DER EXCESS

 
 
EUKALYPSE
  • ―He’s looking forward.
  • ―Surely. His visions cost us several million people per annum.
  • ―Exactly. He can’t stop future.

Die Zukunft kann niemand stoppen. Sie geschieht so oder so. Jeder von uns ist ein Bote aus der Zukunft. Er trägt sie in sich, aber er weiss nichts von ihr. Am augenfälligsten zeigt sich das am Neugeborenen, das nichts weiss, aber die Zukunft ganz in sich enthält. Das Handeln eines einzigen Menschen kann die Welt verändern, aber nicht verhindern, dass alles, im Nachhinein betrachtet, so und nicht anders kommen musste. Gegen den Anspruch, die Welt zu verändern, steht eine sich verändernde Welt.

 

Gender ist Muss

Sabine A träumt von einem Ex
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A. Amsellied
  • ―Die Trauer steht dir gut.
  • ―Ach. Ich dachte schon, keiner würde sie bemerken.
Sabine A träumt von einem Ex
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B. Geschichte des Apfels

Sie zu erzählen ist nicht einfach.
Sie nicht zu erzählen ist fast unmöglich.
Eigentlich erzählt sie sich selbst.

Erzählung des Apfels
Apfelfabrik
Sabine A träumt von einem Ex
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C. Gesang der Spottdrossel

Bist du dir sicher?
Bist du dir ganz sicher?
Und wenn du dir so sicher bist: Wie sicher ist das denn?
Sei dir da mal nicht so sicher.

Sei gewarnt.

Das Investment ist gut.
Das Investment ist sicher.
Welches Investment ist sicher?
Sicher ist nur die Torheit.

Glaub nicht, dass du allein stehst.
Wir stehen an deiner Seite.
Wir fangen dich auf, wenn du stolperst.
Wir fangen dich ein, wenn du aufblühst.

Aber das weißt du doch.

Wir wollen dein Glück.
Du verunsicherst uns tief.
Wie sollen wir uns dir jetzt nähern,
ohne dir zu nahe zu treten?

Wir wir wir
das verweht
bedenk es

Nimm nicht den langen Weg.
Nimm die Abkürzung.
Ich zeige dir, wie es geht.

Nimm seinen Arm.
Verdrehe ihn leicht.
Das wäre ein Anfang.

Morgen sehen wir weiter.

Sabine A träumt von einem Ex
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D. Gefangenenchor
Valentinstag
Sabine A träumt von einem Ex
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E. Archipelagus oder die Freundschaft
Archipelagus

Wir wissen noch nicht, ob er der Richtige ist
Wir werden ihn auf Herz und Nieren prüfen
Bitte sei vorsichtig während dieser Zeit
Es wird eine Weile dauern
Habe Geduld
so wie wir mit euch Geduld haben
Du solltest nichts ohne uns unternehmen
Wir sind jederzeit für dich da
wenn du uns brauchst
wenn du uns nicht brauchst
gerade dann
Du darfst dich uns nicht entziehen
Er darf dich uns nicht entziehen
Unser Recht auf dich ist älter als andere Rechte
Unser Recht auf dich ist stärker als andere Rechte
Unser Recht auf dich ist unverbrüchlich
Vergiss das nie!
Wenn du mit ihm durch bist
wirst du uns mehr denn je brauchen
Das zumindest
sollte dir bewusst sein
in der schweren Zeit, die jetzt anbricht

Sabine A träumt von einem Ex
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F. Feuerzauber
Dies ist mein Leib
Sabine A träumt von einem Ex
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G. Urlaub vom Ich
A 
Das Wort ›ich vergehe‹ sagt mir jetzt nichts, vor allem, wenn ich, wie jetzt gerade, das Wort ›Lust‹ heraushöre, wobei ich sagen muss … also ich hab nichts gegen Lust, überhaupt nicht, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass jemand nach ihr süchtig wird, ob das dann so weit geht, dass er eine Beratung aufsuchen sollte, das kommt sicher auf den Einzelfall an, darüber müssen wir hier nicht reden. Worüber müssen wir reden? Ich weiß es nicht, weiß es wirklich nicht, wobei ich schon finde, dass die Sache mit dem Ich einmal grundsätzlich angesprochen werden sollte, schließlich behaupten wir mehrmals am Tag, nein, nicht nur eines zu besitzen, das wäre jetzt eindeutig zu wenig, sondern als Ich, was immer das sein mag, zu agieren, zu denken, Entscheidungen zu treffen, im Grunde all das zu erledigen, was die Gesellschaft von uns verlangt … wir sagen dann ›ich‹ und meinen, wir seien auf diese Weise mit uns im Reinen … und dann kommen Situationen, in denen wir nicht ›ich‹ sagen, aber es ganz ganz tief empfinden, ich meine jetzt das Ich, wobei es unwillkürlich zu zucken beginnt, als sei etwas in es eingedrungen und als müsse es nun aus sich herausgehen, jedenfalls scheint das die Regel zu sein, wenn man das eigene Empfinden, das ja nie ganz ausgeklammert werden kann, einmal mit der riesigen Literatur abgleicht, die es darüber gibt. Man muss aber dazu sagen, dass dieses Ich sich normalerweise in einem Anspruchsumfeld bewegt, das gerade solche Situationen, wenn man sie im Auge behält, mehr an den Rand der eigenen Existenz drängt, und es ist sicher korrekt, das als seine große zivilisatorische Leistung zu betrachten, während wir verständlicherweise auch ganz gerne Ferien vom Ich nehmen, wenn es um die ganz großen Gefühle geht, doch wie es so geht, am Ende kommt es doch mit, so wie der letzte Aufsatz, der nicht mehr fristgerecht fertig geworden ist und einem jetzt den Urlaub doch auch wieder … strukturiert, wie das eben so geht, auch wenn es der Partner nicht gerne sieht.
Sabine A träumt von einem Ex
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H. World Wide Woman
WWW

Geht doch.

Sabine A träumt von einem Ex
10
I. Mein Kind mein Ich
Futur

Nimm mich.

Sabine A träumt von einem Ex
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J. Abgehender Vollmann
Futur
Sabine A träumt von einem Ex
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K. Glückshypnose

¡Excess!

… und tschüss.

 

Die Politik ist das Jetzt
Die Kunst ist das Hier

Isla del Silencio
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Tronka stiehlt den Excess

Aus Tronkas Schwarzen Heften

Kunst und Excess. To exceed = übertreffen.

Wer landet mehr Treffer im Leben? Der Politiker oder der Künstler?

Die Frage ist falsch gestellt. Die Kunst landet mehr Treffer, weil sie von einem Punkt aus in alle Richtungen zielt: 3600. Die Politik kommt aus allen Richtungen und zielt in eine: das kann dann ein Volltreffer sein oder eine Fata Morgana.

Was geht’s dich an? Du bist ein Bewohner der Pyramide.

Die Wissenschaft der Pyramide liquidiert die Kunst.

Nein, sie behauptet nicht, dass es mit ihr zu Ende gegangen ist. Sie schleift sie zum Schafott (dem blutigen Richterstuhl einer verjährten Vernunft, neben dem ganz andere stehen, ganz andere).

Wer das Offensichtliche nicht sieht, was sieht der überhaupt? Er sieht seine Arbeit und sonst nichts. Sonntags geht er ins Museum und sieht ›Zeugnisse‹. Wie wir wurden, die wir sind. Selbst das Wir ist geborgt. Nichts ist ihm fremder als die Vergangenheit.

Vergangenheit, betrachtet als fremde Ethnie. Die einzige, der gegenüber der Gebildete sich jedes Vorurteil anmaßen darf, ohne politisch abzuschmieren. Er darf es erhobenen Hauptes Wissenschaft nennen.

Die Kunst: das einzige Medium, das nie vergeht.

Tronkas Aufzeichnungen: eine Fundgrube. Was er sucht, was er findet, ist nicht immer leicht zu ergründen. Tronka ist offen, weil er offen sein will. Der Wille zur Offenheit übertrifft die wirkliche Offenheit bei weitem. Distanz aufbauen, verkürzen, eine Reflexion ab-brechen, um zu sehen, wie sie bricht – das sind so Techniken, die in seinen Publikationen kaum vorkommen. Dort zählt der durchgeführte Gedanke. Dass er sie im ›Reich‹ der Kunst zur Anwendung zulässt, verrät seine Unsicherheit: Ist Kunst überhaupt ein Gegenstand der Philosophie? Oder steht sie ihr überall entgegen?

Isla del Silencio
2
Tronka verlangsamt den Schritt

Ginge ein Wort wie ›Geist‹ flott von den Lippen, so wäre die Kunst das Gefäß. So aber… Was bremst dich? Welches Tabu mischt sich da ein? (Die Pyramide ist der Ort des Tabus. Das moderne Tabu entsteigt der Wissenschaft wie Athene dem Haupt des Zeus, in voller Rüstung, aber jungfräulich. Von Ahnenkult keine Spur. Nur den Platz auf den Schultern von Riesen, den beansprucht es auch: verlogenste aller Metaphern.)

Isla del Silencio
3
Tronka klettert auf die Schultern von Riesen –
aber sein Glas ist beschlagen

Auf den Schultern von Riesen sehen wir weiter.
Einzige Frage: Wie kommen wir hinauf?
Einzige Lösung: Sie nehmen uns huckepack.

Das also soll die Lösung sein: Die Riesen nehmen uns mit. Es ist die Art, wie Wissenschaft die Welträtsel löst: huckepack. Als Wissenschaftler sind wir einander ebenbürtig. Was zeichnet die Riesen aus? Ihnen ist etwas eingefallen. Eine neue Idee, die Dinge zu ordnen, ein Verfahren, etwas herzustellen, was es zuvor nicht gab, ein Beweis. Das also sind die Riesen. Sobald der Weg gebahnt ist, können es alle. Sie können den Weg gehen, den andere gebahnt haben. Großartig. Sehen sie deshalb weiter? Vielleicht, vielleicht nicht. Wenn sie Riesen sind, sehen sie weiter. Wenn sie keine sind, was dann? Niemand hilft ihnen hinauf, es sei denn ein Riese. Warum sollte er das tun? Will er selber hinauf? Oder lieber doch nicht? Was zum Teufel triebe ein Riese auf den Schultern von Riesen?

(…)

Das ganze Bild ist einfältig.
Ein Bild von Einfältigen für Einfältige.

Aber es ist nicht dumm. Es rechtfertigt ihre Existenz. Der Alltag der Naiven verlangt seine maiores: an ihnen richtet sich aus, wer nichts zu schaffen hätte, gäbe es nicht ihre Hinterlassenschaft. An ihr macht er sich zu schaffen. Ordnet dies, ordnet jenes, flickt ein Loch, bringt einen Knopf an, sagt: Das lässt sich brauchen. Sehen Sie dieses Denkmal? Das war einmal eine Markthalle? Nichts da, das ist eine Kirche. Sehen Sie nicht, dass es eine Kirche ist? Es ist unbedingt eine Kirche. Dieses Pissoir, soeben den Tiefen der Vergangenheit entrissen, kann nur ein Opferstein sein. Was macht uns da so sicher? Wir opfern niemandem mehr, wir opfern dem Opferstein, der vielleicht ein Pissoir war. Das ist unser Wissen. By the way: Wir wissen jetzt, wie man eine Atombombe baut. Also angeln wir uns einen Geldgeber und bauen – janein: eine Atombombe. Warum nicht eine Vergangenheit? Wo wir doch wissen, wie’s geht.

(…)

Das also nennen wir:
auf den Schultern von Riesen stehen.

Isla del Silencio
4
Tronka und das Tabu verlassen händchenhaltend den Raum

Das Tabu weiß: Das geht gar nicht. Woher weiß es das? Es weiß nicht, es verfügt. Was gibt ihm diese Gewalt? Die Psychologie sagt: verjährte Gewalt, die erlitten wurde. Irgendwann wird die Psychologie selbst zur verjährten Gewalt, die erlitten wurde. Irgendwann wird jede Wissenschaft zur verjährten Gewalt und produziert Scham. Ist schon klar, wie ihr die Sache seht, aber darum geht es jetzt nicht. Worum dann? Vielleicht um die Frage, was nicht mehr geht. Dumm nur: das ist keine Frage. Es ist die Antwort. Sagen wir: die Antwort auf eine Frage, die nie gestellt wurde. Die Antwort vor jeder Frage, die gestellt werden könnte und jetzt nicht mehr gestellt werden darf. Es ist Türenklappern mit ›Bewusstsein‹.

Isla del Silencio
5
Auch hier ist Kunst

Wissenschaft, in die Öffentlichkeit getragen, mutiert. Wozu? Zu Ideologie, beteuern die Ideologen, nicht ahnend, dass sie selbst ein Teil des Problems sind, nicht unbedingt der primär zu lösende, aber deshalb auch nicht zu vernachlässigen, weil sie das Problem durch die Schnelligkeit ihrer Schlüsse… Zudecken? Decken sie zu? Das klingt paradox, da sie es sind, die es zur Sprache bringen. Da liegt der Brocken. Nur Wissenschaftler könnten das Problem zur Sprache bringen, weil nur sie die Deformationen sehen, die sich im Übergang von einem Gedankenverbreitungssystem zum anderen in die Information einschleichen.

  • ―Kokolores, weiß Teuschner. Gerade er, der sich aus allem heraushält, sieht sich hier gefragt. Gerade weil sie Wissenschaftler sind, sehen sie nur ihre Wissenschaft und beklagen ihre mangelnde Resonanz. Wenn dann einer der ihren den Weg an die Öffentlichkeit findet, dann neiden sie ihm diese Rolle und sonnen sich in der Wichtigkeit, die ihr Fach plötzlich gewinnt. Natürlich finden sie, dass dieser Vorturner, wie sie ihn empfinden, über weite Strecken Blödsinn redet, aber das finden sie bei weitem nicht so schlimm wie die Nichtbeachtung, die nun endlich ein Ende hat (wobei sie selbst natürlich weiterhin unbeachtet bleiben, aber im persönlichen Umfeld fleißig Punkte sammeln).
  • ―Du meinst?
  • ―Genau so. Wenn einer Blödsinn reden muss, um das Ohr der Öffentlichkeit zu erlangen, dann kann der Blödsinn nicht so schlimm sein. Dann kann es auch nicht so schlimm sein, ihn nachzusprechen, erst im privaten Zirkel, denn man soll sich plötzlich verständlich machen, dann vor den Studenten, die sich bedeutungsvoll anblicken, weil sie ihren drögen Paukstoff und damit fast schon sich selbst unvermittelt ins Zentrum einer gesellschaftlichen Debatte gerückt sehen, dann…
  • ―Hör auf! Das ist ja furchtbar.

  • Wenn Wissenschaft öffentlich wird, dann teilt sie sich in die schrecklichen Vereinfacher und die schrecklichen Komplizierer. Natürlich beherrschen die Vereinfacher das Feld. Sie nötigen die Komplizierer, ihnen zu widersprechen, ohne dass der Normalkonsument verstünde, worauf sie hinauswollen. Wie sollte er auch? Einfach gesprochen wollen die Komplizierer die Vereinfacher von der Bühne schubsen, weil sie die Wissenschaft verraten. Natürlich wehren sich die Vereinfacher und greifen dabei zu teilweise recht handfesten Methoden.
  • Also vereinfachen die Komplizierer ihre Argumente und über kurz oder lang sitzen beide Parteien im gleichen Boot und rudern in verschiedene Richtungen. Da liegt es an der Moderation, also an den im Hintergrund ihr Garn spinnenden Instanzen, durch eine geschickte Regie die ›Debatte‹, wie sie das nennen, in die erwünschte Richtung zu lenken. Daher sitzen die Vereinfacher in den von einer Minderheit tückischerweise ›Ausstrahlungen‹ genannten Sendungen immer oben und die Komplizierer sitzen immer unten, es sei denn, die Komplizierer haben ihr Anliegen bereits so weit dekompliziert, dass sich irgendwo ein ›Format‹ findet, bei dem ausnahmsweise sie obenan sitzen dürfen, während der Gegner erst gar nicht zur Party erscheint, da ein Auftritt in diesem Kreis sein Punktesaldo schädigen würde. Aber unsichtbar ist er natürlich immer anwesend.

  • ―Wissenschaft, in die Öffentlichkeit getragen, sinniert Teuschner, ist nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst der Blamage, wenn du mich fragst, auch da gibt es Weltmeister.
 

Ein Genius genannt Homomaris
beschließt historisch zu werden

Sangria
Aus den ›Keynotes‹ des Homomaris

 

… Homomaris, einer der geistreichsten Menschen des Planeten … warum fällt mir dabei der Ausdruck ›abgedunkelter Witz‹ ein? Auch dieser Mann ist auf der Suche nach grenzenloser Kindheit … hinter Blutschleiern.

Sangria
1
/1/ Come and watch, what’s happening now: Wie die Große Hand jetzt alle erfasst und langsam, langsam, wir wollen ja nichts überstürzen, langsam über die Kante schiebt, einzeln, wie es sich gehört, es muss bei alledem sich doch auch richtig anfassen, mit eigenen Regeln und einem eigenen Weiter-so. Ein jeder bringt seine Regeln mit, er hat ein langes Leben darauf verwandt, sie auszubilden, und voilà, jetzt arbeiten sie – ja, diese Regeln arbeiten jetzt, alle arbeiten sie für ihn, damit sein Abgang sich vollumfänglich vollende. Das volle Ende – die Menschen hören den Ausdruck mit Schrecken, erinnert er sie doch daran, dass sie noch immer die Standmiete nicht bezahlt haben, und auf einmal, am Allerzahltag, wird alles miteinander fällig: das ist ein sehr altes Bild, in das mancherlei hineinpasst, ein richtiges Gemälde, polyfigural, es könnte von Breughel dem Älteren stammen, auch dem Jüngeren, warum nicht, obwohl der Ältere deutlich verschwenderischer mit seinen Figuren umgeht.

Woher kommen all diese Leute, die wir auf den Bildern der alten Kunst bestaunen? Und wohin sind sie gegangen? Irgendwohin müssen sie ja gegangen sein, sonst wäre die Kunst nicht so alt und hinge nicht so entschieden zeitlos, so … zeitentbunden in den Museen.

Es ist und bleibt ein Rätsel um diese Leute. Nur wer schon gegangen ist, bringt soviel Zeit mit. Sie bringen viel Zeit mit, all diese Leute, mancher sagt, sie brächten sie wieder, als sei diese Zeit vergangen und spule ein zweites Mal ab. Das ist natürlich Nonsens. Zeit kommt nicht wieder. Nur die Leute, die in ihr vergangen sind, treiben sich auf diesen Bildern herum, außer der Zeit, so wie man Hunde außerhalb von geschlossenen Ortschaften antrifft – Streuner sind sie, vermutlich begegnen sie einem deshalb, sofern sie aus den älteren Zeiten stammen, in größeren Rudeln, das Zusammengehörigkeitsgefühl ist da noch ausgeprägter und die Gefahr gegenwärtiger.

Sangria
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/2/ Nun, da wir an der Reihe sind, dürfen wir nicht so pingelig sein. Es ist ja unsere Geschichte, wir können sie dehnen und stauchen, wir können sie auch verdrehen, solange, solange, bis sie steht … eine gute Geschichte muss stehen, sie muss uns stehen, gut zu Gesicht genauso wie Rede und Antwort, dann nehmen wir sie in die Hand und blasen sie in die Luft … schwebt sie auch anmutig? Wo schwebt sie hin? Treiben die Miasmen der Anderen sie zurück? Vielleicht geht ihr die Luft aus und sie sinkt zu Boden, sinkt und sinkt und … ein Hüpfer, ein kleiner Hüpfer nur: das ist das Ende vom Lied. Vielleicht schwebt sie auf und davon, uns auf und davon, so dass wir einander ratlos in die glänzenden Gesichter blicken, Wirlinge allesamt, Rasende, als ginge es nach Andernach, gleich hinter der nächsten Biegung, links, rechts, fort, nur fort, diese Regung ist echt. Recht betrachtet, ist mir unser aller Geschichte zu kompliziert, nein, zu einfach, nein, zu kompliziert. Ich könnte meine dagegen setzen, aber ich will es nicht. Nein, ich möchte das nicht erklären. Meine Geschichte, die eines Pinsels auf der Suche nach der rechten Hand, geht niemanden etwas an. Sie ist fad. Dabei brauche ich nur einen Fleck, einen Anhaltsfleck, und schon brennt es los. In mir werden alle lebendig, bloß ich nicht. Damit behaupte ich nicht, dass ich tot bin. Nichts will ich behaupten, solange es über mich geht, dabei geht alles über mich, ich weiß schon, ich bin der Buckel, über den alles weg muss. Vielleicht bin ich tot, ausschließen lässt sich das nicht. Immerhin bin ich einmal gestorben, wer kann das schon von sich behaupten, ohne sich in endlose Widersprüche zu verwickeln? Ich fürchte mich vor keinem Widerspruch, ich gehe auf jeden los, jauchzend: Endlich ein Widerspruch! Und dann die obligate Enttäuschung: Alles reiht sich ein, fügt sich, stimmt überein, hält zusammen.
I cannot make it cohere. It makes me cohere.

 

Nachtrag:
Einmal muss man gestorben sein – und dann noch einmal sterben –, um Recht zu behalten: eine Mindestanforderung der Gesellschaft, der ich mich willig gefügt habe und die mich jetzt empört. Nur bekommen wird man sein Recht nie. Das Recht ist ein scharfes Schwert, stumpf geworden durch Nachdenken. Ich will alles erzählen und erzähle nichts. Ich will nichts verraten und verrate alles. Ist das ein Widerspruch? Ist das die Geschichte? Meine Geschichte ist unsere – nur wer wir sind, das wird bis zum Schluss nicht verraten. Niemandem. Mein Wir muss, wie jedes, erfunden werden, vermutlich bin ich deshalb so gut im Erfinden.

Sangria
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/5/ Ich, Homomaris, erkläre dem ABC den Krieg, ich mache ihm seine Erfolge streitig, meine Aufgabe endet mit Sieg oder Niederlage, kein Remis ist denkbar. Ich beende das Zeitalter der Schrift. Nichts werde ich von den Buchstaben übrig lassen außer der pictura, dem Schlauch der Kontur, überbordend von Ausgeburten einer perversen Phantasie, hervorgekrochen aus den Ritzen und Spalten des Hundeplaneten, aus allem, was klafft, hinein in die Stege und Kegel, die Füßchen und Pünktchen, die Bögen und Klammern und Stengel: Die Schrift ist Viele. Wer glaubt, die Vielen bildeten eine Schrift, der wird, wenn erst mein Werk (das weniger meines ist als irgendein anderes) ans Ende gelangt, seinen Irrtum erkennen: er wird ihn abstreifen, als sei er ein zur Gänze fremder. Was er vielleicht auch ist, denn der Glaube an die Schrift gleicht in mancher Hinsicht einer Besessenheit, die nur durch Austreibung geheilt werden kann. Wo Glaube ist, da sind auch Besessene, temporär Besessene, chronisch Besessene – bloß außer aller Zeit spielt kein Glaube.

Schrift und Glaube, Glaube und Schrift, das ist eine alte Liaison. Glaube braucht Zeichen. Ich hingegen glaube alles: die Unersättlichkeit meines Glaubens stillt sich an keinen Zeichen, sie lässt die Abwesenheit nicht zu, also auch nicht die Differenz, die Differenz zu allem anderen; wenn alles anders ist, kann es kein Anderes geben. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das ist pure Logik, das ist die Logik des Handwerks, des mestiere, ich lege Hand an, darum geht es mir, ich lege Hand an das innere Gerüst der Kultur, ziehe ich sie ab, so fällt sie in sich zusammen. Das wird bald geschehen, ich muss mich sputen.

Alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Ich bin dieser Uralte. Ich bin wiedergekommen. Nicht wiedergeboren, wiedergekommen: da liegt der Unterschied.

(…)

Meine Spanne ist kurz.

Sangria
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/11/
Sangria.

Farbe der Versenkung.

Jede Farbe erscheinen lassen, als handle es sich um eine Modulation dieser einen – besonders raffiniert, besonders kostbar, besonders eigen. Aber im Grunde leben sie alle von der Kostbarkeit jener einen. Wenn der Ursprung eines Bildes in einer farblichen Missetat liegt, dann erschöpft sich die Aufgabe des Künstlers darin, es in Sangria zu erlösen.

Eine Welt voll obdachloser Geschöpfe, jeden Tag mit diesem Urstoff getränkt und verflüssigt … es liegt Adel darin, so zu denken, eine unwillkürliche Feinheit, die sich der Misere ergibt, um sie für unzuständig zu erklären. Schattierungen der Seele … das sagt sich so leicht, aber es ist die Wahrheit, einfach die Wahrheit, verunklart durch den Fehler, den Menschen begehen, für die alle Schatten grau sind.

Man darf keinen solchen Fehler begehen. Meine Palette mag grell sein, ein wenig zu grell, wie mein Schatten behauptet, darüber besitze ich kein Urteil (der Arzt erklärt mir, ich hätte den Grauen Star, was ich für eine medizinisch verseuchte Redensart halte), immerhin könnte das den leicht belehrenden Zug darin erklären. Man sieht meine Bilder und sieht sich unterrichtet.

Ich treibe aus: das Grau, das Grauen, die falschen Schatten einer falschen Nichtgegenwart (denn es gibt auch eine richtige, an die ich nicht rühre). Ich beneide die alten Satansaustreiber, auch das ist mestiere, wenngleich ein untergegangenes. Mein Werk ist kleiner und feiner. Was aus ihm wird, was daraus werden soll, weiß ich nicht, will es nicht wissen; was immer daraus entstehen wird, es soll nach mir kommen.

Wie mag das sein: nach mir? Nach mir die Sintflut, warum denn nicht, warum denn nicht? Es kann gar nicht anders sein. Meine Welt, mit niemandem geteilt, mich vom ersten bis zum letzten Atemzug einschließend, im Nu sich auflösend, was wäre sie von Beginn an anderes gewesen als eine Arche in dieser roten Flut? Sinnreich bestückt mit Atemwesen aller Art, wie es meinem Fassungsvermögen entsprach, unerträglich im Grunde, jedenfalls schwer zu ertragen, was trägt, ist der Stolz.

Bourbonengift: Herrschsucht, gepaart mit Courtoisie.

 

Eine Vision zerstört die andere

Homomaris bewegt seinen kleinen Finger
1
Der Kunstmaler Homomaris stürzt die alte Welt

Denken, was das Überzeug hält. Sabine A entdeckt die Devise in einem Winkel der Malburg an einer Kordel, zum Trocknen aufgehängt, gesetzt, sie wäre noch etwas feucht. Über das Trockene und das Feuchte hat er, wie er sagt, lange nachgedacht, um schließlich das Feuchte zu bevorzugen:

  • ―Wir vertrocknen, das ist ein unausweichlicher Prozess, der kommt von alleine. Man muss das Feuchte gewinnen. Persönlich sehe ich mich als Mönch, ich trage mein Überzeugungsbündel am Stock über der Schulter, schon um es stets bei der Hand zu haben.

Auch er ein Freund des omnia mea mecum porto. Was die Besucherin angesichts der in seinem Bau angehäuften Fülle von Krimskrams verwundert.

  • ―Ich glaube alles. Ich glaube, dass die Erde eine Scheibe ist, ich glaube, dass sie als abgeplattete Kugel um die Sonne kreist und noch viel mehr. Ich glaube alles und sein Gegenteil. Man muss glauben. Sobald die Skepsis an einer Stelle einreißt, fällt alles nach und nach auseinander. Aber im Denken gibt es kein nach und nach: ein skeptischer Gedanke genügt und die Welt geht dahin. Wohin geht sie? Das ist eine gute Frage. Wohin könnte sie gehen? Die Skepsis lässt ihr keine Wahl. Die Welt existiert nur im Glauben. Bin ich der letzte gläubige Mensch – manchmal sehe ich die Dinge so –, dann existiert sie nur in meinem Glauben und ich muss darum Sorge tragen, dass kein Krümel verlorengeht. Deshalb glaube ich alles.

Sabine A gibt sich erstaunt. Sie hat sich schön gemacht und strahlt ihn verführerisch an:

  • ―Aber die Welt da draußen kennt Sie doch gar nicht. Sie ist so brutal und hart. Sie überfährt Sie mit links, sollten Sie einen Moment lang nicht aufpassen. Diese Welt braucht Sie nicht.

Homomaris spielt mit dem Stöckchen.

  • ―Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Ich glaube auch diesen Satz, weil ich alles glaube. Ich glaube, dass ich gekommen bin, die Welt zu erlösen.
  • ―Aber wie wollen Sie das anstellen? Das haben schon so viele versucht und sind gescheitert.
  • ―Man muss an das Scheitern glauben. Kann ich scheitern, dann kann es auch die Welt. Der Gedanke ist unwiderlegbar.

Spinnt Homomaris? Hält er sie zum Besten? Sie kehrt die Dozentin heraus.

  • ―Die Welt ist alles, was der Fall ist. Wie soll alles, was der Fall ist, scheitern können? Menschen können scheitern, Projekte, die sie sich ausgedacht haben… Aber das geschieht alles in der Welt, die Welt wird davon berührt, weil sie alles berührt, was in ihr geschieht, doch sie zieht sich den Schuh nicht an. Sie zieht sich den Schuh nicht an.
  • ―Ich, meine Teuerste, glaube an alles, was der Fall ist. Sollte die Welt nicht der Fall sein? Wenn aber die Welt der Fall ist, dann kann sie nicht alles sein, was der Fall ist. Entweder-oder. Und ich glaube: Alles, was der Fall ist, fällt irgendwann. In meinen Gedanken ist es schon gefallen. Also bin ich der, der die Welt zu Fall bringt.
  • ―Glauben Sie das wirklich?
  • ―Ich glaube die Welt wirklich. In dem Moment, in dem ich meinen Glauben von ihr abziehe, entwirkliche ich sie.
  • ―Aber das ist Solipsismus. Soli-
  • ―Sie glauben mir nicht? Aber Sie müssen mir nicht glauben. Ob Sie mir glauben oder einem anderen, das ist ganz und gar ohne Belang. An irgendwas werden Sie schon glauben. Glauben ist wie ein Krebsgeschwür. Einmal vorhanden, beginnt es zu wuchern, bis es den ganzen Organismus im Griff hat. Welcher Glaube hat Sie im Griff? Auch Sie glauben alles. Sie wollen es nur nicht glauben. Man darf nichts wollen. Nur dann kann es gelingen.
  • ―Also ich weiß jetzt nicht…
  • ―Doch, Sie wissen es. Sie wollen es nur nicht wissen. Wissen ist mühsam. Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Sie kennen das Rad des Schicksals? Wo ein Rad ist, da sind auch Speichen. Sehen Sie, sobald ich schwacher Mensch hineingreife, zerbricht es mir beide Arme. Nehme ich aber das Stöckchen, mein Mönchstöckchen, und stecke es in die Speichen, dann bin ich es, der den Gang des Schicksals ändert, ich, der schwache Mensch Homomaris, und niemand, ich sage: niemand kann mich aufhalten.

Ist das stark? Ist das schwach? Sabine A hält sich bedeckt.

Homomaris bewegt seinen kleinen Finger
2
Homomaris schenkt Sabine ein A

Liebe, hochverehrte Sabine,

A

da er nun einmal Dir gehört, darf ich Dich auf ein paar Eigentümlichkeiten hinweisen, die diesen Buchstaben vor allen anderen auszeichnen. Da ist natürlich als erstes die Stellung im Alphabet, schwer erarbeitet und keineswegs, wie wir wissen, ein sicherer Besitz. Deshalb verstärken die Typographen auch gern den rechten Schenkel um anzudeuten, welchem Druck seitens der Nachdrängenden dieses so einfach gestrickte A tagaus tagein standzuhalten hat, nicht zu vergessen die Nächte, die hier besonders heikel sind und einer besonderen Betrachtung bedürften. Da wäre zum zweiten die einfache Aufwärtsbewegung zweier Schenkel, die sich im Vereinigungspunkt (der zugleich den Höhepunkt bildet) zu einer Hornfigur verbinden, denn wie Du bereits bemerkt haben dürftest, hat der Typograph sie nicht einfach spitz zulaufen lassen – ein Fehler, den viele seiner Kollegen aus Unbildung begehen –, sondern ihnen eine sanfte Muldung verliehen, wie sie dem Haupt des Rindviehs eignet, vermutlich, um darauf hinzuweisen, dass die Ersten in dieser Hinsicht stets die Letzten sein werden – beim Tragen und Ertragen nämlich, denn darauf kommt es im Leben an.
Drittens – es gibt immer ein Drittes, das ist in der Wissenschaft nicht anders als in der Kunst – ist da dieser merkwürdige Schlenker, von Schulkindern und Banausen als waagrechter Strich gedeutet, der dem Eingeweihten zu verstehen gibt, dass hier der Eingang zu allen verborgenen Schätzen liegt, denen des Wissens ebenso wie denen des Mundaufsperrens, wie der Zahnarzt es von seinen Patienten verlangt. Denn während er behauptet, es gehe in diesem Moment nur um den faulen Backenzahn, befriedigt er sich an den tiefen Einblicken in den Schlund, die ihm sagen, was von diesem Menschen zu halten sei. Gewiss, am A! erkennt man den Menschen, es ist ein ebenso sicheres Erkennungszeichen wie seine Handtasche, jedenfalls gilt das für die Frauen und um sie dreht sich ja alles.

Kein A(hh) sei, wo ein Z(eh) gebricht,
denn anders geht es nicht.

Mit alphabetischem Gruß…

Homomaris bewegt seinen kleinen Finger
3
Sabine A huscht auf den Schoß des Prätendenten

  • ―Sieh mal her, tönt Homomaris’ Stimme, deren Sonorität sie noch immer durchfährt, als verdanke sie sich einer Einmischung des Leibes, über die nicht gesprochen werden darf. Die Hockende gefällt ihm ausnehmend gut, jedenfalls als Motiv, und dass sie über einer der Truhen hockt, in denen seine alten Zeichnungen lagern, sofern sie aus dem Atelier nicht den Weg hinaus in die Welt gefunden haben, erhöht den Reiz um diverse, schwer zu beschreibende Grade. Natürlich bin ich eitel, würde er auf eine entsprechende Bemerkung antworten, es gehört zu den gesellschaftlichen Usancen, die eigene Eitelkeit auf Anfrage ungesäumt zuzugeben, aber er weiß, dass es die Sache nicht trifft. Jedenfalls nicht genau. Sabine begreift das intuitiv, sie weiß, dass sie seiner Eitelkeit schmeichelt, der Eitelkeit des alten Mannes in seinem Bedürfnis, geliebt zu werden, aber auch, dass darunter noch anderes mitspielt, die Einsamkeit des Meisters oder etwas in dieser Art: das Terrain ist neu für sie und sie tastet sich intuitiv vorwärts.
  • ―Sieh mal, lässt sich die Stimme vernehmen, das habe ich in Paris gemacht, ich weiß nicht einmal mehr den Anlass. Pantagruels Frau auf nächtlicher Suche. In Sabines Kopf, gefüllt mit Empfindungen, findet die Rötelzeichnung kaum Platz, nur die Farbe kitzelt sie wie ein zum Blasrohr geformtes Blatt Papier, zuzüglich der Strähnen, die das Blatt durchwandern, in einer Bewegung, die von rechts oben nach links unten fortschreitet, so wie Pantagruels Frau vorwärts schreitet, auch wenn ihre Füße unter dem langen Haushaltskleid verborgen bleiben. Der Schall ihrer Worte. eine Art Düsenantrieb, schiebt sie voran, ein wenig wider Willen, wenn man ihrer Körperhaltung trauen darf, aber dem widerspricht die entschiedene Handbewegung, mit der sie die Kerze umklammert, das Bild endet an dieser Stelle wie abgeschnitten. Es liegt eine kleine Disproportion darin, die den Meister nicht zu stören scheint. Nicht jetzt jedenfalls, was liegt an der Zeichnung, sie hat so lange auf diesen Moment gewartet, sie hat ihn bekommen. Friede sei mit ihr.

Pantagruels Frau, in nächtliches Dunkel gehüllt, ist ganz Auge. Die Lider fallen als lange Strähnen dem Unheil entgegen, das sich zum Lebensfluss verstetigt hat, irgendwann, sie könnte den Zeitpunkt mit der Präzision einer astronomischen Uhr bestimmen, aber sie legt keinen Wert darauf, es ist gleichgültig. Auch ihr Unheil ist gleichgültig, es ist zum Unheil der Welt geworden, mit einer kleinen persönlichen Spitze, die sie in Alltagsfragen berät, aber so wichtig ist ihr Pantagruel nicht, und da er sich selbst dafür hält, hat sie in dieser Frage frei.

 

Die Kunst macht’s im Nu
Die Politik in der Zeit

Der Sozialismus entlässt seine Trabanten
1
  • Never seen such a thing before.
  • It’s a Trabi.
Stutenkeil . Langwasser . Lobbock

… haben sich an den gläsernen Rand der Mensa zurückgezogen; die Mittagssonne, eigentümlich gebrochen und intensiviert, strahlt ihnen auf den Kaffee, zwei haben die Löffelchen beseitegelegt, nur Lobbock kurvt mit seinem in der Luft herum und zeichnet Sachverhalte, die – vorerst – keiner sieht oder zu sehen wünscht.

