge sie über die Intelligenz einer Fünfzehnjährigen und es sei daher ebenso nutzlos wie gefährlich, sie inmitten ihrer Scherereien allein zurechtkommen lassen zu wollen.

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Um die Maschinerie des Abschieds – denn um nichts anderes konnte es sich handeln – in Gang zu halten, bedurfte er der Helferin. Sie hatte sich, wie einst Pida, eingestellt und er hatte nichts daran zu kritisieren gewusst, es war ihm nicht einmal aufgefallen, welche Parallele sich hier auftat, vielleicht aus Not, vielleicht aus Fahrlässigkeit, vielleicht, weil er der Logik der Beziehung zu sehr verhaftet war, um zu begreifen, in welche Gefahr er sich damit begab. Dennoch konnte er den Argwohn nicht unterdrücken, Pida habe ihm die Freundin – oder ihn ihr – hingeschoben, damit die schmerzhafte Prozedur endlich in Gang kam, nachdem sie verstanden hatte, dass weder er noch sie ›mit der Situation zurechtkam‹ – ein Ausdruck, den man bis dahin verwendet hatte, um die Schwierigkeiten eines Orts- oder Milieuwechsels anzudeuten, und der plötzlich in aller Munde war, als sei unerwartet eine Epidemie ausgebrochen, die eine um die andere Beziehung dahinzuraffen drohte. Warum diese, warum keine andere unter ihren vielen Bekannten, das entzog sich seinem Urteil, es sei denn, Pida hätte schon länger versucht, sie zu verkuppeln, und ihr wäre irgendwann aufgegangen, wie brauchbar sich hier zwei Zwecke zu einem verbinden ließen. Sie hatte ihn sich genommen, aus nüchternem Verlangen nach Sex, nachdem sie sich lange genug seine Eheprobleme angehört hatte, womöglich, weil sie des ewigen Zuhörens überdrüssig geworden war, vielleicht, weil sie fand, die Zeit sei allmählich reif, jedenfalls aus jenem Sinn für Ökonomie heraus, den er seitdem an ihr schätzen und fürchten gelernt hatte. Er hatte es sich gefallen lassen, nicht mehr, nicht weniger, teils, weil Pida ihn sexuell ausgebootet hatte, teils, weil die überraschende Offerte wie die formelhafte Bekräftigung einer langsam gewachsenen Solidarität zwischen zwei Menschen daherkam, die, jeder auf seine Weise, sich einer rationalen Lebensführung verschrieben hatten und sich über die Folgen ihres Tuns vollkommen im klaren waren – ein Irrtum, ein Missverständnis, ein Fehlgriff ohnegleichen, doch das in aller Ausführlichkeit zu erfahren sollte Jahre in Anspruch nehmen.

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Woher nahm Pida die Gewissheit, die andere würde funktionieren? Sie musste sie beobachtet haben – mit jenem Blick, der den Gegebenheiten weit vorauseilt und zum Ärgernis wird, sobald er sich herausnimmt, Wort zu werden. In diesem Fall war sie stumm geblieben, jedenfalls bis zu dem Augenblick, an dem sie ihm weismachen wollte, ihre Mutter habe ihr schon vor langer Zeit angekündigt, dass sie ihn irgendwann an die (damals noch verschlossene) Freundin verlieren würde. Aber das geschah längst nach der Trennung und trug den Geschmack einer doppelten Täuschung, denn Pidas Verhältnis zur Wahrheit stand auf schütteren Grundlagen und gebar, sobald es angebracht schien, mühelos lebhafte, wenngleich falsche Erinnerungen, mit denen sie sich und andere unentwegt an der Nase herumführte. Er hatte sie zur Freiheit erziehen wollen und Konvulsionen geerntet, er hatte ihrer beider Verhältnis auf Wahrheit bauen wollen und sich binnen kurzem in einem Meer von Lügen wiedergefunden, deren Promptheit ihm immer aufs Neue den Atem verschlug, obwohl er darin mühelos das ihm wohlbekannte Gesetz der Polarität hätte erkennen können. Stattdessen hatte er Zeit und Kraft investiert, eine wie die andere wegzuerklären, um des aufsteigenden Befremdens Herr zu werden, und in den Gesprächen, in denen die Trennung bereits ihren Schatten vorauswarf, hatte er schließlich zur Formel von der mangelnden moralischen Trennschärfe gefunden, womit er Pida zum Naturereignis stilisierte und ein letztes Mal rechtfertigte, was nicht zu rechtfertigen war. Dazwischen erstreckte sich eine lange Zeit – die eigentliche Zeit ihres Zusammenlebens, wie er im nachhinein glaubte –, in der die Gewöhnung ihm, nahezu unmerklich, die Empfindung eingab, hier handle es sich um ›etwas Weibliches‹ – fast schämte er sich dafür und hütete sich, es auszusprechen.

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Pidas Erfindungsgabe war nicht nur rückwärtsgewandt, sie rückte auch, beinahe von Tag zu Tag, die Zukunft energisch zurecht. Dabei konnte sich ihr Gerede unverhofft zu Prophezeiungen verdichten, wie man es auf den Dörfern den Alten nachgesagt hatte – ein Zug, den ihre Nachfolgerin, gleich vielen anderen, ins glatte Gegenteil verkehrte: sie behielt ihre Vorausberechnungen strikt für sich und nahm bei Gesprächen über die Zukunft eine zögernde Haltung ein, in der mit der Zeit immer deutlichere Züge des Ausforschens zutage traten: Womit rechnet er? Was hat er vor? Umso verblüffter war er, als sie vor wenigen Tagen mit der Erzählung herausrückte, ihre eigene Mutter habe ihr, in jenen allzu turbulenten Monaten, die neue Beziehung ausreden wollen: »Das ist ein Philosoph. Was willst du mit einem Philosophen? Den kannst du nicht halten.« Erinnerte sie sich nicht an Pidas Bemerkung? Sie beide hatten sich so ausführlich über sie gebeugt, dass es schier unmöglich scheint, sie habe sie einfach vergessen und reproduziere sie unbewusst innerhalb der eigenen Schablonen. Aber wenn sie sich erinnert, dann muss sie annehmen, dass auch ihm bewusst ist, welche Dublette sie damit schoss. Wollte sie ihn verwirren? Wollte sie ihn daran erinnern, dass sie beide sich einig gewesen waren, damals habe Pida, aus welchen Gründen auch immer, den eigenen zäh versteckten Wunsch preisgegeben, es möge so eintreten, wie es dann auch kam? Verlangte jetzt sie die Trennung, als handle es sich um die Einlösung eines verjährten Versprechens? Verlangt sie von ihm, was sie selbst nicht zu vollziehen bereit ist? Warum jetzt? Oder will sie ihm diesen Weg verlegen, indem sie ihn so offen anspricht? Will sie es ihm nicht so einfach machen? Wie einfach? Indem sie es auf die gesellschaftliche Prestige-Schiene schiebt? Was konnte sie, eine einfache Lehrerin, einem Philosophen schon bieten? Sie weiß, wie er über ihre Mutter denkt: eine hässliche, übergriffige, angstbesessene Person, die alles getan hatte, um ihrer Tochter den Weg ins Offene zu verlegen, die jetzt noch alle Hebel in Bewegung setzen würde, um ihre Rückkehr ins verwaiste Elternhaus zu erzwingen, sobald auch nur die Spur einer Hoffnung dazu bestünde – kann, darf eine solche Person gegen ihre Beziehung Recht behalten? Dann will sie die Trennung nicht jetzt? Wann dann? Wann überhaupt? Oder kämpfen in ihr die mütterliche Angst vor dem Zurückbleiben und das Trennungsgebot einer Beziehung, die sich aufgebraucht hat, einen zähen, wenn auch ungleichen Kampf? Denn Mutter zitieren heißt den ewigen Verlierer zitieren. Mutter darf auf keinen Fall Recht behalten, weil sonst die lebenslange Abwehr gegen sie sinnlos gewesen wäre. Damit aber hätte sie sich selbst eine Falle gebaut – so oder so würde sie verlieren, die Mutter im einen wie im anderen Fall gewinnen, gleichgültig, ob die Geschichte nun erfunden war oder der Wahrheit entsprach.