  • ―Was mich besonders beeindruckte, war der Artikel dieses Schriftstellers, ich habe den Namen vergessen, der den sich in Richtung KDW wälzenden sozialistischen Massen Ehrlosigkeit vorwarf, wahrscheinlich ohne zu bedenken, dass er in diesem Augenblick den Sozialismus mit Armut gleichsetzte, mit angebotsorientierter Armut, sozusagen, um gleich die Pointe zu benennen, allerdings nur eine, denn die andere bestand ja darin, dass er ihn in diesem Augenblick, angesichts der offenen Pforten des Konsumparadieses, in freiwillige Armut, nein, in freiwillige Bedürfnislosigkeit verwandeln wollte. Wenn man bedenkt, dass der Sozialismus das Versprechen der Bedürfnisbefriedigung und sonst gar nichts…
  • ―Meine hedonistischen Freunde in Frankfurt bemängelten an den Montagsdemonstranten das Fehlen ordentlicher bürgerlicher Hemdkrägen. Es war für sie der Beweis, dass es sich um asoziale Elemente handelte, wahrscheinlich bezahlte Provokateure, jedenfalls destruktive Elemente, die dann auch diesen Spruch »Wir sind ein Volk« skandierten, bei dem man nur den Akzent verschieben musste, um im Bilde zu sein, wie der Abgeordnete Schily mit der Banane im Bundestag bei passender Gelegenheit anschaulich demonstrierte.
  • ―Auf der Zeil brannten die Lichter von früh bis in die Nacht, da war man nicht so pingelig. Es gab ja dieses Begrüßungsgeld, jedem Ankömmling frisch in die Hand gedrückt, Wohlfühlgeld, die Leute streckten die Hände danach aus, sie eilten, es umzusetzen, bevor der Zauber erlosch und nur Asche zurückblieb, denn Wunder, das wussten sie, haben ihre Zeit und wer sie versäumt, dem bleibt das schale Gefühl, doppelt betrogen zu sein. Die triste Wirklichkeit ist ein Betrüger, das weiß doch jeder, das Wunder besteht darin, sie hinter sich zu lassen. Ein Schriftsteller, der das nicht weiß, der nicht weiß, dass er im Grunde im gleichen Genre arbeitet, nur nicht so erfolgreich, ist eigentlich überhaupt keiner. So ein warmer Regen…
  • ―Sehen wir’s doch nüchtern. Für die Vielen war’s ein Wunder, für den Schriftsteller eine Entzauberung. Solange die DM nur in seiner Tasche klingelte, weil das System ihn privilegierte, führte sein Weg, der Weg des Geistes unmittelbar ins KDW oder in jeden beliebigen Konsumtempel. Sein Prestige, seine Ehre erloschen in der Nacht, in der die Mauer sich öffnete. Die Verwandlung in Tinnef, hier fand sie ursprünglich statt und ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sie dort zu diagnostizieren, wo sie sich so unverschämt lebensprall manifestierte: an den Grabbeltischen und an den Kassen der Kaufhäuser, an denen er stets nur einer von vielen gewesen war.
  • ―›Unverschämt lebensprall‹ ist gut. Das merke ich mir für meine Vorlesung. Was ich Sie noch fragen wollte –
  • ―Fragen Sie. Wenn Sie wissen wollen, wo ich mich in jenen Wochen herumtrieb, muss ich Sie enttäuschen: Ich war in Klausur. Das nationale Ereignis fand ohne mich statt. Ehrlich gesagt, ich habe mich ihm entzogen. Damals brach etwas in mir, das bis heute nicht mehr repariert werden konnte. Kollege Duro hat das, wie ich finde, treffend zum Ausdruck gebracht. »Leipzig, wo liegt das?«, erwiderte er einem Mitarbeiter, der gerade aus der Heldenstadt zurückkam und seinen Bericht loswerden wollte. »In Polen?« Heute würde ich hinzusetzen: Wäre es nur dort geblieben.
Der Sozialismus entlässt seine Trabanten
2
Duro . Hölzchen
  • ―… was ich noch loswerden wollte: diese Bananen-Nummer, also dass ein grüner Abgeordneter eine Banane hochhält, um die Kraft zu benennen, die den Osten unaufhaltsam gen Westen treibt, also den eigentlichen Motor der sogenannten Wiedervereinigung … ich muss schon sagen, das fand ich damals … irgendwie genial.
  • ―Er wahrscheinlich auch.
  • ―Zu Recht, zu Recht.
  • ―… die Kraft der Demütigung, die von den jederzeit Wissenden ausging … das wird sich rächen. Eigentlich hat es sich längst gerächt, die Sache ist so verkorkst, dass an einen geraden Ausgang nicht mehr zu denken ist. Zwei Populationen auf einem Staatsgebiet! Das war immer das Betriebsgeheimnis der Deutschen, der innere Unfriede, der in rhythmischen Abständen ins Maßlose geht. Dabei quält sie dieses Bedürfnis nach Harmonie, das ebenfalls keine Grenzen kennt. Keine Grenzen kennen und ständig neue ziehen, an denen man sich wundreibt: das ist deutsch.
  • ―Ich bin stolz darauf, dass sich wenigstens eine Partei nicht vom nationalen Rausch hat anstecken lassen. Konsum als Waffe, dazu das Geschrei »Wir sind ein Volk«: Geht’s noch? Leichter lässt sich Manipulierbarkeit gar nicht demonstrieren.
  • ―Immerhin: die Banane … das ist doch ein Emblem der Grünen. Was daran sollte verwerflich sein? Vielleicht hätten die aus dem Osten gleich Toscana-Reisen buchen sollen, um dem Geschmack des Herrn zu entsprechen. Und was das Volk und das Wir angeht…
  • ―… die besitzen eine ausgesprochen linke Vorgeschichte, ich weiß. So oder so, der SED-Staat ist mangels Kasse gestorben. Da bot es sich eigentlich an, den Westen zur Abwechslung mit Hilfe der subversiven Massen der DäDäER zu infiltrieren. Jetzt hat die Partei einen genialen Redner im Bundestag sitzen und das abendliche Publikum ist begeistert. Wir auch. Er macht seine Sache gut. Ich vermute mal, mittlerweile kennt auch er seine Toscana und weiß sie zu schätzen. So wie wir. Aber wir waren zu oft da, jetzt haben wir andere Ziele. Freunde von uns bieten ihr Häuschen wie sauer Bier an. Haben Sie keine Lust?
  • ―Lassen Sie mal. Aber ich komm drauf zurück.
  • ―Was macht eigentlich unser Dichter M? Ich meine, nachdem sein Westprivileg futsch ist. Mischt er sich unter die Massen? Ist er jetzt einer der Vielen?
  • ―Eher einer der vielen Wenigen.
  • ―Was heißt das?
  • ―Flucht in die Krankheit. Nicht irgendeine, sondern die echte wahre: finale Entgleisung.
  • ―Diese göttliche Konsequenz … also ich finde das bewundernswert.
  • ―Was ist daran göttlich, wenn einer seinen Zynismus nicht überlebt?
  • ―Steht es so schlimm?
  • ―Die Staatssicherheit ist eine Krankheit zum Tode. Die ostdeutschen Schriftsteller sollten Kierkegaard lesen, statt zu lamentieren.
  • ―Naja. Entweder – Oder, das kennen sie doch.
Der Sozialismus entlässt seine Trabanten
3
Hölzchen . Ein Student
  • ―Da haben sie jetzt die Geschichte im Haus und können damit nichts anfangen. Natürlich gilt das nicht für alle, ich will meine Kollegen hier im Hause nicht anschwärzen, sie haben ihre Lektion gelernt, aber ich prophezeie Ihnen: von den Geisteswissenschaften wird binnen zehn Jahren nichts mehr übrig sein, sie werden das Desaster nicht überleben. Die Geschichte? Die Geschichte ist keine Geisteswissenschaft, das habe ich immer gesagt. Die Geschichte ist eine Sozialwissenschaft. Die Germanistik zum Beispiel … das interessiert mich. Sie hat ja Anlauf genommen – damals, in den heroischen Zeiten, Sie wissen schon –, eine ordentliche Sozialwissenschaft zu werden, es gab da große Überschneidungen. Aber letztendlich siegte dann doch das Geschwätz. Sie hat auch andere Aufgaben. Jetzt muss sie all die Stasi-Verwicklungen ihrer Lieblinge aufarbeiten, das gibt erst einmal Arbeit, aber dann? Ich frage mich, was kommt danach? Goethe? Grimmelshausen? Ich frage ja nur. Klassiker sind wichtig, sie sind auch bei uns Historikern wichtig, keine Frage. Ich zum Beispiel lese immer wieder gern Thukydides und natürlich Mommsen, aber doch mehr zu Unterrichtszwecken. Das kann’s doch nicht sein. Haben Sie schon ein Prüfungsthema? Nein? Wie wär’s mit der Treuhand? Das ist ein gewaltiges Themenmassiv, wenn Sie mich fragen, das kommt gerade erst in den Blick. Die Treuhand kann gar nicht soviel falsch machen, wie man ihr anhängen wird. Sie ist der ideale Sündenbock, der bouc émissaire für alle, die irgendwann aus ihrer Niederlage im Einigungsprozess Gewinn ziehen wollen. Das ist so klar wie … versuchen Sie sich einmal an folgendem Gedankengang: Schiller, Hegel und der kleine Gysi stehen an einer Straßenecke. Kommt ein Bus vorbei, vollgestopft mit Ost-West-Berufspendlern. Sagt Schiller: Das Schöne daran ist die Freiheit in der Bewegung. Sagt Hegel: Heute sind sie Knechte, morgen die Herren. Und was sagt Gysi? Dass mir niemand die Treuhand lobt! Sie treibt uns so oder so die Kundschaft zu. – Was ich damit sagen will? Behalten Sie die Treuhand im Auge! Da tut sich was. Man muss auch frühzeitig an die Promotion denken. Haben Sie schon daran gedacht? Nein? Dann machen Sie sich mal Gedanken. Die Pyramide ist nicht alles. Sie werden doch nicht in die Germanistik…?
Der Sozialismus entlässt seine Trabanten
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Nassen
  • ―Ich kam nach Erfurt, es dämmerte und ich lief in die Altstadt. Ich dachte mir: In diesen Gemäuern muss vor ein paar Jahrhunderten die Pest ausgebrochen sein oder ein völlig unnennbares Unheil hat die Bewohner vertrieben und jetzt, einzeln und scheu, kehren die ersten Menschen zurück. Sie gehen nicht festen Schrittes auf festen Straßen, sie wandeln auf imaginären Stegen, sie schnüren vorbei, jedenfalls wirken sie aufgerissen und achten der Löcher im Boden nicht – als schwebten sie unbeteiligt darüber weg, als wären sie körperlich damit ausgelastet, das Gestern und Heute abzugleichen, obwohl es weder ihr Gestern noch ihr Heute sein kann, sondern nur das einer unfassbar fremden Stadt. Sie sehen dich nicht, niemanden sehen sie, sie halten den Blick nach innen gerichtet, aber er findet dort keinen Raum, nur das Flimmern, das der Anblick dieser Häuser im Menschen auslöst. Sie wirken so unendlich verlassen, obwohl sie auch wieder bewohnt zu sein scheinen, als habe die Flucht doch erst gestern stattgefunden, vielleicht muss man hineingehen und dort liegen sie wie die Schläfer im Märchen kreuzweise übereinander. Bitterfeld ist einfach, dachte ich mir, Bitterfeld ist die Ruhrstadt, untergegangen in den ökonomischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte, aber das hier … ist vollkommen unwirklich, eine Filmkulisse, die sich nicht damit begnügt, Kulisse zu sein, sondern den Austritt aus der Zeit probt. – Ich ging ein paar Schritte in einen dieser Leipziger Höfe hinein und drehte mich um: der Eingang lag im Schatten und draußen, auf der belebten Straße, spielte das Sonnenlicht. Es spielte wirklich, es spielte mit dem Haar der Passanten, mit der verrotteten Hausfassade gegenüber, selbst mit den Geräuschen, doch just als ich mich umdrehte, liefen zwei junge Männer in Business-Anzügen durchs Bild, klarer Westimport, der eine drehte sich, ohne innezuhalten, zur Seite, zückte eine imaginäre Maschinenpistole und ahmte das Ballern aus dem Mund eines Zehnjährigen nach. In der Mädlerpassage traf ich unseren tüchtigen Frentzen, den die Pyramide zur Abwicklung eines dortigen Instituts abgestellt hat, wir spazieren ein bisschen herum und er schildert mir seinen Job, mittendrin richtet er sich mit geweiteten Augen auf: »An den Wänden meines Büros klebt Blut – bis oben hinauf. So sieht es aus. Ich habe hier eine Aufgabe. Ich würde lieber heute als morgen verschwinden, aber … es geht nicht. Es hat mich gepackt.«
Der Sozialismus entlässt seine Trabanten
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Starck . Nassen . Tronka . Tummler
  • ―In Rostock brannte das Pflaster. Die versammelte Weltpresse wollte die deutsche Bestie sehen und bekam ihre tägliche Vorführung, Fütterung inklusive. Was sagt uns das? Dem Osten fehlt ’68, das Jahr, in dem das politische Bewusstsein der Westdeutschen zum Westen aufschloss und endgültig mit der Nazi-Vergangenheit brach. Wir haben den Faschismus überwunden und jetzt ist er wieder da. Wir müssen von vorne anfangen, ganz von vorne, das schmerzt, es wird Kraft kosten, die dann an anderer Stelle fehlt.
  • ―In Leipzig hatte ich das Gefühl: Das ist die Revolution der Frauen. Von ihnen ging dieses Strahlen aus, selbst wenn sie auf die Zustände schimpften. An ihren Klamotten konnte man täglich ablesen, was die fliegenden Händler aus Holland gerade angekarrt hatten. Ein paar Tage lang trugen sie alle diese kurzen schwarzen Wollkleidchen, an denen sie dauernd zupften, weil die Länge so ungewohnt war. In einer Straße entdeckte ich den Friseur, der allen die gleiche Frisur verpasste: Er hatte ein Foto davon im Schaufenster hängen und eine nach der anderen schlüpfte hinein.
  • ―Ich sage es ganz offen, ich bin ein Gegner der Wiedervereinigung. Ich finde einen klaren Fehler, was da passiert. Das wird sich alles rächen. Die Oberchristen mit dem hohen C reißen sich das Land unter den Nagel und lassen die Braunen die Drecksarbeit leisten. Nach ein paar Jahren werden sie wieder mit dem ›Geist‹ paradieren, dem deutschen Geist, dann kommen auch bald die Juden dran, die Schwulen gleich hinterher, was fällt ihnen schon anderes ein? Mir soll’s gleich sein, ich bin dann weg. Haben Sie Kinder? Wie unverantwortlich. Sie werden es ausbaden müssen.
  • ―In der Seminarpause standen ein paar beisammen und diskutierten heftig, wie man sich im Kapitalismus am besten verkauft. Sie hatten das Wort aufgeschnappt und nahmen es irgendwie wörtlich, also ich meine jetzt im Geschlechts-Sinn. Jedenfalls gingen die Ansichten, wie man es am besten anstellt, weit auseinander. Aber direkt abgeneigt schien mir keine zu sein.
  • ―Wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es zwei ’68 gab. Das eine bei uns, das andere im Osten. Damals haben wir Dubcek die Daumen gedrückt. Ja doch, haben wir. Das war’s dann aber auch. Der Rest der Geschichte? Ging uns doch nichts an. Ein bisschen Gekreisch, als Biermann in Köln die Gewerkschaftsjugend besumste: die Kommüne, ach die Kommüne. Er konnte dann ja auch gleich hierbleiben und Kommünensaft trinken, bis die roten Masern verdampft waren. Die wirklichen 89er waren Ost-68er, die es noch einmal wissen wollten. Aber das will hier keiner wissen.
  • ―Das ist doch absurd. Wer wollte was noch einmal wissen? Sie phantasieren, Kollege. Sie können das nicht vergleichen. Der Osten wurde verkauft, das ist eine Tatsache. Diese ganzen Montagsdemos, das war ja wirklich der Klassenfeind, hübsch unkenntlich gemacht durch die Ironie unserer Öffentlich-Rechtlichen. Vielleicht war auch die Stasi dabei, jedenfalls der Teil, der an Gorbatschows Leine lief, daher wehte der Wind. Das alles wäre heute belegbar, es macht sich nur keiner die Mühe.
  • ―Sie sind in die Quellen gegangen…?
  • ―Ich? No chance. Ich hab mich um Wichtigeres zu kümmern.
 

Wo Ich ist
ist Front

Dichter M entsteigt einer schwarzen Limousine
1
Welcome Stranger

Schütter das Haar, die Augen sprühend, die Lippen bebend geschürzt –
M nimmt die flachen Stufen zur Pyramide und ist bereits im Lift verschwunden, als der Journalisten-Pulk das Foyer stürmt, empfangen vom gläsernen Blick des Bibliotheksreferenten Gaggauer, der weiterschwebt, als habe sich soeben der Fußboden unter seinen Füßen in Wolkenschemel verwandelt…
Reicht das? Ist das jetzt genug? M, wie gesagt, ist im Haus, er hat einen Termin beim Rektor, keiner weiß warum, aber alle ahnen es. Was gibt es da zu ahnen? M und der Rektor sind aus einem Holz geschnitzt. Der Rest des Strunks wurde weggeworfen, sie sind Übriggebliebene.

Warum das Ganze? Besitzt M jetzt Diplomatenstatus? Ein wenig schon. Er genießt Immunität, die Unangefochtenheit dessen, der sich wegwirft, weil er sicher ist, dass die Arme, die ihn auffangen werden, schon ausgestreckt sind. Bis zur letzten Sottise hat M vor großem Publikum für den Sozialismus gekämpft, den echten, wahren, der doch endlich zum Vorschein kommen musste. Es war aber nur die Staatssicherheit, die ein paar hohle Köpfe ins Freie hielt, während die Menge auffällig unsensibel für Fragen der inneren Aufbereitung der Lage daran vorbeitrampelte und ihren schönen Staat ramponierte. Wofür er jetzt kämpft, wissen die Götter des Kapitals und die schweigen auffällig.

Diese beiden also, M und der Rektor, werden gleich vor die Kameras treten und Erklärungen abgeben. Der Rektor wird das großartige Werk des der Pyramide so großartig verbundenen Dichters M herausstreichen, entstanden auf schwierigen Pfaden zwischen den Blöcken, die bis gestern die Welt bedeuteten, er wird sich glücklich schätzen etc., und M wird, das geschürzte Lippenpaar öffnend, seine üblichen Bizarrerien verbreiten, auf die das Journalistenvolk abfährt und die das Glück einer Legion blonder Doktorandinnen bilden. Stilbildender Sex ist selten in diesen Tagen, nichts davon darf man verpassen, denn alles ist für die Ewigkeit. Ganz recht, die verbalen Brosamen von Ms Tisch haben Ewigkeitsstatus erlangt. Keine unauffälligen Anfahrten mehr, Minister S sitzt in der ersten Reihe und lächelt eifrig der Nachbarin zu, wir müssen nicht mehr in den Osten fahren, der Osten ist jetzt hier, er war die ganze Zeit hier, aber diskret, bitteschön. Schon immer war der Westen der wahre Osten, denn er hatte die Kohle, Westkohle gegen Braunkohle, Ms ganzes Œu­v­re basiert im Grunde darauf…

Dichter M entsteigt einer schwarzen Limousine
2

(Wohin verirrst du dich? Seit wann spricht aus dir die Sprache des Ressentiments? Das solltest du dich fragen, jetzt gleich, denn dies ist ein historischer Moment. Du solltest, der Würde des Anlasses entsprechend, mit dir im Reinen sein. Jedenfalls spricht so der historische Moment – fast hättest du geschrieben: mit Marx- und Eselszungen. Aber es schickt sich nicht, just in diesem Moment dich mit dem Meister der Sottise messen zu wollen. Vergiss es! Ehrlich gesagt, es liegt dir auch nicht. Etwas Schmerzliches blickt dir über die Schulter, du wagst nicht recht, dich umzudrehen, du willst keine Gesichter sehen, jetzt nicht. Was dann? Was, wenn nicht Gesichter?)

Dichter M entsteigt einer schwarzen Limousine
3
Tummler tritt nach

  • ―M war hier? Ach, das habe ich ja gar nicht mitbekommen. Sagen Sie, muss man die Bücher dieses Herrn lesen? Literatur ist jetzt nicht so mein Ding. Da wäre das richtige Zeitmanagement enorm wichtig. Welchen Roman können Sie denn empfehlen? Sie schütteln den Kopf? Der Herr schreibt Stücke? Fürs Theater? Gut, dass ich das jetzt erfahre. Ich dachte schon, ich hätte was versäumt. Drehbücher, wissen Sie, da denke ich immer an Fähnchen, die einer in den Wind hängt, oder an diese katholischen Ratschen, Sie wissen, wie sich das anhört? Immer fleißig um sich selbst gedreht, dann wird das schon. Ach, ein BE-Heiliger? Ein Unberührbarer. Es tut einem ja leid um die Schauspieler, tolle Leute, aber: nichts für ungut! Also der Herr war hier? Die Presse hat er gleich mitgebracht? Kann neuerdings jeder hier reinspazieren? Der Rektor selbst hat sich um ihn bemüht? Der Mann ist untragbar. Das nächste Mal wird’s eine Frau, höchste Zeit, ich werde mich persönlich darum kümmern. Also zusammengefasst: der sozialistische Kämpfer M schneit hier herein und der kapitalistische Kämpfer M schneit wieder hinaus. Weltweit, sagen Sie? Das Werk dieses Herrn wird weltweit aufgeführt? Das will ich ihm auch dringend raten. Ab in die weite Welt! Ein Literaturschaffender. Pfui Deibel! Schaffen wir jetzt Stellen für arbeitslose Informanten? Das wird die maskierte Firma schön selbst tun. Und nicht zu knapp. Also wenn Sie mir keinen Roman empfehlen können: Ich bin dann mal weg.

(Was ist denn in den gefahren? Aber: du kannst ihn verstehen.)

 

Ist das Kunst?
Das ist Kunst

Uccello magico
1
Die Tür ging auf,

wie sie viele Male aufgegangen war, nur der Blick, der durch die Öffnung hindurchglitt und schon am Ziel ist, bevor er sich ausrichten konnte, neugierig, geschlagen, zerstreut durch die Figur der öffnenden Frau, ist einmalig, nicht wiederholbar in seiner Neuheit, aber abrufbar, wann immer du an diesen Ort zurückdenkst: jedes Mal huscht er voraus, jedes Mal ist bereits geschehen, was durch die ausgedehnten Präliminarien der Höflichkeit zwischen Menschen, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben begegnen, erst ermöglicht werden soll, die magische Kontaktaufnahme mit einem Unbekannten, das im Nu eine Lücke in deiner Seele aufdeckt und füllt. Ein Ort der Wunder, nein, des Wunders, hat sich aufgetan und wird sich, so lange du lebst, nicht mehr schließen. Sollte das die Wirkung der Kunst sein, dann existiert sie hier, im Vorraum einer schlichten Etagenwohnung, so konzentriert wie nur an wenigen ausgesuchten Orten des Planeten, und soeben bist du unter ihren Schirm getreten, als habe er, während dein Leben dahinlief, all die Jahre darauf gewartet, dich aufzunehmen… Wie aufzunehmen? So aufzunehmen, dass der Gedanke ›Wieviel Kunst ist das denn?‹ keinen Raum in dir findet. Hast du diesen Moment erwartet? Hast du etwas in seiner Art erwartet? Wenn du es ganz genau nehmen willst, so huscht ein Gedankenstrahl zurück in die kalte Pracht der Capella Medici, die dich einmal gefangen nahm. Aber das hier ist anders, sehr anders, und der Kontakt in jene ferne Vergangenheit reißt ab, bevor er sich verfestigen kann. Etwas vom Geist des Zöllners Rousseau, aufgescheucht durch deinen auf der Diele knarrenden Schritt, scheint in dem Wandbild zu spuken, doch das hier, obwohl ebenso dicht und verwegen, ist kein aus Schnittformen gefertigter Dschungel und der Spuk ist verschwunden, sobald der Blick frei zu schweifen beginnt. Das hier … was ist das hier noch? Ein leuchtendes Halbdunkel, aus dem, etwas nach links hin, ein Knabe hervortritt, angetan mit einer blauen Tunika, genauer, mit etwas ›nach Art‹ einer Tunika, ganz wie die in einiger Entfernung neben ihm aufscheinende Dame etwas nach Art eines verjährten, mit einem Tüll-Überwurf versehenen Hofkleides trägt, etwas, das die Vorstellung eines Hofkleides hervorlockt, um sie, bei näherer Betrachtung (zu der dein Blick momentan noch nicht fähig ist), wieder zu versenken, so wie der umgestürzte hölzerne Rumpf eines Bezopften, der zwischen den beiden liegt, durch das aufgepinselte Uniform-Blau der Südstaatler die Anmutung eines im amerikanischen Bürgerkrieg gefallenen Soldaten an die ergänzende Phantasie weiterreicht. Doch was soll sie ergänzen? Die gute alte Phantasie … sie findet weder Anfang noch Ende in diesem Durcheinander in Formen ausbrechender Farben und in Farben verlaufender Formen aus Formen, die sich durch alle festen Konturen hindurch verbinden und verbünden, als ginge eine Bewegung durch sie hindurch – was auch der Fall ist. Es handelt sich um die Bewegung des Auges, das alles aufschlürft, ohne auch nur den berühmten Bruchteil davon zu erschöpfen. Ganz recht, das Auge schlürft, angelockt und ermutigt durch ein die dunkleren Regionen des Bildes durchfließendes, mit und in den Objekten aufsteigendes, ihnen Kraft und Anmut schenkendes Rot: Sangria.

Uccello magico
2
Dieser Knabe,

er sticht auch in anderer Hinsicht hervor … zum einen, weil er den vielfigurigen Bildraum, dessen Bestandteil er ist, zum Betrachter hin abschließt – ein Kind-Bote, der vor den Vorhang tritt, um dem Publikum eine Programmänderung anzuzeigen –, zum anderen, weil seine weich gezeichneten Hände dem Betrachter einen Fund präsentieren, eine aus dem Tohuwabohu gerettete Beute, die er, in einer Mischung aus Beseligung und Trotz, nicht herauszurücken gedenkt: Sieh her, aber sieh dich nicht satt… Und der betrachtende Blick eilt, nachdem er sie flüchtig gestreift hat, weiter, es verlangt ihn danach, in den Dschungel einzudringen, als den er die aufgefächerte, nur im Gehen erfassbare, das Knarren der Dielenbretter einschließende Bildbreite empfindet, die ihn doch vom ersten Augenblick an gefangennahm. Diese Gefangennahme … langsam dämmert ihm: es handelt sich um eine Geiselnahme zu einem vorerst unbekannt bleibenden Zweck. Da ist niemand, der sich bemüßigt fühlt, ihm ein Licht aufzustecken, so dass er, ratlos, nach einiger Zeit die Deckenbeleuchtung einschaltet. Doch diese Art von Beleuchtung scheint nicht gemeint. So löscht er sie wieder, behutsam, als könnte ihm auf diese Weise eine Art Restlichtverstärkung gelingen. Ein Klappern im Hintergrund verrät, dass die Frau des Hauses findet, nun müsse das Staunen einmal ein Ende finden und es sei an der Zeit, sich mit ihr zu befassen. Besitz schlägt Bildung. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Stimme des Geschlechts hallt durch die Räume der Kunst und, sieh da, sie geben einen hohlen Klang, jedenfalls ansatzweise, gerade ausreichend, um die Aufmerksamkeit aufzusplittern. Du eilst, der Höflichkeit Genüge zu leisten, zugleich stockt der Fuß und erneut fällt dein Blick auf die im Ausfallschritt festgewurzelte Knabengestalt, ihre kräftige, ganz und gar unkindliche Beinmuskulatur, ihren leicht wässrigen, offen-verhüllten Blick und schließlich das Ding in ihren Händen, ein Zwischending zwischen Kelch und Reliquiar, in dem eine Flamme züngelt, ein katholisches Rätsel, das womöglich gar keines ist, sondern nur eine verlorene Handreichung, Überbleibsel eines vergessenen Rituals, vielleicht ja auch der heilige Gral, der in keiner Rumpelkammer der Symbole fehlen darf und hier, ehrlich gesagt, etwa so deplatziert wirkt wie der Junge selbst, der sich als ertappter Dieb, mit einem Diebesblick, dem Betrachter stellt. Outriert ist auch die Deutung, sie verdankt sich bereits der Blickverhärtung dessen, der abgerufen wurde von diesem Fest der Sinne, um folgsam der Stimme des Fleisches nachzugehen, wohin auch immer sie ihn entführt. Immerhin steht es dir frei zurückzukehren, jedenfalls hoffst du darauf, denn das letzte Wort … das letzte Wort darüber spricht die Besitzerin.

Uccello magico
3
Sagtest du etwas?

Ein Räuspern liegt in der Luft, mag sein, es ist deins, es wird ja nicht aus der dichten Masse des Aufgezeichneten stammen … ein Räuspern ist nun einmal das Gegenteil einer klaren Artikulation, eher die Ansage einer Ansage – gleich wird die Luft bersten und den Unterschied des Gesagten und Ungesagten gleich einem Keil ins Bewusstsein des Hörers treiben … doch noch ist sie rein, mit einer kleinen Trübung, einer Verdacht erregenden Verhärtung, an der sich die Aufmerksamkeit entzündet, um sich ins Zentrum einer möglichen Gefahr vorzutasten, vielmehr der elementarsten aller Gefahren: nicht zu verstehen, vielmehr, nicht mitzubekommen, welche Verständnisleistung dir hier und jetzt abverlangt wird, hier und jetzt, denn gleich schon ist der Moment vorüber und damit die einzigartige Gelegenheit, sich ihm gewachsen zu zeigen … ›sich gewachsen zeigen‹, gewissermaßen steckt darin die Formel allen Lebens und das Kunstwerk, das wirkliche Kunstwerk lässt keine Gelegenheit aus, sie in der Seele des Betrachters zu erproben. Es zeichnet den Banausen aus, sich mit einem Achselzucken davonzumachen: »Das sagt mir jetzt nichts.« Ein Kunstwerk, das jedermann zum Banausen macht, wahrt, immerhin, den Vorteil der inneren Linie. Auch darin liegt eine Botschaft, die erschlossen werden möchte, und man darf, dies zumindest, nicht ausschließen, dass sie ihren Märchenprinzen noch finden wird, alles nur eine Frage der Zeit. Doch ebenso sehr der umgebenden Kultur, und wenn letztere alle Insignien der Unkultur aufweist, die sich schon allzu lange als Gegenkultur inszeniert, dann kommt vielleicht dies hier heraus… Aber warum unhöflich werden? Warum zum Teufel unhöflich werden? Sagtest du etwas? Nein, schluck’s herunter, du hast so vieles herunterzuschlucken gelernt, so dass es auf das, was hier gesagt werden müsste, auch nicht mehr ankommt. Sieh auf den Wimpel, versteckt aufgehängt zwischen den Zweigen, das ewig unfertige Banner der gemalten Poesie, mit seinen abgefälschten Symmetrien, dem in Farbe gelösten Drang, sich zu verbinden und dabei allen Regeln des Abstands Genüge zu leisten, während man sie überschreitet, eine winzige Orgie in Rot, Grün, Orange, ein Quadrat, das keines ist und nie eines sein wird, weil die Handschrift des Künstlers es zu verhindern weiß –: So einfach ist es, so einfach war es immer. Was unten herum jedem Fußtritt freigegeben ist, nimmt sich, sobald der Blick über die Köpfe geht, die Freiheit des Andersseins, die Freiheit der Lüfte, ohne die kein Kunstwerk existiert. Ganz recht, auch die Malerei geht dem Atem nach, dem unerschöpflichen Thema der Dichtung. Wie sie ihm nachgeht, darin liegt der Unterschied. Diese hier scheint zu wissen, wie es um die Beklemmung bestellt ist, sie duzt alle Spielarten und ringelt sich aus ihnen in alle Richtungen davon. Woran du das festmachst? Mein Gott! Aber gut, jeder Blick findet sein Emblem, dieser hier einen simplen Korb, emporgetragen über die Köpfe, selbst über das Wappen der Malerei, ein leichtes, an den Griffen ausschlagendes Geflecht im Begriff, sich hinwegzuheben, bar aller unerträglich gewordenen Füllung: den Blick, seinen Blick muss einer schon heben. Was sonst? Was noch?

Uccello magico
4
Nein,

von diesem Bild geht keine Beklemmung aus. Eher geht sie in es hinein. Denn zweifellos geht ein Sog von ihm aus, der schwer dingfest zu machen, aber umso spürbarer ist und im Handumdrehen dem Betrachter seine wirksamste Waffe entwendet: den allzeit regen Spott über ein als zugleich vertraut und unvertraut empfundenes Genre, der über jedes Rätsel zu höhnen weiß – »Was wird’s schon sein!« Was wird’s schon sein? (Und ein drittes Mal, bevor der rostige Schlüssel sich von allein im Schloss zu drehen beginnt: Was wird’s schon sein?) Diese Ansammlung von Merkwürdigkeiten auf einem bislang unentdeckten Leidens-Parnass verlangt, neben dem schweifenden Blick, eine Spur des Humors, den ein aus einem monumentalen Pestbild Entflohener aufbringen müsste, der entdeckt, dass er in einen Aufmarsch der Heilsmaschinen geraten war – nirgends zwar eröffnet sich die ersehnte Aussicht auf irdische Heilung … aber die Seele … die Seele fühlt sich wunderbar gehoben und, da das Wort ›Rettung‹ nach wie vor tabu zu sein scheint, angenommen, jedenfalls scheint die Aufgabe des Betrachters nicht darin zu bestehen, ein Los anzunehmen (da die Welt nun einmal so ist, wie der Spiegel der Kunst sie darbietet), das er, befragt, lieber sofort gegen ein anderes tauschen würde; eigentlich erwartet ihn keine besondere Aufgabe, er darf sich in Mutmaßungen ergehen und sie nach Belieben zurücknehmen, er spürt keinen Unterschied. Währenddessen üben die wohltätigen Kräfte der magischen Wand ihren Einfluss, das eine Mal kräftiger, das andre Mal schwächer, denn auf nichts und niemanden in diesen Regionen des Staunens ist wirklich Verlass. Ist seine Zeit abgelaufen, entlassen sie ihr Opfer mit einem ironischen »Das war’s« – es spürt den Klaps und revanchiert sich erheitert: »See you later!«

Ist das Kunst? Ist das noch Kunst? Ja, das ist Kunst. Längst scheinst du von ihr gewusst zu haben, so selbstverständlich verschmilzt dein Blick mit dem des Künstlers auf sein Werk, das auch das deine ist, ohne dass du den Zeitpunkt der Übergabe angeben könntest, schon bist du geneigt, ihm seine Irrtümer nachzusehen, denn nun bist du zur Stelle und das Werk befindet sich in guten Händen, aus jedem Pinselstrich wirst du das Beste herausholen, keiner soll verloren sein… Apropos Pinselstrich: du warst nie im Zweifel darüber, dass es eine Magie des Pinsels gibt, die sich in keine andere Kunstart zu retten weiß, und dieses Bild führt dich ganz nah an den Aufschluss heran; nirgendwo scheint dir die schmelzende Vereinigung von Strich und Form so gelungen und zur Aussage verdichtet, die sich zum Schluss hin dann doch verweigert. Vielleicht auch nicht. Ist das Rätsel vollkommen, zerspringt es und entlässt aus sich den uccello magico, das berückende kleine Wesen, dessen einziger Daseinszweck darin besteht, aufzufliegen, irgendwohin … das Bild wäre nicht vollständig, hätte der Künstler ihn nicht in einem Anfall von naivem Schöpfungsglauben hineingemalt, so aber ist es übervollständig und gegen jeden Rückbau gesichert.

Uccello magico
5
Dennoch scheint es so

… soso, es scheint so, irgendwo in diesem Bild beginnt also das Scheinen, unscheinbar wie es sich gehört, breitet sich über die Flügel aus, erfasst … erfasst … was…? Was, bitte, erfasst ein Scheinen, welches unangekündigt über die Bildfläche huscht, ein Anflug von Ironie, der über dem Ganzen liegt (und auch wieder nicht), einen Widerschein im Betrachter zündet und gleich wieder löscht, denn eigentlich schickt er sich nicht, nicht wirklich, angesichts des gespannten Ernstes in allen Bildungen…? Schöpfung kennt keine Ironie. »Ironie? Was ist das?« So scheinen die Figuren, lebensgroß, wie sie nun einmal sind, dich zu fragen, nicht dich persönlich, sondern jeden, der an ihrer Front entlang schlendert: die große Verkleidete mit dem Gesicht einer Lehrerin und dem Kopfputz einer Karyatide, der Rabe Azalel, an ihr Knie geschmiegt, wissend, dass er diesmal, nur dieses eine Mal, als Adlermensch hätte zur Welt kommen müssen und deshalb so verzweifelt dreinblickt, als fordere er seine Mitwesen auf, ihre Unfähigkeit zu trauern abzulegen und mit ihm zu trauern, die wie von Federhand emporgeschnellte Ente, der formfordernden Gewalt des Nichts entsprungen, die Weisheitsvögel mit den roten Schärpen und den wirr-kargen Federschöpfen, bereit, irren Wissensstoff zu erhacken, wo immer sich eine Gelegenheit auftut, die wunderlich geringelte Schlange mit dem Flair eines Kinderbuch-Regenwurms, die wogende Fauna und Flora … Ironie, was ist das? Oder vielmehr: Was wäre sie nicht? Wunderlicher Gedanke: Was wäre nicht Ironie?
I will show you fear in a handful of dust
Aber gewiss, es gibt sie, die ironiefreie Zone, es gibt sie auch hier, wie es sie überall gibt, in der Wirklichkeit wie im Märchen. Der Künstler hat eigens ein Boot für sie bereitgestellt, einer Nusshälfte ähnlich, mit einem kleinen, eher dekorativ anmutenden Rammsporn an der Spitze. Aber man sollte sich, hier wie überall, nicht vom Dekor täuschen lassen: dafür steht die Mannschaft an Bord, dicht gedrängt wie eine Eins, den Blick starr auf eine Zukunft gerichtet, an der er doch auch wieder vorbeigleitet, denn er ist, wie zu erwarten, aufs nächstliegende Imaginäre gerichtet, auf die einbrechende Verfehlung, in der Katastrophe endend oder in der Verfehlung danach, die alle begangenen Verbrechen auslöschen soll. Denn diese Wesen sind im Besitz des Futurs und lassen es sich nicht nehmen, ihnen eignet der gläserne Blick, der sich, wie Glaskugeln, jederzeit herausnehmen und durch eine neue Garnitur ersetzen lässt. Der Künstler hat sie mit buschigen Häubchen versehen, das hebt ihre Statur und gibt ihnen, wie Söldnern, ein Selbstwertgefühl, das sie anders nicht aufbrächten, es sei denn im Gemetzel, durch ungesühnt bleibende Missetaten. Poesie? Poesie pur, ohne Wenn und Aber, die Poesie der gefährlichen Plattheit, die jederzeit den Schnabel öffnen und skandieren kann: Wir sind mehr. Woher sie das wissen können? Woher ihnen ihr Wissen kommt? Das kann niemand beantworten. Es schickt sich auch nicht, Nachforschungen anzustellen. Es bricht aus ihnen heraus. Sie sind Erbrechende. Die Ironie hat sie gezeichnet, die große, umfassende Ironie, sie hat ihnen das Schema vorgegeben, in das sie sich hinein verzuglos ergießen, denn sie sind, jeder einzeln an seinem Platz, Masse. Einzeln sind sie, doch keine Einzelnen, also ironiefest, für die Nuancen des Daseins verloren.

 

Der längste Wissenschaftstag geht einmal zu Ende

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
1
Kollege Lobbock, Kollege Tummler –

Kollege … Kollege … du musst sie einfach Kollegen nennen, ohne weiteren Zusatz, denn privat, ehrlich gesagt, würdest du keine Silbe mit ihnen wechseln. Es käme dir nicht in den Sinn, sie für … Gesprächspartner zu halten, obwohl das Wort für deinen Geschmack schon über eine recht heruntergekommene Aura verfügt.

Gib’s zu: es wäre dir physisch unangenehm, neben einem von ihnen zu sitzen. ›Ungefüge‹ lautet das passende Wort – ihre Körper strahlen es aus, ihre Blicke unterstreichen es und ihre Rede fügt noch eine Qualität hinzu, die sich am besten als ›charmefrei‹ charakterisieren ließe. Was immer sie absondern, es entbehrt des denkerischen Eros.

Nein, dumm sind sie nicht (was hätten sie sonst auch in der Pyramide verloren?), man trifft sie gelegentlich auf gedanklichen Wegen, die man instinktiv für vornehmere Geister reserviert hätte. Schmerzhaft erinnert ihr Auftreten daran, dass Gedanken für alle da sind, auch für die Proleten des Geistes. Zweifellos eignet Gedanken ein demokratischer Zug, sie sollten, als Denkresultate, allen und jedem zur Verfügung stehen, sonst stimmt etwas nicht mit ihnen, während das Denken überall auf den Träger angewiesen bleibt (schließlich heißt es ›Denker‹ und nicht ›Gedankler‹).

Da, noch einmal, fürs Album:

 


Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
2

Lobbock & Tummler wissen: die akademische Welt
besteht aus Lobbock & Tummler und
ein geübter Schütze wie sie trifft
immer einen, zielt er
einfach ins Blaue.

Lobbock und Tummler, verschalt in ihre notorisch grauen Anzüge, die glattrasierten Wangen ins Bläuliche spielend, könnte man ›Flügelleute der Unbestimmtheit‹ nennen. Denn auch die Unbestimmtheit verfügt über Ränder (militärisch gesprochen: Flügel), die dem, der sie einnimmt, zu erhöhter Sichtbarkeit verhelfen. Erprobt haben die beiden diese Rollenverteilung in der Schlacht um die Viererbande, als sie, kaum ins Kollegium aufgenommen, mit kräftigen Artikeln ins Gehölz schossen, was immer sie dort geortet haben mochten. Weder Killus noch der Große Denunziant dürften aus dem Gewirr emotional aufgeladener Angriffs- und Verteidigungssätze, sollten sie es je zur Kenntnis genommen haben, schlau geworden sein. Wozu auch? Es war ohnehin nicht dazu bestimmt, auf ihrem Schreibtisch zu landen. Hauptsache, Lobbock weiß, was Tummler denkt. Es spornt ihn an, mit äußerster Härte dagegenzuhalten, und Tummler … Tummler zahlt mit gleicher Münze zurück. Nicht, dass einer des anderen Namen erwähnte, das wäre dann personalisierter Streit und den lehnen sie unisono ab. Wozu auch?

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
3

Solange die Mittel fließen, ist es
Wissenschaft. Versiegt der Quell,
erliegt das Wissen
den Lobbock und Tummler
im Kampf der Interessen.

Lobbock und Tummler sind das, was man in der Pyramide ›politisch‹ nennt. Ihre Stimme verschärft sich, wenn Ereignisse aus dem politischen Raum unvermutet in der akademischen Suada auftauchen, meist zusammenhanglos und künstlich herbeigeholt wirkend – sie verschärft sich und verhilft apodiktischen Sätzen zum Durchbruch, die ansonsten als ›unterbelichtet‹ gälten, aber offenkundig dem Zweck dienen, aufhorchen zu lassen, mehr Abwehrzauber als rationale Rede … eine leise Gefährlichkeit umspielt sie wie ein plötzlich gezücktes, scheinbar ins Nirgendwo zielendes Messer.
Anders als Dürrobst und Friedenwanger, die noch auf ›alte Nazis‹ geeicht sind – wobei ihnen, schon aus Altersgründen, im Lauf des Lebens bei der biologischen Eichung manche Fehleinschätzung unterlief –, finden diese beiden ihre Nazis unterschiedslos in allen Altersklassen … bemerkenswerterweise, wie du oft bemerken konntest, auf allen Seiten des politischen Spektrums. Denn Sicherheit ist nirgends. Ließe man ihr Unbewusstes auf die Frage antworten, was ›politisch‹ nun eigentlich bedeutet, vermutlich würde es ohne zu zögern antworten: »Nazis stellen!« Und ihr mehr oder minder scharfes Tagbewusstsein würde ergänzend anfügen: Linksgrün ist das neue Klassenziel. Wobei offen bliebe, welche Klasse gemeint sei: die soziale, die politische oder doch eher das Klassenzimmer der Nation.
Ist das Wissenschaft?

Wer kann das wissen.

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
4

  • Du hast Nationverächter zuhauf gesehen, viel Hassliebe darunter, ausgelöst durch ›die‹ Vergangenheit, deren düsterer Schatten unabwendbar das eigene Leben begleitete. Diese Vehemenz allerdings … ist dir fremd. In deinem seelischen Haushalt entspricht ihr nichts. Andererseits … man muss bloß in die Schriften des Großen Denunzianten hineinschauen, um zu begreifen, auf welchem Stamm das gewachsen ist. Auch diesmal hat er nachgekartet und die Wiederherstellung der politischen Nation als Rolle rückwärts in die Vergangenheit gerügt.

Aus welchem Grund? Aus der – nicht unbegründeten – Angst, der Erziehungsauftrag ende an dieser Pforte? Kann schon sein, kann schon sein. Auf jeden Lehrer wartet einmal das Altenteil. Die verweigerte Anerkennung der Nation im Augenblick ihrer Wiederherstellung (denn genau besehen war die Kulturnation doch nichts weiter als ein literarischer Etikettenschwindel, der den Privilegierten das Fortsprechen in einer Sache erlaubte, deren Existenz sie ohne reale Kosten bestreiten durften) ist nicht reell. Was ist sie dann? Du spürst das Ressentiment, das da hochkriecht, hoch bis in den Hals, eine schwarze, eklige Masse, die, auch sie, denunzieren will … Angst, verkündet es, was sonst soll’s schon anderes sein als Angst, sich am Ende eines mit Sorgfalt und Inbrunst arrangierten Lebens unter den Kameraden der Kindheit wiederzufinden, die einem fröhlich lachend die Schulter klopfen – »Wir sind’s doch, erkennst du uns nicht? Was stellst du dich an? Waren wir nicht des Führers Wölflin? Bist du nicht einer von uns? Gehab’ dich nicht so… Take it easy

(Die erneuerte Nation spricht den internationalen Slang, den dieser Geblendete sein Leben lang als Garantie missverstand, dass hier für sie nichts mehr zu holen sei, nun hat sie ihn überholt, ohne ihn einzuholen, schaut auf ihn zurück und schüttelt den Kopf.)

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
5
Konstruktivist sein –

Hier tauchen Lobbock und Tummler aus der Tiefe des Spiegels auf. Es handelt sich um ihren Einsatz, sie sind gewillt, ihn nicht zu verpassen. Lobbock etwa … die paar Jahre, die Lobbock von Dürrobst und Friedenwanger trennen, schneiden ihn radikal von allen Lebensbezügen ab, die in ›jene Zeit‹ zurückreichen. Lobbock kommt nach der Leidensstrecke und ihrer Aufarbeitung, mitsamt allen Ungeheuerlichkeiten, die in dieser Aussage stecken.

  • Lobbock muss ›verarbeiten‹, womit ihn nichts verbindet, wobei ›nichts‹ unter der Hand zu ›alles‹ mutiert: einem Geflecht irrealer Bezüglichkeiten, das keinen Anfang und kein Ende aufweist, weil seine Metastasen sich überallhin erstrecken.

Aus diesem und keinem anderen Grund ist Lobbock – sowohl im Herzen als auch auf dem Papier – Konstruktivist, gewillt, alles und jedes ›Phänomen‹, sei es ein den meisten unbekanntes Gebirgsmassiv tief unter dem Nordpol oder die Vita eines beliebigen Mitmenschen, als ›Konstrukt‹ aufzufassen, als Erzeugnis eines Weltzurechtlegungsaktivismus, dem bloß der Aufweis seines Konstruiertseins beizukommen vermag. Womit er – und Gefolgsmann Tummler mit ihm – zwar nicht in die modische Falle der Dekonstruktivisten geht, die auch gleich die ›Geltung‹ der ›Konstrukte‹ erledigen wollen (und die Herzen der Einfältigen unter den Kollegen im Sturm erobert haben), aber dafür in die möglicherweise fatalere, die anrüchige Praxis der Leerverkäufe von der Börse in den Hörsaal zu übertragen.

  • Konstrukt, folgt man den beiden, ist alles, angefangen bei der taufrischen Beobachtung über eine längst widerlegte Theorie bis hin zum Gerücht und der üblen Nachrede. Sie alle liegen auf dem Seziertisch nebeneinander wie Nähmaschine und Regenschirm…

Eine aparte Theorie. Sie besitzt nur einen kleinen Haken: Wer übernimmt die realen Kosten?

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
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Und es erscheint – der Böse

Die realen Kosten … was soll das sein? Was zum Teufel…? Aber gewiss doch, hier kommt der real existierende Teufel ins Spiel, der mit den Spendierhosen, bereit, für alles aufzukommen, was die Generation Lobbock – Gefolgsmann Tummler immer hinterdrein – im Leben verbockt, der zeit- und bezuglose ›Nazi‹, nicht zu verwechseln mit den hochbetagten Hinterbliebenen jener verschwundenen Epoche mitsamt ihrem Narrenpulk: ein ›Konstrukt‹, gewissermaßen das Konstrukt der Konstrukte, allen anderen Leben und Bedeutung einhauchend. Denn in Lobbocks Universum bedeutet ›Nazi‹, nüchtern betrachtet, ›Distanz‹ – absolute, unhintergehbare, nicht revidierbare Distanz, materialisiert im allgegenwärtigen Anderen.
Welches Andere?
Das Andere seiner selbst.
›Radikaler Konstruktivist‹ sein hat seinen Preis. Er heißt – ist da ein Zögern, es einfach so hinzuschreiben? – pathologische Selbstdistanz.

Einfach so? Die Pyramide lebt davon, dass vieles einfach so nicht hinzuschreiben geht. Sie lebt davon, soll heißen, es hat sich ihrem Innersten (›core‹) eingeprägt. Was einmal aus Gründen ausgesperrt wurde – wobei die Gründe klar erkennbar, aber als zustimmungsheischende Instanzen zweifelhaft blieben –, hat sich, rückblickend betrachtet, in rasender Eile vermehrt, es hat den Zuständigkeitsbereich der Gründe überschritten und ist das geworden, was sie jetzt ›frei flottierend‹ nennen (seltsamer Ausdruck für eine seltsame Sache, am ehesten einem Krebsgeschwür vergleichbar, aber – Finger weg von biologischen Metaphern!).

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
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Die Stimme der Vernunft

  • ―Sag mal, das nennst du politisch? Die beiden haben’s doch einfach nicht drauf. Der Große Denunziant, der ist politisch, da hat die Rede noch einen Sinn. Er will ein politisches System, er hat es oft genug beschrieben, man mag davon halten, was man will, aber er lässt keinen Zweifel daran, wie er es meint, eigentlich schreibt er Buch um Buch, um die bitterernsten Zweifel auszuräumen, darunter solche, die sich einfach nicht ausräumen lassen, sein Pech, aber es ist ihm ernst. Ist es Lobbock ernst? Was für ein Ernst soll das sein? Er ist, wenn es darum geht, ein geschmeidiger Parteigänger, und wenn du ihn in Zivil triffst (denn, machen wir uns nichts vor, hier drinnen trägt er die Uniform des Kastraten), dann schiebt er diesen Gummi-Ernst in seine Stimme und verrät dir mit trotziger Verschwörer-Stimme, dass er die Partei wählt. Warum? Welche Partei kann das sein? Sein Herz schlägt links … das ist die Phrase, die er einmal in seiner pubertären Entwicklung aufgeschnappt hat – ›der Geist steht links‹ – und die ihn nicht mehr loslässt, eine fixe Idee, in äußerster Geistlosigkeit versunken… Wer nimmt so etwas ernst?
  • ―Lobbock ein Kommunist?
  • ―Lobbock? Das müsste ich wissen. Er besteht darauf, dass die Linke, wie er sie versteht, gelernt hat. Frage ihn, was sie gelernt hat, und sein Blick beginnt zu flackern, als würdest du ihn gerade in den exquisitesten Lernprozessen unterbrechen. Er weiß es nicht und seine Antwort hieße: Das ist nicht so einfach. Das kann man so nicht sagen. Darum geht’s nicht. Das ist eine Unterstellung. Mit Nazis rede ich nicht. Lobbocks ideale Linke ist, pardon, gar nichts: weder Fisch noch Fleisch, weder oben noch unten, weder rechts noch links. Sie ist ein Missverständnis, dem das Verstehen abgeht. Negation ohne Position, Nichts ohne Sein, Furz ohne Darm. Ein Missverständnis von einem Missverständnis.

(Die Stimme, die sich hier einmischt, Tronkas, des ›linken Sozialdemokraten‹, wie er sich nennt, den seine Sozis instinktiv für einen ›Rechten‹ halten, weil sein Habitus in ihren Augen durch und durch bürgerlich konnotiert ist; Missverständnis auch das, da er das Bürgerliche so wie sie verachtet und an sich den Künstler pflegt, den außer ihm niemand sieht:)

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
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Tronka ist noch nicht am Ende.

  • ―Sage mir, wo diese beiden Helden stehen und ich sage dir, wo der Weg zum Mond geht, nicht der, den die Raumfahrer nehmen, sondern der andere, aus Peterchens Mondfahrt: sie wissen es nicht, aber ein unsagbares Gefühl verrät es ihnen, sie säen nicht, sie ernten nicht, aber der himmlische Vater der Differenz spricht es ihnen vor. Sie lehnen die Macht ab, sie halten sie für etwas Rechtes, aber umschwärmen sie mit ihren Himmelfahrtsprojekten, bei denen seit Jahr und Tag nichts anderes herauskommt als eine Handvoll Knete, um die eine oder andere Hilfskraft zu finanzieren, bloß wenn man ihnen zuhört, sind sie die Größten und ihre Arbeit sprengt alle Dimensionen des Gewohnten.

Woher der Hohn? Hat Tronka Innensicht? Gestern klang er noch bissig: Bald werden sie wieder dem deutschen Geiste opfern – ›sie‹, die Geblendeten der Einheit, des ›neuen Beisammenseins‹, der ›richtigen Probleme‹, die man nun endlich angehen könne. Er verachtet den Geist der Einheit. Geist, wie er ihn versteht, ist Zwietracht und darum ›gewiss nicht Geist‹, sondern Denken, Denken pur, zusatzlos, gebraut nach dem Reinheitsgebot der Wissenschaft, der Mutter aller Gedanken, dem Hort all dessen, was realiter ist und sich nicht bei näherem Hinsehen in Hirngespinste auflöst… Ist das so weit von dem entfernt, was Lobbock und Tummler als ihre heiligste Überzeugung spazierenfahren, ohne es jemals dem Sonnenlicht auszusetzen, so dass man nicht sehen kann, was dran ist?

(Ein paar Lichtjahre vielleicht… Das wäre dann ihre Sicht auf Tronka.)

Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
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Appendix

Exquisit die Gespräche mit Tronka im Park, der Stimme im Ohr. Etwas hat sich da draußen hergestellt, die Zutraulichkeit des Empfindlichen ohne Maß, des Gebenedeiten der Ur-Kränkung, die unentdeckt bleiben muss, damit der Schwan ihn nicht auf der Stelle entführt.

 

Noch ist es Zeit
da tummle sich der Mann

Ökonomie der Verzweiflung
1
 

Warum bloß nennst du Tummler ›Gefolgsmann‹?

Weil er sich zu Lobbock verhält wie die Negation zur Position. Nein: weil er an Lobbock Maß nimmt. Ihr Dissens ist … gespielt. Nein, nicht gespielt, er ist gestellt. Ganz richtig ist auch das nicht: ihr Dissens stellt sich jedes Mal neu. Sie stecken unter einer Decke, die beiden. Lobbock wäre bestürzt, bliebe Tummlers Widerspruch aus. Was hat er falsch gemacht? Instinktiv würde er damit beginnen, seine Aussagen zu korrigieren.

Hat Lobbock sich in einem früheren Leben etwas Furchtbares zuschulden kommen lassen? Du weiß es nicht (und, ehrlich gesagt, geht es dich nichts an). In diesem jedenfalls möchte er um jeden Preis einen solchen Fauxpas vermeiden. Umstellt von ›Nazis‹, wie er sich sieht, befindet er sich seit Jahren auf der Flucht in die Position. Zwanghaft, unter Aufbietung aller Obsessionen, von denen er sich heimgesucht weiß, muss er sich positionieren: gegen die da.

Das Dümmste, was ihm passieren könnte, wäre ein Welt ohne Tummler. Das wäre eine Welt ohne Licht und Wärme, eine Welt kalter Antworten, die aus dem Befremden kämen: Was will denn der da? Von was redet der? Tummler ist Lobbocks alter ego, stets entzückter Konsument seiner absurdesten Anwürfe. Ach wie gut, dass es Tummler gibt. Tummler, der Lobbocks Position souverän überblickt, sich an seinen Einfällen weidet und die Punkte im Schlaf kennt, an denen er schlagbar ist, lockt ihn heraus: ins Freie. In den gemeinsamen Raum. Und schlägt ihm, mittels Ton und Gestik, die Tür vor der Nase zu.

Ökonomie der Verzweiflung
2
 

Deshalb also haben sich die beiden zusammengetan.

Sie wissen: jeder auf sich gestellt, sind sie nichts, buchstäblich nichts, was schwerer wiegt, als wären sie niemand. Gemeinsam treten sie auf, als hätten sie eine Zirkusnummer einstudiert und ihre Aufgabe bestünde jetzt und immerdar darin, sie zum Besten zu geben. Vielleicht stimmt das ja auch. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine dunkle Macht jeden an seinen Platz gestellt hat. Wenn, dann ist es ihnen so nicht bewusst. Vom Aussehen her ist Lobbock der dunkle, gesetzte, abwesende, Tummler der helle, jungenhaft offene Typ. Fragt man, welchen Charakter sie verkörpern, dann kehrt das Verhältnis sich um. Während Lobbock um jedes erreichbare Fitzelchen Zustimmung ringt, neigt Tummler, der offene, mit erkennbarer Lust dazu, haarsträubende Thesen in die Welt zu setzen wie die, erst der gemeinsame Staat erlaube dem Osten die heißbegehrte Entwicklung jener späten Stadien des Sozialismus, die ihm, als ewig düpiertem Aufholer, bisher verschlossen blieben.

  • ―Der entwickelte Sozialismus ist subsidiär (um das hässliche Wort ›parasitär‹ zu vermeiden). Er ist darauf angewiesen, dass stetig Mittel zufließen. Im Westen haben wir das in den Stadtstaaten und es klappt wunderbar. Der Osten hat doch schon längst auf Pump gelebt. Aber dabei ist er an Systemgrenzen gestoßen, die jetzt beseitigt wurden.
  • ―Irrtum. Er wird vom Westen geplündert.
  • ―Einspruch. Der Westen plündert gar nichts. Die Ökonomie des Ostens ist Schrott. Was jetzt geschieht, ist Wohlstandstransfer plus Resteverwertung. Das erste bleibt, das zweite ist Übergang.
  • ―Willkommen im Sklavenstaat.
  • ―Willkommen im Wohlstandsparadies. Das Wesen des Kapitalismus ist Sorge. Der Weststaat war eine Ökonomie auf der Suche nach einer Aufgabe. In den östlichen Bundesländern hat er seinen Mezzogiorno gefunden und ist glücklich.

Hoppla! Da ist ihm etwas entschlüpft, was Lobbock hellhörig machen sollte.

Ökonomie der Verzweiflung
3

Natürlich ist das, was die beiden da treiben, dem allgemeinen Zustand der Pyramide geschuldet. Längst ist sie nicht mehr der Ort, an dem Forschung geschieht, wie es der Gemeinschaftsidee entspricht, durch unmittelbaren Verkehr. Aus den Seminarstars von einst sind Mächte geworden, die untereinander Noten austauschen: ehrfürchtig studiert und kommentiert von den minderen Lehrstuhlinhabern, welche irgendwann die Hoffnung aufgegeben haben, die Prominenten könnten sie jemals einer ernsthaften Auseinandersetzung würdigen.
Wenn sie unermessliches Glück haben, lesen sie eines Tages in einer Fußnote (oder in der Tageszeitung), in welche Kohorte von Schwätzern der verehrte Meister sie eingereiht hat (und wissen, dass sie den Rest ihres akademischen Daseins vergebens dagegen anschreiben werden). Sie haben also die Wahl: entweder sie betrachten sich als Füllstoff am akademischen Bau, als jene Viel-zu-vielen, deren Abschmelzung regelmäßig vom Feuilleton gefordert wird, sobald es seinen natürlichen Animositäten freien Lauf lässt. Oder aber sie haben begriffen, dass das, was sie Politik nennen, ihnen eine zweite, weit schärfere Existenz zu führen erlaubt, in der sie sich zu den Wölfen zählen dürfen, sofern sie nur den billigen Mut aufbringen, die Schafe des Betriebs vor sich herzutreiben und gelegentlich eines aus ihrer Mitte zu reißen.
Nominell gesehen sind Lobbock und Tummler bloß zwei. Aber sieht man genauer hin, dann bemerkt man das unsichtbar an ihrer Seite trabende Rudel. Wenn diese beiden auf Jagd gehen und sich dabei malerisch zausen, um dem Tross zu imponieren und sich auf diese Weise die Aufmerksamkeit zu sichern, die Chefs nun einmal gebührt, dann geschieht das nirgends auf eigene Rechnung oder gar eigenes Risiko. Das ABC der wölfischen Wissenschaft durchdringt jede ihrer Aktionen:

Wir sind viele! Sieh dich vor, dass du nicht allein bist.

 

S wie Schuld

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
1
Lobbock, Tummler, Blowasser, Agosch, Friedenwanger

und, ja, auch Dürrobst, der Pädagoge: sie alle haben das Nest verlassen und huschen, ein Spinnengezücht, von Mikrophon zu Mikrophon, von Interview zu Interview, von Talkshow zu Talkshow. Das Motto der Betriebsamkeit lautet:

Das Undenkbare denken

An der Südflanke des Kontinents ist ein Krieg ausgebrochen und sprunghaft wächst die Bedeutsamkeit ihrer Sätze – synchron mit dem Bedarf der Sendeanstalten an kompetenten Teilnehmern immer neuer Gesprächsrunden, aus denen der Zuhörer zwar in der Sache nichts Neues erfährt, dafür jedoch das Gesinnungsstöckchen in lebhaftem Einsatz sieht, über das alles, was in der einschlägigen Wissenschaft über einen Namen verfügt, zu hüpfen hat … und natürlich, dass es sich bei alledem um wissenschaftlich fundierte Ansichten besonders vertrauenswürdiger ›Koryphäen‹ handelt, während doch Tausende angepasster Zeitgenossen vor den Bildschirmen ganz dasselbe denken und dafür statt der Aufmerksamkeit der Nation nur das gelangweilte Gähnen der Familie ernten.

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
2
Zurückgeblieben:

Hanbüchl, Stallwache erster Wahl, sobald draußen die Waffen sprechen. Dabei hätte er zum angesagten Diskurs allerhand beizutragen, von Etzels Hof über Stalingrad bis zu den neuesten Höllentoren des Planeten. Doch fällt es niemandem ein, sein Wissen abzurufen. Niemandem? Die Sache liegt komplizierter. Ehrlich gesagt, den Moderatorinnen der großen und kleinen Sendeanstalten wäre es peinlich, gerade jetzt, während auf ihren schicken Videotafeln Granaten detonieren und Präzisionsbomben zu Befreiungszwecken in nächtlicher Umgebung Wohnviertel auflodern lassen, mit Schöngeist Hanbüchl zu parlieren. Hartnäckig erinnert, wenn es nach ihm geht, die Literatur daran, dass Granaten Granaten und Bomben Bomben sind, keine Freifahrtscheine, es sei denn ins Jenseits, und selbst an letzterem nährt sie schwer greifbare Zweifel. Lange Zeit war dies der Stoff, den der mainstream, wie das neuerdings heißt, sich rituell zuführte. Das ist vorbei. Gefragt sind Männer. Auch Hanbüchl fühlt sich männlich in diesen Tagen, kühn bietet er dem großen allgemeinen Gesinnungsumschwung die Stirn, sein Gehirn arbeitet fieberhaft an Plänen, deren Ausführung das Gemetzel binnen drei Tagen beenden könnte, aber über die Hirnschale dringen sie nicht hinaus.

Das alles ist wahr, aber nicht die volle Wahrheit. Die volle Wahrheit besagt: Es ist aus mit der Literatur. Ihre akademischen Vertreter, zu denen sich Hanbüchl trotz allem zählt, wissen das wohl. Auch sie haben ihr die Gunst entzogen und sich zu Analytikern eines Mikroversums gemausert, das außer ihnen niemanden anlockt, sorgsam darauf bedacht, keine Sprachregelung zu verpassen, die aus den Bermuda-Fächern nach außen dringen, in denen die politischen Köpfe Schiffeversenken spielen. Aus den Kündern der ›Widerständigkeit des Ästhetischen‹ sind Ideo-Lügner geworden, damit beschäftigt, die Dichtung vergangener Tage mit einem trüben, überdies unredlichen Verdacht zu überziehen – dem der Unzuverlässigkeit. Nicht der altbekannten, die zum Ruhmeszeichen wurde, sondern einer, die bloß dem Aufdecker zu Meriten verhilft: der Komplizenschaft mit verjährtem, aber niemals abgegoltenem Unrecht. Künder zu Kindern … überhäuft mit didaktischem Spielzeug, führen sie noch die vertrauten Namen im Munde, aber sie bedeuten nichts, soll heißen: alles, was in diesen Tagen nicht in Betracht kommt.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
3
Die Pest

Germanist Hanbüchl, von Langeweile getrieben, studiert die Aushänge des Rektorats. »S ausschließen!« steht da in wuchtigen Lettern, geschrieben von unbekannter Kollegenhand. Ausschließen? Wovon? Vom Studium? Studiert S etwa noch immer? Und wenn? Wäre es in dieser Situation an der Zeit, ihn von seinen studentischen Rechten zu entbinden? Hanbüchl, verwirrt, spürt, wie der Strudel der Ereignisse ihn erfasst und langsam in die Tiefe zieht. Alphapolitiker S, eben noch erklärter Liebling der auf Weltverbesserung getrimmten Journaille, ist in Ungnade gefallen und zieht den Unmut weitester Kreise auf sich … Unmut ist vielleicht nicht das richtige Wort, es sind krächzende Hassgesänge, die landauf landab auf ihn angestimmt werden, seit er sich kritisch über den Einsatz eigener Truppen geäußert hat.
Eigentlich hat er sich gar nicht geäußert, jedenfalls nicht in der Sache, er ist nur der Kriegspartei auf die Füße getreten, der es nicht schnell genug gehen kann, die eigenen Waffen sprechen zu lassen. So ungewöhnlich gewählt hat er sich ausgedrückt, ein sardonisches Lächeln im Gesicht, dass dem Zuschauer im Geist bereits die waffensegnenden Gebärden der allzeit willigen Pfaffenschaft vor Augen standen, ganz zu schweigen von den schwindelerregenden Gewinnen der Rüstungskonzerne und ihrer kalt über Leichen gehenden Aktionäre.

Hanbüchl, der keine Rüstungsaktien besitzt, hat das unvermittelt niederprasselnde Strafgericht staunend zur Kenntnis genommen. Ganz und gar unwirklich hört sich das alles an und büßt durch wiederholende Lektüre nicht von seiner Befremdlichkeit ein. Ihm, dem geschichts- und schuldbewussten Zeitgenossen, war bisher nicht bekannt, dass in seinem Land eine Kriegspartei existiert. Er glaubte es von dieser Pest geheilt auf alle Zeit und muss nun erfahren, was ihm als historisch denkendem Menschen natürlich geläufig ist: dass alle Zeit ihre Zeit hat und damit über ein Ablaufdatum verfügt. Nur dass es gerade jetzt erreicht sein soll, erfüllt ihn mit einem zutiefst mulmigen Gefühl.

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
4
Hanbüchl täuscht sich

Es gibt keine Kriegspartei. Man mag, was da draußen die Menschen gegeneinander treibt, Protuberanzen des ›Zeitgeistes‹ nennen (mit der stets virulenten Frage im Hintergrund, wo der ›Geist‹ bloß stecken könnte) oder einfach ›Umschlag der öffentlichen Meinung‹ (und damit die klapprige Allerweltsterminologie der Dialektik am Hals hängen haben) – auf alle Fälle handelt es sich um eine der ungezählten Varianten eines altbekannten Themas.

»Ich kenne keine Parteien mehr!« rief der Kaiser seinen getreuen Untertanen vom Balkon des Berliner Schlosses zu, als es ans massenhafte Sterben ging. Was, damals wie heute, bedeutet: Wer sich hier quer stellt, der kommt unter die Räder, er mag seine Gründe haben oder auch nicht. Was scheren mich Gründe! Wobei das sprechende Ich beliebig ist, also jeder: kein Kollektiv, sondern die Gesamtheit aller, die wissen, was angesagt ist, teils, weil sie ihre Brötchen mit diesem Wissen verdienen müssen, teils, weil sie um die Bedeutung des sozialen Rollenspiels wissen und sich um keinen Preis um die einmal ergatterte bringen wollen. Man lebt schließlich nur einmal.

Und natürlich sind alle mit von der Partie, die sich etwas davon versprechen, an dieser Stelle besonders laut ins Horn zu blasen. Bekanntlich ist kein Unglück zu groß, als dass sich nicht etwas dabei verdienen ließe. Das Land, heißt das, ist kriegsentschlossen, von Herzen bereit einzugreifen, sobald die Entscheidung dazu in einem Zirkel gefallen ist, von dessen Existenz die Mehrzahl der Bürger dieses Landes nicht einmal etwas weiß.

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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In diesen Tagen des Lichts

wird S überall ausgeschlossen: Tagungen, auf denen er als Hauptredner auftreten soll, werden abgeblasen, Bucherscheinungen verschoben, Ehrenbürgerschaften erlöschen reihum, als gingen im Licht der Wahrheit die kleinen Lichter aus, die eben noch öffentliches Vertrauen spendeten, die populärsten Sprüche des eloquenten Polemikers verschwinden von den öffentlichen Flächen, auf denen der politische Scharfsinn sich austobt, Werbeverträge platzen und schon erklären die ersten Szene-Restaurants der Hauptstadt ihn, horribile dictu, zur persona non grata, während an diversen Hauswänden die klassischen Drohungen aus dem pathologischen Untergrund auftauchen, so dass die Behörden unauffällig beim Personenschutz zulegen.

Da darf die Pyramide nicht fehlen.

  • Was Hanbüchl bisher entgangen ist: die juristische Fakultät hatte S’ Teilnahme an der alljährlichen Sommerakademie fest gebucht, Es ist ihr eine Ehre etcetera und die Freude ohnehin riesengroß… Nun jedoch sind alle bis gestern gewechselten Phrasen zu Boden gefallen, ein Haufen Müll, den der nächste Windstoß verweht.

Noch stehen die Termine. Einer muss die Initiative ergreifen und dieser eine muss anonym bleiben. Da geht es in der Pyramide nicht anders zu als im wirklichen Leben. Die Studenten haben auch bereits einen Aktionskreis gegründet und dokumentieren im Netz mit kruden Zitaten die kranke Gesinnung des Delinquenten. Sie fordern … sie fordern … was fordern sie eigentlich? Ach ja, da steht es: »Die Pyramide darf sich nicht hergeben … es wäre eine Schande … das Rektorat ist aufgefordert … Wir demonstrieren … keinen Fußbreit … Alerta antifascista!« Und es besteht kein Mangel an Journalisten, welche die Botschaft brühwarm weitertragen werden.

Schrecklich.

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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Hanbüchl, kopfschüttelnd, setzt sich an seinen Schreibtisch und befleißigt sich dessen, was er am besten kann: er schreibt.

Vorläufige Antwort auf die Frage: Kann das vereinte Geschrei der Trittbrettpatrioten den Verlauf eines Krieges beeinflussen?

von Luis Hanbüchl

Unter Blinden ist der Einäugige König. Das ist natürlich metaphorisch gemeint, niemand möchte dem blinden oder einäugigen Menschen zu nahe treten, geschweige denn dem radikalrepublikanischen Gemüt, das beim Ausdruck ›König‹ zusammenzuckt, ebenso wenig der genderbeflissenen Kollegin, die sich dem Kampf gegen das generische Maskulinum verschrieben hat. Dies alles vorausgesetzt, lässt sich die Frage aufwerfen, wer wohl unter den Einäugigen über die besseren Chancen verfügt, König zu sein: der Blinde oder der beidäugig Sehende. Was den Trittbrettpatriotismus angeht, so dürfte die Antwort leicht fallen: Der Einäugige weiß, dass er über ein eingeschränktes Sehfeld verfügt, er ist sich der Gefahr bewusst, die daraus entsteht, das Auge überkompensiert, sein Wesen trägt Scheu vor der Blindheit, die im eigenen Sehen nistet, er ist immer aufs Neue bestürzt über die Sorglosigkeit dessen, der über beide Augen verfügt und Sehen für eine Selbstverständlichkeit hält. Stattdessen bewundert er den Blinden, er hält ihn instinktiv für bedacht … und vor allem: Er hält sein Anliegen für berechtigt.
Ich verteidige mein Land, du verteidigst dein Land, er sie es verteidigt sein Land: keine einfachere, keine in ihrer Einfachheit blindere Tätigkeit ist denkbar. Um Patriot zu sein, bedarf es keiner weiteren Einsicht, nur eines Entschlusses. Es gibt keinen ansteckenderen Entschluss als den, Patriot zu sein, vorausgesetzt, die Situation legt ihn nahe. Fehlt diese Voraussetzung, ist keine Existenz einsamer, überdies verdächtiger als die des Patrioten. Deshalb gibt es mehr leidende als feurig bewegte Patrioten. Um diesem Übelstand abzuhelfen, hat die Informationswelt einen dritten Typus geschaffen: den Trittbrettpatrioten. Dem Trittbrettpatrioten liegt es fern, sich in den Dienst einer Konfliktpartei zu begeben oder humanitäre Hilfe zu organisieren. Seine Parteinahme vollzieht sich auf dem Feld der Gesinnung: er schreibt flammende Artikel, in denen er der Führung seines Landes, am besten der ›freien Welt‹ oder was er dafür hält, ihr Versagen vorhält, ein Versagen, das sich weit in die Vergangenheit erstreckt und in der Gegenwart und vermutlich, falls nicht ein Wunder geschieht, auch in der nächsten Zukunft fortdauert.
In diesem Versagen, wie immer er es begründet, erkennt der Trittbrettpatriot die eigentliche Ursache der gegenwärtigen Kämpfe, die nur durch den bedingungslosen Kriegseintritt seines Landes wettgemacht werden kann: eine, wie ihm scheint, moralisch zwingend gebotene Handlung, der zwar die Geringschätzung der eigenen Streitkräfte – »Gurkentruppe«, »kaum zum Brötchenholen geeignet«, »Lachnummer«, »nicht einsatzbereit« – krass widerspricht, durch sie jedoch nur in absurdere Höhen der Notwendigkeit gehoben wird. Wie viele Menschen neigt der Trittbrettpatriot zu der Ansicht, eingebildete Fehler der Vergangenheit könnten am besten durch neu zu begehende Fehler korrigiert werden, vermutlich, um so der ohnehin prophezeiten Katastrophe einen ›entscheidenden‹ Schritt näherzukommen. Gründlich missverstehen würde man ihn allerdings, wollte man sein eigenstes Anliegen darin erblicken, das doch, wie bereits angedeutet, einfach lautet, dabei sein zu wollen und seinem zu Hause unnütz vor sich hin modernden Patriotismus freien Auslauf in der nahen Natur zu verschaffen.
Unter Einäugigen, ich deutete es an, ist der Blinde König. Für den Trittbrettpatrioten gilt unumwunden: seiner Einäugigkeit, das heißt, seinem parteiischen Urteil, wer im aktuellen Konflikt recht und wer unrecht hat (vulgo: ›unschuldig‹ und ›schuldig‹ ist), folgt die blinde Parteinahme zugunsten des Blinden, soll heißen des Patrioten, der sein Vaterland verteidigt und darin keiner Wahl folgt, sondern der nackten Notwendigkeit, während er doch auch darauf hoffen muss, dass seine Regierung weiterhin weiß, was sie tut, soll heißen, sich auf der Suche nach einer politischen Lösung befindet – möglichst, solange man selbst oder einer der Seinen noch am Leben ist. Wer den Charakter des modernen Krieges (und moderner Konflikte) kennt, der weiß auch, dass bedingungslose Siege respektive Niederlagen selten geworden sind. Mit dem Eintritt einer oder zweier Großmächte fällt diese Aussicht auf Null. Großmächte sind dadurch definiert, dass sie selbst verlorene Kriege praktisch nach Belieben weiterzuführen vermögen, bis es irgendwann in ihr Kalkül passt, ein anderes Spiel zu beginnen.
Demnach sind Trittbrettpatrioten Menschen, die der einzigen Praxis, die erwiesenermaßen dem Unheil des modernen Krieges halbwegs erfolgreich entgegenzutreten imstande ist (strikte Eindämmung und systematische Austrocknung, etwa durch den Entzug ökonomischer Mittel), die Geistesverfassung von Amokläufern entgegensetzen – mit dem gewichtigen Unterschied, dass sie die ›Tötung Unschuldiger‹ in ganz andere Zahlenbereiche zu treiben wünschen, ohne auch nur einen realistischen Gedanken daran zu verschwenden. Das macht sie einerseits ungefährlich, weil der Irrsinn so sichtbar aus ihren Überlegungen funkelt, andererseits … ja andererseits… Was heißt andererseits? Nimmt der Irrsinn in den Köpfen überhand, nimmt er bald auch in der Realität seinen Lauf.

Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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  • ―So ein Blödsinn.

Tronkas Stimme mahlt die Wörter hervor. Hanbüchl gehört nicht gerade zu seinen bevorzugten Gesprächspartnern, im Grunde ihres Herzens können sie einander nicht ausstehen. Aber angesichts der spärlich belebten Mensa hocken sie ausnahmsweise einander gegenüber.