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Mutter oder Die leere Schale der Beziehung. Wenn es einen Zeitgeist gibt, dann haben beide Mütter einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen. Beiden ist es gelungen, ihre aus Kriegszeiten stammende Versorgungsehe nachträglich, in Pidas Fall posthum, zur Beziehung umzulügen, vermutlich, um weiter mitreden zu können, möglicherweise auch nur, weil sie keine eigenen Begriffe besaßen und daher, ohne es zu bemerken, die jeweils gängigen Wörter für das benützten, was ihnen zu ihrer Zeit widerfahren war – Wörter, an denen Vorstellungen hingen, die dadurch vage in ihre eigene Gedankenwelt übergingen und dort die alten, zu ihrer Zeit üblichen Vorstellungen teils verdrängten, teils aufmischten. Das Ergebnis bestand darin, dass die betagten Damen, ohne sich dessen im mindesten bewusst zu sein, irgendwann mit den krassesten Urteilen in der Tür standen und von den Töchtern mit sanfter Hand hinausbugsiert werden mussten. So peinlich das Zuhören war, man erfuhr doch allerlei, sofern es einem gelang, die Botschaft zwischen den Wörtern zu entschlüsseln. Auffällig: das hemmungslose Ichsagen und die Selbstverständlichkeit, mit der irgendwann alle Lebensentscheidungen zum ge- oder verschiedenen Mann hinübergewandert waren, als hätten diese Frauen ihre Tage in einem Zustand selig-unseliger Entrückung verlebt, in einem fehlerlosen menschlichen Vakuum, in das nur eine, allerdings gravierende Fehlentscheidung hineinragte, nämlich die, den jeweiligen Mann geheiratet zu haben, ohne dass man es nötig gehabt hätte. Dieses Ich-hätte-es-nicht-nötig-gehabt entpuppte sich als Quellgebiet aller versteckten und offenen Ratschläge, die sie, soweit Tronka ins Bild gesetzt wurde, ihren Töchtern zuteil werden ließen, ein Morast, aus dem sich die Gnadenlosigkeit ihrer Urteile ebenso herschrieb wie die moralische Rechtfertigung für den Appell, es im eigenen Leben besser zu machen und ›nicht so dumm zu sein‹ wie sie selbst. Dabei lag die Dummheit gerade dieses Appells auf der Hand, denn er unterstellte, sie selbst hätten aus ihren eingebildeten oder wirklichen Fehlern gelernt. Das war ersichtlich nicht der Fall. Ihre Eitelkeit zwang sie dazu, das eigene Leben in einem Atemzug als mustergültig und als Opfergang zu zelebrieren (»Ich hätte es nicht nötig gehabt zu arbeiten«, »Ich hätte es nicht nötig gehabt, zu Hause herumzusitzen«, »Ich hätte keine Kinder gewollt«, »Was wirklich zählt, sind die Kinder«) und dadurch deutlich zu machen, dass sie nichts begriffen hatten und als Ratgeberinnen schlechterdings nicht in Betracht kamen. Und dennoch…

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Ihre Spezialität: die Herstellung von Schuld, genauer; von Schuldverhältnissen. Dummheit, das ließen ihre Ausführungen erkennen, gesellschaftliche Dummheit ist das Treibmittel der Beziehung. Der eine zeigt sie, der andere beutet sie aus. Wenn sie ihren Töchtern den Rat einhämmerten, nicht so dumm zu sein, dann hatten sie dabei weniger die eigene, eher als rhetorische Finte gebrauchte Dummheit im Sinn als die Dummheit der Männer, von der sie einen, ihrer Ansicht nach, viel zu verhaltenen Gebrauch gemacht hatten, als es noch an der Zeit war. Offenbar wäre mehr ›drin‹ gewesen, hätten sie bereits über den offenen Horizont verfügt, den sie den Töchtern neideten und den sie nachträglich für sich reklamierten, als seien zwei Zeiten ineinander gestürzt und trügen einen Konflikt miteinander aus, in dem Schlichtung weder vorgesehen noch möglich war. Ihr eigenes Modell der Herrschaft durch Fügsamkeit war bei den Töchtern einer fügsamen Herrschaft gewichen, die ihre Gewinne durch dosierte Unfügsamkeit einfuhr und dadurch ihrer Ansicht nach alles gewann und alles gefährdete, was sie sich vom Leben erträumt haben mochten. Durch eigene Lebenserfahrung gewitzt, misstrauten sie der gesellschaftlich über die Männer verhängten Schuld an den Zuständen des eigenen Geschlechts, vornehmlich den inneren, weil sie diese Zustände als ihre betrachteten, in denen alle Hebel bereitlagen, die sie keine Sekunde aus der Hand zu geben erwogen. Ihrer Ansicht nach lieferten sich die jungen Frauen den Männern aus, wenn sie auf nichts als die versprochene Gleichheit pochten. In ihrem Universum fand sich keine Spur von Gleichheit außer einer, die durch Täuschung errungen wurde und unmittelbar in Herrschaft umschlug. Das allein machte ihre Reden unerträglich. Doch offenbar war es auch hier geboten zu unterscheiden: solange die Solidarität der Geschlechter in der Beziehung hielt, so lange neutralisierte sie das Gift, das aus ihnen in die Beziehung floss. Im gleichen Augenblick, in dem die Solidarität aus der Beziehung verschwand, setzte seine volle Wirkung ein und es stellte sich heraus, dass es bereits durch alle Kanäle strömte.

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Die Idee, das Leid arbeiten zu lassen, ist alt. Tronka, seine Leidens-Barschaft überschlagend, ist sich nicht sicher, die richtige Anlagestrategie gefunden zu haben. Hätte es zu seinen Lebzeiten eine aufrichtige Frauenideologie gegeben, ausgerichtet auf die Erbeutung von Macht, Einfluss, Reichtum, Herrschaft und Sicherung des Erreichten, er ist sich sicher, sie hätte einige männliche Proselyten gefunden und ansonsten ebenso aufrichtige Gegner, die ihren Exponentinnen entgegengetreten wären, um die Interessen des eigenen Geschlechts zu wahren. Stattdessen … ein gelernter Eristiker findet immer ein ›stattdessen‹, in diesem Fall zu Recht … er spürt den aufsteigenden Widerwillen … stattdessen fanden es ein paar irrlichternde Mannsbilder mit Zugang zum Buch- und Zeitschriftenmarkt an der Zeit, den Sozial…ismus, das proklamierte Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, an die finale Entfesselung, sprich Ausbeutung der Lustmaschine Frau zu knüpfen – ein nicht ganz neuer, ein nicht ganz lauterer, ein nicht ganz reeller Gedanke, der umstandslos in den Köpfen der studierenden männlichen Jugend explodierte, vermutlich, weil die Zeit reif dafür war. Selbstverständlich hatte auch er dazu gehört, nicht ganz so überzeugt wie seine aufgeweckten, die Erforschung des G-Punktes mit mutiger Hand vorantreibenden Kommilitonen, nicht ohne Widerstreben, wenngleich nicht undankbar den Anregungen folgend, die sich aus alledem ergaben.