  • ―Unsere Leute täuschen sich, wenn sie glauben, sie hätten in diesem Konflikt eine Stimme. Ein Stimmchen, janein, ein Stimmchen hat natürlich jeder, gerade piepsig genug, um ihn von allen Seiten erpressbar zu machen. Wenn der Große Bruder morgen Handlangerdienste verlangt, dann werden sie liefern, aber sicher, was denn sonst. Und S? Wird landauf landab verkünden, was seine Souffleure ihm in den Mund legen werden. Vielleicht an einigen Stellen kurz schlucken, aber, ehrlich gesagt: ich glaub’s nicht. Der Mann weiß, was anliegt, und arbeitet es weg. So jedenfalls schätze ich ihn ein. Ich kann mich täuschen, das Risiko gehe ich ein. Was sage ich? Es fällt schwer, sich in Politikern zu täuschen, sie sind von morgens bis abends mit Täuschen beschäftigt. Nichts ist so leicht zu durchschauen wie das Volk der Täuscher.
  • ―Und was machen wir jetzt? Ich meine, wollen die S Hausverbot erteilen? Wollen sie ihn exmatrikulieren? Das ist doch … das ist doch…
  • ―… der reine Blödsinn, ich erwähnte es bereits. Ein institutioneller Blödsinn ist natürlich etwas anderes als ein individueller, das kann man nicht vergleichen, aber Blödsinn bleibt es doch. Ich weiß auch nicht, welcher gefährlicher ist. Was meinen Sie? Jetzt ehrlich, ich würd’s gern wissen. Sie müssen sich auch nicht entscheiden, im Grunde geht unsereinen das da draußen nichts an. Die kommen ganz gut selber zurecht.
  • ―Wie meinen Sie das?
  • ―Ich meine, dass diese ganze … nennen wir sie ideelle Teilnahme an dem, was vorgeht, auf Selbsttäuschung beruht. Unsere Nerven spielen uns da etwas vor. Aber Ihre und meine Nerven bewegen keinen Holzklotz, geschweige denn eine Politikerseele. Es reicht gerade für ein aufgeregtes Geschnatter. Kriege werden um Interessen geführt. Wer das nicht weiß, der lebt ohnehin im Ställchen. Wenn er Glück hat, wird er gemästet, wenn nicht… Ich lese gerade den Tod des Vergil, ein Riesenstück Prosa, kommt das in Ihren Seminaren überhaupt vor? Janein, ich meine, kann die heutige Germanistik mit so einem Welt-Opus überhaupt etwas anfangen? Wirklich, darüber sollten wir uns einmal ausführlich austauschen…

Hanbüchl schweigt beleidigt. Fast hätte er vergessen, wie ätzend Tronka sein kann. Außerdem traut er ihm auch diese Lektüre ohne weiteres zu. Dilettantismus ist das, ganz ohne Apparat und zu vergebende Hausarbeiten. Tronka ist ein Spinner.

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Mompti stirbt wirklich
1

Maler Mompti hat ein Karzinom. Es wurde entfernt, es hat die vorgeschriebenen Stadien der Bekämpfung durchlaufen, es hat neue Kräfte gezogen und erledigt den Rest. Es hat den Körper geholt und nun holt es sich den Geist. Was ist der Geist? Eine Veranstaltung zur Krebsvorsorge? Zur Krebsbekämpfung, wenn es einmal soweit ist? Zur Nachsorge, wenn alles seinen Gang ging und es Zeit wird, sich weniger Sorgen zu machen und die nicht wegzuleugnenden … sagen wir … mit sanfter Hand von der Stirn zu wischen und auf die folgenden Generationen zu verteilen? Momptis Bilder hängen im Museum und das Museum hängt an ihnen, es möchte sie ungern missen und erklärt sie zum unverzichtbaren Bestand des Jahrhunderts. Das Jahrhundert besteht also, neben anderem, aus ein paar Handvoll Momptis, während der wirkliche Mompti, the real ’pti, in seinem Atelier auf Schnitzeljagd geht, denn er weiß nicht mehr, wo er anknüpfen soll und worauf er hinauswollte.

Mompti stirbt wirklich
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»Worauf soll das hinaus?«, fragt er sich kopfschüttelnd, hebt ein Blatt auf und lässt eines fallen. Ihr Schwarm bedeckt den Atelierboden und manches schwebt unbemerkt zur Tür hinaus, die jetzt fast immer offen steht, denn es ist Sommer und der Staub, der leise wehende, bedeckt sie alle. Mompti weiß es nicht, er hat es nie gewusst und wird es nie wissen, soviel weiß er, obwohl es ihm niemand gesagt hat. Er ist jetzt darauf angewiesen, dass man ihm sagt, was er weiß, er weiß es dann und weiß es auch wieder nicht, sein Wissen geht auf Zehenspitzen um sich herum und sucht nach Lücken, durch die es einbrechen könnte, aber es findet keine. Es findet keine – zu fremd ist es sich geworden, als dass es sich lohnte, alle Kraft darauf zu verwenden, zu sich zu kommen und das Fest der Versöhnung zu feiern. Ohnehin findet er es schwierig, alle Kraft zu sammeln, er findet nur Reste davon in alten Farbtöpfen und -tuben, er kratzt und sticht in ihnen herum und plötzlich entleert sich eine Blase vor seinen Augen, ein Miniatur-Geysir wächst in die Höhe, dreht sich zur Seite und sackt weg.

Mompti stirbt wirklich
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»Sieh an«, sagt sich Mompti, er sagt es nicht wirklich, er ist kein Sager, kein Ja-, nicht Nein-, er ist ein Zeichner, einer, der Zeichen sieht und Zeichen setzt, »sieh dir das einmal an.« Nicht einmal sieht er es an, sondern zehnmal. Nicht, dass er dann gesehen hätte, worauf es ankommt, er wird morgen weitermachen, er wird nicht wissen, dass er weitermacht, die Idee des Weitermachens hat er verlorengegeben wie die meisten anderen auch, sie scheint ihm unzutreffend. »Wenn ich jetzt dies und dann das mache, ergibt das überhaupt einen Zusammenhang?« Früher hätte er diese Frage mit Ja beantwortet, es hätte ihm Vergnügen bereitet, sie zu beantworten, denn sie hätte, als Frage, das Wesen des Ausdrucks zur Geltung gebracht, so wie ein korrekter Fahrer gelegentlich das Auto zur Inspektion bringt, um es auf ›Herz und Nieren‹ prüfen zu lassen, damit es bei der nächsten Vollgasfahrt… Apropos Vollgas: so wie Mompti davon überzeugt ist, er könne, wenn er nur wolle, jederzeit, zumindest aber morgen gleich nach dem Aufstehen, aufdrehen und diese Misere hinter sich lassen, so glaubt er seine Ehe im Handumdrehen retten zu können, falls ihm nur hinreichend daran liege. ›Hinreichend‹, das ist das Wort. Wann reicht etwas hin? Ein Begehren zum Beispiel, ein kleines, nicht unwichtiges Begehren, wohin könnte es reichen, um hinzureichen?

Mompti stirbt wirklich
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Wohin reicht, was hinreicht? Es scheint ihm eine Entdeckung, wert, festgehalten zu werden, dass er niemals gewusst hat, wohin er reicht – nur dass es ihm gereicht hat, zum Leben und überhaupt, eine Sache so und so weit getrieben zu haben, ohne sich groß darum gekümmert zu haben, um welche Sache es sich eigentlich handelte. Eigentlich… da steht dieses Wort, das er sich eigentlich abgewöhnt hat, vor langen Jahren, zu einer Zeit, zu der er sich eigentlich das Rauchen hätte abgewöhnen sollen. Aber er hat es vorgezogen, mit dem Eigentlichen zu brechen, aus Überzeugung, wie man so sagt, obwohl er dieses Wort eigentlich ablehnt, es hinterlässt so einen Geschmack… Eigentlich schade, denn es besitzt den schleichenden Charme all dessen, was wirklich zu überzeugen vermag. Eigentlich hätte er gern gewusst, worum es ging in dem großen Spiel, nur war keiner zur Hand, der es ihm erklärt hätte. Es hätte auch nichts genützt, die wirkliche Erklärung hätte in ihm aufsteigen müssen wie ein … ein ...
… Brechreiz? Eigentlich war das Wort immer zur Hand, allerdings galt es nicht, irgendwie galt es nicht, als Kunst-Arbeiter musste er abwehren, was ihm da an die Hand flog, woher nur, aus den Sprach-Beeten, ungebeten, wohl wahr, schamlos eigentlich, wie alles Schamlose lässt es seinen Gebrauch nicht zu, eigentlich provoziert es die Scham und ruft nach Abwehr. Eigentlich war er immer in Abwehrpose. Wie ist das heute? Wehrt er ab? Lässt er zu? Wo liegt der Unterschied? »Lass mal.«
Eigentlich dumm.

Mompti stirbt wirklich
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So dumm auch wieder nicht, denn eigentlich ist, was ist, in einem einfachen Verhältnis … er möchte nicht sagen: zu sich, denn das wäre uneinfach, es ›entbehrte der Einfachheit‹, irgendein Mangel wäre dabei, vielleicht eine Lücke, eine Zeichenlücke, die nicht gefüllt werden kann, weil der Widerstand wächst, sobald er ihr näherrückt, er kennt solche Lücken seit altersher. Die Dinge sind nebeneinander, der Blick reißt Gräben zwischen ihnen auf, er reißt sie auseinander, gnadenlos, achtlos, Zeichnen heißt den Blick in die Sprache der Dinge zu übersetzen, ins Nebeneinander, mag sein, aber ist das eine Sprache? Natürlich ist das keine Sprache. Kunst spricht nicht. Kunst ist stumm. Ich, Mompti, musste soundso weit kommen, um festzustellen: Kunst ist stumm. Und was bin ich? Ein stummer Künstler. Stumm, dem Stummen zugewandt. Verstummt wäre etwas anderes, bin ich verstummt? Ich verstumme gern, dazu brauche ich kein Gespräch. Mir sagt die Sprache nichts. Was sagt sie mir nicht? Ist sie nichtssagend? Nein, das wäre zu sehr … von ihr her gedacht. Wenn ich denke, dann mehr von den Dingen her, als dächten sie in mich hinein. Natürlich denken sie nicht, das weiß ich auch. Eigentlich schade, man erführe mehr über sie. Aber sie geben ihr Bestes, dafür verbürge ich mich.

Mompti stirbt wirklich
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Was heißt dann zeichnen? Ich hätte gern Baum Vogel, Auto gesagt, auch Straße, Mann, Pferd, Nagel, Filmriss, Mädchen, Alkohol, Blumengießen, Abgesang, Trauerweide, Erdapfel, Jugendheim ... muss ich das jetzt fortsetzen? Was aber Zeichnen heißt, ich weiß es nit. Ich sollte es aber wissen. Ama bringt es den Kleinen bei und ich helfe dabei aus, also sollte ich es wissen. Weißäcker hat von mir gewollt, dass ich es lehre, ich habe den Ruf abgelehnt, weil ich es nicht weiß. Seltsamer Ruf ... Leute kennen einander und irgendwo ruft eine Universität. Sie ruft nicht laut, sie ruft nicht leise, sie schreibt Briefe, in denen steht, du sollst deine Sachen packen und dein Leben ändern, einfach so ... auf Zuruf. Ama weiß viel, aber in diesem Fall wusste auch sie nicht weiter. Sie hat es mir nicht zugetraut. Oder doch? Wer weiß? Warum hat sie mich nicht ermutigt? Aus Neid? Aus Angst? Aus Neidangst? Mag sein, mag nicht sein, egal, ich kann so etwas nicht malen. Ich habe mich immer geweigert, etwas zu malen. Nein, nicht immer, das wäre gemogelt, aber all diese Versuche endeten im Fiasko. Eigentlich bin ich gescheitert, weil man mich drängte, etwas zu malen. Ich kann einen Pinsel halten. Beruf Pinselhalter: das wäre etwas gewesen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Es gibt schickere Techniken. Von Beruf bin ich Techniker. Die Leute sagen: Zeichne etwas! Ich zeichne etwas und frage sie: Ist das etwas? O ja, beteuern sie, das ist etwas. Das ist etwas Feines, das kannst nur du. Aber es ist niemals etwas, es ist immer irgendwas. Sie wissen es und ich weiß es und beide Seiten sind zufrieden. Nähme man mir die Sprache, ich hätte zu tun. Zwischen Irgendwas und Etwas klafft diese elende Lücke, die sich nicht schließt. Ich glaube fast, jetzt könnte ich hingehen und sie schließen. Aber es ist vermutlich zu spät. Nein, lass nur, es lohnt nicht.

Mompti stirbt wirklich
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Momptis Schwäche ist umfassend. Das liegt sicher am Schmerzmittel, aber nicht so sicher, dass es bei dieser Erklärung sein Bewenden hätte. Momptis Schwäche ist, vielleicht in Idealkonkurrenz mit dem entgleisenden Zellbündel, kontinuierlich gewachsen. So jedenfalls kommt es ihm vor, sobald er versucht, sich zu vergegenwärtigen, wie ›alles gekommen ist‹. Wäre er stark gewesen, er hätte die Welt verändert, zumindest den von ihm veränderbaren Teil. Zum Beispiel hätte er sich gleich nach der Heirat von Ama scheiden lassen. Nicht weil sie die Falsche war – das würde voraussetzen, dass es da draußen eine Richtige gibt –, eher schon, weil sie sich für die Falsche hielt. ›Das hältst du im Kopf nicht aus.‹ Was einer im Kopf aushält, entzieht sich seiner Kenntnis. Aber das da ruiniert den Kopf, es ruiniert ihn von Grund auf. Ein ruinierter Kopf kann nicht malen, er kann nur Zeichen geben, die keiner entziffert, weil sie in Wirklichkeit unentzifferbar sind. Jetzt ist sie die Richtige und er ist falsch. Alles an ihm ist falsch. Er betrachtet seine Hände und sie sind falsch. Sie waren einmal richtig und jetzt sind sie falsch. Alles, was aus ihnen kommt, ist falsch. Alles, was sie anfassen, wird falsch. Nur wenn er Ama aushilft, ist es recht. Oder auch nicht.

Mompti stirbt wirklich
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Nicht ›im Licht der Wirklichkeit‹, sondern ›in Wirklichkeit‹. Er hat solche Anfälle von sprachlicher Verbesserungswut, sie kommen und gehen, das Problem bleibt. Mit Licht kennt er sich aus. Diese Fragen sind nicht mit Licht zu regeln. Beleuchter gibt es genug. ›Wir haben das Elend des Privaten beenden wollen und haben die Hölle neu erfunden.‹ Der Satz klingt, als habe er ihn gelesen. Nur wo? Alle Finger zeigen auf ihn zurück: Da. Es steht geschrieben: Wir sind Verdammte aus eigener ... Kraft? Ist das das Wort? Verantwortung? Das sagt sich leicht, aber es gleitet ab. Welches Wort bleibt haften? Lust? War es das: Lust? Soviel Lust war nie... Jedenfalls machten wir uns das vor. Lebe, als hättest du die Lust erfunden, nein, als erfändest du sie gerade zum ersten Mal. Das älteste Ding ... zum ersten Mal. Das hatte auch seine komischen Seiten. Ama im Bett, zur Klärung entschlossen: »Ich werde nicht deine Muse sein!« »Ich küsse keine Musen, ich küsse ... Geschlechtsteile.« »Versager.« Da war sie, die Scham. Es hatte Klick gemacht und er war enttarnt. So wie jetzt. Immer in Bringposition, so wie jetzt.

Mompti stirbt wirklich
9

Momptis Weltsicht

Was Mompti sieht
  1. Gekräusel
    [die Welt ein Abzählvers:
    bewegt – unbewegt – bewegt]
  2. Bleiches
    [das fahle Licht: ein notorischer Begleiter]
  3. Gleitendes
    [was aber gleitet, das entzieht sich auch]
  4. Schillerndes
    [Fläche gleich Tiefe]
  5. Gewölk
    [alles, was sich ballt, gleicht ... entfernt]
  6. The Blue
    [den blauen Grund der Welt]
Was Mompti nicht sieht
  1. Kraftlinien
    [die geordnete Welt: ein ]
  2. Strahlendes
    [das strahlende Haupt des Guten/Bösen:
    erste Inversion]
  3. das Feste
    [er weiß nicht]
  4. Schlagschatten
    [die geteilte Welt:
    hell/dunkel, gut/böse, hart/weich]
  5. alles, was folgt
    [es ›geht ihn nichts an‹]
  6. Die Farbe Rot
    [sie existiert nicht in seinem Universum, hat, außer in den Anfängen, nie darin existiert, sie ist, wo immer sie auftaucht, verblasstes Zitat]

Daraus folgt alles weitere. Wobei Sehen/Nichtsehen zu den harten Unterscheidungen zählt: Was sieht Mompti, wenn er nicht sieht? Nicht viel, möchte man meinen, nicht viel. Nichts sehen wollen: damit würde er so nichts anfangen wollen. Natürlich sieht er, als Maler, alles. Das erspart ihm die Details – einerseits. Und es fesselt ihn an die Details – andererseits. Kunst = Sklaverei. Das ›sieht‹ er ›nicht so‹, aber er atmet es. Wir Urteilslosen: Urteilen steht ihm nicht zu. Er ist Empfangender. Das bleibt, auch wenn niemand mehr zum Empfang bittet.

Mompti stirbt wirklich
10
Momptis Devise

Es gibt keine Details. Gäbe es Details, ich verlöre mich auf der Stelle. Ich finde mich aber, also gibt es nur Ganzes.

Mompti stirbt wirklich
11
Strandläufer Mompti

»Wenn ich da draußen ein Loch in den Schlick bohre, dann habe ich etwas getan, nicht viel, ein bisschen schon, aus der Perspektive der Plattwürmer« – an dieser Stelle überkommt ihn immer ein Glucksen, er kann nicht anders – »sogar eine ganze Menge, etwas wirklich Gigantisches, aber wenn ich geduldig bin und dabeibleibe, dann sehe ich, wie das Wasser, das erst klar und durchscheinend ist wie der junge Morgen, sich eintrübt. Ja, es trübt sich ein, aber in Wahrheit ist es bloß der Sand, der sich nach und nach einfindet, als wäre er hier zu Hause, und irgendwann reicht die Puste eines Kleinkindes, um ihn zu trocknen, als habe es diese Kuhle nie gegeben. Was so nicht stimmt: Wäre sie nicht im Einerlei verschwunden, dann wüsste man genau, hier ist sie, hier muss sie sein, so etwas geht nie mehr weg, es ist bloß, wie soll ich es ausdrücken, unkenntlich... geworden? Na ich weiß nicht.«

Er erzählt die Geschichte, als habe er sie oft zum Besten gegeben und ihr Sinn sei darüber verlorengegangen. Er erzählt sie suchend, mit Pausen, in denen sein Blick zur Seite schweift, nicht etwa, weil er nicht weiter weiß, sondern weil er nicht weiß, ob das, was jetzt kommt, dem entspricht, was er damit sagen will. Der Wille, etwas damit zu sagen, hat ihn noch nicht verlassen, aber er zieht sich von ihm zurück, lässt hier und da eine Blöße zu, er neigt dazu, Blößen zu geben, als liege darin eine besondere Finte, die keiner begreift.

Mompti stirbt wirklich
12

Stirb nicht, Mompti. Es könnte sein, dass etwas dabei verlorengeht, mit dessen Verlust du nicht gerechnet hast. Was könnte das sein? Diese Geste, ›das alles‹ hier hinter dir zu lassen, sie ist vielleicht eine Spur zu einfach, zu zweckdienlich, um ihren Zweck zu erreichen. Es erlischt sich leicht in Gedanken. Der wirkliche Tod kommt hinterrücks, als Erschlaffung, du spürst sie in allen Gliedern. Bald wirst du ganz erschlafft sein. Du wirst es, wie so vieles, fast alles, hinter dir haben – es, den Rest, der nicht weggeht, so sehr du dich auch bemühst, ihn zu vergessen. Vielleicht liegt er im Vergessen. Im Traum vergisst du nicht, es fällt dir immer noch etwas ein. Diese Ängste ... wer mit der Angst spielt, was bekommt der? Eine Extraportion? Du hast immer gespielt, warum nicht mit Ängsten? Dabei war es dir immer ernst. Auch jetzt ist dir ernst zu Mute, aber nicht wirklich, dein Ernst war immer Unernst und jetzt erleichtert er sich. Er geht nicht mehr hin, wie du früher gesagt hättest. ›Einer muss hingehen.‹ Das war deine Parole. Und du warst der, der hingeht. Jetzt gehst du ›dahin‹, einsam im Nirgendwo, gäbe es Ama nicht, so wäre deine Aufgabe fast vollendet. Warum gibt es Ama und nicht nichts? Das, zumindest, müsstest du sie fragen können. Aber das kannst du nicht. »Ich kann auch gehen«, würde sie antworten und das Thema wäre vom Tisch. Natürlich könnte sie gehen. Könnte sie wirklich gehen, so wäre sie längst gegangen. Sie kann es nicht. Sie kann es ebenso wenig wie du... Mach ein Ende! Bring’s hinter dich! Eine merkwürdige Sache: das Ende hinter sich bringen, das Ende, dem kein Anfang innewohnt, es sei denn, man wechselt in den Modus des Glaubens, aber das wäre dann bereits etwas anderes. Lässt sich Glauben zeichnen? Nein, lässt er nicht. Du könntest dich mit ein paar deftigen Flüchen verabschieden, das schafft Gesellschaft, aber es wäre ... unernst, so als wollte einer mit dem Expresszug aufs Land. Du schleppst den Schmerz hin und her und denkst, du ließest ihn hinter dir. Dahinten! Dahinten ... kann man es malen? Endlich malen ... dahinten, ja, da ginge es, da geht es wirklich.

 

Amatiamo!

Ein Leid wäscht das andere
1

Was man nicht malen kann, das muss man leiden. Wer nicht leiden kann, für den existiert nichts außer dem Malen. Wer nichts als malen kann, der leidet wirklich, das heißt, ohne doppelten Boden, ohne Leidensbereitschaft, ohne die Fähigkeit, zu erleiden, das heißt, dem Leiden einen Sinn abzupressen, den berühmten Lebenssinn, der nicht weggeht, auch wenn die Tage hart sind und das Brot knapp wird. Mompti gehört zur Generation Ohneleid. Sinnstiftung aus dem Leide lehnt er ab, er kann sie nicht leiden und leidet sie nirgends. Dennoch weigert er sich, in den Kampfmodus überzugehen, der für Fälle wie den seinen bereitsteht. Sei ein Mensch, kämpfe! Er hat ein paar Versuche darin unternommen und rasch wieder eingestellt – kein Talent! Andererseits: kämpfen kann jeder Esel, wozu muss einer Mensch sein, um Mensch zu sein, wenn daran nichts anderes haftet als die Spur der Gewalt, die sich durch die Natur zieht? Ein kämpfender Esel zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als ein Mensch, der es mit sich austrägt. Wer den Esel lobt, dem ist um den Mitmenschen nicht bang.

Ein Leid wäscht das andere
2

Momptis Leiden kennt keinen Ort, an den es sich zurückziehen, aus dem es hervorbrechen könnte: es ist ortlos.
Die Verortung geschieht durch den Arzt, genauer, die Medizin, genauer, durch den Apparat, der ihn durchleuchtet, die Theorie, die das Durchleuchtete deutet, die Hand, die schneidet, die Hand, die das Zerschnittene flickt, die Hand, die Medikamente verschreibt, die Hand, die Rechnungen schickt.
Das ist neu. Seit er unfähig ist zu malen, seit seine Hand Zeichnung um Zeichnung im Papierkorb versenkt, leidet er an der Kunst. Die Kunst ist der Ort seines Leidens: nicht irgendeine, sondern seine. Auch wenn sie sich hinter den Horizont zurückgezogen hat, bleibt sie die seine. War das Leid? Das Leid liegt in der Ergebnislosigkeit, nicht im Prozess, es ist ein künstliches, ein oktroyiertes Leid, erzeugt durch die nach innen projizierte, durch Geldmangel festgeschriebene Erwartung seiner Umgebung.
Was, zum Beispiel, erwartet Ama von ihm? Sie erwartet, dass er stirbt. Sie erwartet es nicht täglich, aber in der Nahperspektive, die nicht mehr weggeht, also von Tag zu Tag.
Leidet er darunter, dass Ama ihn wegwünscht? Aber Ama wünscht ihn nicht weg, sie wünscht nur, dass es vorbei sei.
Ist Ama der Ort seines Leidens? Ja gewiss, sie leidet an ihm, sie leidet an seinem Leiden, denn es hindert sie daran, leidlos zu sein. Amas Lebensaufgabe besteht darin, ohne Leid zu sein: eine schwere Verantwortung trägt sie da, sie trägt sie mit Fassung, aber es wäre nur gerecht, wenn ihr jemand dabei hülfe. Die Menschen gehen an dir vorbei, wenn im Haus jemand stirbt. Das ist wahr.
Es ist nicht bloß wahr, es ist die Wahrheit. Etwas kommt darin zum Vorschein, was sonst sorgsam verschlossen bleibt: nicht die mangelnde Bereitschaft zu helfen oder Beistand zu leisten, vielmehr die Unfähigkeit beizustehen, eine wirkliche Unfähigkeit, die sich aus mangelnder Befähigung speist, nicht aus mangelnder Fertigkeit oder Bereitschaft (was dauernd verwechselt wird).
Auch Ama ist unfähig. Ihr Beistand beschränkt sich darauf, den Alltag zu leisten und darunter zu leiden, dass er ihr abverlangt wird. Momptis Leiden wütet, weil es ihr Leiden erregt, dabei ist dies die letzte Erregung, die Ama von ihm empfängt.
Wütendes Leid ist geteiltes Leid.
Das Ortlose kriecht unter.

Ein Leid wäscht das andere
3

Ama Ohneleid: sie ist es, sie ist es wirklich, auch sie, leidlos, wäre da nicht sein Leiden, das sie in den Abgrund zieht. In welchen Abgrund? In den des Beistands, der kleinen und großen Handreichungen, der Mit-Sorge –
... wie eine Horde von Plünderern fällt ihr Regime über sie her und verzehrt diese kostbare, lange erbrütete und frisch geschlüpfte Substanz, als habe es nur darauf gewartet, als sei es hungrig gewesen nach diesem seltenen Stoff.
Ist das reell? Nüchtern betrachtet ist Mompti pflegeleicht. Die großen Schlachten sind geschlagen, erforderte die Lage größere Anstrengungen, stünde ein Heer von professionellen Betreuern bereit, gestaffelt nach Pflegeklassen und Bedarfsgruppen: dies hier ist Nachbereitung, sie könnte ihn an der Aufnahmestation einer darauf spezialisierten Klinik abgeben, doch seltsamerweise erscheint es ihr nicht nötig.
Auch wenn sie es sich nicht eingesteht – sie beobachtet Mompti. Dieses Dasein im Abgehen, es rührt sie nicht, es beschäftigt sie kaum, jedenfalls nicht über Gebühr, wenn man davon absieht, dass es den Alltagsdruck ein wenig erhöht und dadurch ins fast Unerträgliche steigert, es blickt sie an und sie erwidert diesen Blick, nicht wissend, worauf sie sich einlässt: Ist das reell?
Das Gelobte Land vor Augen, scheitert Ama an der Impertinenz des erweiterten Augenblicks. Sie weiß um ihr Scheitern, resigniert fügt sie sich in ihr Los, doch nicht ganz. In Erwartung des Todes steht das Leben still. Wäre sie reell gegen sich selbst, müsste sie zugeben, dass es blüht. Nicht in den strahlenden Farben des Sommers, sondern mit der Intensität einer Blüte, die sich spät bemerkbar macht, aber so, als ginge sie spät oder nie mehr weg.

Ein Leid wäscht das andere
4

Mompti ist dankbar. Nicht grenzenlos, das ginge ihm wider die Natur, die auch gegen Ende zu nicht verschwindet, sondern verknöchert, nein, es reicht ihm, dankbar zu sein, ohne Bei- und Füllaffekte, einfach: dankbar. Dankbarkeit, stellt er fest, ist kein Gefühl, sondern ein Zustand. Er ist erfüllt von Dankbarkeit, nicht bis obenhin, sobald er sich bewegt, schwankt die Füllung und bedroht sein Gleichgewicht.
Doch das ist normal. Sein Gleichgewichtssinn ist jetzt dauerhaft gestört, er findet nur mühsam zurück, beugt er sich vor oder zur Seite, lehnt er sich zurück, wirft es ihn um. Seltsamerweise – was wäre nicht seltsam in seiner Lage? – findet er das richtig, es würde ihn wundern, verhielte es sich anders, so jedenfalls wundert es ihn nicht im geringsten.
Irgendwie hängen der geschwächte Gleichgewichtssinn und die Dankbarkeit, die er empfindet, zusammen. Fiele er aus jedem Gleichgewicht, müsste die Dankbarkeit grenzenlos sein oder verschwinden, wahrscheinlich beides zur gleichen Zeit. ›Aber das wäre paradox‹, hätte er früher genuschelt, er denkt es auch jetzt, aber es hat den paradoxen Anstrich verloren, es widerspricht sich nicht, jedenfalls regt sich kein Widerspruch, solange er auch danach sucht. Dabei ist er süchtig nach Widersprüchen, sie erklären manches, man muss sie finden und stehenlassen, er hat sie immer gefunden und jetzt sind sie ... reserviert. Wofür? Wozu?
In der Dankbarkeit löst sich, was ihn bedrängt, sie nimmt jetzt die Stelle ein, die früher das Zeichnen innehatte, sie zeichnet für ihn, sie zeichnet ab, was hereinkommt, um wieder hinauszugehen: Rechnungen zum Beispiel, für die jetzt Ama zuständig ist, das Bild einer Person, die er lange nicht mehr gesehen hat und das ihn jetzt ergreift – so weit ist sein Leben, dass es auch dieses zweidimensionale Wesen umfasst, samt seiner unaussprechlichen Tiefe –, Amas Bilder vor allem, an denen er jetzt sieht, was er stets übersehen hat, nicht länger etwas, sondern das Übersehene als solches, er könnte auch sagen, er sieht sie erst jetzt, aber das stimmt nicht, er hat sie, samt ihren Schwächen, immer gesehen und jetzt erscheinen sie ihm, sein banges Entzücken verrät ihm das eigene Scheitern und macht es gegenstandslos.

Ein Leid wäscht das andere
5

Sterben, denkt Mompti, beginnt, wenn der Gedanke daran verblasst, eigentlich, wenn er unauffindbar geworden ist. Deshalb sagt er sich von Zeit zu Zeit leise vor: »Ich sterbe«. Er sagt es nicht trotzig, er sagt es nicht ergeben, er sagt es probierend: Lebe ich noch? Wie sehr lebe ich noch? Wie sehr bin ich bereits tot? Er wählt dafür Zeiten, in denen er sicher ist, dass Ama sich nicht im Hause aufhält, denn er weiß, es könnte sie verletzen und ihr Schuldgefühle einflößen und das wäre schlecht. Es wäre nicht dankbar und seine Dankbarkeit geht ihm über alles.

 

 
 

Leckebusch und die Kleine

Patri-Arsch
1
L hat’s getan

Ist doch tatsächlich – Mitternacht lange vorbei – bei Liz aufgekreuzt, hat so lange geschellt, bis sie, aus allerlei Träumen gerissen, die Wohnungstür einen Spaltbreit öffnet, mit erstaunten Kulleraugen seine Erscheinung mustert und beschließt, ihn einzulassen, wenngleich ihr etwas unbehaglich dabei zu Mute ist: der Herr Professor wirkt, vorsichtig gesprochen, nicht ganz bei Trost.

Professoren-Einsamkeit, dunkler als die umgebende Nacht, hüllt ihn ein.

Zweifellos fühlt er sich: ausgesperrt. Was immer Elisabeth sich dabei denkt, ob sie sich überhaupt etwas denkt, ob sie beteiligt ist an dem Treiben – einen Leckebusch sperrt man nicht aus. Er verlangt offene Türen und wenn die eigene zu bleibt, dann…

Ein herrischer Zug hat ihn hergelenkt. Länger als sonst ist er mit den Studenten zusammengesessen, die laue Nacht verwischt die Zeiten, die Gesprächslust ist ungebrochen, und Liz…

… riecht den Alkohol, weicht in die Wohnung zurück, entzündet Lampe um Lampe –

Leckebusch beobachtet Liz aus dem Augenwinkel. Es fehlt nur, dass sie, lichtgebadet, sich selbst entzündet. Er wüsste jetzt nicht, wo der Schalter sich finden ließe, aber er ist überzeugt davon, dass sie ihn kennt. Nicht wie der Pastor Brüsewitz, der sich am hellen Tag auf dem Marktplatz…, nein, das hier wäre nur eine kleine, intime Geste, bestimmt, einen langen Tag zum Abschluss zu bringen.

Die Hände auf eine Stuhllehne gedrückt, blickt sie ihn an.

Patri-Arsch
2
Rache

Wir wissen nicht … wir wissen noch nicht, was die beiden, ihre Stühle verkehrt herum benützend, zu bereden haben, während in der Ferne die erste Helligkeit des anbrechenden Tages den Horizont verfärbt – kein Wunder, ein entsprechender Forschungsauftrag wurde bis zur Stunde nicht erteilt. Wir dürfen davon ausgehen, dass in dieser kurzen Nacht alles aus Leckebusch herausbricht, was er bisher selbst seinen Krawatten gegenüber sorgsam verschwiegen hat, das meiste davon in einem Tonfall schillernder Überlegenheit, den Liz, trotz ihrer gegebenen Lebensklugheit, für das Anzeichen eines beginnenden Anfalls – sie tippt, ohne sich festlegen zu wollen, auf Schizophrenie – hält, während er doch nur dem mühsam festgehaltenen Rollenbild des Dozenten entspricht, der auch in einer grenzwertigen Situation wie dieser nicht aus der Haut kann, obwohl sie längst zu brennen begonnen hat.

Aber Liz – was hat Liz damit zu tun? Sie hat den großen Rauswurf nicht vergessen, sie hat auch nicht vergessen, wem sie ihn verdankt, und diese Geschichte hier erfüllt sie mit einer düsteren Befriedigung. Nach anfänglichem Zögern – was kümmern sie die Eheprobleme im Hause Leckebusch? – beginnt sie das Gespräch hierhin und dahin zu leiten und unauffällig in alle Ecken zu lenken, in denen sie häuslichen Unrat vermutet, bis die professorale Psyche bis in den letzten Winkel ausgeleckt vor ihr liegt. Und während Leckebusch nach dieser tour de force fast übergangslos in Tiefschlaf verfällt, wählt sie Elisabeths Nummer, um bewusst einsilbig, mit leicht kratziger Stimme, die vieles offen lässt, ins Telefon zu hauchen: »Holen Sie sich Ihren Mann aus meinem Bett, sonst rufe ich die Polizei.«

Patri-Arsch
3
―Kann mir mal einer verraten, was das jetzt soll?

Leckebusch schlafend, ein Sack, leise wimmernd, auf dem Kanapee abgeworfen, auf und um ihn herum verstreutes Bettzeug, als habe Elisabeth seine eheliche Restexistenz auf den kleinstmöglichen Platz zusammendrängen wollen: die Tochter, heimgekehrt, findet nicht gut, was sie da vorfindet. Aber keine Instanz ist da, die Aufschluss über das Vorgefallene geben könnte. Also zeigt Charlie der elterlichen Suite den Vogel und verschwindet, wie sie gekommen ist, nicht ohne dem Kühlschrank eine Flasche Champagner zu entnehmen, denn sie erwartet heute Nachmittag noch Besuch.

Lange verweilt Katze Ina vor dem menschlichen Trümmerhaufen, mit hochgezogenem Buckel und steifem Schwanz, bevor sie ihn fallen lässt und ebenfalls in die Küche verschwindet. Sie hat viel Elend in ihrem kurzen Leben gesehen, aber das hier … ist unwürdig. Ina hat einen wachen Sinn für Würde, seit langem wundert sie sich darüber, dass Menschen sie mit ihrer Kleidung ablegen können, aber so, die Straßenschuhe zwischen den Polstern, um von allem anderen nicht zu reden… Ihr messerscharfer Verstand verrät ihr, dass große Veränderungen bevorstehen, bevor er, ein Schweizer Taschenmesser, zusammenklappt und die ungebremste Jagd auf Gerüche freigibt.

Patri-Arsch
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Entwurf einer jungen Frau angesichts elterlicher Querelen

Und es stört sie doch. Leckebusch über das Wohnzimmersofa ausgekippt wie eine Altkleiderfuhre, das gehört sich nicht, das ist peinlich, geschmacklos sowieso, darüber muss man erst gar nicht reden. Dass man eigentlich nicht darüber reden kann, stört am meisten, es verklebt das Gehirn, mit der Erinnerung an diesen Anblick im Kopf herumzulaufen. Sie könnte Elisabeth anrufen und sie zur Rede stellen, aber die Stimme sagt ihr, das wäre nicht gut, und sie ist es gewöhnt, sich ihr bedingungslos unterzuordnen. Charlotte kennt diese Stimme seit ihrer Kindheit. Sie sagt ihr nicht, was zu tun sei, sie warnt sie, wann immer ihr Ich einen Aufschwung nimmt, vor dem zwangsläufig folgenden Absturz. Nein, es ist nicht die Stimme Elisabeths, eher die des eigenen gnadenlosen Realitätssinns, Teil eines ausgedehnten Warnsystems, das in Aktion tritt, sobald sie Wut über Elisabeths einsame Entscheidungen überkommt. Wut? Ja gewiss, Wut. Charlotte – oder Charlie, wie sie im Alltag genannt wird – hat nah an der Wut gebaut, ein Relikt aus der Kindheit, ganz ohne Zweifel, und es hat sich als notwendig erwiesen, dem einen Riegel vorzuschieben. Auch heute war die erste Reaktion Wut, Wut über den würdelos ausgestreckten Vater, Wut über Elisabeth, die ihn offenkundig so hinterlassen hatte, Wut über sich selbst, weil sie schon wusste, dass sie nicht eingreifen würde, Wut über die unbekannte Person dort draußen, die diesen Vorfall veranlasst hatte – ein bisschen viel Wut, die da zustande kam, kein Wunder, dass die Stimme ansprang und sich ungefragt einmischte.

Patri-Arsch
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Warum versteift sich Charlotte darauf, just die Momente, in denen sie brav unter die Kuppel der mütterlichen Entscheidungen zurückklettert, vor sich als selbstbestimmt zu deklarieren? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste lautet: Elisabeths Erziehungssystem war von Anfang an darauf angelegt, die Akte der Unterwerfung seitens der Tochter als Akte der Selbstbestimmung erscheinen zu lassen, ganz nach dem Motto: ›Sag, was du willst, aber sag es so lange, bis es dem entspricht, was ich will.‹ Im Lauf der Jahre hat sich daraus ein schwer aufzubrechendes Gefühl für das Richtige entwickelt, dem andererseits eine gewisse Taubheit entspricht: sie könnte, wenn sie wollte, tiefer in sich hinein lauschen, aber sie weiß bereits, dass dort nichts weiter lauert als Scherereien oder, schlimmer, wirkliche Amnesie, über die sie mit ihren wechselnden Freunden ausufernde Gespräche führt. Die zweite lautet: Seit sie denken kann, wartet Leckebusch geduldig darauf, dass sie aus der mütterlichen Umgarnung erwacht und wenigstens ihm die Gelegenheit eines freien Umgangs einräumt. Freimütig hat er im Lauf der Jahre diesen kitzligen Punkt immer aufs Neue angesprochen. Oft genug ist sie in seine Arme gestürzt, nur um gleich darauf abrupt kehrtzumachen und zur Mutter zurückzukehren. Leckebusch gilt nicht, er ist durchgestrichen in dieser kleinen Familie wie irgendetwas im akademischen Betrieb, wo Leckebusch damit weit besser umgehen kann als angesichts seiner Teil-Annullierung bei der nachwachsenden Generation. Denn so wenig Elisabeth einen Patriarchen Leckebusch als ernste Bedrohung empfindet, so sehr fürchtet sie ihn beim Kinde: Charlotte sollte, das hatte sie sich spätestens in der Stunde der Geburt geschworen, frei von männlicher Dominanz aufwachsen, und die beginnt nun einmal, wie jeder weiß, bei der Vaterbindung.

Patri-Arsch
6

Charlie
Nein, Charlotte kann nicht eingreifen, sie kann den Vater nicht wecken, sie kann ihm nicht helfen, in der peinlichen Lage eine gewisse Rest-Würde zu behalten, sie kann die Mutter nicht zur Rede stellen, sie kann … sie kann … nichts weiter, als den Dingen ihren Lauf lassen. Das ist wenig, aber es entspricht dem, was sie wirklich kann oder können zu müssen glaubt, denn von Können ist dabei wenig die Rede. Und dennoch kann und muss sie können, vor allem im Studium, das ein wenig darniederliegt, weil sie gerade eine Motivationskrise durchläuft, von der ihre Mutter nichts weiß, geschweige denn Leckebusch, der Wartevater.

 

No-muscle-man

M bekommt Besuch
1
Er ist krank, der Dichter M

Er ist es wirklich, er hat die Krankheit zum Tode. Nicht wie Maler Mompti, den sie täglich ins Nichts stürzt, ehe sie ihn, in einem letzten unentrinnbaren Zangenangriff, von sich oder vom Ich – wer weiß das schon? – erlöst, stattdessen als schwärende Wunde, als Wunde, die sich nicht schließt und nach dem Gral verlangt. Ein Zyniker würde sagen: »M hat den Gral.« Aber was würde ein Zyniker nicht alles sagen, um seine Daseinsbürde zu mindern?

»Zyniker bin ich selbst« – so und nicht anders redet M. So redet er alle Tage, liebend gern würde er die Nächte durchreden, verschlösse ihm nicht der Schlaf gelegentlich den Mund und ließe ihn bloß im Traum fortreden – fort von sich, fort von den Verhältnissen, fort von den Eifersüchteleien, die ein Leben lang zwischen ihm und den getreuen Paladinen der Staatsmacht herrschten, die nun nicht mehr existiert. Ist das wahr? Kann Staatsmacht diffundieren? Konnte diese Staatsmacht diffundieren? Wie konnte diese Staatsmacht diffundieren?

M bekommt Besuch
2

M studiert die Frage, indem er redet. Reden ist seine Methode, er schafft sich seine Bühne, wo immer er geht und steht – ein Mikrophon hier, eine verwandte Seele dort, ein Genosse, eine Genossin… Selbst aus der Uckermark streben sie herein in die verblichene Hauptstadt des in Aufbau-Ratlosigkeit und, wie M annimmt, braunkohlebedingter Endzeit-Armut untergegangenen Reichstrümmerhaufens Ost, der ein paar Jahrzehnte lang als Front-Teil eines zuletzt jäh zerfallenen Riesenreichs Zähne zeigen durfte, bald wieder aufgeputzte Hauptstadt eines alt-neuen Landes namens Youtopyeah:

… junge Frauen mit feinen blonden, leicht strähnigen Haaren, die hageren Gliedmaßen wie gekämmt durch den Sturm der Ereignisse, ehrgeizig bis zum Anschlag, Sturmgewehre der neuen Gesellschaft, auf alles gerichtet, was Sicherheit und Fortkommen in unruhigen Zeiten verheißt, die gestrigen Hierarchien noch fest im Kopf und fester im Herzen, falls dieser Ausdruck hier statthaft ist. Wen kümmern Herzen? Herzen… Dieser liberale Idiot: Er oder Ich.

Das ist keine Frage.

M bekommt Besuch
3

M bekommt Besuch. Er schreckt noch immer ein bisschen zusammen, eine alte Gewohnheit, die abzulegen ihm nicht ziemlich erscheint, ihm nicht und seiner verlotterten Psyche angesichts dessen, was ihm bevorsteht, auch nicht: es bleibt ja auch eine Auszeichnung, so undurchsichtigen Besuch aus der feindlichen Medienwelt zu empfangen, die er übrigens immer geliebt hat, so wie sie ihn, jedenfalls hat sie sich nie lumpen lassen und er auch nicht. Der Feind hat gesiegt – das ist zwar historisch gesehen, ein Irrtum, der über kurz oder lang korrigiert werden wird, aber im Moment eine Tatsache, schwer zu bestreiten und für ihn, realistisch gesprochen, kaum überlebbar. »Im Kapitalismus gestorben« wird auf seinem Grab stehen, in Stein gemeißelt, fein ziseliert, nur den Goldgrund lehnt er ab. Was bedeutet es, im Kapitalismus zu sterben? Es fühlt sich fad an, jedenfalls würde er dies so ins Mikrophon sprechen, nuschelnd, mit einem kleinen metallischen Aufblitzen in der Stimme. In Fadheiten kennt er sich aus. Das zuzugeben ist zwar, aufs Ganze gesehen, shocking, aber das Leben in seiner fulminanten Ausdehnung nimmt dem Schock seine Schärfe. Nicht das Leben ist fad, sondern das Ende, jedenfalls ist es das Fadeste von allem, man hätte mehr erwartet, man wollte sein Werk vollenden und jetzt das. Nach all den Bühnentoden sich einen neuen ausdenken, ganz für sich, welche Verschwendung ist das denn? Denk dir etwas aus, hat er seiner Sirene gesteckt, aber mach schnell, ich bin ungeduldig, ich bin keiner, der einen Plan lange stehenlässt. Lass mich nicht im Regen stehen, mach mich nicht nass, ich will trocken davonkommen. Der nasse Tod taugt nicht für die Bühne, das macht den Ophelienstoff so … unvollkommen. Wenn ich weg bin, führst du mein Tagebuch weiter, ich erklär dir noch rechtzeitig wie. Ich will nicht, dass man es mir ins Grab legt, ich mag den Gedanken nicht, dass eine Seite von mir verfault. Du wirst das schon richtigmachen, du kannst das. Kopf hoch! Hier, das Kinn, es muss stärker ins Licht, das hebt die ganze Figur. Schade, dass ich den Chip im Kopf nicht mehr erlebe, ich hätte gern den ersten gehabt, schon um jeden zu kontrollieren, den man nach mir anschließt. Sie haben es vermasselt. Es ist vorbei, sie können sich ihren Chip in die Haare schmieren. So konventionell abkratzen, was wollen diese Typen von mir? Schmeiß sie raus, wenn ich dir ein Handzeichen gebe, ich möchte ganz ruhig bleiben, ganz Kamera, wenn sich das alles entfernt. Eine lange Kamerafahrt, eigentlich bin ich DEFA. Oder Hollywood. Oder DEFA. Das Theater ist ein Irrtum. Schreib das auf: Das Theater ist ein Irrtum.

M bekommt Besuch
4

Meine Herren…! Wo bleibt die Dame? Sie hätten eine Dame mitbringen sollen, dann sähe es nicht so nach Hinrichtungskommando aus. Wollen Sie mich abführen? Hier, meine Hände, ich liefere mich Ihnen aus. Was machen wir jetzt? Ich befinde mich in Ihrer Hand und Sie begeben sich in die meinen. Wie ich sehe, wollen Sie, dass die Pythia weiter spuckt. Sie sind meine Geiseln, ich erzähle Ihnen was vom Strick. Ich persönlich liebe Geschichten vom Strick, sie erzählen uns etwas über unsere Gattung. Die wesentlichen Fragen sind Gattungsfragen. Nein, schreiben Sie ruhig. Die Gattung ist das … Ende, das in uns steckt. Vergessen Sie nicht, wir sind hier under cover. Ich liebe diesen angelsächsischen Nonsens. Ich liebe ihn sehr. Die deutsche Sprache ist nicht weltfähig, damit fängt es an. Der deutsche Welteroberungsdrang verpufft ins Leere. Dabei ist er gegeben, wie der angelsächsische oder der russische, er ist Fakt. Sie können Hitler nicht auf die Bühne stellen. Warum? Er ist überall drin. Er erwartet Sie und Sie bringen ihn mit, denn dort steckt er auch. Aber vergessen wir Hitler. Er ist nicht besonders deutsch. Jedenfalls nicht preußisch. Hitler ist eine Projektion, so wie Preußen. Oder Stalin. Das meinte ich mit Gattungsfragen. Das Deutsche hat Drang, ich meine das jetzt auch als Sprache. Gegenstände sind nicht so wichtig, das verstehen die Leute nicht, es bringt ihnen auch niemand bei. Aber sie bringen es mit, es muss nur aus ihnen heraus. Deutsche Panzer in Charkow, der Russe in Berlin, die russische Flagge auf dem Reichstag … sie haben den Reichstag für das Reich genommen, das heißt nichts, eine leere Hülle um eine Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert, dafür zwanzig Millionen tote Soldaten, sowjetische, die anderen nicht gezählt. Aber das Morden ist älter … das neunzehnte Jahrhundert hat eine Industrie daraus gemacht, die Deutschen kamen, wie immer, zu spät, daher die Brutalität, und wie immer die unzureichende Basis. Wie? Ich sagte Basis. In diesem Land fehlt die Basis. Deshalb verpuffen hier die Ideen. Ich bin Theatermann, ich kann das beurteilen. Wenn ich sage ›Ich maße mir da kein Urteil an‹, dann befinde ich mich bereits auf der Bühne. Reicht das für die Aufnahme? Wenn Sie noch ein paar Minuten brauchen, bitte. Ich bin etwas kurzatmig neuerdings, ich muss jetzt eine rauchen. Rauchen Sie mit?

M bekommt Besuch
5

Sie wollen, dass ich Ihnen die Dinge erkläre. Ich sage Ihnen, da gibt es nichts zu erklären. Es ist eine Frage der Ressourcen. Russland ist ein Rohstofflager, größer als alle. Was fehlt, ist Geld. Sozialismus ist Rohstoffe ohne Geld. Deshalb der primitive Umgang mit der menschlichen Arbeitskraft, die grobe Verschwendung und dann die lange Agonie. Jetzt strömt das Geld und die Rohstoffe werden lebendig, sie führen Dramen auf, die wir bisher schmerzlich vermissten. Der Westen will ausbeuten, der Russe zieht ihn auf sein Terrain und verwandelt ihn in etwas anderes. Es sieht nicht gut aus für den Westen. Er ist in die Falle gegangen. Was die Leute Sozialismus nennen, gab es nur zwischen Eisenach und Frankfurt/Oder. Der Rest ist Russland. Die Billionen des Westens küssen Russland wach, was dann passiert, weiß keiner. Wissen Sie’s? Ich sage Ihnen, was passiert. Die Kapitalisten glauben, sie ersetzen den Plan durch Initiative. Dabei gab es nirgendwo auf der Welt soviel Initiative wie im Sozialismus. Irgendjemand musste schließlich verhindern, dass das System kollabiert. Diese Initiative liegt jetzt brach. Sie lässt sich nicht integrieren, das ist der Punkt. Alle Welt glaubt, Sozialismus heißt Plan. Er mag so geheißen haben, aber sein Wesen ist Chaos. Diese Kräfte unter der Decke des impotenten Plans sind nicht programmierbar. Im bürgerlichen Staat wird daraus sofort organisierte Kriminalität. Sie zieht jetzt in die westlichen Zentren ein. Meine Hände zittern, glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich rede von Krebs. Sehen Sie meine Hände an, Sie werden nicht glauben, was hier geschieht. Ein Stück möchte ich noch schreiben: Die zitternden Hände. Ich werde es nicht mehr tun, aber es steckt in mir drin. Es steckt in uns allen. Es ist die Gattung, die herauswill. Glauben Sie mir … ich bin erschöpft. Nein, glauben Sie mir kein Wort. Ich bin am Ende.

M bekommt Besuch
6

Die Stärke des Ostens hieß Desinformation und der Westen kauft sie ihm ab. Stellen Sie das Mikrophon ab, dann können wir uns unterhalten. Nein, Bilder sind erlaubt. Wo waren wir…? So wie Sie mich umtänzeln, so umtänzeln Ihre Konzerne zu dieser Stunde das Millionenheer ausgebuffter Desinformations-Spezialisten. Nie waren sie so billig. Die Regierungen haben ihre Fischzüge getätigt, aber den Riesenanteil schluckt die Privatwirtschaft. Das wird den Kapitalismus revolutionieren. Es wird ihn zugrunde richten und darin besteht die Revolution. Revolution bedeutet Leid, viel Leid. Nichts davon will der Westen wissen. Glauben Sie einem, der sich da auskennt: Man muss nichts wissen, um Erfahrungen zu tätigen. Nichts schmerzt so erbärmlich wie die Farce. Und Sie werden die Farce abbekommen, bis ins dritte Glied, wenn es nach der sogenannten Geschichte geht, sie wird durch Sie und Ihre Kindeskinder hindurchlaufen wie … ein Kübel Farbe. Der Westen wird Farbe saufen und das wird sein Schicksal sein. Nein, ich drohe nicht mit Ideologie. Eigentlich drohe ich gar nicht, ich lese nur … Schatten. Der Schatten des Erfolgs ist der Misserfolg, er wird den Laden überholen, ohne einzuholen, immer den entscheidenden Schritt voraus. Da marschieren sie schon: vorneweg die Bösartigkeit, gefolgt von der Feigheit, dahinter die Denunziationswut, dahinter der Verfügungsrausch, dahinter die Identität, die das Banner verleiht – sie genießen den Kredit, den ihnen die Verhältnisse zuschieben, die guten alten Verhältnisse. Kennen Sie sich aus mit Verhältnissen? Nur wer aus den Lagern kommt, kennt Verhältnisse. Alles andere ist bloß Geplärr. Sie werden die Mauer wieder aufbauen, in den Köpfen, wo denn sonst, stabiler denn je zuvor, um eine Erfahrung reicher: die Erfahrung der Freiwilligkeit … Sie staunen, Sie halten mich für den Clown vom Rosa-Luxemburg-Platz, dabei bin ich nur ein simpler Platzhalter, ich halte den Platz frei, den Platz der Freiheit, die ganz andere sich nehmen werden, wofür? Wofür nimmt man Menschen die Freiheit? Um sie für sich arbeiten zu lassen? Das ist altes Denken, ganz altes Denken. Es geht um Software. Sehen Sie meinen Finger? Er kreist in Ihrem Gehirn. Spüren Sie es schon? Spüren lassen … das ist Macht. Sowjetmacht. Die Macht der Arbeiterklasse. Lachen Sie … das ist meine Macht, Clowns-Macht, und jetzt ziehe ich sie weg.

M bekommt Besuch
7

M räuspert sich. Im Theater, im Bretterbetrieb, meldet sich so die Majestät. Allein diese Medienleute, abgebrüht, latschen darüber weg. Er muss schon krächzen, die Stimme verbiegen, bis sie kracht: das, immerhin, ist Intonation.

Europa, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein unsern Luch und Truch,
Wir wissen, genuch ist längst nicht genuch,
Wir weben wir weben

Bei Europa klappen sie gleich ihre Notebooks zu, das ist Politiker-Kacke, wen interessiert das. Ihn schon, er ist jeden Zoll Europäer. Europa hat sein Leiden emporgetrieben, es ist der fruchtbare Urgrund, die zerstörerische Hand, die grausame Wüste, genannt Intellekt, in der das Unmögliche aufblüht, die Imagination des Theatermenschen, der vertikale Planet: Das muss doch in diese Gehirne hinein. Und wenn er es einschrauben muss, Birne.

Ein Fluch dem Götzen, den sie sich erstreikt,
Die Partei, die Partei hat’s zeitig vergeigt;
Die hamnich umsonst
Wir kommen gegrölt,
Wir weben wir weben

Das klingt jetzt nach schwerem Ressentiment, aber: sie goutieren es. Sie lachen. Einer macht sich Notizen, wahrscheinlich schreibt er gerade: M probt seine neue Rolle als Kritiker des hemmungslosen Ost-Konsumismus oder ähnlichen Stuss, es ist schön, der Verständnislosigkeit bei der Arbeit auf die Finger zu schauen. Sie gleiten so beweglich dahin. Wiesel. Unterbiete ich mich, legen sie eine Schippe drauf. Sie legen immer noch eine Schippe drauf. Wenn alles runterfällt, sind sie weg.

Alteuropa, du Überlebens-Eunuch,
wir weben wir weben dein Leichentuch,
Wir stopfen hinein allen Luch und Truch,
Wir weben wir weben

Jetzt aber Schluss, bevor ich mich hier noch zum Heini mache. Alles hinaus! Würden die Herrschaften… Oh ja bitte, eine Kopie vorab, das wäre das Minimum. Ich lebe am Minimum, das trifft sich. In Kürze werde ich nicht mehr sein, aber das ist ein anderes Stück und ich schreibe noch keine Arien. Noch nicht. Wenn ich mir’s recht überlege, kommt da bald eine Aufgabe auf Sie zu. Kleiner Fingerzeig: Spielen Sie Lotto. Und zeigen Sie rechtzeitig Haltung. Sie werden sie brauchen können.

1

FRAGER
Professor Leckebusch, ich muss Sie etwas fragen, damit unsere Zuschauer sich ein Bild machen können: Wo waren Sie am Abend des neunten November 1989?

LECKEBUSCH
Ich habe diese Frage erwartet. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Sie sie nicht gestellt hätten. Ich kann Ihnen das genau sagen: Ich war im Bett. Ich weiß das so genau, weil ich an diesem Abend mein Seminar ausfallen lassen musste, was ich persönlich immer als sehr ärgerlich empfinde. Ich betrachte es als Verrat an meinen Studenten, verstehen Sie? Meine Studenten verstehen das. An diesem Abend beging ich nach meinen eigenen Maßstäben Verrat. Das hört sich krass an, aber es beschreibt die Situation.

FRAGER
An diesem Abend lagen Sie im Bett. Schliefen Sie? Ich meine natürlich: Bekamen Sie etwas von den Ereignissen mit?

LECKEBUSCH
Von den Ereignissen? Wenn Sie das sagen: Ich hatte Fieber. Ich delirierte. In dieser Nacht war ich damit sicher nicht allein, falls Sie das meinen. (Hüstelt)

FRAGER
Wenn Sie heute zurückblicken: Was bedeuten die Geschehnisse jener Nacht für Sie?

LECKEBUSCH
Lassen sie mich ihre Frage richtig verstehen, bevor ich auf sie antworte: Meinen Sie für mich persönlich oder möchten Sie meine persönliche Auffassung in Bezug auf das hören, was damals geschah und was sich natürlich in keiner Weise auf die Nacht eingrenzen lässt, in der es seinen Anfang nahm? In gewisser Weise hat es ja nie aufgehört zu geschehen.

FRAGER
Beides vielleicht?

LECKEBUSCH
Es handelt sich um das größte Glück im Leben dieser Nation und es handelt sich um das größte Glück, das mir in meinem Leben widerfuhr.

FRAGER
Könnten Sie das ein wenig präzisieren?

LECKEBUSCH
Sie haben ein Recht darauf, diese Dinge so zu verstehen, wie sie geschehen sind. Wir alle haben ein Recht darauf, diese Dinge so zu verstehen, wie sie geschehen sind. Ich weiß nicht, ob wir bereits die innere Distanz aufbringen, um dieser Anforderung Genüge zu tun, die ich eine geistige nennen möchte. Ich sehe Ratlosigkeit auf Ihrem Gesicht und möchte mich präzisieren. Die Anforderung, die ich eine geistige nenne, besitzt eine innere Dimension und eine äußere. Die innere ist schnell benannt: uns allen – oder genauer: vielen von uns – stand damals die Freude ins Gesicht geschrieben. Das ist ein Ausdruck tiefen Glücks, den man nicht kleinreden sollte. Er kam aus einem Inneren, das dem Handelnden nicht einfach zu Diensten ist, so wie es sich dem Denkenden nicht von sich aus erschließt. Es kann aber in einer gegebenen Ausnahmesituation das Denken erfüllen –

FRAGER
Und Sie meinen...

LECKEBUSCH
Ich halte das für keine Frage des Meinens. Aber ich verstehe, was Sie sagen wollen. Der abendländische Mensch hat dafür früh das Wort ›Kairos‹ gefunden. Ich lege Wert auf das Wort ›gefunden‹. Tatsächlich handelt es sich um einen Fund, um eine Findung, um ganz genau zu sein, und nicht um eine Erfindung, jedenfalls in dem Sinn, in dem wir das Wort heute gebrauchen. Die innere Dimension des Geschehens, das unsere Aufmerksamkeit fordert, wird dadurch bestimmt, ob und wie wir heute den Kairos zu denken in der Lage und vielleicht überhaupt berechtigt –

FRAGER
Und die äußere?

2

LECKEBUSCH
Ich rede von Anforderungen. Eine davon besteht darin, dass wir es schaffen, inneres und äußeres Geschehen in eine gemeinsame Perspektive zu rücken. Das ist überhaupt der Sinn von Distanz: Denk-Räume so zu dimensionieren, dass ein Inneres mit einem Äußeren zusammengeht, also ein ›Stand des Denkens‹ mit einem Ereignis, das die Zeitgenossen bewegt, und zwar so, dass darin etwas Geschichtliches aufblitzt, eine ›Sternstunde‹, wenn Sie so wollen.

FRAGER
Unsere Zuschauer werden sich fragen: Wo bleibt die Klarheit, nach der jedes verantwortliche Handeln in einer solchen Lage verlangt, wenn der Sinn des Geschehens verhüllt ist und sich nur über die von Ihnen eingeforderte Distanz erschließt? Diese Distanz ist ja, wenn ich Sie recht verstehe, nicht vergleichbar mit dem Abstand zu den Dingen, den ein Akteur braucht, um Kontrollverlust zu vermeiden.

LECKEBUSCH
Sie sprechen etwas an, was ich unter die Paradoxa der menschlichen Existenz zähle. Nur der ganz Blinde kann ein historisch erfolgreicher Akteur sein. Aber er muss über einen durchdringenden Verstand verfügen.

FRAGER
Haben Sie in jener Zeit einen solchen Verstand am Werk gesehen?

LECKEBUSCH
Anflüge, mein Lieber, Anflüge.

FRAGER
Das klingt für mich so, als hätten Sie mehr erwartet.

LECKEBUSCH
Aber das ist doch normal. Sehen Sie, in einer solchen Situation erwarten Sie alles. Das liegt einfach daran, dass Sie nicht wissen können, was Sie als Nächstes erwartet.

FRAGER
Also doch Kontrollverlust?

LECKEBUSCH
Eine Situation, in der alles ›drin‹ ist, kann auch außer Kontrolle geraten. Aber das meine ich gar nicht. Was Sie nicht wissen können, ist folgendes: In einem Krieg können Sie nicht alles, was getan werden muss, auf dem Marktplatz verhandeln. Die Menschen wissen das und verhalten sich rational paranoid: Sie vertrauen ihren Anführern so, als wüssten beide Seiten Bescheid. Nichts davon ist wahr. Bei einem historischen Umbruch, wie wir ihn erlebt haben, verhält es sich gerade umgekehrt: der Marktplatz verwandelt sich in ein Tribunal und die Regierenden werden danach beurteilt, ob ihr Handeln mit den Vorstellungen der Leute Schritt hält. Also müssen sie so handeln, als verstünden sie, was die Menge will. Das ist nicht so einfach und begünstigt Scharlatane. Aber es gibt auch gute Leute, kein Zweifel. Es ist nur schwer, sie zu erkennen.

3

FRAGER
Denn wovon lebt der Mensch?

LECKEBUSCH
lächelt
Nun, jedenfalls nicht, indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. Er lebt auch nicht, um es ganz deutlich zu sagen, davon, dass er vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist. Wir müssten uns vor diesen Sprüchen fürchten, nicht weil sie falsch wären, sondern weil sie die Unwahrheit verkünden, als sei sie die Wahrheit.

FRAGER
Ist das nicht der Sinn von Satire?

LECKEBUSCH
Sofern die Satire einen Sinn hat.

FRAGER
Welchen Sinn kann Satire haben?

LECKEBUSCH
Jedenfalls nicht den, die Welt zu verändern. Sie zeigt dem Einzelnen, was er von der Welt zu halten hat. Die angemessene Frage wäre daher: Was ist die Welt? Was ist die Welt der Satire? Wir sind heute geneigt, ›Welt‹ durch ›Gesellschaft‹ zu ersetzen und so zu tun, als sei beides dasselbe. Das ist nicht der Fall. Es gibt die physische Welt und es gibt die moralische Welt. Die moralische Welt ist die Welt der mores, der Sitten. Sittenverderbnis kann es nur geben, wenn man einen Maßstab für unverdorbene Sitten besitzt – die moralische Weltordnung. Ohne moralische Weltordnung ist Satire sinnlos. Sie ist sogar schädlich, weil sie die Moral als solche unter Verdacht stellt. Gesellschaft hingegen basiert nicht auf Moral, sondern auf Interessen.

FRAGER
Vielleicht ist ja die Moral schädlich, weil sie dazu dient, die realen Interessen zu verschleiern.

LECKEBUSCH
Warum nennen Sie die Interessen real und die Moral nicht? Gibt es irreale Interessen oder eine irreale Moral? Was soll das sein? Interessen sind Interessen und Moral ist Moral. Die Interessen geben die Handlungsziele vor und die Moral sorgt dafür, dass die Praktiken sich in einem vertretbaren Rahmen halten.

FRAGER
Oder auch nicht.

LECKEBUSCH
Oder auch nicht. Ist die Moral an ihren Verletzungen schuld? Das ist absurd.

FRAGER
Es gibt auch Doppelmoral.

LECKEBUSCH
Es gibt immer Doppelmoral. Es gibt den moralischen Imperativ, vor dem alle gleich sind, und es gibt die speziellen Regeln, die dafür sorgen, dass die eigene Gruppe bevorzugt wird. Das sind Überlebensregeln. Insofern kommt die Gemeinschaft vor der Moral: als Beutegemeinschaft. Hart, aber wahr. Doch das liegt der Gesellschaft, vorsichtig gesagt, voraus.

FRAGER
Und wovon lebt der Mensch?

4

LECKEBUSCH
Er lebt davon, dass er seine Institutionen achtet.

FRAGER
Essen kann er sie nicht.

LECKEBUSCH
Er käme ohne sie gar nicht ans Essen. Insofern erübrigt sich dieser Einwand. Stattdessen haben wir es mit zwei großen Fragen zu tun. Die erste lautet: Wie kommt es zur Ausbildung von Institutionen? Die zweite lautet: Wodurch sind Institutionen stabil? Die erste Frage ist durch und durch naturalistisch, hier können Philosophen nur lernen. Die zweite betrifft die Philosophie als solche, denn sie berührt die Frage, wie Menschen denken. Oder, wenn wir die Menschen weglassen: Wie denkt Denken?

FRAGER
Wie denkt Denken?

LECKEBUSCH
lacht
Versuchen Sie’s. Nehmen wir als Beispiel die Mauer. Man sollte meinen, eine Mauer ist eine Mauer, ein physisches Bauwerk, wenn Sie so wollen. Eine Mauer ist keine Institution. Aber die Mauer vor dem neunten November ist etwas völlig anderes als die Mauer danach.
Lacht
In einigen Köpfen soll sie ja heute noch stehen. Wie kann das sein? Darf das sein? Warum kann das nicht anders sein? Eine Mauer ist eine Mauer, sie hemmt den Schritt. Aber sie ist nicht unüberwindlich, wie sich am Abend des neunten November zeigte. Die Mauer vor dem neunten November ist eine Grenzanlage, brutal, schmutzig, unüberwindlich, es sei denn, Sie haben die passende Genehmigung. Sie ist in Betrieb.

FRAGER
Es sind Menschen, die sie betreiben.

LECKEBUSCH
Es sind Menschen, ja. Gehen wir die Kette der Verantwortlichen durch, dann stoßen wir auf unterschiedliche Motivationen.

FRAGER
Was sagt uns das?

LECKEBUSCH
Wenn Sie mit Ostberlinern reden, die nahe der Mauer wohnten, dann sagen die Ihnen: Wir haben sie nicht mehr gesehen. Wir hätten sie sehen müssen, Tag für Tag, aber sie war weg. Das alles war irgendwann nicht mehr vorhanden. Erst seit sie weg ist, sehen wir wieder hin.

FRAGER
Ein bekannter Effekt.

LECKEBUSCH
Ein bekannter Effekt. Er gilt natürlich auch für die Verantwortlichen. Der Hundeführer im Todesstreifen – mein Gott, welch ein Wort! – hat es mit einer anderen Mauer zu tun als der Mann im Politbüro, der sie am Ende mit einem öffentlichen Versprecher beseitigt. Keiner von ihnen sieht die eigentliche Mauer, das heißt das, was sie anrichtet. Es wird behauptet, das diene der Entlastung. Aber Entlastung ist eine biegsame Vokabel. Der Gedanke, dass Institutionen den Einzelnen durch Arbeitsteilung entlasten, ist grundverkehrt: Sie bürden ihm neue, höhere Lasten auf.

FRAGER
Sie entlasten moralisch.

LECKEBUSCH
Warum sagen Sie das? Ich sehe es Ihnen an: Sie meinen es ja nicht einmal ernst. Sie halten es genauso wie ich für falsche Entlastung. Damit sollte keiner vor Gericht durchkommen können. Ist es nicht so?

FRAGER
Die Menschen machen sich gern etwas vor.

LECKEBUSCH
Dann sollten wir uns hüten, es ihnen nachzumachen.

5

FRAGER
Und wenn es doch funktioniert?

LECKEBUSCH
Auch hier gilt: Die Institutionen sind die Moral. Funktional betrachtet, sind Routine und Moral dasselbe. Geahndet werden Ausfälle. Das ist natürlich ganz primitives Denken. Nein, die wirkliche Entlastung vollzieht sich im Bereich der Sorge. Um genau zu sein: im Bereich der Sorge um alles. Die Institution trägt mir auf, für meinen Bereich Sorge zu tragen. Warum sollte ich das tun, wenn ich nicht dafür belohnt würde? Trage du für deinen Bereich Sorge und kümmere dich um nichts weiter: Das ist der Grundmechanismus jeder Institution und er sorgt unmittelbar dafür, dass Institutionen stabil sind. Es bedarf einer ungewöhnlichen Anstrengung, in den Zustand der Sorge um alles zurückzukehren. Das können Einzelne leisten, aber eben nicht alle, schon gar nicht zur gleichen Zeit.

FRAGER
Und wenn es passiert?

LECKEBUSCH
Das wäre die Revolution.

FRAGER
Also geht es doch?

LECKEBUSCH
Moment mal. Die Revolution, an die Sie denken, richtet sich auf Institutionen. Den Kapitalismus abschaffen, gut und schön. Aber was tritt an seine Stelle? Die Mauer einreißen: ganz hervorragend. Aber was geschieht dann? Die Realität zeigt: alles Mögliche. Die Sorge – wenn wir den Gemütsustand von Revolutionären als Sorge bezeichnen wollen, aber hier geht es nicht ums Gemüt – bleibt institutionell: Was beengt unser Leben, was können wir besser einrichten, an welchen Schrauben können wir drehen, ohne dass uns das Gehäuse der Gesellschaft auf den Kopf fällt? Der letzte Punkt ist der entscheidende.

FRAGER
Sie meinen –?

LECKEBUSCH
Ich denke. Sie denken. Die umfassende Sorge, von der ich sprach, denkt, streng genommen, nicht. Sie gilt allem, wodurch der Einzelne lebt. Denken entsteht dort, wo es einem abgenommen wird.

FRAGER
Das müssen Sie unseren Zuschauern erklären.

LECKEBUSCH
Mit dem größten Vergnügen. Sie haben mich gefragt und ich antworte. Alles, was Sie mich fragen, könnte ich mich auch selbst fragen und vieles habe ich mich auch bereits gefragt, sonst fiele es mir schwer, Ihnen zu antworten. Natürlich habe ich mich gefragt, was Sie mich fragen würden, und mir Antworten überlegt. Dennoch lege ich Wert darauf, Ihnen zu antworten und keiner inneren Stimme, die mir Fragen vorlegt, die ich mir selbst ausgedacht habe. Verstehen Sie den Unterschied? Die umfassende Sorge macht diesen Unterschied nicht. Warum also sollte sie ein Gespräch imaginieren, das niemals stattfinden wird? Das Gespräch als Institution ersetzt die Intuition, das Einsehen, das ein jeder hat, aber es löscht sie nicht aus. Es stellt ihr Aufgaben, die sie dann auch löst. Die umfassende Sorge sieht sich von Aufgaben umstellt, die sie teils lösen, teils nicht lösen kann. Nur eines kann sie nicht: Aufgaben delegieren.

FRAGER
Das nennen Sie Denken?

LECKEBUSCH
Nicht ganz. Die Rede vom Abnehmen ist ja doppeldeutig oder, besser gesagt, doppelzüngig. Wenn ich sage, Denken entsteht dort, wo es einem abgenommen wird, heißt das auch: Denken entsteht dort, wo es in ein Außenverhältnis eintritt. Dadurch entsteht Entlastung. Also: Sie fragen, ich antworte. Sie verstehen, ich habe Fragen. Mein Gedankengang ist zu Ende, Ihrer beginnt. Innen-außen, außen-innen, klipp-klapp. Nur so kommen wir weiter.

6

FRAGER
Herr Leckebusch, wo schlägt ihr Herz?

LECKEBUSCH
lacht
Im Zweifel links. Hand aufs Herz, das war es doch, was Sie hören wollten. Oder täusche ich mich da?

FRAGER
Ich gebe zu, ich hätte diese Antwort nicht so in dieser Direktheit erwartet.

LECKEBUSCH
Was erwarten Sie? Der Germanist Walter Benjamin hat gegen Ende der Zwanziger Jahre den Satz geprägt: Links hatte noch alles sich zu enträtseln. Er ist zum geflügelten Wort geworden, doch wenige kennen die Fortsetzung, in der es dann heißt, rechts sei es schon vorzeiten, dieses ›es‹ sollte uns noch beschäftigen. Sich selbst nennt er übrigens die Schwelle, über der – und jetzt hören Sie genau zu – die unnennbaren Boten schwarz und weiß in den Lüften tauschten. Das Schwarzweißspiel ist uns sehr vertraut, vertrauter als die Sprache dieses Textes, der poetisiert, wo es nichts zu poetisieren gibt, es sei denn, man hält es mit den Scharzweißmalern. Benjamin kommt aus dem konservativen Kulturmilieu, er geht in der Folge weit nach links, das beschreibt die Richtung dieses Textes, er verät aber auch, dass er links nicht zu Hause ist und sich im Grunde nicht auskennt. Das hat Adorno schon so gesehen und jeder Marxist kann es Ihnen spielend bestätigen.

FRAGER
Sie meinen damit...

LECKEBUSCH
Ganz recht, diesmal meine ich wirklich. Ich komme von links, aus dem linken Raum, Sie können das biographisch nehmen, auch topographisch, selbst geographisch, und die Zweifel haben mich aufgescheucht, auf den Weg gebracht, wenn Sie so wollen, wie so viele meiner Generation und meiner Herkunft.

FRAGER
Ihr Weg geht demnach von links nach rechts.

LECKEBUSCH
Nein, das geht er nicht. ›Im Zweifel links‹ bedeutet ja nicht, dass Sie sich im Zweifelsfall links oder für links entscheiden – das gibt es auch, aber es ist die Formel der Dummköpfe –, sondern dass das Herz links schlägt und Sie im Zweifel darüber lässt, was zu tun sei. Die historische Aufgabe der Linken war es, Zweifel zu säen. Daran hat sie sich gründlich vergangen und deshalb gilt sie zu Recht als desavouiert.

FRAGER
Was sich ändern kann.

LECKEBUSCH
Was sich schnell ändern kann. Wenn Sie genau hinsehen, wissen Sie, dass sie sich nur duckt.

FRAGER
Erkennen Sie da eine Gefahr?

LECKEBUSCH
Gefahren sind dazu da, erkannt zu werden, andernfalls wären sie keine. Das schließt das Unglück nicht aus.

7

FRAGER
Kommen wir zum es.

LECKEBUSCH
Es spukt in unserer Sprache herum – nicht nur in unserer, aber hier besonders –, so dass man sich fragen kann, ob es nicht der geheime Sinngeber all der Formeln, mit denen wir Wirklichkeit zu fassen beanspruchen? ›Es gibt‹ – ›es spukt‹: Ist der Unterschied wirklich so groß? Wenn ja, worin besteht er genau? Als Philosoph muss ich sagen: Er ist nicht sehr groß. Ich muss aber auch sagen: Er könnte größer nicht sein.

FRAGER
Der kleinste Unterschied ist der größte.

LECKEBUSCH
Es ist der Unterschied zwischen rechts und links. ›Es gibt‹ ist die Sprache der Realität, wer sich ihrer bedient, gilt als rechts. ›Es spukt‹ – lesen Sie das Kommunistische Manifest und Sie verstehen, was ich meine. Genau genommen ist die Linke ein Spuk, ein Gespenst, eine Erscheinung. Überall, wo sie Wirklichkeit zu gestalten beansprucht, genügt es, das Licht anzudrehen, und Sie stoßen auf rechte, überdies recht deprimierende Verhältnisse.