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Hatte sich das Gros der Frauen gefügt? Zweifellos wohnte der Bewegung, wie allem Rauschhaften, etwas Betäubendes inne. Sicher galt das auf beiden Seiten des Geschlechter-Abgrunds. Über ihn wurde viel gemunkelt, ironisch bis aggressiv, vermutlich, weil es Gelegenheit gab, mit Zugbrücken zu hantieren, die rasselnd niedergelassen und ebenso rasselnd wieder hochgezogen werden konnten und jede Art von Ausfällen erlaubten, wenn jemand seine weibliche oder männliche Seite entdeckte und auszuleben versuchte. Aber gefügt? Die er kannte, waren verständigt, nicht wenige brannten lichterloh, manche davon bis auf den heutigen Tag.

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Gesichter, Gesichter, das ölig-Gleitende jener Jahre, als schwimme man gemeinsam mit den anderen in einer Flüssigkeit, die jederzeit zu Gelatine erstarren könnte … er hatte kräftige Schwimmer kennengelernt, heftige Schwimmerinnen, deren ruckweise Fortbewegung im Milieu der Tag- und Nachtbekanntschaften seinem Gefühlsleben schmerzhafte Stöße versetzte, wimmelnde Experimentalformen, aus denen sich mit der Zeit jene Traumfrauen und Alpha-Männer emporkämpften, die irgendwann die öffentliche Arena beherrschten, während bei ihm der Gegenstoß eingesetzt hatte, der ihn in die Arme der Philosophie treiben sollte. Auch das hatte mit den Frauen zu tun, mit Frauenbildern und wirklichen Frauen, von denen sich immer nur wenige in seine Vorlesungen verirrten, als fehle den anderen dort ein Stück Umwelt, das sie zum Überleben benötigten, so wie aus den Frauenbildern das Fluidum der Geschlechterutopie entwich, sobald sie von kundigen Händen auf ihre Ratio hin abgeklopft wurden. Vor allem hatte Philosophie nicht oder nur in wenigen Parzellen mit Geschlechterfragen zu tun … ein wohltuender Gedanke, so wie ganz allgemein die naive Überzeugung, an der Schwelle zu einer neuen Menschheit zu stehen, das Überschreiten dieser Schwelle nicht lange überlebte. Stimmt das? Ist Philosophie moderesistent? Keineswegs. Auch in ihr mussten die widerständigen Zonen mit Vorsatz aufgesucht werden und vieles, was dort geschah, war als irrelevant auszusondern. Aber es gab sie.

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Die auf dem Gemäuer lastende Hitze des Tages macht sich über den Gegenständen als Schleier bemerkbar, vielleicht eine Kreislaufsache, ein feiner Gleichmacher, unter dem die Formen vibrieren, als führten sie ein Scheinleben unabhängig von allem, was ihnen Halt und Festigkeit gibt. Versuche nicht, dich auf diesen Stuhl zu setzen – er könnte unter der Last deiner Absicht zusammenbrechen. Das legt den Umkehrschluss nahe, unter dem Schein der Zartheit warte ein grober Keil, angefertigt, um Gewichte zu stemmen, die ihm niemand mit einem gewissen Sinn für Anmut auferlegen würde. Anmut? Anmut ist Betrug, in einen Körper gewickelt, der Signale aussendet, die sich im Umgang mit der betreffenden Person nicht verifizieren lassen. Pidas Lebendigkeit, die er geliebt hatte, hatte sich wie ein Leichenhaus um ihn geschlossen, lange bevor er tastend den Gedanken erwog, sie zu verlassen. Sie war ja nicht verschwunden, sie schloss ihn ein, sie schloss ihn aus. Das war schwer zu ertragen, schwerer als ihre Ausfälle, schwerer sogar als ihre Lügengespinste. Es war so schwer, dass er ihren Anblick zu hassen begann und sich ernsthaft fragte, wie er ein so offenkundig missgestaltetes Wesen hatte heiraten können. Eine kleine Unregelmäßigkeit der Nasenlinie, ein verkürzter Ringfinger, die gewohnte Kontur ihres Hinterteils, in ein unpassendes Kleidungsstück gezwängt – plötzlich ließen sie ihn als Versager dastehen, der es nicht geschafft hatte, sich mit wirklicher weiblicher Schönheit zu verbinden: Schönheit, nicht attraktivem Leichtsinn, der sich bei der erstbesten Gelegenheit krampfhaft zusammenzog. Seltsam, diese Dinge hatten ihn vom ersten Moment an irritiert, ohne dass die Störung weiter in ihn eingedrungen war. Doch nach und nach brachte ihn der bloße Gedanke daran zum Schwitzen. Sie machte ihn lächerlich, also wurde er lachhaft. Nach außen konnte er das nicht kontrollieren, nach innen wurde daraus ein fressendes Elend.