FRAGER
Die Realität steht rechts?

LECKEBUSCH
Die Realität? Es gibt sie und sie stellt sich her. Das ist ein reflexiver Vorgang. Tiere haben keine Realität. Sie können also sagen: Die Realität ist ein Spuk. Ein Gedankenspuk meinetwegen. Aber ein Spuk. ›Spuk‹ bedeutet: nichts ist gewiss, nichts ist fixiert, nichts hinreichend ausgeleuchtet. Aber das ist natürlich Quatsch. Also bleibt nur die Formel übrig: Es spukt in der Realität. Damit müssen wir zurechtkommen. Damit kommen wir übrigens blendend zurecht. Genauso können wir sagen: Es gibt keine Realität, aber in der Realität gibt es dies und das. Die Realität ist ein Stellvertreter.

FRAGER
Stellvertreter wofür?

LECKEBUSCH
lacht
Na fürs es. Für das Absolute. Für die Antimaterie. Für das, was es immer noch zu entdecken gibt. Damit hätten wir übrigens die drei wesentlichen Formeln der Neuzeit beisammen.

FRAGER
Mit der Stellvertretung hat die Linke immer ihre Schwierigkeiten gehabt. Ist das ein reaktionärer Begriff?

LECKEBUSCH
Wenn wir genau wissen, was wir damit sagen: ja. Er gibt uns die Antwort auf eine unmögliche Frage: Geht es nicht direkt? Es geht nirgends direkt. Was wir Existenz nennen, ist die Antwort auf die Unmöglichkeit zu sein. Was wir linke Existenz nennen, ist die Antwort auf die Unmöglichkeit, rechts zu zu sein. Das mag Sie erstaunen, aber wer von sich behauptet, ein Rechter zu sein – was nicht viele tun, und wenn sie es tun, dann meist in provokativer Absicht –, der hat das Rechtssein nicht begriffen. Im Grunde begeht er einen Verrat.

FRAGER
Weil er ein verkappter Linker ist?

LECKEBUSCH
Weil jeder ein verkappter Rechter ist. Wer von sich behauptet, links zu sein, der behauptet Unfug. Wer von sich behauptet, rechts zu sein, der behauptet im Grunde: Ich bin bei euch. Das ist die Christus-Formel, also nur begrenzt alltagstauglich. Wer ist Christus? Er ist der Mittler.

7

FRAGER
Da Sie vom Mittler sprechen: Was verstehen Sie unter Mitte? Ist da etwas, um das man sich kümmern muss?

LECKEBUSCH
Ich spreche sehr ungern von der Mitte. Zunächst einmal: Alles ist Mitte. Was wir als Ränder zu bezeichnen uns angewöhnt haben, sind in der Regel Standpunkte, die wir nicht teilen. Die Vorstellung, dass alle in der Mitte zusammenkommen oder zusammenkommen sollten, ist absurd. Ein Quentchen Wahrheit allerdings schwingt dabei mit. Die Mitte ist das, was um keinen Preis verlorengehen darf.

FRAGER
Ist das eine Definition? Soll das heißen: Die Mitte hat keinen Preis?

LECKEBUSCH
Eine Definition und eine Feststellung. Die Mitte ist immer zugleich Definiens und Definiendum, Definierendes und Definiertes. Insofern ist sie auch immer leer. Sie kennen die leere Mitte aus der Kunst, wo sie das Bild strukturiert, ohne in besonderer Weise in Erscheinung zu treten. Das ist schon die Frage, die durch den Mittler gestellt wird: Tritt er als Person in Erscheinung oder tritt er zurück und ermöglicht so die Person? Doch Mitte und Mittler sind nicht dasselbe.

FRAGER
Was unterscheidet sie?

LECKEBUSCH
Zunächst: das grammatische Geschlecht.
lacht
Was verstehen wir unter Geschlecht? Das Geschlecht gibt uns eine Vorstellung von einer tief im Sein verankerten Arbeitsteilung. Da haben Sie das Reaktionäre, über das wir vorhin sprachen. Arbeitsteilung setzt voraus, dass es Arbeit gibt. Es gibt also immer Arbeit. Genau genommen gibt es nichts außer Arbeit. Was wir freie Zeit nennen, ist in Wirklichkeit Arbeitsteilung. Etwas nimmt sich zurück, damit etwas zum Zug kommt. Aber wenn es Arbeit gibt, dann gibt es auch die Frage nach dem Subjekt. Das hängt ganz ursächlich zusammen. Wo die Mitte schweigt, redet der Mittler. Et vice versa. Das setzt natürlich voraus, dass wir beide als redende Instanzen ins Bild rücken. Es ist ein Bild, aber ein passendes.

FRAGER
Das werden einige unserer Zuschauer...

LECKEBUSCH
... anders sehen. Das ist ihr gutes Recht. Lassen Sie mich noch ergänzen: Die Vorstellung vom Mittler ist in unserer Kultur fest verankert. Nehmen Sie sie heraus und Sie erhalten ein Tohuwabohu von Vorstellungen, denen der gemeinsame Sinn abhanden gekommen ist. Viele sehen es natürlich so, aber ich denke, sie täuschen sich. Diese Kultur ist nicht am Ende und sie kommt zu keinem Ende. In gewisser Weise kommt sie vom Ende her – sie ist das Denken des Endes und daher ein immerwährender Anfang. »Lasst uns anfangen«: das ist die Formel Europas. Es kann keine andere geben.

FRAGER
Damit sollten wir schließen.

 

Der Sturz

Über beide Ohren
1

Um ein Haar wäre er achtlos daran vorbeigegangen, doch auf einem der an Staffeleien befestigten Plakate sticht sein Name in besonders staksiger Schrift hervor, überdies ist er rot nachgezogen, so dass sich der Blick des Betrachters unwillkürlich nach links biegt, ohne gleich den Sinn des verworrenen Arrangements aus handbeschriebenem Packpapier, an Kordeln befestigten Puppen und Teddybären verschiedener Größe sowie an Kordeln aufgehängten Trillerpfeifen zu durchschauen. Leckebusch bleibt stehen, holt routinemäßig das Brillenetui aus der Tasche und reibt, stehen bleibend, seine Gläser, gerade will er mit der Lektüre beginnen, als ein paar junge Frauen, doch wohl Studentinnen, in den freien Raum laufen und mit Hilfe der bereithängenden Trillerpfeifen einen Höllenlärm veranstalten. Offenbar zielt das auf ihn, ohne dass er den Grund des Aufruhrs zu erkennen vermag. Mit einem Seitenblick entdeckt er den zu keinem Gruß aufgelegten, rasch in Richtung Hörsaal enteilenden Kollegen Dassler. Sie sind beide spät dran.

Das zweite Wort, das ihm zu entziffern gelingt, heißt eindeutig ›Missbrauch‹. Ein Fall von Vergewaltigung auf dem Campus? Das war bisher an seiner Universität nicht Usus. Die Universitätsleitung sollte ein kräftiges Exempel statuieren. Er nickt den Damen aufmunternd zu. Nun, das scheint kein guter Einfall gewesen zu sein. Prompt verdoppelt sich die Lautstärke des Pfeifkonzerts und die ersten Teddybären prasseln auf ihn ein. Allmählich dämmert ihm, dass die Veranstaltung, in durchaus feindseliger Absicht, ihm gilt, ihm ganz allein, wenn man davon absieht, dass mit ihm die Männerwelt als ganze, jedenfalls ihr alter weißer Teil, am Pranger steht. Aber warum? Ein wenig dröhnt ihm der Kopf, ein schwacher Widerschein der letzthin durchwachten Nacht glimmt in ihm auf, aber das kann doch nicht, das wird doch nicht … Liz? Ausgeschlossen? Nie und nimmer trägt das hier ihre Handschrift.

Elisabeth? Kann ihr Rachegelüst so absurde Höhen erklimmen? Unzucht mit Abhängigen? Oder hat eine von Liz’ Freundinnen etwas mitbekommen und sich selbst und ihren Kommilitoninnen die ganz große Schau genehmigt? Es dürfte nicht ratsam sein, diese Fragen an einem solchen Ort zu stellen. Leckebusch, von einem plötzlichen Herzrasen heimgesucht, beschleunigt den Schritt. Er ist wirklich spät dran, Hörsaal 03 nimmt ihn auf wie eine geräumige Beruhigungspille, doch eine gewisse Schwäche in den Knien lässt sich nicht verleugnen, jetzt, da er, am Katheder stehend, das Manuskript aus der Tasche holt und routinemäßig die Uhr zu Rate zieht.

Über beide Ohren
2

Gewiss hat Liz geplaudert, eher beiläufig, bei einer Freundin, mit der sie sich auch sonst über ihre Professoren auszutauschen pflegt. Angenommen also, auch diese Freundin hat nur geplaudert, mit einem Schuss Bosheit, von dem bei Liz noch nichts zu spüren war, eher eine große Verwunderung über das Vorgefallene, dann fällt es nicht schwer, sich das Gerücht als Selbstläufer vorzustellen, mit dem Ergebnis, dass zwei oder drei der Akteurinnen, die sich Leckebusch im Foyer in den Weg gestellt haben, redlich davon überzeugt sind, in jener Nacht habe sich Furchtbares zugetragen, zugleich aber auch, dass damit bloß die Spitze des Eisbergs ans Licht gekommen sei – jahrelange sexuelle Erpressung etwa, Leckebuschs Notengebung, bekannt erratisch, lasse in dieser Hinsicht alle Spielräume offen… Sie haben ihre Aufgabe gefunden, die Hüterinnen des akademischen Sexualgewissens. Doch ihre Hauptaufgabe sehen sie nicht in der geforderten rigorosen Aufklärung der Vorgänge selbst, sondern darin, eine Art Cordon sanitaire um die Person des Professors zu weben und die generelle Dimension des Verbrechens im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Eine erste Ahnung davon bekommt Leckebusch, inzwischen im Büro angekommen – die Sekretärin hat sich per Notizzettel ›aus privaten Gründen‹ abgemeldet –, als er seine Mail abruft und eine Nachricht des Dekans vorfindet, die ebenso knapp wie kryptisch lautet: »Fix it!« Was bitte soll er ›fixen‹? Nach einem Moment ausgedehnter Ratlosigkeit spürt er, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt … nicht das letzte Mal an diesem Tag, um von den folgenden nicht zu reden.

Alles geht seinen Gang und ein wenig weiter als gedacht.

Über beide Ohren
3

Der schlechte Film will kein Ende nehmen und Leckebusch erhält eine sehr persönliche Lektion über den Unterschied zwischen historischer Verantwortung und persönlicher Schuld: während er sich letztere noch immer nicht eingestehen will, lernt er mit wachsender Resignation die metaphysischen Abgründe des Systems Männlichkeit kennen, denen zu entrinnen, wie er nach und nach, nicht zuletzt in ausgedehnten Gesprächen mit Charlie feststellt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. So muss sich ein Tiefseefisch fühlen, fährt es ihm durch den Kopf, der von einem Sturm auf den Strand geworfen wurde und auf den nun unter dem Johlen der Dorfjugend die ganze ungeheure, ihm bisher unbekannte Hässlichkeit seiner Erscheinung einströmt.

objektive vs.
subjektive
Erkenntnis
Objektiv weiß Leckebusch natürlich Bescheid über den Frauenaufbruch und seine schillernden Elemente, auch wenn Elisabeth ihn immer mit Details verschont hat, weil sie anders unterwegs war. Wer die Medien kennt, kennt den interessanten Teil der Gesellschaft und wer den kennt … der weiß, dass er die eigenen Interessen hart gegen die der Allgemeinheit abgrenzen muss, will er sie morgen noch vorfinden. Subjektiv ist das Prangergefühl, dem sich kaum entrinnen lässt. Wer am Pranger steht, kann sich in Verachtung flüchten. Aber die Verachtung kann nichts gegen die eintretende Gewebezersetzung ausrichten. Wenn er es bisher nicht wusste, jetzt lernt er seine Lektion: der Mensch besitzt ein moralisches Gewebe, einen Körper von ähnlicher Dichte und Differenziertheit wie der physische, und dieser Körper wird jetzt Schicht um Schicht abgetragen (oder wie man das nennen soll). Dieser moralische Körper ist zugleich der soziale und er ist es nicht. Am Ende bleibt die soziale Hülle übrig und die moralische Substanz ist diffundiert. Jedenfalls kommt es Leckebusch so vor, am Katheder hätte er umgekehrt argumentiert, doch das ist hier nicht gefragt.
Über beide Ohren
4

Leckebusch, osterfahren, ergreift einige Maßnahmen, teils der inneren Hygiene, teils der Abschottung halber. Nach dem unerquicklichen Besuch beim Rektor – bei dem er das gesamte Rektorat einschließlich der Prorektoren sowie einige jüngere, vorwiegend weibliche Dekane vorfand, die er bisher bloß von ganz formellen Anlässen her kannte – legt er ein paar Privatkürzel für seine Korrespondenz fest. Das sichtbarste lautet D.S., das sich wie ein verunglücktes P.S. unter die von ihm verwendete Grußformel schmiegt: unter diese Formel fasst er, was immer aus seiner Sicht zu den Vorgängen gesagt werden muss. Ein paar Kollegen lesen sie angesichts des abrollenden Geschehens als ultimative Ergebenheitsformel (‹deesse‹), andere geheimnissen das Wort ›Datensatz‹ hinein und mutmaßen, er habe ein spezielles Dokumentationssystem angelegt, mit dessen Hilfe er den Fall teils für die Justiz, teils für die Nachwelt aufbereite. Nichts liegt Leckebusch ferner. D.S., das steht für eine jahrzehntelange Praxis der Abgrenzung gegen die da draußen, die kraft ihres hemmungslosen, sich als Kritik an Missliebigen verkleidenden Konformismus das Sagen haben, ein derbes Schimpfwort, das sich je nach Stimmungslage leicht variieren lässt und, ausgesprochen, ihn binnen weniger Tage Amt und Ansehen kosten würde. Auch einige andere Kürzel unterliegen der privatsprachlichen Umdeutung und es bereitet ihm ein grimmiges Vergnügen, sie, wann immer es ihm beliebt, in seine Rede einzustreuen. Es herrscht Krieg und Leckebusch weiß, dass er unterliegen wird. Er nennt das Rückkehr zur Würde.

Über beide Ohren
5

Kollege Leckebusch!

Die Universitätsleitung sieht sich zum jetzigen Zeitpunkt weder befugt noch in der Lage, inhaltlich zu den gegen Sie in der Öffentlichkeit aufgetauchten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Sie sieht es allerdings als ihre Pflicht an, diese sehr ernsten Verdächtigungen, die, sollten sie ein fundamentum in re besitzen, dienstrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müssten, in einem der Schwere des Anlasses entsprechenden Rahmen einer angemessenen Untersuchung zuzuführen. Das Rektorat hat sich daher nach ausgiebigen Beratungen auf die Einrichtung einer Task force verständigt, die in den kommenden Wochen und Monaten einschlägig tätig werden soll. Im Zusammenhang damit ergeht an Sie die Bitte, sich für Auskünfte zur Verfügung zu halten, wann immer einschlägiger Bedarf entstehen sollte. Bitte bedenken Sie, dass Sie ihrem Ruf keinen Gefallen tun, wenn Sie sich unabgesprochen in den Medien zu Wort melden.

In Anbetracht Ihrer bisherigen wissenschaftlichen Verdienste ersucht Sie der Rektor, im laufenden Betrieb auf Vorlesungen zu verzichten.

Mit ausgesuchten Grüßen

[in Vertretung]

 

 

Magnifizenz!

Es scheinen in der Tat Vorwürfe privater Natur über mich im Umlauf zu sein, deren Kenntnis sich mir entzieht, denn bei allem, was mir bisher direkt unter die Augen (und zu Ohren) gekommen ist, handelt es sich, mit Verlaub gesagt, um dummes Zeug, das keiner ernsthaften Überprüfung standhalten kann und ihrer auch nicht würdig erscheint. Auch hat sich bisher bei mir keine ihrem subjektiven Empfinden nach geschädigte Person gemeldet. Sollte das Rektorat daher über mehr und bessere Quellen als ich verfügen, wäre ich ihm sehr verbunden, wenn es mir diese zugänglich machen würde.

Ich bin, wie Sie wissen, dieser Hochschule seit mehreren Jahrzehnten verbunden und nehme für mich in Anspruch, in dieser Zeit nicht unwesentlich zu ihrem exzellenten Ruf in der Forschungswelt beigetragen zu haben. Eventuell angesprochene Kollegen werden bezeugen, dass ich nicht zu persönlichen Eskapaden neige, vielmehr ein stilles Gelehrtenleben den Aufregungen der Skandalwelt vorziehe. Sollte das Rektorat Zweifel an der Seriosität meines Frauenbildes hegen, so könnten diese durch den Besuch einer Sondervorlesung über die Philosophin Hannah Arendt, die ich gerne zu diesem Zweck kurzfristig anberaumen würde, ausgeräumt werden.

Damit komme ich auch schon auf den zentralen Punkt: aufs Schärfste erhebe ich Einspruch gegen jedweden Versuch, meine Vorlesungstätigkeit obrigkeitlich zu unterbinden. Ich werde dieses vornehmste Recht des Hochschullehrers notfalls auch vor Gericht verteidigen.

Der erwähnten sogenannten Task force kann ich weder gegenwärtig noch zukünftig einen Sinn abgewinnen. Entweder weiß das Rektorat etwas, was ich nicht weiß, dann ersuche ich es, seine Erkenntnis offen mit mir zu teilen, oder es weiß nichts, dann entfällt damit der Grund, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln. Habe ich ›schnüffeln‹ geschrieben? Das tut mir aufrichtig leid. Ein Schatten ist, nicht durch mein Zutun, auf diese Universität gefallen. Wer wird ihn beseitigen?

Mit den besten etc.

[gez. Leck.]

Über beide Ohren
6
Während Leckebusch in die städtischen Grünanlagen flüchtet, um seinen erhitzten Kopf abzukühlen, redet Frau Hennecke, seine Sekretärin, im Kaffeekreis der Kolleginnen endlich Klartext
  • ―Also jetzt mal raus mit der Sprache, was hat er angestellt?
  • ―Wir streiten alles ab.
  • ―Alles? Also steckt doch mehr drin.
  • ―Er soll ja gewalttätig geworden sein. Das arme Mädchen.
  • ―Die ist eine ganz durchtriebene. Mir tut die Tochter leid. Die arme Charlie kann sich doch kaum mehr blicken lassen.
  • ―Wieso das denn?
  • ―Naja. Sie hat sich gegen Elisabeth gestellt.
  • ―Gegen Elisabeth? Wieso das denn?
  • ―Das wisst ihr nicht? Sie schmeißt ihn raus.
  • ―Richtig. Hätt’ ich auch gemacht. Da kann er ja jetzt zu der anderen ziehen.
  • ―Wie? Zum Vergewaltigungsopfer? Das verstehe ich jetzt nicht.
  • ―Vergewaltigt hat er sie auch? Dann soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
  • ―Das sagt der Rektor auch. Sie untersuchen ja jetzt, ob sie ihm was anhängen können. Dann wird suspendiert.
  • ―Ach. Da kriegst du ja bald einen neuen Chef.
  • ―Erst wird sein Frauenbild untersucht. Wenn da was nicht stimmt, dann –
  • ―Das wird ja rauszukriegen sein.
  • ―Kennt jemand diese Hannah Arendt?
  • ―Nee. Wer soll das sein?
  • ―Keine Ahnung. Irgendwie soll die ihn da rauspauken.
  • ―Den Namen hab ich schon irgendwann mal gelesen. Aber der Zusammenhang war ein anderer.
  • ―In meinen Augen gibt es da nichts zu rechtfertigen. Und wenn sie vertuschen wollen, geht’s vor Gericht.
  • ―Das sagt der Leckebusch auch.
  • ―Wie auch?
  • ―Ich sage euch, der hat nicht ein Fitzelchen Unrechtsbewusstsein. Der hält das alles für eine Verschwörung.
  • ―Das sagen die immer. Kommt aber kaum einer mit durch.
  • ―Sag mal, ist das so ’ne Sado-Maso-Sache?
  • ―Woher soll ich das wissen? Da kenn’ ich mich nicht aus mit.
  • ―Hätte ja sein können. Sind ja immer die Unauffälligen, ganz unter uns.
  • ―Schon gut, dass die Jungen sich wehren. Hätten wir auch mal sollen.
  • ―Ich habe mich immer gewehrt.
  • ―Na und? Jetzt trinken wir doch den gleichen Kaffee.
  • ―Also ich würd’ ihn noch nehmen.
  • ―Ich auch.
  • ―Wie, du auch? Meinste, ich würd’ ihn ziehen lassen?
In der Vulvenkammer
1
Die_Brücke ©US
  • ―Was willst du, tönt Elisabeth, rau tönt ihre Stimme, man hört ihr die Stunden nach Mitternacht an, die vergangenen und, bei gehöriger Übung, die noch ausstehenden, ihr Finger ertastet den Riss in der Strumpfhose, als könne er just an dieser Stelle magische Kräfte entwickeln, doch eigentlich handelt es sich um eine resignierte Bewegung, die nichts zufügen möchte, niemandem, nirgends. Währenddessen vermisst Stutenkeil, aus einer Erschöpfung in die andere wechselnd, an sich die gewohnte Brillanz, die ihn im Hörsaal auszeichnet. Das Gastsemester in Madison ist ergebnislos zu Ende gegangen, in unziemlicher Hast, wie er findet, das fällige Buch hat sich nicht einstellen wollen, die Ablenkungen, die guten alten, die schlechten neuen, diesmal hatten sie sich als zu mächtig erwiesen, das Riesenland wälzte sich in Erregung, es fieberte und halluzinierte, wie er es nicht für möglich gehalten hätte, als hab-, hab-, habe eine bösartige Krankheit von ihm Besitz ergriffen (abgedroschene Metapher, die allerabgedroschenste, aber hier ganz richtig am Platz, ganz … ganz recht), ich fiebere, was soll das jetzt, gerade j… Was wollen meine Hände, was wollen meine Hände an dieser, an diesem… Ich sollte es lassen. Ich sollte es einfach lassen. Kann sein, auch das hier ist Hall-, Halluzination, ganz sicher … ist es das, ist es das wie vieles andere, Idiot. Vieles in diesem Jahr ist Hallu…zination, sogar das Wetter, ›this never ending rain‹, du kommst nicht an ihn heran, nein, du kommst nicht an ihn heran, während er doch in dir niedergeht, ›never ending‹, ganz recht, wie eine dieser Schallplatten damals: Finde den Kratzer! Etwas blockiert dich, du kommst nicht weiter, auch drüben kamst du nicht weiter, diesmal nicht, die Freunde, sie kommen nicht weiter, auch ihre Platte hat einen Riss, die gewohnte Brillanz ist weggeblasen, gone by the wind, zurückgeworfen hat es sie auf die fünfziger Jahre, aber falsch. Falsche Fuffziger, als habe es Achtundsechzig nie gegeben. Der Patriotismus hat dir die Ernte verhagelt, gib’s zu, alter Trottel, kaum zurückgekehrt vergreifst du dich an einem Körper, der dir nichts sagt, der nichts abwirft, dessen düstere Präsenz dich bedrängt, den du morgen auf dem Campus höflich grüßen wirst oder auch nicht. Du vergreifst dich, ein in die Jahre gekommener Bildhauer, die Hände voll Lehm, den nackten Modellierwunsch in allen Fingerspitzen, dabei entsteht nichts, Unförmiges vielleicht, auch dafür wärest du dankbar, nein, nichts entsteht, das einzige im Entstehen Begriffene ist die Dämmerung, an der es nichts zu begreifen gibt, es sei denn das Unbegreifliche, dass einer sich zwischen den Stunden vergreift, zwischen Falsch und Falsch.
In der Vulvenkammer
2
Die_Brücke ©US
  • ―Was willst du, tönt Elisabeth, die Worte fallen ins Dunkel, die meisten Dinge geschehen zwischen Haut und Haut, nur wie tief es eindringt, darüber gehen die Auffassungen auseinander. Wir häuten uns nicht, niemals, vielleicht ein Fehler, eine Fehlanordnung der Natur, ein Versuchstableau, aber ein sinnloses. Der Sinnlosigkeitsverdacht, soviel habe ich bei Leckebusch gelernt, ist nicht auszuräumen, er erledigt sich bloß immer wieder von selbst. Sinnlos, sich etwas vorzumachen, es geschieht nur dauernd. Ich weiß, dass dich dein amerikanischer Misserfolg quält, deshalb sind die anderen die Versager, das patriotische Fieber hat dich, wie du sagst, überrannt. Da bist du nicht der einzige… Dafür, dass jetzt alle hier Amerikaner sind, werden sie sich irgendwann rächen, rächen müssen, ganz recht, rächen müssen, das ist ausgemacht. Sie haben aber nicht die Macht dazu, sie werden sie niemals haben, also werden sie sich ins eigene Fleisch schneiden, bis das Blut nur so spritzt. Wenn du nicht weißt, warum du mir mir ins Bett steigst, nun, ich könnte es dir sagen: aus Rachsucht. Wir könnten ruhig offen reden wie früher, als wir uns nichts zu sagen hatten, heute haben wir uns etwas zu sagen und schweigen uns an. Es geht mir so wie dir. Auch ich nehme Rache: an Leckebusch, wenn du so willst, an R, an Guido, selbst an Tronka, was pervers genug ist, also wer ist Leckebusch? Leckebusch ist ein Wurm. Er hockt über seinen Schätzen, er kann nichts damit anfangen, was du willst, weiß ich nicht, es ist so unendlich gleichgültig, so gleichgültig, du könntest das Universum sein, so gleichgültig bist du mir… Das Gleichgültige ist der letzte Reiz, jedenfalls bei mir, bei anderen das Verbrechen, das interessiert mich nicht. Vielleicht habe ich Leckebusch früher Unrecht getan, ich hatte ihn ganz vergessen. Seit ich ihn im Fernsehen schwatzen sehe wie die anderen, geht er mir nach. Wohin, könnte ich mich fragen, unterwegs wechsle ich ihn aus und nehme mir einen Stutenkeil, denn soweit … geht die Liebe nicht. Man lässt sich mit einem banalen Menschen ein und das Leben bekommt eine Färbung … eine Färbung … das geht nicht mehr weg. Man nimmt die anderen Kerle als Waschmittel, als Bleichmittel, sie bleichen auch kräftig, aber am Ende ist der Fleck wieder da. Dich stört das bisschen Patriotismus bei deinen amerikanischen Freunden, der naive Ernst, mit dem sie die Welt in Brand setzen, weil man ihnen den Brand ins Haus gesetzt hat. Das erinnert schon stark an das, was wir einmal waren, an all die brennenden Wünsche der Scham und unsere ersten Begegnungen. Also, was willst du? Ich will nicht unfair sein, aber du hast kein Feuer. An dir glimmt nur die Lunte und irgendwann gehst du in die Luft. Da muss ich nicht dabei sein. Stutenkeil – du bist mir lästig.
In der Vulvenkammer
3
Die_Brücke ©US

Warum gibt es Langweiler? Da liegt das letzte Geheimnis, das Elisabeth noch, jedenfalls für den Augenblick, in ihrem Leben ergründen will. Wie sagt Amalia? Ein Langweiler ist ein Vergewaltiger, der sich nicht traut. Amalia kennt sich aus, aber in den falschen Ecken. Immer hat sie Recht und Unrecht, manchmal gleichzeitig, manchmal hintereinander. Ein Langweiler ist einer, der sich müht, in Betracht zu kommen. In dieser Hinsicht sind alle Langweiler. Wer in Betracht kommt und weiß es nicht, ist der größte. Stutenkeil würde sich trauen, ich merke es, man muss ihn führen, damit die Situation es nicht hergibt. Stutenkeil ist schamlos, er ist ein Plünderer, er plündert die Scham. Er könnte vor Scham vergehen, aber bevor das geschieht, wühlt er sich aus dem Psycho-Müll, der ihn bis zum Kragen anfüllt, hervor und bezichtigt den anderen des Verrats. Er ist drauf und dran, seine Hände zucken, ich seh’s im Dunkeln, er könnte mir an die Gurgel gehen, er wäre äußerst erschrocken, wenn er’s denn täte, er täte mir aufrichtig leid. Bloß das nicht! Stutenkeil du grober Keil, du tust mir leid. Du willst fein sein, du willst es ganz fein gestalten und weißt nicht wo anzufangen. Du fällst auseinander, sobald du dich konzentrierst. Du solltest dich weniger konzentrieren, aber das will dir nicht gelingen. Du willst, dass es dir gelingt, während du es nur seinen Gang gehen lassen müsstest. Gerade das kannst du nicht. Ich könnte es dir sagen, aber du willst nicht hören. Du willst nicht und du kannst nicht. Du willst Ein-, Ein-, Einstimmung, alles andere verletzt dich, wie du sagst, du sagst es ein wenig zu oft, ich verletze dich, in voller Absicht, wie denn sonst? Eine Art Geheimgang zur Einstimmung stellst du dir vor, irgendeine Technik, die du unbedingt beherrschen musst. Lustsüchtig bist du, aber nicht wie ich, nicht körperlich, dein Körper steht dir im Weg, du hast nur keinen anderen, deshalb benützt du ihn als Brecheisen. Vom Brecheisen zum Brechmittel … ist es nicht sehr weit, nicht sehr weit, die Wege, die wir auf diesem Felde gehen, haben die Tendenz, sich rasch zu verkürzen. Schau an, wir sind schon da. Aussteigen! Diese Fahrt endet hier.

In der Vulvenkammer
4
Die_Brücke ©US
Elisabeth schreibt

Du schreibst das Wort ›Fleisch‹ und du streichst es durch: Fleisch. Warum? Weil du es nicht brauchst: Nein, heute nicht. Ich hatte es auf dem Zettel notiert, vorausschauend, wenn du willst, aber ich habe mich dagegen entschieden. Nein, das ist keine Grundsatzentscheidung, ich bin kein Fleischverächter, wenn du das meinst, aber ich habe meine Gründe. Ja, ich gebe zu, ich bin beeinflusst. ›Fleisch‹ gehört zu den Flimmerwörtern. Wer es hinschreibt, ohne sich etwas dabei zu denken, etwa so: Fleisch, der ist entweder unbedarft oder Metzger. Er gehört einfach nicht dazu. ›Mein Fleisch, dein Fleisch‹: Das ist eine andere Sache. ›Mein Fleisch und Blut‹: Davor graust dir doch, oder nicht? Was sagt die Genforschung dazu? Archaisches Denken, ganz recht, reduziert den Menschen aufs Biologische und noch dazu falsch. Nichts davon ist von dir. Sage zu einem Menschen: »Du bist Fleisch von meinem Fleische« und er veranlasst deine Einweisung in die Psychiatrie. Zu Recht.

 

Das bare Leben

Amalfi
1
Hotel Luna

Irgendwie war es Ama gelungen, eine Bahre und zwei Träger aufzutreiben, um ihn die steile Treppe zur Rezeption hinaufzuschaffen: ein schwankendes Unterfangen, das an der Kehre auf halber Höhe dem Scheitern nahekam, aber am Ende alle Widrigkeiten besiegte. So angekommen, konnte M, kraftlos an ihren Arm geklammert, die Empfangsformalitäten bewältigen und sich schlurfenden Blicks in die angemietete Suite begeben. Indessen Ama die Betten prüfte, die Schränke aufriss und daran ging, die Koffer zu entleeren, tastete sein Auge die Türrahmen ab, einen nach dem anderen, auf der Suche nach dem einen, in dem ein samtblauer, weiß umsäumter Balkonausschnitt mit einem winzigen weißen Tisch vor der grandiosen Kulisse des Meeres erstrahlen musste, eingefasst von einem gläsernen Nichts, darin der Tisch sich spiegelt – ein Hauch, kaum ins Gewicht fallend und so ein zweites Mal die Schwerelosigkeit des Ensembles ins Bild hebend. Kein Wort darüber – zu Ama nicht und auch zu niemandem sonst: das war das Detail im Prospekt gewesen, das den Ausschlag gegeben hatte, dem vertrackten Aufstieg zum Trotz gerade dieses Hotel zu buchen.

  • ―Streng dich nicht an, ich bring dir ein Kissen, ist dir kühl?

Kühl? Mag sein. Gerade noch war ihm warm. Die warme Stimme der Sorge kitzelt eine winzige Kühle aus seinem Körper heraus. Tief unter ihm entfaltet ein in den Felsen geschnittener Swimmingpool, gegen das Meer von einer Reihe Sonnenschirme flankiert, seine azurenen Reize. Ein Swimmungpool neben dem Meer … mit zwei Schritten könnte ein Schwimmer, müde des einen Genusses, zum anderen wechseln, wäre da nicht die von hier oben aus schwer zu bestimmende Höhendifferenz. It’s not the width, it’s the height, stupid! – angelerntes Computer-Kauder­welsch einer Freundin, die ihn liebend gern in den Tod eskortiert hätte und sich nun mit zwei Autografen im Tagebuch begnügen muss. Aber wer weiß. Der Tod ist ein Karussell, da muss man den Schelm nicht lang suchen. Ein Karussell… Er kennt diesen Maler Mompti nicht. Ist er gut? War er gut? In der Akademie war er jedenfalls nicht. Ich bin die Maler so leid.

Die Maler, die die Pinsel führen,
Sie schmieren Kot an alle Türen.

Unsinn, streich das. Malerei ist Dekoration. Effekte –

Amalfi
2
  • ―Nimm das Notizbuch, Ama. Ich will nicht, dass der Laptop deine Schenkel besudelt. Wenn du nicht schreiben willst, auch gut, dann sagen wir’s den Vögeln.

Ein Wort: Potemkinese. Kniefall der Wirklichkeit vor den Mächtigen. Die beste Simulation ist die vollständige, bei der alle anpacken müssen.

  • ―Wir werden der Nachwelt zusetzen. Es ist Zeit für letzte Worte. Schreib. Nein, schreib nicht. Hör mir zu. Hör mir erst zu. Nein, doch, schreib. Was hilft der eleganteste Kniefall, wenn man den Mächtigen nicht die rauschenden Erfolge ihrer Politik auf digitalen Stellwänden vorführen kann? Ich sage voraus: Afghanistan wird das Potemkinsche Dorf des Westens. Und ich erkläre: Es wird fallen. So ––. Die Fassade wird fallen und es erscheint: Afghanistan. Warum Afghanistan? Dort lernen die großen Mächte das Scheitern. England war da, Russland war da … bin ich eine Macht? Ich denke schon. Reich mir mal den Zwieback her. Nein, den. Warum hört man hier keine Touristen? Ich sehe nichts. Hilf mir, ich sehe nichts. Die Politik der schönen Bilder endet, wie aller schöne Schein, zuverlässig bei den hässlichen. Man hat sie sich lange genug erspart, deswegen herrscht an ihnen kein Mangel. Es wird hässliche Bilder vom Himmel hageln. Wir könnten nach Absurdi-, nach Afghanistan fliegen, wie wär’s? Mitten hinein in den safe space. Im Panzer zum Hauptstadtdinner. Wir sind schon verwöhnt. Die Botschaft wird irgendwas organisieren. Ruf den Botschafter an. Ja, jetzt sofort. Hör mal, du kannst gehen, ich schlafe hier ein. Nein, zieh die Tür zu.

Wenn ich jetzt das Lid aufziehe und es fällt ein Lichtstrahl hinein, ein warmer, gedämpfter Strahl, dann schließe ich das Auge und genieße das Glück. Ist das Glück? Ist Glück Glück? Die Bühnensprache hat mich ruiniert, ich bin ein stumpf-, ein stumpfes Subjekt. Holt mich heraus, bevor es zu spät ist, ich krepiere hier. Früher oder später krepiere ich hier. Flammkuchen! Wir sollten Flammkuchen essen, Flammkuchen bei Kerzenschein, Ama. Mein Gott, sie ist weg.

Amalfi
3
  • ―Es heißt, du kannst nichts machen. Auch ich bin einer von denen, die sagen: du kannst nichts machen. Ich sage: behalte die aufkommende Panik im Mund. Du musst ihr Größe geben. Ein kleiner Taliban-Kommandant spricht von der Welteroberung und Rom (oder Karthago oder Konstantinopel) brennt. Der Taliban bist natürlich du. Ob die Welt brennt oder nicht, das ist nie die Frage. Die Frage ist einzig, ob dein Schmerz bereit ist, sie brennen zu lassen. Mach dir nichts vor: du hinterlässt keine geordnete Welt. Rechthaberei und Angst, die ungleichen Geschwister, überrennen jede Forderung, zur Abwechslung einmal gut regiert zu werden. Gleichgültig, was gerade darüber in den Gazetten steht. Nicht bloß dein Schmerz verlangt nach Satisfaktion.

… Klima, das interessiert mich. Die Welt wird brennen, wenn ihr nichts tut. Diese Aussage ist verrückt. Komplett verrückt. Aber sie funktioniert. Die Jahrhundertfrage lautet: Was tun? Wer eine Antwort zückt, dem wird Platz gemacht. Er ist der Herr. Vielleicht für eine Stunde nur, in dieser Stunde aber ist er Herr. Der verborgene Sinn des Feminismus ist der Herr. Zünde die Fackel der Freiheit an und schon schreit einer: Es brennt! Wir werden alle verbrennen! Da rennen alle. Der Herr muss es richten. Einer muss es richten. Also ist einer der Herr. Das ist Bühnenlogik. Bist du schon mal auf der Bühne gestanden? Gertrude. Gör-truud. Lass mich nachdenken. Man muss euch eine Rolle geben, Rolle geben, R…

Es gibt eine Geschichte der Prophezeiungen, der eingetretenen und der nicht eingetretenen, wusstest du das? Spannender sind die nicht eingetretenen, die noch ausstehenden, die langsam Patina ansetzen, so dass man sie umspritzen muss, damit sie wieder geglaubt werden. Der Glauben hat einen strengen Zeitgeschmack. Das Orakel verlangt, geglaubt zu werden, also muss es von heute sein. Nur Hohlköpfe holen die angegammelten Sprüche raus und stochern darin herum. Die große Flut zum Beispiel ist old style. Niemand glaubt an die Flut, bis sie da ist. Feuersbrünste, brennende Städte, das ist ein anderer Stoff. Der steckt in den Knochen. Du kannst das halbe Land abfackeln, aber du kannst nicht verhindern, dass anschließend, einer nach dem anderen, die Politschranzen an die Mikrophone treten und verkünden: »Wir müssen mehr Geld ins Klima stecken.« Der Glanz der Prophezeiung überstrahlt jedes Desaster.

Bühnenhelden sind Brandstifter. Nein, streich das. Sie tragen das Virus im Leib. Weißt du, dass dreihunderttausend Virusarten darauf warten, unsere Körper zu übernehmen? Das Heft in die Hand zu bekommen? Einmal wollte ich zehn Hamlets gegeneinander antreten lassen. Am Ende waren’s nur acht. Uns alle beugt die Nemesis. Auch ein Intendant macht da keine Ausnahme. Ich prophezeie: über kurz oder lang wird ein simples Virus die Kontrolle über das Raumschiff Erde übernehmen. Es wird alle Steuerungen aussetzen. Es wird alle Befehle überschreiben. Es wird den Menschen überschreiben. Es wird … weißt du was? Schreib irgendwas. Das ist nicht mein Genre.

Amalfi
4
Scheiße labern

A.M.A. Drei Buchstaben. AMA. Dramenende.

Er ist schwach. Sehr schwach. Er presst die Sätze aus sich heraus, einige reißen ein, das Blut rinnt an ihnen herunter… Welches Blut? Aufgeschrieben erkennt man den Unterschied kaum. Nur wenn sie heimlich über die Wörter streicht, spürt sie den Grat. M will nicht vergehen. Er reißt im Gehen mit sich, was immer er kriegen kann. Hat er sie gekriegt? Irgendwie schon. Reißt er sie mit sich? Kaum. Sie soll bleiben. Sie soll ihn zum Schafott begleiten, ihm zureden, wenn die Kapuze fällt … und dann? Tun, was getan werden muss, da sein, um da zu sein, zusehen, wie dieser Geist vergeht, sich weglallt, weglabert, zurückkehrt, sich flüchtig ballt, mal für Momente, mal für eine wirklich gute Stunde, die sie in ihrem Da-Sein stärkt und keine Spur in ihm hinterlässt, eine unsichtbare vielleicht, auch das müsste sie wissen. Gestern sagte er: Du musst Geduld haben … mir mir, die letzten beiden Wörter so leise, dass sie unschlüssig ist, ob sie noch ihr galten, bloß die gerunzelte Stirn blieb als Wegzeichen übrig, andeutend, dass da ein Problem lag, mit dem er zurechtkommen wollte. Kam er? Heute morgen blaffte er ins Telefon (sie kam zu spät, um mehr zu hören): Nein, ich gedenke nicht hier zu sterben. Ist das bedauerlich? Nein, kein Besuch. Gute Nacht. Der Verlag? Blondi aus der Uckermark? Draußen spielt die Luft in den Pinienwipfeln, die Bucht glitzert.

  • ―Das bleibt. Du wirst es nicht erleben, dass Land und Meer die Plätze tauschen.

Warum sollten sie? Soll sie das aufschreiben?

  • ―Wir könnten morgen nach Capri fahren. Morgen, übermorgen, wann immer du willst.

Oder gleich.

  • ―Schreib: Das ist von mir. Das hier ist Afrika. Europa weiß es noch nicht, es will nichts davon wissen, aber Afrika ist schon da.

Als ob das im Augenblick wichtig wäre. Andererseits: was ist schon wichtig?

Amalfi
5
Heimsuchung (1)

Der arme M sieht schwarz. Nicht wie einer der mit statistischen Kurven hantierenden notorischen Unheilspropheten, die haarklein demonstrieren, an welchem Punkt der Entwicklung ›das System abschmiert‹, wie sie sich ausdrücken, ohne schlüssig erklären zu können, was dann geschieht, auch nicht wie er selbst in seinen zurückliegenden Interviews, in denen er sich wortgewaltig dem Verschwinden der ›weißen‹ Zivilisation gewidmet hatte, sondern gleichsam in aller Schwärze, so als habe er eines der schwarzen Quadrate Wegenaers erworben und sehe es nun überall. Die Idee des Schwarzen Lochs hat ihn überwältigt und da er der Physik seit seiner Schulzeit keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hat, verbindet es sich in seinem Empfinden mit dem Malstrom Poes und diffusen Schoßängsten, die ihn seit langem verfolgen. Bei alledem denkt und empfindet er groß. Der ausstehende eigene Tod schrumpft zum belanglosen Annex des Menschheitsdramas, das in seinen Nervenbahnen abrollt, einerseits chaotisch, andererseits mit der Präzision eines Uhrwerks, wobei ihm bekannt ist, dass letzteres längst keinen Maßstab für absolute Präzision mehr darstellt. Doch hier geht es weniger um Präzision als um die Unerbittlichkeit der Prozesse. Könnte er die Schwärze, die in seinem Imaginarium den Raum der Menschheitszukunft okkupiert hat, als Symbol deuten, dann wäre sie das Symbol der Unerbittlichkeit. Doch davon ist er weit entfernt. Die Sprache der Auslöschung duldet keine Nebenerwägung. Es ist aber keine Auslöschung ad nihilum, sondern die größtmögliche Annäherung an jene hermetisch verschlossenen Nachbarwelten jenseits der Raumzeitschranke, das Passieren des großen Vorhangs, der sich niemals hebt.

SZENENWECHSEL. PROJEKTION. Houyhnhnms, durcheinanderlaufend, von wilder Unruhe erfüllt, ein jedes doppelt, Tier an Tier auf schwarzem Grund, Entkommensfalle.

Auf eines Augenblickes Spitze
erscheinen sie entmischt, der Druck lässt nach.
Die jetzt sich tummeln, schnauben durch die Nüstern,
sie kreisen langsam, fast entspannt.
Sie sind die Normalen. Entspannung fällt in M hinein, schrumpft in der Zeit, die das Anzünden eines Streichholzes benötigt, auf die Größe eines Stecknadelkopfes, aus dem die wilde Jagd hervorprescht, dicht an dicht, die andern scheuchend, bis alles sich im Riesenwirbel dreht, ein Panoptikum der Beklommenheit. Ein Pandämonium gepresster Herzen. Die Guten sind die Guten nicht, die Bösen nicht die Bösen. Panik ist pferdeartig, ihr Hufschlag dröhnt weit.

Es ist das Herz, alter Esel, es rast ein bisschen, wenn er aus dem Schlaf kommt, dort liegt die Tablette, die unermüdliche Ama hat ein Glas Wasser danebengestellt, er muss es ihr danken. Bemerkenswert bleibt sie dennoch, die Pferdekonstanz. Es ist nicht das erste Mal, dass ihn die Houyhnhnms besuchen kommen. Damals war er ein Kind und sie kamen im Traum. Sie brachen flammend aus dem Bild über dem Bett seiner Eltern hervor und ›um ein Haar‹ wäre er unter ihre Hufe gefallen. Nur der rasche Griff zum Lichtschalter hat ihn gerettet. Das war eine Hatz. In jener Nacht fürchtete er sich sehr. Jetzt also sind sie wiedergekommen. Ein zweifelhaftes Glück. Für Furcht ist er zu alt. Zu zerfurcht, zu verschlissen. Vielleicht sind sie gekommen, dir Dank abzupressen. Schuldet er ihnen Dank? Ausgemacht ist das nicht. Ganz und gar nicht. Da ist kein Dank in dir. Er möchte diese Bilder auflösen, zerstreuen, von der Tafel wischen, aber der Oberlehrer lässt es nicht zu.

Hörst du die Katarakte?
Sie schlagen an die Tür.

Amalfi
6
Heimsuchung (2)

Autostrada Firenze Mare. Nacht. M, lichthupenscheu, lenkt auf die rechte Fahrspur, ein Pulk schwarzer, scharf geschnittener Alpha-Limousinen zischt vorbei, hinein in den nächsten Tunnel, fahl ausgeleuchtet von schmutzig-gelben Lampen, die in kleinen Käfigen stecken, offenbar aus Angst davor, sie könnten sonst auf eigene Faust das Weite suchen oder das umherfliegende Wrackteil eines explodierenden Fahrzeugs könnte sie einfach von der Wand wischen. M läuft auf einen langsam fahrenden Lkw auf, dessen linke Rückleuchte ›den Geist aufgegeben‹ hat (welchen Geist?), die rechte glimmt versonnen, als habe sie vom Geschehen der Straße Abschied genommen und wolle auf ihre alten Tage mit den Glühwürmchen schwärmen, allein der Ruß, der in unregelmäßigen Stößen aus dem Auspuff quillt und das Kennzeichen (Osten!) fast zugesetzt hat, macht ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Rechts ist kein Heil, beschließt M, er setzt den Blinker und reißt den schweren Wagen in die linke Fahrbahn hinein, da wird ein Plätzchen frei sein für einen verdienten Genossen –
Die Bruderschaft der linken Spur kennt keine Gnade.
Jetzt ist er Wolf unter Wölfen.

Warum zum Teufel träumt einer wie er diesen schrillen Stuss? Einzige Antwort: Er ist wieder da. Der flammende Lichtstoß, das Aufheulen der Sirene, das Warten des Körpers auf den Knall, der Tanz in die nächste Kurve, das tiefe Grollen der langgezogenen Röhren, das Fauchen der kurzen – keine dieser zutiefst geistlosen Sensationen der Westwelt ist vergangen, sie addieren sich, sie schlummern tief in den Nervenbahnen, die Muskulatur geht mit, sobald die Gespenster erwachen.

Ama, heilige Witwe, Pflegerin aller Waisen, Beglückte der Schöpfung, steh mir bei in der Stunde der Überrumpelung durch die Kirmes, die sich durch diesen Körper gefressen hat und ihn, Zelle für Zelle, zersetzt, ich spende dir eine Kerze und verspreche ein stilles Gebet, Leuchtrakete meines metaphysischen Begehrens, alles zu seiner Zeit, aber jetzt: Wehre den Anfängen!

Ama wacht
Amalfi
7
Heimsuchung (3)

  • ―Vergessen Sie nie, Genosse, was dieser Staat für Sie getan hat.

Falsch, Genosse, ein Staat, der seine Bürger anhält, sich für seine Wohltaten erkenntlich zu zeigen, hat etwas gründlich missverstanden. Oder, da der Staat nun einmal weder denkt noch fühlt: er ist auf Sand gebaut. Der Staat ist die Summe der Leistungen seiner Bürger. Dafür schuldet keiner Dank. Wer’s trotzdem versuchen will – bitte sehr, es ist ein schöner Zug und niemand sollte ihn vereiteln. Aber Zugabe ist und bleibt es, ein opus supererogatum. Wer das nicht weiß, der hat das kleine Einmaleins des Staates nicht begriffen. Allen Grund, seine Bürger zu ehren, hat bloß der Staat, allein um zu zeigen, auf wessen Knochen er sich erhebt.

Denkt M an seinen Staat, dann fühlt er sich als der Verworfene, der zum Eckstein wurde. Allerdings erst, nachdem das ganze Bauwerk bereits hörbar zu bröckeln begann. Noch immer kann er prachtvoll grollen wie der vom Griechenheer auf Lemnos ausgesetzte Philoktet, als Neoptolemos und Odysseus ihn holen kommen, weil das Orakel verfügt hat, dass ohne ihn es keinen Sieg vor Troja geben wird. Gezwungen habt ihr mich und Gezwungene kehrt ihr wieder. Soll dieser Staat, den ihr begannt und der zerfällt, bevor er reift, in den Gehirnen sich vollenden, so braucht ihr mich. Mich hassend hievt ihr mich ins Amt. Da liegt der Quell, aus dem die Verse fließen. M weiß nicht, ob er sagen kann – wie jener andere –, ›es ist vollbracht‹, gedacht hat er in anderen Fristen, die schwärende Wunde hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und jetzt liegt er hier, Endstation mare nostro, auch das ein Scherbenhaufen vor der Geschichte, Müllplatz Euro im brechenden Blick.

  • ―Komm her, Ama, ich will dir was über diesen Staat erzählen…
  • ―Schon wieder? Lass mal, ich hatte Verwandte drüben.

DDR-Geschichten prallen an Amas Art ab. M bewundert sie dafür, da es ihm schneidend zu Bewusstsein bringt, wie umfassend sein Witz aus diesem Fundus schöpft. Der getilgte Staat ist sein Doppelgänger, verlässt ihn sein Schatten, verlässt ihn auch Musa, die Eisprinzessin mit dem stählernen Herzen. Klingt es nach Abschied, ist es doch für immer. Ama, die das rostige Datum des Mauerbaus nicht wirklich parat hat und den siebzehnten Juni für ein Kuriosum aus dem Heiligenkalender hält, hält sich an das Fertigprodukt M und verachtet den Herstellungsprozess, den es durchlaufen musste. Eine narzisstische Kränkung, sicher. M nimmt sie aus ihrer gebenden Hand entgegen wie ein schickes Lederetui, in der nicht unbegründeten Hoffnung, mehr als einen Ausgleich darin zu finden. Ausgleich für ein erlittenes Leben? Was soll das sein? Das Geheimnis des Ausgleichs ist, dass er sich nicht vergleicht. Ausgleich füllt die Scheuer im Nu.

Als der Staat über sie hereinbrach, der kälteste aller Kaltblüter, siehe, da war er ganz der alte, gehüllt in ein Meer aus jungen Fahnen, und alle wussten es und sangen Hosianna. Und er sprach mit scheppernder Stimme (mit der Technik haperte es in jenen Tagen): ›Wer nicht für mich ist, der ist wider mich und ich zerschmettere ihn, denn er ist Stoff vom alten Stoff und ein Parteigänger meines Vorgängers, welcher der satanischste war von allen. Hosianna.‹ Denn der neue Staat gehörte, auch in diesem Punkt ganz der alte, der Partei. In den einsamen Stunden seines verdämmernden Geistes überlegt sich M, wie oft er in seinem Leben Verrat geübt hat. Aber er findet keinen Anhaltspunkt. Der Ur-Entscheidung zum Verrat blieb nichts hinzuzusetzen. Der Verräter ist der Kumpan des totalen Staates, welcher die Hure ist der absolut gesetzten Partei. Die Verteidigung der Spielräume beginnt auf dem Theater und als einzige Waffe im Kampf zählt das Spiel. Wenn das Spiel beginnt, sitzt die Partei im Zuschauerraum, dort, wo die Toten sitzen und gierig dem Wunder der aktweisen Auferstehung ihrer Lieblingshelden entgegenschlottern. Und wenn sie nun sängen? Aufhören! Niemand schreibt für die Oper. Dort herrscht Gesang. Niemand zu sein ist ein zeitfüllender Beruf.

Was auf der Bühne erwacht, ist schon Bürger. Auf der Bühne erhebt der Verrat seine Stimme und sorgt dafür, dass der Bürger schlecht wegkommt. Mehr drin war nie. Kann, was damals recht war, heute unrecht sein? Wenn er eine Säule des Systems war, überlegt sich M, wer war dann Herkules, der es zum Einsturz brachte? Der KGB? Der KGB! Aber in ihm, M, war dieses System immer schon eingestürzt, die Säule geborsten, das Dach in tausend Splittern verstreut, die rötlich aus den tauenden Wiesen blinkten. Die tauenden Wiesen haben es überlebt.

Amalfi
8
Ein Fest

Das bucklige kleine Auto kommt die Straße heraufgekrochen. Es ist himmelblau und hält vor der Kirche San Giorgio Superiore. Das Bimmeln des Totenglöckchens, hektisch, kein Ende findend, als stürze es direkt aus der Vegetation heraus, unter dem brütenden Himmel, und unterbräche den Niemandsschlaf. Ist das das brausende Leben, denkt es in M, es denkt immer mehr in diesen Tagen, als habe es sich seines Denkapparates bemächtigt, nachdem er selbst so dürftigen Gebrauch davon macht. Dafür also –? Dafür also bist du hierhergekommen? Nein, bist du nicht. Du bist hierhergekommen, weil du dich von deiner Sendung hintergangen fühlst. Du bist hierhergekommen, weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, dass dein Leben zwischen Urin und Schmerzen zerläuft wie das jedes anderen auch. Und doch ist es die Wahrheit. Du bist hierhergekommen, um dir das zu holen, was dir die Sendung versagte: das pralle Leben, auf das du plötzlich ein Recht verspürst, das Recht zu leben wie jeder andere auch, ein schales Recht, aber unabweisbar.
Nein Genossen, ich bin kein Sinnsucher. Ihr habt den Sinn des Lebens gefunden und ich bin der Letzte, ihn euch streitig zu machen. Ehre, wem Ehre gebührt. Ich bin dieser Sinn. Ich sage euch täglich, wie sehr ihr ihn verfehlt. Eure Aufpasser spitzen die Lauscher und bemühen sich, dem düsteren Fluss meiner Rede einen Sinn abzugewinnen. Aber es gelingt ihnen nicht. Es gelingt euch nicht. Ist das nicht komisch? Ist das nicht herzzerreißend komisch? Irgendwie schon. Ama weiß, dass ich ein Langweiler bin, dafür schätzt sie das Prestige. Alle Kultur ist langweilig. Man hat sie beiseite geräumt wie einen Haufen welker Blätter. Kultur braucht niemand. Die Niemande des verschwundenen Landes, ich kannte sie alle. Heute – sind sie jemand. Das Verschwinden hat für sie Sinn gemacht: Stroh zu Gold. Und ich? Ich, das Rumpelstilzchen, das ihnen alles beigebracht hat, leer, unfassbar leer, ich habe den Teufel im Leibe, den Engel des Abfalls, den wir lange für den der Geschichte hielten, mit düsterer Kohle an eine Backsteinfassade geschmiert, zu seinen Füßen der Müll der Stadt.
An der Spitze der Nahrungspyramide erscheint der Abfall und tönt: Ihr alle seid Abfall. Die Geschichte hat euch angeschwemmt und da fault ihr vor euch hin. Wer gibt dem Abfall Gehör? Niemand. Und wieder sind es die vielen Niemande im Lande, die, mit der Botschaft hinter der Stirn, darauf warten, dass ihre Stunde anbricht. Fürchtet die Niemande! Ich bin kein Niemand. Meine Stunde ist gekommen. Lebend gelingt es mir nicht zu leben. Das ist komisch und dafür brauche ich die Bühne, die heute Ama heißt und morgen vielleicht… Was, wenn ihr ein Unglück passiert? Was, wenn sie einfach verschwindet? Und verschwinden wird sie. Warum gerate ich an dieser Stelle in Erregung? Ich hätte Filme drehen sollen. Über die Felsen hinab in Meer. Der reine Filmtod. Ästhetik des Klassenfeindes. Auf der Bühne gibt’s keine Cabrios und keine Klippen. Da verunglückt der Mensch als solcher. Ama, bist du da? Vielleicht bekommen wir PostPest.
Ich werde das Leben beschließen wie ein Bürger: liegend, zwischen Kissen. Wir alle sind am Ende das, was wir abschaffen wollten: Gesetz des Werdens. Du kommst mit einer Sendung zur Welt und wenn du’s weit bringst, bekommst du eine Sendung. Ich will das nicht kritisieren, aber ich kann so nicht leben. Du wolltest die Siegel brechen und jetzt brechen sie von allein. Der Rassismus ist das Schicksal des Kontinents. Die Weißen werden die Weißen zu Aussatz erklären, sobald sie nichts mehr zu erklären haben. Sie werden sich abschaffen wollen, um endlich herauszubekommen, wer sie sind. Siehe, die Zeit ist nahe. Wenn ich gehe, werde ich nichts versäumt haben. Dafür weiß ich nicht, was an mir versäumt wurde. Wo der Mensch ganz Tier ist, da ist sein Los das Injekt. Der tödliche Schuss und das heilende Serum stammen aus einem Lauf. Ich bin nicht der erste, der so denkt, ich hole nur auf. Nimm das Heil aus der Welt und du erhältst eine Inflation der Heiler. Ob sie dich wegputzen wollen oder den tödlichen Keim, tut nichts zur Sache. Die Biologie hat den Menschen weggeschafft, der den Unterschied machte. Es steigt eine Generation von Juristen in die Roben, die vom Menschen nichts weiß als das, was Regierungen mit ihm machen. Auflehnung ist das ultimative Verbrechen der Zukunft. Du bekommst den Schuss gesetzt und weißt nicht, was er bedeutet. Du kannst gleich sterben oder in zwei Wochen oder in fünf Jahren. Einen erkennbaren Zusammenhang wird es nicht geben. Sie werden es mit allen versuchen. Was sind schon planetarische Säuberungen gegen die Säuberung des Planeten? Sie werden das Denken zur Verschwörung gegen Mutter Erde erklären und streng verfolgen. Die Verfahren sind erprobt, nur die ultimative Begründung fehlte bis jetzt. Der Klassenfeind war immer ein Witz, wenngleich ein tödlicher. Wenn die Mittel zur terrestrischen Tyrannis bereitliegen, dann wird auch die terrestrische Tyrannei nicht auf sich warten lassen. Mit mir stirbt der Mensch. Ich weiß nicht, wie viele das von sich sagen können. Ich weiß nicht, in wie vielen der Mensch stirbt und werde es niemals wissen. Dort, wo ich stehe, ist das auch gleichgültig. Aber ich stehe ja nicht. Ich liege. Ein kleiner physischer Defekt löscht mich aus. Ich weiß so wenig, wie er in mein Gewebe kam, wie ich in das Gewebe kam, das sie Gesellschaft nennen. Ich habe den Schuss nicht gehört. Ich will nicht sterben, so über den Rand gedrängt.

Amalfi
9

So denkt es in M. Es ist ein langsamer, zäher, sich verdickender Fluss. Sein Kopf liegt schief und hängt ein wenig über den Sofarand hinaus. Auf einer anderen Etage dessen, was andernorts altmodisch Bewusstsein heißt, besteigt er, Ama an seiner Seite, das Luxus-Cabrio und steuert es hinaus, der Sonne, den Klippen, dem Meer und dem ungeheuren Verkehr entgegen, der ihn aufnimmt, als habe er ihn schon immer erwartet.

 

Fahr hin, Würde!

Das Angebot
1

Die Prorektorin für Forschung und Lehre kommt vom Rosinenpicken. Ihr Haar ist sorgfältig onduliert, ein silbriger Schimmer, dem Grau der Fensterperspektive entwendet, liegt darauf, als handle es sich um eine Figur von Vermeer, während ihre Haare sonst kurz und struppig nach oben streben. Selbst die übereinander geschlagene Strumpfhose verströmt einen seidigen Glanz, so dass sich Leckebusch unwillkürlich fragt, ob all dieser Aufwand wirklich ihm zuliebe betrieben wird oder ob die Lady sich auf dem Weg zu einem wirklich wichtigen Termin befindet. Im Vorfeld hat es einigen Rumor gegeben; offenkundig hat das Rektorat in seiner Causa das Ministerium kontaktiert. Oder das Ministerium hat sich eingeschaltet, nachdem die Sache durch die Medien ging und die größte Oppositionspartei eine kleine Anfrage im Landtag lancierte … noch immer hat die Datenlage sich nicht verfestigt – Wie auch? fährt es höhnend durch Leckebuschs kaleidoskopische Gedankenwelt –, vielleicht bringt die Prorektorin da neue Nachricht. In diesem perlenden Licht scheint vieles möglich. Ozeanriesen legen ab und verschwinden in den Weiten der Meere – jedenfalls für die minderen Sinne, denn natürlich ist die Überwachung lückenlos. Ein richtiges Dickschiff, durchfährt es Leckebusch, ist aus seiner Causa inzwischen geworden. Man weiß nicht, in welchem Auftrag es unterwegs ist, die Papiere geben den Zweck der Reise nicht her. Offiziell dieselt es unter einer Billigflagge. Aber das ist natürlich Maskerade.

Das Angebot
2

Die Prorektorin zeigt leise Zeichen von Ungeduld. Gut macht sie das, durchfährt es Leckebusch, verglichen mit ihren Anfängen, die noch nicht lange zurückliegen: an der gekonnten Verknappung der Zeit erkennt man den Machtinhaber und wenn diese Funktionsstellen bis gestern ein Hauch von Opfergang umschwebte, weil sie von den wichtigeren, in Forschung und Lehre lauernden Aufgaben abhalten, so hat sich das an der im Zeichen der Emanzipation stehenden Karriere-Universität andeutungsweise bis deutlich geändert: ganz deutlich in der Pyramide, doch merklich auch hier, wo das ältere Gemäuer einen gewissen Schutz gegen den Zeitgeist verspricht, ohne das Versprechen wirklich halten zu können. Die Art, wie sie sich zu ihm niederlässt, erlaubt keinen Zweifel daran, dass sie sich als Höhergestellte betrachtet, quasi als Weisungsbefugte – was so natürlich Quatsch ist, aber als Aura eine gewisse Kraft zwischen ihnen entfaltet. Leckebusch ist erfahren genug, um innerlich darüber zu lächeln, anders als über die Causa, die sie zusammenführt, immerhin nimmt er bereits, wenngleich ohne durchschlagenden Erfolg, seit Tagen Magentabletten. Die Prorektorin wiederum überspielt ihre Unsicherheit. Leckebusch durchfährt der Verdacht, ein Großteil ihrer Amtsführung könnte darin bestehen, ihre Unsicherheit zu überspielen, und in diesem Fall… Bis vor wenigen Wochen hätte Leckebusch, der überaus einflussreiche Leckebusch, in diesem Gespräch das Sagen gehabt und sie wäre mit einem Gefühl der Erleichterung davongegangen, aber auch mit einem nachruckelnden Zweifel, ob sie denn auch die Probe bestanden hätte. Diese Unsicherheit dagegen ist nicht zu knacken, sie hat um die Person einen Panzer gelegt, die zweite Haut einer neuen Professionalität, die mehr das Selbst zur Geltung bringt als die Handlungen, aus denen sich Professionalität gewöhnlich zusammensetzt. Einen Moment lang legt sich Leckebusch die Frage vor, ob die Konstellation eine wesentlich andere wäre, säße an seiner Stelle eine Kollegin –: Bitte nicht diese Komplikation, nicht jetzt! Er wird seinen Kopf noch brauchen. Außerdem steht seine Männlichkeit zur Verhandlung an, da wäre es unprofessionell, auf solche Gedankenspiele auszuweichen.

Das Angebot
3

Diese Professionalität der zweiten Art … wie soll man sie nennen? Geschäftig? Mag sein. Aber es trifft die Sache nicht wirklich. Auch der Gedanke an einen Schutzpanzer führt in die Irre, denn er suggeriert Unnahbarkeit – die Unnahbarkeit der Kommissarin, altes Bild, kulturell tiefgeprägt –, während hier mehr Schauspielerei im Spiel ist: nicht souverän, nicht bühnenreif, sondern notgeboren, ja sicher, irgendeine Not bedeckend, sie dabei ausstellend, nein, zur Geltung bringend … ja sicher, das ist es, die Not ist in diesen Auftritt hineinkomponiert und verlangt Schonung – keine Schonung, wie sie Kranken gebührt, sondern eine dem Amt geschuldete … einerseits, andererseits aber der Person, die ein aggressives Recht darauf beansprucht, es auszufüllen, wobei diese Aggressivität weniger von der Person ausgeht als von einer beschützenden Aura, hinter der sich der gesellschaftliche Wille verbirgt, das hier durchzuziehen – als besitze Gesellschaft einen Willen! Das ist natürlich Nonsens, Gesellschaft ist Gesellschaft, das hier ist die Gesellschaft in der Gesellschaft, die Gemeinschaft der Geltungsträger und -durchsetzer, Okkupanten der volonté générale oder einer modernen Abart dieser merkwürdig zwischen Volkswille und Terror changierenden Instanz, die beschlossen hat, dass Geschlecht auch eine Qualifikation ist und es dem Amt obliegt, sich zu bewähren. Das Amt, was sagt das Amt dazu? Es duckt sich, wie es scheint, für einen Augenblick kommt es Leckebusch so vor, als treffe ihn ein stummer Hundeblick, aber das ist sicher den Nerven geschuldet, denn das Gespräch, das langsam in Fluss kommt, zeigt ihm eines: hier geht es nicht darum, Positionen auszutauschen oder auch nur Fakten richtig zu stellen, sondern zu realisieren, wie es um ihn steht und welche Optionen ihm hier und jetzt zur Verfügung stehen. Leckebusch ist verdutzt, das Tribunal, mit dem er irgendwo gerechnet hat, in dieser handlichen, jedes Pathos im Ansatz erstickenden Form vorzufinden: weder Büchners Wohlfahrtsausschuss noch Kafkas Gericht, sondern … aber sicher, Frau Kollegin, gewiss, Frau Kollegin, das scheint mir auch so, wenngleich…

Das Angebot
4

Weiß die Prorektorin, worum es geht? Dumme Frage, natürlich ist sie orientiert. Aber weiß sie wirklich, worum es geht? Er könnte es ihr berichten, in ein paar Sätzen, von Mensch zu Mensch, von Kollege zu Kollegin, vorausgesetzt, sie wäre an dieser Art Wissen interessiert. Ihr zur Schau getragenes Bescheidwissen in dieser Sache kommt ihm vor wie ein Passepartout-Wissen, mit dem sie der Welt der Männer begegnet, ein wissendes … nein, nicht Lächeln umkräuselt ihren Mund, ein Was-auch-immer, gegen das anzureden aussichtslos ist. Und weiß er wirklich, was ihm da widerfährt? Er hält es für Unrecht, das ist sein gutes Recht, selbst die Prorektorin setzt es als gegeben voraus, aber ebenso als gegenstandslos, weil es im Universum der von ihr vertretenen Tat-Sachen nicht vorkommt, aber die volle Wucht der Verdächtigung geht an ihm vorbei, sie trifft ihn nicht und sie kann ihn nicht treffen, weil … weil…

Und während sie da sitzen, geht es ihm auf: weil in ihr nichts weiter am Werk ist als dieselbe Kraft der Negation, die ihn an Elisabeth nach seiner Rückkehr so faszinierte – als habe sie von Anbeginn der Ehe, nein, vom Urbeginn ihrer Geschlechtlichkeit an, darauf gewartet, sie in dieser Explosion zu pulverisieren. Das Ende der Beziehung ist kein privater, sondern ein gesellschaftlicher Akt. Diese Prorektorin, was geht es sie an, wie es um seine häuslichen Verhältnisse steht? Welcher Paragraf in welchem Gesetzbuch verbietet es ihm, mit einer jungen Frau eine Nacht zu verplaudern? Keiner, doch darum geht es nicht. Worum dann? Um das Recht der Frau, an dieser Stelle die Austaste zu drücken, so lange, bis der Mann das Haus verlassen hat, um sich nie wieder blicken zu lassen, denn ohne diesen Rauswurf bliebe die Beziehung ewig unvollständig. Die Universität legt ihm Handschellen an, das ist absurd, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn die Universität ist in diesem Falle nur ausführendes Organ. Der Wille, der wirkliche Wille sitzt ihm gegenüber, in Gestalt einer unscheinbaren Frau, die das Ganze nichts angeht, nichts anginge, hätte sie sich nicht eingeklinkt in den Kraftstrom, in dem seine Ehe gerade zergeht, indem sie das Unerhörte dessen, was er sich erlaubt hat, von Amts wegen bis zum Maximum steigert.

Und nun, da der Groschen gefallen ist, ist es ihm lieber, viel lieber, dass ihm eine Frau gegenübersitzt und kein Mann, aus dessen Mund jedes Wort nur eine Gemeinheit wäre und sonst gar nichts, eine Schäbigkeit ohne Ende, verziert mit Hohn. Das hier ist unglaublich, aber es bleibt dem Chor der Weiber verbunden, der aus den ältesten Texten der Antike herüberschallt, es ist europäische Substanz, von der es sich nährt, und insofern … gerechtfertigt? So weit möchte er dann doch nicht gehen.

Das Angebot
5

Sie ist gegangen, nichts hinterlassend außer dem Namen einer Organisation, einer Nichtregierungsorganisation, um genau zu sein, denn das war ihr Auftrag, mitsamt Kontonummer und Codewort, er werde damit leicht zurechtkommen, nun, da der Deal erst einmal getätigt sei – nein, sie erwähnt das Wort ›Deal‹ nicht, es scheint in ihrem von korrekten Gedanken erfüllten Gehirn nicht vorzukommen –, für das Rektorat sei die Sache abgetan, sobald die erwähnte Summe überwiesen sei, er habe auch weitere Behelligungen nicht zu fürchten, auf dem Campus nicht und – vermutlich – nicht der Öffentlichkeit (aber das liege schließlich irgendwie an ihm). Punkt. Im übrigen müsse sie ihn jetzt leider alleinlassen – ein Termin, er wisse schon, heute sei es wieder arg. Sie wünsche ihm noch einen schönen Tag.

  • ―Wir haben irre viel zu tun im Moment.

Aber sicher. Das wissen wir doch.

Dein Hirn brütete nicht,
was du vollbracht.

Er ist ein wenig betäubt, der Gute. Er hat sich bereit erklärt, was hätte er sonst tun sollen, aber wenn er ehrlich sein müsste, so wüsste er noch immer nicht, wer ihm den Streich gespielt hat, denn ein Streich ist es, das fühlt er wohl.

SPENDE DICH FREI

So steht es unsichtbar, aber nicht minder wirksam in den Statuten der sanften Erpresser-Organisationen, die in den letzten Jahren wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden wuchsen. Sie arbeiten hart daran, die Welt zu retten, man munkelt, die Regierungen schöben ihnen für ihre Aktivitäten beträchtliche Summen in die Taschen. Die Welt muss in vielerlei Betreff gerettet werden. Wer sich in die Netze der Retter verirrt, der muss bluten oder zahlen. Das ist ganz natürlich, da freut sich die Referentin, die das einfädeln durfte: wieder kann der Planet fünf Minuten durchatmen, bis der nächste Fall anliegt. Schade, er, Leckebusch, wird die zuständige Referentin, die sich das ausgedacht hat, nicht zu Gesicht bekommen, was nützt es, die Phantasie zu vergiften? Der Preis ist beträchtlich, aber bezahlbar. Elisabeth, davon geht er aus, wird die Überweisung – Trennung hin, Trennung her – nicht unentdeckt bleiben. Was soll er sagen? Vorerst nichts.

Nichts gezögert! Rasch gezahlt!

 

Wirklich ist nur das Absurde

Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
1
Aussicht ©US
Wie wirkt die Tatsache, dass Elisabeth gegangen ist, sich auf die Psyche des Mannes Leckebusch aus?

Die Psyche des Mannes Leckebusch setzt Elisabeths Abgang keinen Widerstand entgegen. Das erstaunt den Mann Leckebusch, der sich vor dieser Szene lange in abstracto gefürchtet hat.

Elisabeths Abgang ist nüchtern, verständig und bestimmt: Leckebusch stellt fest, dass er selbst die verantwortungsvolle Aufgabe nicht besser hätte angehen können. Das beruhigt die Psyche des Mannes, der zufällig seinen Namen trägt, da es ihm einige praktische Fragen, das künftige Leben betreffend, mit seiner abgehenden Frau zu besprechen erlaubt.

Selbstverständlich ist er der ausziehende Teil.

  • ―Bestellst du mir einen Spediteur?
  • ―Schon erledigt.
  • ―Ach. Konntest du ihn herunterhandeln?

Das Herunterhandeln, fixe Idee, verbindet sich unmittelbar mit der Vorstellung effizienten Wirtschaftens, also der Tätigkeit, die Elisabeth in seinen Augen vorbildlich beherrscht. Ihren Rat wird er weiterhin brauchen, davon geht er in Augenblicken wie diesem aus.

Im Augenblick ist er die Ruhe selbst. Dass seine Hände zittern, registriert er mit der stillen Verwunderung eines Säuglings, der seine Extremitäten zu entdecken beginnt.

Er entdeckt die Freiheit des Kopfes; ihr ergibt er sich willenlos.

Eine willenlose Freiheit ist eine überraschende Erfahrung. Darüber wird er nachdenken lassen.

Freunde haben ihm die neue Bleibe besorgt: ein verträumtes, windschiefes Fachwerkhäuschen, gleich neben einer Ausfallstraße gelegen, auf der Schwelle zwischen Stadt und Land, den erreichten Ausnahmestatus sichtbar allen anzeigend, die an seinem exzentrischen Dasein Anteil nehmen. Groß genug, um den aktiv benützten Teil seiner Bibliothek aufzunehmen.

Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
2
Aussicht ©US
Die neue Bleibe –

das sagt sich so leicht, aber eine innere Stimme sagt Leckebusch, sie werde nicht von Dauer sein. Das Verstörende daran ist die innere Stimme. Er kann sich nicht daran erinnern, jemals Stimmen gehört zu haben, es sei denn, sie kämen ordentlich durch den Gehörgang, wie es sich gehört, mit Ausnahme der Stimme der Pflicht, die überall und zu jeder Zeit sprechen kann, aber dann durchs eigene Sprechorgan: auch darin liegt, wie in allem Sprechen, etwas Geheimnisvolles, aber der Mensch gewöhnt sich daran, schließlich unterscheidet ihn das vom Vieh.

Die innere Stimme, Leckebusch hört sie neuerdings überall. Sie erhebt sich, wann immer er die neue Bleibe betritt: ein Schwirren, ein Wispern, ein Tuscheln, ein Räuspern, ein Zischeln – wüsste er nicht, was der Ausdruck meint, er würde das Phänomen als Tinnitus deuten, aber das hieße, die neue Realität einem krassen Fehlurteil opfern, und noch immer liegt ihm an Urteilen.

  • ―Das hier, Dame, ertrag ich nicht.

Du musst die Betonung ändern, zieht es ihm durch den Kopf, das ›Hier‹ stärker artikulieren, nicht ganz so stark, dass ein ›Hier und Jetzt‹ daraus würde, davon ist schließlich nicht die Rede, nur das reine Hier wäre hier gefragt, wenn von Gefragtsein überhaupt die Rede wäre, das reine Hier und sein Ich, der Philosoph Leckebusch, der Mann Leckebusch, würde ihr Therapeut ihm jetzt suggerieren, doch diese Erinnerung versucht er so rasch wie möglich aus dem Bewusstsein zu drängeln – es sollte über kurz oder lang der reinlichen Stube ähneln, die er neuerdings sein eigen nennt und in der nichts an die elegante Wohnung erinnert, die Elisabeth jetzt allein mit ihrer Tochter bewohnt. Was so nicht stimmt, denn allein ist er, und das nicht bloß deswegen, weil sie, im Unterschied zu ihm, zu zweit sind.

Geh, schwirrt die Stimme, in die Küche, öffne den Brotkorb und streich dir ein Brot. Irgendetwas wird im Kühlschrank vorrätig sein, das sich herausholen lässt. Etwas musst du herausholen, dieser Drang beseelt dich wie irgendeiner, wann jemals fühltest du dich annähernd so beseelt? Es sind die simplen Handlungen, die das Leben lebenswert erscheinen lassen, diese gehört dazu (oder auch nicht). Die Küche ist der Ort, an dem du dich von deiner neuen Bleibe erholst. Weitgehend funktional, ein wenig zugestopft, wie Elisabeth sagen würde, stellt sie keinerlei Ansprüche ans ästhetische Gemüt. Elisabeth ist die erklärte Feindin aller Verstopfung, nur seine hat sie nicht meistern können. Sollte ihr beiderseitiges Verhältnis an der Einseitigkeit seiner Verstopfung zugrunde gegangen sein? Falsch, Leckebusch, ganz falsch.