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Gleichheit der Geschlechter – was-soll-das-sein? Er hat an sie geglaubt. Nicht an Gleichstellung, rechtlich, sozial, das verstand sich für einen wie ihn von selbst, nicht an Gleichrangigkeit – Tronka verachtete Frauenverachter, seit er, selbst noch ein Kind, diese Stimme im gesellschaftlichen Konzert zum ersten Mal vernommen hatte –, sondern an Gleichheit in der Beziehung, in seinen Beziehungen, die ihm ohne sie nicht lebbar erschienen. Das war die Schönheit, die ihm im Kopf herumspukte, während seine Altersgenossen auf Bewusstseinssteigerung ausgingen und sich mit Halluzinogenen vollstopften, um den Sex zu vergeistigen, wie ihre helleren Vertreter behaupteten, während die anderen den herrschenden Politjargon breittraten, solange sie noch geil auf mehr waren und nicht zurückgeschraubt auf das Gequatsche aller, die mit den heiligen Gütern ihrer Frühzeit durch sind. Diese Schönheit … hat er sie erlebt? Er hat sie zu besitzen geglaubt, in jeder Beziehung, solange sie neu war, in jeder … bei Pida musste er nachhelfen, das ist wahr, er musste sie erst heranführen an das Mysterium der Einfachheit – Gleichheit gleich Einfachheit –, die Neigung zum Doppelspiel hatte sie bereits verdorben, als sie sich kennenlernten, das Spiel der Schwächeren, die sich zu allen Zeiten nicht anders zu wehren wussten, er fühlte genügend Stärke in sich, um ihr davon abzugeben, ihr etwas von sich zu überlassen, bis sie aufgeholt hatte. Dummerweise hat sie sich, statt die eigene zu entwickeln, seiner Stärke bedient, um ihn zu schwächen, ihn ›vorzuführen‹, wie die Vokabel einer rüden, von keinem Politkommissariat und keiner Geheimen Staatspolizei bedrängten Jeunesse dorée seinerzeit lautete: zu demütigen, um das richtige Wort einzusetzen, das in diesem Jargon gelegentlich unterging. Und? Hat sie es anders gehalten? Keine Spur, obwohl diesmal die Rollen vertauscht waren und er als der Gedemütigte sich an ihrer Stärke aufrichtete, solange er sie für Seelenstärke nahm und nicht für etwas, was sie anfangs vielleicht nicht war, obwohl alles zwanghaft darauf zulief: für Rechenhaftigkeit, die weit über jede Berechnung hinausging – Berechnung besitzt ein Ziel und kalkuliert die Mittel, es zu erreichen, das hier ist sich selbst genug und kalkuliert, wo es nichts zu kalkulieren gibt, es kalkuliert im Leeren, es klammert sich an die Leere lieber als an den Menschen, den es in sie verwickelt wie in ein Spekulationsgeschäft, in einen Verkehrsunfall, in ein Mordkomplott, in eine Urlaubsreise, die einen nichts angeht, aus der man heimkehren wird mit dem Bewusstsein, den Stellvertreter eines Toten gegeben zu haben, der vor langer Zeit dem Seemannsgrab überantwortet wurde, eines Neffen vielleicht oder eines Bruders, den es in ihrem Leben nicht gab oder den eine Frau ihr gestohlen hatte, mit der sie ›nichts anfangen‹ konnte und die sie deshalb inbrünstig hasste. Zweifellos hätte der Tote besser verstanden, dass die Gruppe stärker ist, dass sie ältere Rechte besitzt und es vernünftiger ist, freiwillig in den Schatten zurückzutreten, als von ihr massakriert zu werden.

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Er war der Papagei. Pida hatte den Käfig geputzt und feierlich in seinem Beisein der Nachfolgerin übergeben, die ihn solange in ihrer Wohnung herumtrug, bis sie ihn schließlich dort abstellte, wo er ihr, wie sie glaubte, die Sicht am wenigsten verstellte und wo sie ihn gleichzeitig im Auge behielt: im Durchgang zwischen Bad und Esszimmer, vergleichbar dem krächzenden Schicksalsgefährten in jener Osteria Medusa gleich hinter der Piazza Venezia, wo der Gast sich auf dem Weg zu den hinteren Räumen gefährlich nahe an einem solchen Ungetüm vorbeizwängen musste, das ihn unaufhörlich aufs Grobschlächtigste beschimpfte. Er war der Papagei, an dem jeder vorbei musste, der sich bei ihr einfand, gleichgültig, ob es ihm oder dem anderen recht war. Auch Feistgesicht war davon betroffen. Auch er musste, wollte er seinen privilegierten Status beibehalten, von Zeit zu Zeit mit ihm Umgang halten und seine mechanischen Entgegnungen aushalten. Auch ihm hatte sie den Zugang eng gemacht – warum? Kinder werfen gern Steine in den Bach, um das Wasser rascher fließen zu lassen. War es das? Hatte sie jenen anstacheln wollen? Zu was? Verschärfte Konkurrenz? Ein Versuch, die Rohrdommel in seinen Augen zu entwerten? Wollte sie die Rohrdommel beruhigen oder beunruhigen? Oder hatte die Rohrdommel sie genötigt, einen erprobt fügsamen Mann, von dem, außer im Verbalen, keine Gefahr ausging, dazwischenzuschieben, um die Kontrolle über ihr Beziehungsleben nicht zu verlieren?

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Er war der Papagei. An ihm mussten die Damen des Chors vorbeidefilieren, wenn sie sich zum Schlachtmahl bei ihr versammelten. Er öffnete den Wein, er schob ihnen die Stühle hin, weitschweifig erläuterte er ihnen, warum diesen Sommer die plattgefahrenen Nacktschnecken zu Tausenden auf den Straßen lagen, dann und wann hätschelte er ihre vereinzelt auftauchenden Kinder, die ihn scheu ansahen, als erwarteten sie eher ein Glas Weihwasser aus seiner Hand als die ersehnte Cola. Gelegentlich setzte er eine bedeutende Miene auf und fragte eine der Frauen, wie es denn gehe, worauf die Angesprochene eine ebenso bedeutende Miene aufsetzte und sich in Allgemeinplätze flüchtete … dieselbe leise Fluchtbereitschaft registrierte er bei allen Freundinnen, zuverlässig hätte er sie an diesem Merkmal aussondern können, hätten nicht Pidas alte und neue Weggenossinnen ähnliche Symptome gezeigt. Obwohl ihm bei letzteren gelegentlich ein Augenzwinkern bezeugte, dass es mit der Frauensolidarität, alles in allem, nicht allzu weit her war. Nur bei Männern aus Pidas Umkreis stieß er auf eine verblüffende Härte, die ihn automatisch gegen sie aufbrachte, so dass er sich fragen musste, welche Kräfte ihn wohl mit Menschen verbanden, deren Verhalten ihn so zu bestimmen vermochte. Verglichen mit ihnen begegneten ihm die Männer der Gruppe vorsichtig-freundlich, offenbar bewegten sie sich auf glattem Parkett, doch auch aus ihren Gesichtern las er bereits den Abscheu heraus, der ihn erwartete, es sei denn, einer von ihnen schaffte den Absprung schneller.

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Er war der Papagei. ›Zizisbeo‹ nannten die Damen der Aufklärungsepoche den Hausfreund, den sie sich zulegten, sobald die ehelichen Verhältnisse geklärt waren. Ihre befreiten Nachfahrinnen gründeten mit dem ›Freund‹, dem Zizisbeo, den Haushalt, den sie verabscheuten, um den Abscheu nach und nach, scheibchenweise, auf den Freund zu übertragen, da ein Haushalt nun einmal gemacht werden musste und sie dafür ›eigentlich‹ ebensowenig zur Verfügung standen wie er. Nein, es ging nicht darum, dass er im Haushalt mit anfasste, es machte die Dinge in Wahrheit nur schlimmer, da der Freund zwar eine Hilfe sein durfte, aber nicht die Hausfrau ersetzen konnte, wie jeder seiner Handgriffe aufs Neue bewies, so dass seine Hilfsbereitschaft eigentlich nur zeigte, in welchem Ausmaß sie von der Welt der Männer im Stich gelassen wurden. Er war nicht gemeint und sie schlugen ihn doch. Denn dafür war er gut. Allesamt befanden sie sich in festen Händen. Sie gehörten dem Staat, der ihre Spielräume definierte, der Gruppe, die ihnen die Regeln des persönlichen Umgangs vorschrieb und ihre Einhaltung überwachte, dem Arbeitgeber, der ihr Gehalt überwies und dafür eine definierte ›Dienstleistung‹ einforderte – wobei er, völlig unsentimental, über ihre Zeit verfügte wie vordem nur der König oder der Kuhstall –: lauter Einzelinstitutionen, in die sich die ehemals ›feste‹ Ehe im Lauf weniger Jahre zerlegt hatte, ohne das geringste Vakuum zu hinterlassen, in das die Beziehung hätte hineinstoßen können. Der Freund blieb, was er immer gewesen war, ein Zizisbeo, ein mehr oder weniger viriler Sprechautomat, den ›frau‹ sich hielt, um sich an seinen Qualitäten zu ergötzen und ihn abzuschieben, sobald er lästig wurde.

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Er war der Papagei. Stunden freiwilliger Dienstbarkeit, für die kein Fleißkärtchen winkte, allenfalls das Beisammensein mit familienscheuen Kollegen, deren häusliches Elend Tronka sich anschließend anhören durfte, falls er überhaupt etwas zu hören bekam, sie verdutzten ihn immer wieder, weil sie dem Mantra allgegenwärtiger Ausbeutung widersprachen, vielleicht auch nicht, wer konnte das wissen? Das Stichwort ›Selbstausbeutung‹, in allen Farben des politischen Spektrums gedruckt, lag als dankbar zur Kenntnis genommene Erklärung für Irrläufe jeder denkbaren Art herum, es musste nur aufgegriffen und weitergetragen werden, selbst wenn der Boden unter den Füßen extrem dünn wurde: er hielt doch. Jene verachteten Männer, verheiratet oder nicht, die sich nach getaner Arbeit in Richtung Familie davonmachten – »Das geht gar nicht!« –, sie verweigerten was? Den Dienst an der Selbstausbeutung. Das war schlecht. Zu wessen Gunsten…? Das war ganz schlecht. Man müsste den Müttern die Kinder wegnehmen: schlüpfriger Satz auf abschüssiger Bahn, nicht ohne Brisanz, nicht ohne Langzeit-Wirkung draußen in der Gesellschaft, wenn er als Dauerfeuer aus kompetenten Mündern kam, die für Landtage kandidierten und Parteipolitik gestalteten… Welche Frauen mochten das sein … welchen Berufen gingen sie nach … in welchen Häuslichkeiten hatten sie sich eingerichtet … wie ernst oder unernst gingen sie die Erziehung ihrer Kinder an? Das alles blieb abgedunkelt, darum ging’s nicht. Eine professionelle Erhabenheits-Aura lagerte im Raum, sobald der Chor das Thema Mütter anschnitt. Wem gehörten die Kinder, die in den Unterricht kamen? Den Lehrerinnen? Dem Staat? Den Müttern? Ein Kampf tobte da im Hintergrund, dessen Konturen Tronka nur erahnen konnte, ausgetragen in zahllosen, als Beratungsgespräche getarnten Mini-Konfrontationen, die lange dahinliefen und plötzlich zu Noten-Dramen emporschäumten, zu Versetzungs-Dramen, zu ausgewachsenen Tragödien, die mit einem Gang zum Schulpsychologen begannen, Konferenzen, Beschlüsse, Schulabbrüche, Schulwechsel, radikale Wechsel jugendlicher Lebensperspektiven nach sich zogen … vor der immer erregten, gewitterschwülen, gelegentlich kochenden Atmosphäre des Chors, von dessen Dasein jene Mütter nicht das geringste ahnten, obwohl er unsichtbar die Geschicke ihrer Kinder leitete und tief in ihr eigenes Leben eingriff, tiefer, als es den arglos sich auf die Seite der Professionellen schlagenden, im übrigen weitgehend abgemeldeten Vätern je in den Sinn gekommen wäre.

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Er war der Papagei. Wenn er kommentierte, was vor seinen Augen abrollte, dann war ihm ›sehr genau‹ bewusst, dass seine Reden danach beurteilt wurden, ob sie dem Chor genehm sein würden. Er hatte sich darin eingerichtet, ihr diese kleinen Handlangerdienste zu leisten. Ihm schmeichelte die Vorstellung, sie zu munitionieren, damit sie vor den anderen besser bestehen konnte. Aber das war, recht bedacht, schon eine Weile her, auch wenn die Disposition dazu weiter in ihm geisterte, so wie alle Bestandstücke des Beziehungspuzzles mehr oder minder intakt in seinem Seelenleben zirkulierten. War er ein Routinier? Einer, den man aus dem Katalog bestellen konnte? Falls ja, dann musste ihm aufgefallen sein, dass seit einiger Zeit eher die negativ besetzten Bemerkungen ihre Aufmerksamkeit erregten. Es fiel ihm aber erst jetzt auf. In unbegreiflicher Verblendung hatte er diese Tatsache außer Acht gelassen. Natürlich denunzierte sie ihn bei ihren Freundinnen. Auch hier gab er, ohne zu zögern, den willigen Helfer, der lieferte, was sie von ihm verlangte. Wenn sie es so wollte, dann musste sie Gründe haben. Ihre Beziehung war in das Stadium eingetreten, in dem es sich nicht mehr schickte, von seiner Intelligenz, seiner Klarsicht, seinen Urteilen in ihren Kreisen einen positiven Gebrauch zu machen. Ob der Chor das verlangte? Ob sie fand, es sei an der Zeit, den Chor über den Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen? »Papa, bist du der Papagei?« hatte das Töchterchen erst vor ein paar Tagen gefragt und im Kinderbuch auf den bunten Vogel gedeutet, dessen seltsamer Name offenbar nach Auflösung verlangte, vergleichbar einer Rätselformel wie ›Abrakadabra‹ oder einer Strichzeichnung, der man entnehmen konnte, ob man eine Straße überqueren durfte oder nicht. Der Stich saß immer noch, gerade jetzt entzündeten sich die Ränder aufs Neue. »Komm, wir suchen den Mamagei«, hatte er scherzend geantwortet, doch der Scherz verlor sich zwischen den Buchdeckeln und ward nicht mehr gesehen. Vieles von dem, was er zu sagen wusste, verlor sich auf ähnliche Weise. Die Kinder waren bereits verständigt und vergrößerten die Sprachlosigkeit. Manches wäre zu sagen davon.

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Also wenn er der war, für den er sich halten durfte, der Papagei, der Zizisbeo, der Stellvertreter aller toten und abwesenden Männer, die irgendwann in Betracht gekommen waren, wenn… – dann musste doch auf dem Grund der Rechenhaftigkeit ein einfaches Herz schlagen, un cœur simple, das ihn sich einfach so hielt? Ein bezwingender Gedanke, er musste ihm nachgehen. Doch das war gar nicht nötig, bereitwillig kam er ihm entgegen, breit wie ein Scheunentor. ›Einfach so‹, das hieß ja wohl: aus keinem anderen Bedürfnis heraus als dem, das allereinfachste zu befriedigen, das Bedürfnis nach Nähe. Der simple, allen Regelkreisen des Beziehungslebens vorgesetzte Schalter bestand im Verlangen nach vertrautem Umgang mit einer geliebten Person, zumindest mit einer Person, auf die sich, vor dem Hintergrund des Gefühls, dass alles seine Richtigkeit habe, das früh im Leben erworbene Instrumentarium der Vertrautheit anwenden ließ. So dass, wäre man danach gefragt worden, man guten Gewissens hätte beteuern können, die Basis dieser Beziehung sei Liebe. Schon klar, dass die Frage nicht gestellt wurde. Sie wäre als ungehörig klassifiziert und mit einem entsprechenden Blick beantwortet worden. So naiv schlug dieses Herz, dass es, den Augenaufschlag vorausgeschickt, sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu seiner Liebe bekannt hätte, allerdings in der grammatischen Form der vollendeten Gegenwart – im Perfekt. Bloß Klagen drangen aus ihm in die wirkliche Gegenwart herüber. Jedenfalls war er bereits mehrfach auf diese Art der Gegenwartsbewältigung gestoßen, die ihm eine spezielle Art Folter verhieß, ohne dass er gewusst hätte, ob es zwingende Gründe gab, sich ihr auszusetzen. ›Gesetzt, sie hätte ihn geliebt‹ – was dann? Was folgte daraus für die Gegenwart? »Damals wäre ich mit dir überall hingegangen.« Warum nicht heute? Heute war sie nicht länger bereit, mit ihm irgendwohin zu gehen, es sei denn, das Ziel lag auf ihrem Weg und sie selbst hatte es ihm irgendwann vorgeschlagen oder in vager Kenntnis seiner verschlungenen Gedankenwege suggeriert. Überhaupt duldete sie in ihrer Beziehung nur noch das, was sie ›sich überlegt‹ hatte. Gerade daran ließ sich die Einfachheit des in ihr, der ›voll engagierten Berufsfrau‹, schlagenden Herzens ermessen – eine Einfachheit ohne Maß außer dem unter dem Alltagswust vergrabenen Takt, der selten – für eine Sekunde oder zwei – hörbar wurde.

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»Jede Beziehung lässt sich retten, solange es im Bett stimmt.« Ein Therapeut hatte ihm das gesagt, kein Meister seines Fachs, diese einfache Zerlegung seiner Kundschaft in hoffnungslose und ›rettbare‹ Fälle ließ ihn an einen Vertreter denken, der beschlossen hat, jedem seiner potenziellen Kunden nicht mehr als fünfzehn Minuten zu widmen, weil die danach immer noch nicht Überzeugten ohnedies wieder abspringen. Die Überzeugung, dass, bleibt erst einmal die Befriedigung aus – oder tritt zu selten ein, um noch als das zu gelten, was sie ist –, auch die Beziehung aus sei, enthielt in der Nussschale die ›Ethik‹ der Beziehung: auf Lust war sie gebaut – das ›Lustprinzip‹, mit den Freudianern zu reden –, verging einem oder beiden die Lust, dann war es vorbei. Warum sie retten? Dazu besteht kein Grund, jedenfalls keiner, der nicht als Beziehungsmissbrauch deklariert werden könnte, als reaktionäre Umwidmung einer zukunftsweisenden Einrichtung. Der Mann hat recht. Jedenfalls, solange er sich in der Überzeugung wiegen darf, gerade in diesem Punkt nicht hemmungslos von seinen Klienten belogen zu werden. »Ich unbefriedigt? Das müsste ich wissen. Nicht mit mir!« Ist das Scham? Sexualstolz? Protzsucht? Scheu, mit der Wahrheit herauszurücken? Ein Hauch des Wahren? »Darum geht es wirklich nicht.« Worum dann? Worum geht es bei diesen an den Dritten delegierten Rettungsversuchen? Die Zweierbeziehung ist eine Experimentierbühne, auf der die beiden, die da ›Beziehung‹ üben, das Recht haben, sich professionellen Beistand auf die Bretter zu holen, sobald sie einmal nicht mehr weiter wissen. Das klingt gut, zumindest gut organisiert. Dabei ist es doch nur die halbe Wahrheit. Recht betrachtet gemahnt die ausgeleuchtete, rundum offene Bühne an einen Boxring mit Schiedsrichter, umlagert von Trainern, Managern, Groupies, allesamt bereit, auf das geringste Zeichen hin loszustürzen, um zu verhindern, dass der Kampf außer Kontrolle gerät. Währenddessen hofft ein Teil des Publikums darauf, dass genau das eintritt, denn es will Kampf ohne Ende. Also, worum geht es? Beziehung ist kräftezehrend, sie benötigt diese kurzen Pausen, sie benötigt Zuwendung, sie benötigt Alimentierung von außen, sie braucht die Zufuhr frischer Kräfte, damit der Kampf weitergeht. Warum? Dem Vampir namens Publikum soll geboten werden, wofür es angereist ist. Es soll nicht enttäuscht nach Hause fahren. Ihm soll die Befriedigung zuteil werden, welche die lahmende Beziehung den Akteuren versagt. Unter uns: ein nicht unbeträchtlicher Teil des Publikums bist du selbst. Mach dir nichts vor.

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Wo Recht ist, ist Pflicht. Die Gruppe liebt es nicht, wenn eine Beziehung, die unter ihren wachsamen Augen herangereift ist, sang- und klanglos zerplatzt. Sie wittert den Betrug. Sie will die näheren Umstände wissen, sie will Gründe wissen, sie will alles wissen. Sie misstraut allem, was sie erfährt, sie lässt nicht locker, bis sie alles erfährt, sie will, dass beide Seiten sich rechtfertigen, sie will entscheiden, ob die vorgetragene Rechtfertigung, wenigstens nachträglich – was immer ein Manko darstellt – akzeptiert werden kann. Sie will das Opfer. Genau das lässt die beiden Scheu empfinden, ihren Konflikt in die Gruppe zu tragen. Welchen Konflikt? Wann wird ein Konflikt gruppenfähig? Die Frage ist falsch gestellt. Die Gruppe saugt jeden Konflikt auf, vorausgesetzt, er kommt von der richtigen Seite, denn sie ist parteiisch. Versuche nur, ihr deine Schwierigkeiten auseinanderzusetzen – genausogut könntest du dich in Großmutters Spiegelkabinett begeben, damit es dir einmal vor dir selber gruselt. In der Gruppe herrscht Frauenrecht. Eine Frau muss erst unten durch sein – eine Gefallene –, sie muss ihren Status in der Gruppe verwirkt haben, damit du Gehör findest. Auf dieses Gehör verzichtest du gern. Nein, du bist nicht daran interessiert, deinen Konflikt in die Gruppe ›einzubringen‹. Welchen Konflikt? Welchen Konflikt? Dieser … Konflikt, ist er nicht ganz der deinige? Steckt er nicht tief in dir drin, so tief, dass du selbst Mühe hast, dich auf ihn einzulassen? Würdest nicht auch du ihn lieber auf sich beruhen lassen? Gerade eben war deine Welt noch in Ordnung, gerade jetzt ist sie aus den Fugen, gleich … doch nicht für lange, nicht für lange. Oder doch? Wenn doch, was hat die Gruppe damit zu tun? Viel hat sie damit zu tun, das Meiste. Schon macht sie Jagd auf dich. Schon streut sie Ratschläge, kleine, verwinkelte, absichtslose, du siehst und hörst nichts davon, aber du spürst die Wirkungen, außerdem kennst du sie in- und auswendig, das Repertoire ändert sich nie.

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Die Beziehung kann nicht scheitern. Es scheitern aber die Menschen. Sie scheitern nicht am Sex, sie scheitern an der Realität. Die Realität der Beziehung ist das Opfer, das winzig kleine Opfer, das sie jedem im Alltag abzwingt, an sich nicht der Rede wert, auch summiert ergäben sich keine nennenswerten Beträge, gäbe es nicht diese zweite Reihe, die Reihe der Enttäuschungen, deren Grundtenor lautet: Warum soll ich mich opfern? Warum ich? Aber vor allem: Warum opfern? Wenn die Beziehung alle Opfer heilt, wenn sie aus keinem anderen Grund erfunden wurde als dem, das Opfer aus der Welt zu verbannen – das Opfer des Geschlechts, was immer das heißen mag –, dann wäre es ja zutiefst widersinnig, für sie Opfer zu bringen oder sogar sich in ihr zu opfern. Es wäre nicht allein widersinnig, es wäre sogar zutiefst unmoralisch, nicht im Sinn der Küchenmoral, sondern jener Moral der Erfüllung, die der Menschheit den ältesten Schmerz austreiben soll, den Schmerz der Versagung, und daher in jeder Versagung ein Verbrechen gegen das eigene Geschlecht, gegen das Geschlecht an sich und damit gegen den nicht zu hintergehenden Geschlechtscharakter meiner und aller menschlichen Existenz wittert. Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, als ginge es dabei nur um mich oder um uns zwei, denn es geht um mehr. Ich muss aber so mit ihm zusammenleben, als ginge es nur um mich. Nur so macht die Beziehung Sinn. Nur so wird sie ihrer epochalen Aufgabe gerecht. Nur deswegen habe ich überhaupt das Recht zugesprochen bekommen, mich aus ihr herauszuziehen, wann immer es mir an der Zeit zu sein scheint. I can’t get no satisfaction, I can’t get no satisfaction / ’Cause I try and I try and I try and I try. Hat das nicht vorhin noch einer gesummt? Wenn es aber nur um mich geht, dann geht es nur um den Partner in der Beziehung: ich selbst, mein Wünschen, mein Wollen, mein Lebensentwurf verdunkelt sich, sobald ich ihn absolut setze, er muss sich nicht länger zu erkennen geben, er darf es nicht einmal, weil er damit in Konkurrenz mit einem zweiten träte und Kompromisse eingehen müsste. Nur der vollständig abgedunkelte Lebensentwurf setzt sich vollständig durch. Das ist sogar bequem, weil es mir erspart, mich mit mir selbst über ihn zu verständigen, ich darf mich gehenlassen und muss es sogar, aber ich muss mit äußerster Strenge jede Regung verfolgen, durch die der andere zu erkennen gibt, dass er unter gleicher Flagge segelt. Widersinnig ist auch das, da ich mit keinem Menschen eine Beziehung eingehen kann, der nicht genauso unterwegs ist wie ich selbst. Selbst wenn ich wollte, dürfte ich es nicht. Es wäre ein Rückfall in überwundene Geschlechterstereotypen und mehr, eine Sünde gegen den Geist der Erneuerung, der auf unseren Gesichtern glänzt und keinen Widerspruch duldet.

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I try and I try and I try. Die Beziehung ist eine Versuchsanordnung. Da ich mit ihr nicht zurechtkomme, nicht zurechtkommen kann, müssen andere mit ihr zurechtkommen. Das klinische, das schmutzige Geheimnis der Beziehung ist der Therapeut. Der Therapeut ist kein Helfer in der Not. Er ist die Not noch einmal, verschoben in den Horizont der Beziehung: er sieht mir zu, er sieht uns zu, er sorgt dafür, dass unser Handeln sich so formt, als stünden wir unter Beobachtung, was ja auch stimmt. Angenommen, ich ginge durch diese Tür mit dem Vorsatz, einen Therapeuten zu Rate zu ziehen, dann wüsste ich bereits: diese Beziehung ist am Ende. Am Ende, aber nicht zu Ende – zwischen den beiden Punkten herrscht seine Kompetenz, sie herrscht ebenso unbedingt wie zuvor mein Lebensentwurf, der sich verhakt und – es fällt schwer, das zuzugeben, aber es muss heraus – aufgehängt hat. Der Therapeut vermag nichts, was die Gruppe nicht bereits praktizierte, er verkörpert die Intelligenz der Gruppe, er fasst sie zusammen und macht, gegen Entgelt, sie für beide Seiten konsultierbar. Andererseits wüsste die Gruppe nichts, wäre sie über die gängigen Mittel und Wege der Therapie nicht längst im Bilde. Wäre sie, wovon ihre Mitglieder überzeugt sind, gebildet, dann könnte sie darin den Inhalt ihrer Bildung erkennen. Stattdessen begnügt sie sich damit, verständigt zu sein. Worüber? Dass jede Beziehung, einmal begonnen, am Ende ist? Das kommt der Sache schon nahe. Zu nahe fast: ihr Geschwätz ist eine der Gestalten, die das Ende annimmt, bevor und nachdem es zu Ende ist, dicht gequirlt, mit einer Prise Bosheit und dem Wissen gewürzt, welch herrliches Kampffeld sich eröffnet, sobald die häusliche Gemeinschaft einmal aufgelöst wurde.

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Aber wir leben doch. Menschen lieben einander, gehen Verbindungen ein, sagen »Das fühlt sich richtig an«, »Diesen Menschen will ich nicht aufgeben« – ist das nicht Beziehung? Schmerzt es nicht, wenn eine Beziehung aufgelöst wird? Natürlich schmerzt es, werden ihre Verteidiger sagen, Lösungsschmerzen sind etwas zutiefst Menschliches, jede Trennung ist mit Aufwand verbunden, sie muss bewältigt werden, das kostet Arbeit, am Ende jedoch winkt der Lohn: ein Stück selbsterworbener Selbständigkeit, auf das du stolz sein darfst. Es lohnt sich: müssen nicht Kinder erst lernen, sich zu trennen? Erinnere dich an das Geplärr am Bahnhof, wenn die geliebte Tante entschwindet: war das kein Aufwand? War das nicht Arbeit? Haben sie nicht ihre Lektion gelernt, schluchzend, widerstrebend, aber so perfekt, dass sie dieselbe Tante kühl lächelnd verabschieden, wann immer die Zeit gekommen ist? Wird es sie mehr berühren, wenn sie sie irgendwann ins Grab sinken sehen? Das ist bemerkenswert. Jeder bemerkt den Fehler und geht darüber hinweg. Bleibe bei ihm, es lohnt sich. Es ist nicht wichtig, ob jeder etwas bemerkt. In diesem Fall bist du jeder, du ganz allein. Selbst für sie könntest du nicht sprechen, geschweige denn denken oder empfinden. So wie sie die Dinge treiben lässt, so wie sie sie treibt, scheint sie dem anderen Lager anzugehören, dem der Einverstandenen, die wissen, dass dies ihr Spiel ist und sie immer gewinnen. Welche merkwürdige Zufriedenheit spricht aus der auf Dauer gestellten Unzufriedenheit, die weiß, dass sie immer gewinnt? Die Zufriedenheit dessen, dem diese Arbeit leicht fällt? Dem sie vielleicht nicht Arbeit bedeutet, sondern Vergnügen? Oder, wenn schon nicht Vergnügen, so kalte Befriedigung? Was ist das – kalte Befriedigung? Welcher Sinn befriedigt sich kalt? Dieser Sinn besitzt einen Namen: Kalt-Sinn. Du kannst ihn für ein Kunstprodukt halten, das Ergebnis einer verfehlten Kindheit, extremer Lebenslagen, extremer Verletzungen, die einen Teil des psychischen Körpers stillgestellt haben, du kannst ihn als ererbt betrachten, als Teil einer Erbschaft, einer genetischen Auslese – betrachte ihn, wie du willst, aber versinke nicht allzu sehr in Betrachtung, denn dieser Sinn, als Handlungssinn betrachtet, trachtet dir nach dem Leben. Beziehung heißt für ihn: Nähe. Das ist nichts Aufregendes, jedenfalls prima vista, so ticken sie alle. Die Frage: was bedeutet ihm Nähe? Die Nähe zur Spinne, die spürt, wenn ein Insekt ihr ins Netz geht? Das ist ein altes Bild, eine alte Verwunderung, eine alte Verwundung, dergleichen geschieht. Aber dieser Sinn, dem du auf der Spur bist, lebt nicht abgesondert, er lebt von Zuwendung – nicht von deiner, was schlimm genug wäre, sondern von der Zuwendung, welche die Gruppe gewährt.

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Was dich immer frappiert hat: die Gleichgültigkeit, mit der du die Frage passieren lässt, ob zwischen ihr und Feistgesicht etwas sei. Nie hast du dir die Frage gestellt, welche Art von Gleichgültigkeit sich in dir breitmacht, sobald dieses Thema dich streift. Ganz recht, sie macht sich breit, sie beansprucht Raum und sie verlässt den Raum, sobald das Thema abgesetzt wurde. Es tut nicht gut, in diesem Dunstkreis zu denken. Gehörtest du zu den Kaltsinnigen, du könntest der Sache nachgehen, du könntest eine Existenz darauf gründen, ihr nachzugehen bis ans Ende … der Welt? In dieser armseligen Welt wolltest du nicht leben. Du lebst aber in ihr, du bist ein Teil von ihr, ein vorgesehener Teil des Weltpuzzles, das da aus vorgefertigten Teilen zusammengesetzt wird. Was du spürst, ist Reibung. Das kommt davon, dass man dich herumschiebt. Einmal fällst du ins Loch: Passt! Gäbe es Feistgesicht nicht, es gäbe einen anderen. Ihm gehört ihre Loyalität, weil er leicht aufliegt, weil er kommt und geht, weil er einer anderen gehört, weil er ein Teil der Gruppe ist, die bei ihr nach dem Rechten sieht: in seiner Gegenwart fühlt sie sich aufgehoben, ihm darf sie vertrauen – dir niemals! –, in ihm erscheint die Zuwendung der Gruppe als Mann. Als Mann? Als Mann. Nie wäre ihm eingefallen, sich so zu vergessen wie du, als sie dich nahm. Er muss nicht lernen. Sie ist es, die aus dem Beisammensein mit ihm lernt, die bei ihm lernt, was Beisammensein unter Erwachsenen bedeutet, was es meint, frei unter Erwachsenen zu leben, frei von Bindung, doch angebunden, gefesselt durch eine Nähe, die niemals weggeht, die nicht abgetrieben werden muss, weil sie erlaubt ist. Erlaubt? Von wem? Von der Gruppe? Natürlich, von wem sonst? Von wem sonst? Von etwas, das hinter der Gruppe steht, der Gemeinschaft der Gläubigen. Welcher Gläubigen? Der Ausdruck ist hart, du musst ihn modifizieren, bis er ins Puzzle passt, immer hinein. Wie wäre es mit: der Gesellschaft?

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Wer ist das – die Gesellschaft? Die Leute? Natürlich nicht. Das Hassobjekt der Linken? Das hieße ja den Brei aufwärmen wollen, der längst verdaut ist. Die Gesellschaft in der Gesellschaft? Die feinen Pinkel? Das kommt der Sache schon näher. Gesellschaft ist, wer in Gesellschaft gilt. Gesellschaft setzt Gesellschaft voraus. Sie setzt sie aus sich heraus, die Spirale dessen, was manche Fortschritt nennen, schraubt sich vorwärts, treibt immer neue Kohorten von Überzeugten in die Spitze und wirft sie in den Orkus der Geschichtsvergessenheit. Dort dürfen sie schmoren bis zum Sankt Nimmerleinstag, dem Tag der Abrechnung, an dem alle ihre blutigen Nasen vorweisen und auf Entschädigung pochen – Restitution.

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Es gilt das gesprochene Wort. Man müsste nur wissen, wer gerade spricht. Das ist nicht einfach in Erfahrung zu bringen. Als du antratest, dachtest du, einer der Sprecher zu sein. Die Frau an deiner Seite hat dich eines besseren belehrt. Dein Wort gilt nichts, es verliert sich im Rinnstein. Die Welt, in der es existierte, die gibt es nicht. Es sei denn, du konzentrierst dich aufs Seminar: dort fühlst du dich wohl, die Studenten, so scheint es, nehmen an, was du sagst, die Institution trägt dich, solange dein Vertrag läuft. Bist auch du nicht mehr nach Hause gekommen? Vielleicht, vielleicht nicht. Niemand kann das entscheiden. Niemand will das entscheiden. Niemand darf das entscheiden. Wer es dennoch versuchte, der bekäme deine Wut zu spüren. Alles, nur das nicht – was dann?

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Alles Angesagte versorgt seine Schnäppchenjäger. Glaubt sie, was sie sagt? Meint sie, was sie sagt? Weiß sie, was sie sagt? Eine absteigende Linie, ganz recht, aber ein aufsteigendes Recht: das Recht, auf Beute zu gehen zwischen den Kampflinien der Geschichte, zwischen zwei Menschenbildern, einem, das sinkt, und einem, das steigt. Ist das ein Recht? Wessen Recht? Das Recht des Freibeuters? Wenn das Vergehende nicht vergeht und das Kommende nicht ankommt, wessen Recht gilt dann? Das Recht des Stärkeren? Wer ist der Stärkere in einer Beziehung? Der, dem die Gruppe den Rücken stärkt? Der die Gruppe hinter sich weiß? Die Gruppe ist ein unsicherer Kantonist, wer weiß, was sie hinter seinem Rücken treibt. Wer weiß schon, was sie umtreibt: die Sorge ums Schicksal derer, die sich ihr anvertraut haben, jedenfalls nicht. Besser wäre es, ihm zu vertrauen – wenigstens ein Stück weit, nur ein Stück weit, das wäre doch etwas. Warum ist es unmöglich? Verzeih mir, aber ohne Vertrauen –… Wer soll dir vertrauen? Sie? Traust du ihr denn? Traust du ihr noch? Wann hättest du ihr vertraut? Traust du dir selbst?

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Nein, keineswegs. Du hast ihr niemals vertraut. So sehr du ihr auch vertrautest, das Misstrauen blieb stärker. Es setzte sich durch. In der Müdigkeit nistet das Misstrauen. Solange du wach bist, kannst du es überlisten. Vielleicht verlangt Beziehung den hellwachen Menschen. Das könnte sein. Darüber müsstest du nachdenken. Was bleibt von der Nähe, wenn nur das Wachsein gilt? Nicht viel, wie dir scheint. Nicht viel … Löse den Traum. Ganz recht, doch den Traum kann keiner lösen. Träume sind Schäume. Der erste, der sagte: ›Verwirkliche deinen…‹ war … war…

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