Was braucht der Mensch ein Verhältnis, wenn er verheiratet ist? Noch weiß Leckebusch sich verheiratet.

Auf dem Meeresgrunde
da drehten wir eine Runde.

Trouble inside.

Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
3
Aussicht ©US
Unter Verstopfung leidet Leckebusch, soweit er zurückdenken kann

Mit dieser Partnerschaft geht es ihm wie mit der, die der Tod mit ihm unterhält: selten aufdringlich, stets einseitig. So oft er es auch versuchte, sie lässt sich nicht abschütteln. Denn eigentlich hat er nichts ausgelassen: Diät, Bewegung, Abführmittel-Geheimrezepte, regulären medizinischen Rat und die irregulären Künste der Heiler, die im Untergrund über die Krankheiten des Volkes herrschen – sie alle, vor das Mysterium seines Verdauungstrakts gestellt, haben einfach versagt. Der Darm ist die Sphinx hat er einmal in eines seiner Arbeitshefte notiert. Das war vor dem Computer-Zeitalter, nicht einmal in die Schreibmaschine hat die Notiz es geschafft. Sie blieb einfach liegen, ein Relikt aus der DDR-Vergangenheit, in der seine literarischen Freunde sich reihenweise an antiken Stoffen versuchten.

Könnte sein, dass die Sphinx ihn jetzt überwältigt. Er hat seine Nahrungsaufnahme nicht im Griff, soll heißen, er ist im Begriff, unter die einfachen Karnivoren zu sinken, er stopft, um der Verstopfung Paroli zu bieten, das ist zwar widersinnig, aber es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die … wohin verirrt sich die Sprache? Was fällt ihr ein?

Was soll ihr schon einfallen, wenn die Zügel schleifen? Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Stimmt das? Müsste es nicht doch heißen: ›der Traum‹? Auch dieses Mal wird er das Rätsel nicht lösen, das an der Grenze zweier Sprachen aufsprang, am Übergang zweier Plattensysteme, durch Reibung, wie alles im Leben des Geistes? Alles, was schläft, träumt – läge da die Lösung? Nein, sagt die Psychologie, stimmt nicht! Aber vielleicht trifft nicht sie die Wirklichkeit dieses Satzes, ganz sicher nicht, der Schlaf der Vernunft fällt nicht in ihr Arbeitsgebiet, andere Disziplinen sind da gefragt, schlafende möglicherweise, also vielleicht gerade jene Ungeheuer, von denen der Künstler träumte, ohne sie anders als in den hergebrachten emblematischen Tieren darstellen zu können … er muss sich verständlich machen, der Künstler, also erschafft er Ungeheuer und hofft, die Menschheit werde verstehen: die irrende Hoffnung, Elpis, ist es, die auf seinen Blättern die Linien zieht, verflüchtigt sie sich, ist es aus mit der Kunst und andere Organe, ein Darm zum Beispiel, übernehmen das Kommando.

Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
4
Aussicht ©US
Der abservierte Mann ist der beste

Irgendwie gleichen sich alle abservierten Männer. Sollte das eine Feststellung sein, so scheitert sie selbst umgehend am Irgendwie. Nichts in diesen Breiten ist festgestellt, da kommt es auf einen aus der Reihe tanzenden Mann mehr oder weniger auch nicht an. Der abservierte Mann ist der belanglose. An ihrer Belanglosigkeit sollst du sie erkennen, in ihr gleichen sie wie ein Ei dem anderen. Einen Leckebusch serviert man nicht ab, einfach nicht und auf die komplizierte Tour auch nicht. Wenn er das Geschehene erträgt, dann, weil er außer sich ist: im Zustand des Außer-sich-Seins. Leckebusch kann sich nicht erinnern, diesen Seinsmodus jemals behandelt zu haben. Konnte er ihn übersehen haben? Die Welt ist das Außer-sich des Gottes: liegt da der Hase im Pfeffer? Die letzte Scheu? Nun, er muss sie wohl ablegen, jetzt, wo es ans Überleben geht.

Der abservierte Mann ist der Überlebende der Beziehung. Wenn die Beziehung das Haus war, in dem er täglich ein und aus ging, in dessen Schatten er seine Hände wusch und seinen Schlafanzug hervorkramte, wenn es Nacht wurde, dann ist es offenbar über seinem Kopf zusammengefallen und er kann von Glück reden, dass ihn keines der Trümmer erschlug. Er will aber nicht von Glück reden, so nicht und jetzt nicht und überhaupt, es hat ihm die Sprache verschlagen und seine Sinne betasten die Nacht, die so unvermittelt über ihm aufzog, am hellen Vormittag, ganz wie dem tollen Menschen Zarathustras.

Meinen zarten Astralleib zu schützen,
begab ich mich in die Hände von Toren.

Der Klang der Kirchenglocken, gleich nebenan, prügelt ihn fast aus dem Gehirn.

 

Drehte er aber sein Hütlein und sagte ihm, wohin
die Reise ging, so war er im Nu dort

Sechse kommen durch die ganze Welt
1

Siehst du, sagt Iris, Leckebusch ist nicht zu packen. Ein zäher Hund, mit allen Wassern gewaschen, man weiß nur nicht, wofür. Jetzt hat er seinen Fernsehauftritt, er hat ihn gehabt, was einen Unterschied darstellt wie der zwischen Tinte und Brause, er geht zufrieden nach Hause und fragt sich, ob so ein öffentliches Dasein sich lohnt. Nicht des Geldes wegen, das kann er immer brauchen, das Zubrot verschafft ihm Respekt bei der Ex. Elisabeth macht sich nichts draus, sie lacht sogar drüber. Aber es schmeichelt ihr doch. Ja, es schmeichelt ihr, weil sie weiß, dass er ein Wurm ist, ein zäher Wurm, das schmeichelt ihr. Wäre sie anders, hätte sie ihn nicht abserviert, sie hätte ihn laufen lassen, aber nicht abserviert, die Leine immer zur Hand, wie sonst, man weiß nie, wozu so ein Professor gut ist. Hast du sein Zauberhütchen gesehen, die Baskenmütze, schief übers Ohr gehängt? Damit kommt er durch die Welt. Auf diesem Ohr ist er taub. Es ist sein Welt-Ohr. Auf dem anderen hört er alles, er benützt es als Hör-Rohr, um die Verhältnisse zu belauschen. Dieser Mann lebt in Verhältnissen, er lebt nur in Verhältnissen, ich meine, er kennt nichts anderes, und er ist der Fremdkörper in allen. Ein richtiger Fremdkörper, selbst der eigene ist ihm fremd. Er ist ein Körper in einem Körper in einem Körper. Nein, das stimmt nicht, er ist ein Körper in allen Verhältnissen, sie sind ihm alle gleich fremd. Deshalb trägt er die Mütze so schief. Schöbe er sie gerade, erstarrte die Welt. Nicht vor Ehrfurcht, das gerade nicht, auch nicht in der Furcht des Herrn, obwohl er etwas von einem Priester... Hast du das nicht bemerkt? Wo schaust du hin? Ich denke, sie würde der Kälte eingedenk, die sie umgibt, und begänne zu klappern, schutzlos dem Kosmos ausgeliefert, der in ihm kreist. Unser Mann im All, das ist Leckebusch, darauf gehe ich jede Wette ein. Du musst ihn nur hüsteln hören, dann weißt du Bescheid. Kein Mensch hüstelt so. Erst denkst du, er hüstelt geziert, aber das stimmt nicht. Was du hörst, ist das Knattern einer Membran. Leckebusch hüstelt, sobald andere menscheln, das klingt wie ein Reflex, aber es ist nur ein Effekt. Ein Berühr-Effekt. Ein richtiger Raumfahrer verlässt die Erde nicht, er ist immer schon unterwegs. Allein genommen, ist er ein Bote, sobald sechse von seinem Schlag beisammen sind, erlischt das Feuer der Welt.

Sechse kommen durch die ganze Welt
2

Das mag sein, hörst du dich sagen, aber wo war er am elften September 2001, genannt 9/11? Das kann ich dir sagen, sagt Iris, er hat es mir selbst gesagt. Es geht eine Sagerei ohnegleichen um diesen elften September, vermutlich, um das allgemeine Versagen damals zu übertünchen, aber vielleicht ist das nur ein Kalauer. Er saß am Schreibtisch, natürlich saß er am Schreibtisch, und Hölzchen, natürlich Hölzchen, schickte ihm eine Nachricht, kurz und kryptisch, so wie man damals mailte: »NINE-ELEVEN. Schau in den Geschichtsbüchern nach. BREAKING NEWS.«
Sie duzten sich also damals schon: ein nicht unwesentliches Detail. Er, Leckebusch, habe das erst nicht verstanden, aber die Hilfskräfte hätten ihn vor den institutseigenen Fernseher geholt, weiß Gott, warum der bereits lief, und so habe er alles in Echtzeit mitbekommen, wenn man das so sagen dürfe. Der qualmende erste Turm, der zweite Einschlag, der senkrechte Einsturz einer ganzen Zivilisation in den Bruchteilen einer Sekunde … er hat das wirklich so formuliert, unter einer Zivilisation tut er’s nicht, das ist er seinem Denkansatz schuldig…

  • ―Also du findest das übertrieben?
  • ―Ich finde es nicht übertrieben, ich find’s absurd.
  • ―Ach. Schieß los.
Aber sie schießt nicht los, die Gute, sie hat sich in ihren Erinnerungen verhakt und ihr kommen die Tränen.
  • ―Erinnerst du dich an die Pünktchen, die aus den Fenstern in die Tiefe fielen? Tränen der Schöpfung. Später hat man sie vergrößert, so dass man sie fast identifizieren konnte, es waren Menschen, Büromenschen, angetan mit Büroklamotten, im freien Fall. Zu denken, dass man ihnen das angetan hat…
  • ―… um ein Zeichen zu setzen…
  • ―… ein grausiges Zeichen, ein Zeichen zuviel in dieser verrotteten Welt, wenn du mich fragst, man weiß nicht einmal definitiv, wer solche Zeichen setzt und wozu –
  • ―Auch du?
  • ―Was soll das heißen? Ja, ich bin truther, wenn du das meinst, ich scher mich einen Dreck um die Korrekten… Du kannst mich ja feuern, wenn du das nicht aushältst. Hältst du mich aus? Ich wollte das immer schon fragen, aber man kommt sonst nie zu solchen Themen. Diese Fu-Kacke hält einen ganz schön am Laufen… Meinst du, das ist ein Honigschlecken?

 

 
 

Die Kette gib den Rittern

Die gedankliche Abweichung und ihre Beziehung zur Gemeinschaft
1
Ritter, den Rock gerade streichend, blickt ins strahlende Auge des Abgrunds
  • ―Ehrlich gesagt, ich fühle mich nicht wohl bei Ihrer Wortmeldung. Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, mich Ihnen verständlich machen zu wollen, aber ich versuchs mal so rum. Vielleicht reden wir hier auch nicht über Wörter, es handelt sich ja um ganz normale Wörter, die jeder von uns schon einmal gebraucht hat – ja, auch ich, natürlich, warum sollte ich das leugnen? –, und weiterhin gebrauchen wird, im Gegenteil, müsste man sagen, eher handelt es sich um einen Fall von Missbrauch, Missbrauch mit Wörtern, Missbrauch an Wörtern … vielleicht, ich sage ja nicht, dass es so ist, ich stelle es nur einmal in den Raum, wer will, kann daran nippen… Es ist schon so, dass ich mich unwohl fühle, seit Sie an diesem Tisch Platz genommen haben, um den wir nun einmal alle versammelt sind … neinnein, Sie können nichts dafür, keine Frage, dafür können Sie nichts … Was ich sagen möchte, ist nur: dieses Unwohlsein ist konkret, es geht nicht deswegen weg, weil ich mir sagen könnte, der arme Mann kann nichts dafür. Also … sie verstehen, was ich damit sagen möchte … also muss ich mir sagen, der arme Mann kann sehr wohl etwas dafür, keineswegs ist er so arm dran, dass er nichts dafür könnte, der arme Mann weiß, wie man Frauen manipuliert, wir alle haben es oft genug erlebt und man hört, was man hört, der arme Mann ist ein armer Mann ist ein armer Mann … ich will sagen, wenn ihm einfach nicht zu helfen ist, dann muss man eben auf eine andere Lösung sinnen … ich sage nicht, das muss sein, aber mit dem Appell ans Nachdenken kommen wir hier ersichtlich nicht weiter … nicht weiter, das ist schon klar. Und was auch schon klar ist: einmal muss alles ein Ende haben. Verstehen Sie mich richtig. Ich sage, das muss ein Ende haben. Ich bin ja nicht die einzige hier, die dieser Überzeugung ist, falls Ihnen die Mitteilung helfen sollte, aber es ist nun einmal so: Ihre Anwesenheit macht mich fertig, das spitzt die Sachlage auf eine einfache Alternative zu. Ich kann gerne auch deutlicher werden, falls Ihnen das helfen sollte.

Oha.

 

In den einsamen Stunden des Geistes
geht Wissenschaft anschaffen

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
1
Ein Stück aus dem Tollhaus oder:
Birnendialektik vom Feinsten

Vorwärts und nicht vergessen.
Welche Birne aber die richtige ist, ich sag’s dir nit.

Es kommt selten vor, dass eine Birne die andere totschlägt. Gewöhnlich erdrücken Birnen einander heimlich, indem sie sich braune Flecken zufügen, wo es keiner sieht. Totschlag vor aller Augen hat ein anderes Format. Passiert er dennoch, drücken die Leute die Nasen sich an den Scheiben platt: nichts dient mehr dem Gaudium des Volks als Politik, die im Glashaus poltert. Natürlich ist Birne eine Metapher. Der Kanzler und die Kanzlerin heißt das Stück, auch Zukunft und Gegenwart kann man auf einem der Plakate lesen, die windige Verkäufer schnell zwischen sie und das Objekt ihrer Neugier schieben.
Aus allen Branchen strömen die Verkäufer des Edlen, Wahren, Guten auf den Jahrmarkt der Macht. Hier wollen sie Verdienste erwerben. Mit von der Partie ist selbstverständlich die Wissenschaft, der mit Engagement gepflasterte Vorhof der Politik. Überhaupt ist wissenschaftliche Expertise die nobelste Nummer, wenn es gilt, dem Ab- und Aufstieg der Mächtigen ein paar Promille Sekundenruhm abzuluchsen.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
2
Birnenspezialist I

Historiker Kaltenegger, von Dürrobst einmal als graue Figur vor gekalktem Hintergrund bezeichnet, hat sich ein System öffentlicher Äußerungen zugelegt, das wie ein mit Zähnen gespicktes Tellereisen in Aktion tritt, sobald Birne I eine dieser Äußerungen tätigt, die der Volksmund mit ›Nur Mut, es wird schon werden!‹ übersetzt. Jeder kennt Birne und weiß, was seine Sprüche bedeuten: Das kostet jetzt viel Geld, aber es lässt sich auch gutes Geld damit verdienen. Mit anderen Worten: das Geld wechselt seine Besitzer und das ist gut so. Man nennt das ›Investition in die Zukunft‹. Manchmal klappt’s, manchmal geht’s daneben.

Kalteneggers Lesart geht so:

  1. Aha. Birne zieht uns das Geld aus der Tasche. Wofür? Damit die Konzerne sich bereichern. Vetternwirtschaft! Korruption!

  2. Birne belügt das Volk, indem es ihm unerreichbare Ziele vorgaukelt. Niemals wird es blühende Landschaften geben, da der Kapitalismus Landschaften nur zerstören, aber nicht zur Blüte bringen kann. Q.e.d.

  3. Niemals werden jene Landschaften blühen, weil … nun, weil sie ihre Blüte hinter sich haben. Begründung a) siehe 1. Begründung; b) Jene Landschaften sind überflüssig. Das System bedarf ihrer nicht. Dunkelland forever. So geht Dialektik.

  4. Birne, der die Geschichte für sich arbeiten lässt (»Wir sind ein Volk«), arbeitet der Geschichtsvergessenheit zu. Das ist ein großes Verbrechen, das uns alle ins Verderben zerren wird. Birne gaukelt den Massen eine intakte Geschichte vor, die es weder geben kann noch darf. Dagegen hilft nur: Damnatio memoriae!

  5. Birne disqualifiziert sich moralisch, indem er andere disqualifiziert. Sein Ansatz ist menschenverachtend, denn er setzt den Fuß auf den Nacken des Feindes. Dass er sich da mal nicht täuscht. Heute liegt dieser Feind scheinbar unrettbar am Boden, aber wer sagt Birne, dass das so bleibt? Ideen können nicht besiegt werden, vor nicht, wenn sie einem tiefen Gefühl für Gerechtigkeit entspringen. Sie werden die Menschen immer bewegen.

  6. Wer die Gerechtigkeit zum Feind erkor, dessen Enttarnung als Menschenverächter ist bloß eine Frage der Zeit. Die Geschichte wird über ihn hinwegschreiten.

Wie andere Meister seines Fachs hat Kaltenegger ein Gespür dafür entwickelt, welche Kombination aus Punkt 1 – 6 in welcher Situation den stärksten Effekt erzielt. Sein Gespür hat ihn in die Fernsehstudios getragen und da sitzt er nun. Nur die Sessel wechseln. Geht er noch immer nach Hause, sobald die Lichter erlöschen? Lohnt sich das für einen wie ihn?

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
3
Birnenspezialist II

340 Kilometer Luftlinie von Kaltenegger entfernt, in einem wonnigen Städtchen am Oberrhein, tickt sein Klon Herzländer. Wann immer Kaltenegger sich räuspert, räuspert sich Herzländer. Wann immer Kaltenegger sich ins Studio aufmacht, blickt Herzländer auf die Uhr und lässt das Taxi rufen, das ihn zum Flughafen bringt. Ihr Wechselgruß, oft geübt, ist das leichte Neigen des Kopfes. Ansonsten vermeiden sie es, sich anzusehen. Kaltenegger, long-legged wie eine blonde Beauty, beansprucht im Ganzen Mittelmaß, desgleichen sein Gegenspieler, der klein von Statur, aber, darin Tronka vergleichbar, als Sitzriese sein Format behauptet.
So sieht er aus, der Herold von Birne II, dem aufgehenden Stern am Hauptstadthimmel, zur Zeit damit befasst, durch schonungslose Aufdeckung seiner Schandtaten ihren Ziehvater Birne I zu demontieren.

Herzländers Part liest sich so:

  1. Ganz recht. Wurde auch langsam Zeit.

  2. Sagen wir doch einfach: die vor uns liegende Politik wird weiblich und ökologisch sein oder gar nicht. Wenn wir den Zug verpassen, dann, ja dann gehen wir einer Zeit der Verwüstung in globalem Ausmaß entgegen. Der Kapitalismus, wie wir ihn bisher kannten, ist ein Programm zur Selbstausrottung der Menschheit. Das können wir sogar beweisen.

  3. Ihnen ist schon klar, dass die Politik dieses Landes plötzlich wieder ein Gesicht besitzt? Ich sage das nur, weil es mir auf der Seele brennt und ich es einmal loswerden will. Es ist verdammte Medienpflicht, die Botschaft in jedes Wohnzimmer zu transportieren. Einfach mal zur Kenntnis nehmen: an dieser Frau führt kein Weg vorbei.

  4. Vor uns liegt, ich erwähne das nicht zum ersten Mal, eine historische Aufgabe von gewaltiger Dimension: die Vollendung der größeren Einheit Europas. Ohne sie ist alles Erreichte falsche Tendenz. Keiner wünscht sich den Nationalstaat zurück. Europa, das bedeutet Frauenrechte, Schwulenrechte, Diversität, Toleranz und Frieden. Da wollen wir hin und deshalb ergibt Birne II Sinn.

  5. Natürlich ist alle Politik Geschlechterpolitik. Politik wurde bisher von Männern gemacht. Das ändern wir jetzt. Diese Frau ist an der Zeit und sie hat den richtigen Sinn für das, was an der Zeit ist. Und sie besitzt diesen tief in ihrer Herkunft verankerten Sinn für das zu Bewahrende. Merken Sie sich das!

  6. Ich stelle das jetzt so ungeschützt in den Raum, aber es stammt aus innerster Überzeugung –: ich wünsche diesem Land, dass es in den kommenden Auseinandersetzungen nie das wertvolle Doppelerbe der Kandidatin aus den Augen verliert – nüchterne Frömmigkeit, gepaart mit bürgerrechtlichem Engagement und naturwissenschaftlicher Leidenschaft. Das ist die Kombination, die das Land sicher vor den idealistischen Versuchungen der Vergangenheit bewahrt.

Herzländer beherrscht das flüchtige Tremolo.
Blowasser bewegt eine Frage.

  • ―Wer beherrscht Herzländer? Die Partei? Welche Partei? Die neue oder die alte? Die neue noch nicht und die alte nicht mehr? Gewisse Kollegen, Kiefer zum Beispiel, sehen Anhaltspunkte für Tieferes, eine verborgene Agenda, über die niemand spricht.

Was wäre schon sicher in diesen Tagen.

  • ―Puppen, sagt Tronka… Puppen mit harten Köpfen. An Kalteneggers Bürotür steht mit Filzschreiber in studentischer Krakelschrift: We want Herzländer now. Darunter: das Zeichen der Anarchie. Was mag an Herzländers Tür stehen? »Die Frauschaft der pol. Sekt. der Hs, vorm. Marx-Engels, dankt«? Oder doch eher: »Verräter«?

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
4
Die abgehende Macht ist die hässliche
Birne I
Nassen

Weiß Kaltenegger, an welcher Kulissenschieberei er sich beteiligt? Wahrscheinlich nicht. Seine Analyse strahlt exakt das Maß an Kälte aus, dessen es bedarf, damit man ihr das wissenschaftliche Fundament ohne Nachfrage abnimmt. Er ist der Mann der Expertise, ins Studio geholt, um eine der quälendsten Fragen der Gegenwart bündig zu beantworten: Darf man den Kanzler der Einheit entmachten? Die Antwort darauf (sonst hätte die vierte Gewalt ihn nicht ins Studio bitten müssen) kann nur sein: Man darf es nicht allein, man muss es tun. Jedes Ausweichen vor dieser Entscheidung wäre Verrat an den demokratischen Prinzipien, die uns alle leiten. Nieder mit dem Verräter! Dass ein Historiker als Spezialist exakt die demokratischen Prinzipien vertritt, ›die uns alle leiten‹, wird einerseits vorausgesetzt, andererseits dem Publikum durch den Gestus der Moderatorin vermittelt: ihren strahlenden Augenaufschlag, die präzise Klugheit, mit der sie, bei eingeschaltetem Knopf im Ohr, nachfragt, wann immer ihr Gegenüber Ermüdungserscheinungen zeigt, ihr kuscheliges Sich-Zurechtrücken im Angesicht seiner Antworten, ihr seliges Aufgehen in der Aufgabe, deren Wichtigkeit auf ihren gebrechlichen Körper zurückwirkt und ihm Reserven aus Stahl zuführt –

Kypras

Das ist Hochverrat.

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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Die heraufziehende Macht ist die schöne
Birne II
Reinmeier

Was bewegt Herzländer zu seinen Schalmeien auf Birne II, vorerst zarte, aber kräftig treibende Knospe? Das Reich des Bösen, das Imperium des Josef Wissarionowitsch ist zerfallen, die Weltgeschichte hat einen ihrer verblüffenden Schwenks vollzogen und der Herzländer zieht sein Batikdeckchen darüber, das die wirkliche, seit Jahrzehnten aus- und anstehende Revolution, die Revolution des Geschlechts auf den Höhen der Macht ankündigt. So umfassend ist diese Revolution, dass ihr kein reeller Inhalt entspricht, keiner jedenfalls, der sich in politische Begriffe fassen ließe. Sie ist sozusagen das Reelle selbst, das hat Herzländer gut erfasst und die Herren, die Herren hören es mit … schlechtem Gewissen, denn es ist das, was sie den Frauen seit langem versprochen haben und was sie jetzt allenthalben erwartet: der kriegsentscheidende Durchbruch. Das Fu-Projekt ist an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide angekommen und zeigt seinen realen Kern: »Wer wen?« Guter Mann. Die Pyramide hat ihn verschmäht, als er sich vor Jahren auf eine hiesige Professur bewarb. Jetzt treibt er ihr Thema auf die Spitze.

Ritter

Ich finde das spannend.

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
6
Dumme Frage:
Verfügt Kaltenegger über Macht?

Argument (1)
Angenommen, dem wäre so, dann könnte es nur die Macht des Wortes sein, denn eine andere steht ihm nicht zur Verfügung.

Argument (2)
Das kann so nicht stimmen. Dir fallen auf Anhieb zwei, drei Leute aus deiner Umgebung ein, die, sobald es darauf ankommt, bedeutend eloquenter zur Sache gehen.
Was also zeichnet Kaltenegger vor seinesgleichen aus?

Erste Antwort
Nichts. Das Wort ist ihm erteilt, weil da nichts ist, das ihn vor anderen auszeichnete. Das Medium liebt dieses Nichts, es ist der Stoff, aus dem es alles erschafft.

  • Demnach wäre Studio-Kaltenegger eine Kunstfigur: eine Imagina. Nichts, aber auch gar nichts teilte sie mit dem aufgeblasenen, aber kompetenten Kaltenegger, mit dem du gestern noch am Rande einer Sitzung ein paar belanglose Worte gewechselt hast.
    So ähnlich malt es sich in den Köpfen der Medienspezialisten, Teuschners etwa, der das Thema länger schon auf dem Schirm hat. Der Preis für den Eintritt in dieses spezielle Milieu lautet: »Lasst alle Hoffnung fahren, ihr könntet hier etwas aus eurem Hausrat einschleusen.«
    Aber das gilt für jede Region des Todes.
    Also verfügt die Macht über Kaltenegger? Aber gewiss, gewiss. Macht ist Macht. Sie verfügt über so vieles, warum nicht auch über Kaltenegger?

Zweite Antwort
Verlässlichkeit. Kaltenegger ist die Verlässlichkeit selbst. Im Gespräch, das die Macht mit sich selbst führt, ist K. ein brauchbares Mundstück. Der Wind pfeift hindurch und er gibt den erwünschten Laut. Dafür muss er sich nicht verbiegen, denn: so denkt er nun einmal. Da kann man nichts machen.

Zusammenfassend:
Kaltenegger ist, unter Macht-Gesichtspunkten, ein verlässliches Nichts. Eine Telefonnummer. Sorry, aber das muss so notiert werden.

Motto
Und wenn ich Birne sage, dann meine ich Birne, ohne Abstriche, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
7
Wer diskriminiert hier wen?

Der international anerkannte Prof. Dr. jur. Prof. h.c. mult. Alertus Herzländer leitet ein Institut für Diskriminierung und Diskriminierungsfolgen. Die Moderatorin der Talkshow sagt es mit hartem, schnellem Wimpernschlag, als schlüge sie ein Ei auf: Sieh da, der Dotter, Spiegelei oder Rührei? Ebenso gut wie Herzländer könnest du auf diesem Stuhl Platz nehmen und nein, du würdest nicht über Diskriminierung reden, nicht über geschlechtliche, stattdessen über Strategien intersexueller Macht, über Subtilität und Grobianismus, über versteckte, verdrehte, asymmetrische Formen der Symmetrie, Variationen der Abhängigkeit, über Sucht, Passivität, Motivation, Versagung, Überwältigung, Schulderzeugung und Schuldverschiebung, über Scham und Scheu, über die Klaviatur der Dreistigkeit, über verschleppte, verzögerte, delegierte und fabrizierte Entscheidungen, über die Grenzen der Öffentlichkeit, den unsichtbaren Teil der Gesellschaft und seine Bedeutung, über die Funktion von Sichtbarkeit überhaupt: über dies alles könntest du, ohne Punkt und Komma redend, Rechenschaft ablegen und immer nur sähest du das eine, den Knopf im Ohr der Moderatorin, ihre flackernden Gesten, ihren verzweifelten Kampf, dir das Wort abzuschneiden, bevor irgendein unnennbares Unheil über sie und dich niedergeht und euch auslöscht.

Woher du das weißt? Ganz einfach: Weil du das Spiel kennst. Automatisch detektierst du die Kraftfelder, in die gerät, wer die Orte öffentlicher Sichtbarkeit aufsucht, im Schlaf erkennst du das Verhalten des anwesenden Personals … daran ändern auch die Studiolampen nichts, daran ist nichts Besonderes, die kleine Öffentlichkeit der Symposien hat dich Mores gelehrt, seit du mit ihr Bekanntschaft geschlossen hast. Gut, noch fließt das Sagbare breiter, noch herrscht thematische Vielfalt. Aber du warst dabei, als sich die Horizonte verengten, du hast dir deinen Teil dabei gedacht, als sich der immer vorhandene Anteil des Politischen peu à peu vergrößerte und unaufhaltsam nach vorn schob.

Auch du bist Zeuge. Hast du protestiert? Aber nicht doch.
Das war die Macht und das Teilchen, Träger deines Namens, hat sich an ihr ausgerichtet.

Fu hat sich zu Tode gesiegt.

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
8
Das Große Spiel

Herzländer, der zwar nichts über Wahlmechanismen und ihre Folgen, aber alles über sexuelle Benachteiligung weiß – allerdings nur dort, wo es politisch opportun ist –, kämpft. Es ist der Kampf seines Lebens, und er gilt dem wichtigsten Job, den die Republik zu vergeben hat. Herzländer findet, es sei an der Zeit, dass ›dort‹ eine Frau hinkommt. Tief in den Abgründen seines Gerechtigkeitsempfindens steht für ihn fest, dass dies der logisch nächste Schritt im Kampf gegen geschlechtliche Diskriminierung sei, er kann sich gar nichts anderes vorstellen, als dass die Erfüllung seines Wunsches sein Sieg sei, die Krönung seines Kampfes, ach was, seiner Lebensarbeit, er kann die Ironie, die in dieser Aussage steckt, nicht erkennen, sie will und will nicht heraus, so oft er seine Motive auch prüft.

  • ―Aber das ist Schwachsinn, platzt Argloser hinein, der nichts bemerkt haben will.
    Wenn der das wirklich meint, dann ist ihm nicht zu helfen… Dem ist sowieso nicht zu helfen, brabbelt er weiter, aber das steht auf einem anderen Blatt, diese Frau, für die er so vehement streitet, ist eine dreifach gewundene Schlange. Die will an die Macht wie irgendein Mann. Wo ist da der Unterschied? So eine wartet doch nicht darauf, dass ein feministisch angehauchter Gerechtigkeitsfuzzi sie auf den Geschlechterpodest hebt. Was soll sie da oben? Das grenzt ja an vorsätzliche Behinderung… Was bildet der Kerl sich ein? Glaubt er…
  • ―Schon gut (Elisabeth bringt einen Tupfen Gelassenheit in das Gespräch), könnte es sein, dass Sie sich in diesem Augenblick ein bisschen verrennen? Es ist ja nicht so, als ob die Frauen gar keinen Nachholbedarf hätten. Man soll die Männer nicht aus der Pflicht entlassen, wenn sie sich schon einmal verantwortlich fühlen, ansonsten… Sie haben natürlich recht, die Frage ›Ist das eine Frau?‹ lässt sich nicht völlig von der Hand weisen, und ob Frauen, sind sie erst einmal an der Macht, auch Fraueninteressen bedienen, das steht…
  • ―… in den Sternen, ganz recht, das wollte ich noch anmerken. Wie meinen Sie das mit dem Nachholbedarf, gnädige Frau? Sie glauben, die zweitausend Jahre allerchristlichster weiblicher Machtabstinenz müssten jetzt –
  • ―Manchmal grenzen Ihre Bemerkungen wirklich an Schwachsinn, lieber Argloser. Ich wollte es Ihnen schon stecken, bevor Sie es von anderer Seite erfahren, und da jetzt gerade die Gelegenheit … so ein grandioser Wissenschaftler wie Sie hat das eigentlich gar nicht nötig, sind Sie verheiratet? Nein? Aber geschieden sind Sie, das sehe ich Ihnen an. Psst! Leugnen Sie nicht. Wir diskutieren das noch ein andermal, ein ander-… Sehen Sie, wir Frauen sehen es nun mal gern, wenn eine Frau so ein Amt gewinnt, es ist so, als ob jede von uns ebenfalls ein bisschen … aber wir sind weder naiv noch dumm, vor allem wissen wir ganz gut, wie schlecht unsere Interessen bei manchen Vertreterinnen unseres Geschlechts aufgehoben sind, deshalb steht für uns die Frage obenan…
  • ―Aber das ist Defätismus, sagen Sie sowas nicht. Wie können Sie nur die Machos in ihren Auffassungen bestärken? Würde ich Sie nicht kennen, dann…
  • ―Dann? Ganz schnell heraus mit der Sprache: was dann? Ich rate Ihnen, hüten Sie sich vor dem ›dann‹. Es hat schon manchem übel mitgespielt. Wo waren wir stehengeblieben? Objektiv schadet dieser etwas selbstgefällige Herr Herzländer der Sache der Frauen natürlich, es ist ganz unsäglich, wie er sich ihrer annimmt – annimmt, lieber Argloser, annimmt: das bedient die ganze Palette an Zweifeln. Dabei zweifelt keiner am Durchsetzungswillen dieser Frau. Sie kann das, aber wer weiß schon genau, was sie will? Keiner fragt, was diese Frau eigentlich vorhat, die Männer sind ganz benebelt, sie starren nur auf das eine … neinneinnein, nicht das, was Sie meinen, das Starren und das Meinen haben in diesem Fall gar nichts miteinander zu tun und das erschreckt mich ein bisschen, denn das klingt jetzt, als hätten die Männer den Verstand verloren. Sie werden ihn brauchen können. Denken Sie an meine Worte. Ich komme darauf zurück.

Elisabeth zeigt sich jetzt häufiger in der Pyramide. Es ist, als wolle sie das Schicksal herausfordern, ungewiss bleibt einstweilen nur, welches.

Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
9
Appendix: Birne an sich und Birne per se

Warum Birne? Das ist leicht erklärt, führt aber in Abgründe. Birne I, das ist: die sich selbst in den Schoß fallende Politik. Der Kanzler der Einheit, der nichts von ihr wissen will und hineinbeißt, als sie ihm vor die Füße kollert. Und sein schnell fabriziertes Versprechen: Birne für alle.

Warum muss Birne I fallen? Aus demselben Grunde wie alles: weil er reif ist.

Das wäre der Grund, gäbe es nicht noch einen zweiten: weil er hineinbiss, als die Zeit reif war.

Und noch ein dritter: weil sein den Massen gegebenes Versprechen unwiderstehlich war. Das verzeihen sie ihm nie.


Merke:
Birnes Schuld / das Glück der Vielen.
Die Verächter nehmen ihre Plätze ein.

Ungetrübt aber bleibet nichts.

Unaufhaltsam, das wäre: Birne II.

  • ―Armes Land! sinniert Zypras. Der ungezügelte Hass auf den Kanzler der Einheit wirft einen Schatten auf die Zukunft und wird es schließlich zugrunde richten. Die Medien verachten und fürchten das Volk. Sie werden den nächsten Politikertypus ziehen und das wird’s gewesen sein. In der Mitte des alten Kontinents öffnet sich gerade ein Krater und keiner sieht hin.
    Zypras’ düstere Anwandlungen kommen in letzter Zeit häufiger, sie wirken, als stünde die Zukunft offen und er sei in ihr bereits vergangen. Es antwortet ihm auch keiner.

 

Was gibt es da zu sehen?

Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
1
Komm mir nicht zu nah

Vor der Wirklichkeit steht die Kunst. Soll heißen, die Kunst muss weichen, damit Wirklichkeit stattfindet. Ein zurückgeschlagener Vorhang: das bliebe – angesichts dessen, was zusatzlos ist – von der Kunst; vielleicht auch nur die Geste des Umschlagens, die sich im Körpergedächtnis erhielt. Jedenfalls geht sie nicht weg. Kein Mensch lebt vollständig in der Wirklichkeit. Kein Mensch? Was weißt du von den Menschen? Nichts. Eine ganze Menge. Nichts. Ob es dir passt oder nicht: hier stehst auch du auf den Schultern von Riesen. Die Riesen sind abgedunkelt, du füllst – allein, auf dich zurückgeworfen – den Raum. Aber das Dunkel enthält sie, du gewahrst ihre Mitgegenwart. Nimm sie heraus und du bist: kein Mensch. Auch die Rede vom Menschen, jahrhundertelang geübt, gelangt einmal an ihr Ende. Wer sagt das? Ein Wicht. Kommt die Mathematik an ein Ende? Eine müde Kultur schließt die Augen und murmelt: Alles vergeht. Seht ihr nicht, wie ich vergehe? Seht ihr nicht, wie ich mich auflöse … löse … Gelall. Die ausgeschlafene Kultur kann sich an nichts erinnern. »Das soll ich gewesen sein? Wie dem auch sei, ich melde mich zurück. Ich bin da und heute ist mein Tag. Heute könnte mein Feind fallen. Heute gehört mir die Welt. Vergiss die Kunst, heute steht Wichtigeres auf der Agenda. Schlemmer…!«

Was weißt du schon von den Menschen? Nichts.

Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
2
Da hast du recht

Was weißt du von Menschen, die auf die Plätze strömen und verlangen, dass anders wird, was gerade noch nicht anders sein konnte, obwohl es anders hätte sein müssen, um ganz und gar wirklich zu sein. Oder gerade umgekehrt: was nicht anders sein konnte, so ganz und gar Wirklichkeit, dass es auf die Dauer nicht aushaltbar war … Oder wieder anders: weil es unter dem Ansturm plötzlicher Erwartung unvermutet zusammenbricht wie ein Kartenhaus, etwas freisetzend, dessen Mitgegenwart lange in Zweifel stand … was hat das alles mit Kunst…?

Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
3

Sei versichert: eine ganze Menge. Wenn die Wogen hoch gehen, wenn kühle Köpfe verlangt sind, um das Scheitern zu verhindern, wenn Menschen zu strömen beginnen (so wie das Klümpchen ›heiligen Blutes‹ in seinem hölzernen Fetischbehälter unter dem verzückten Blick einer Ultragläubigen plötzlich zu rinnen beginnt), Menschen, die gerade noch ihrer täglichen Arbeit nachgingen, als gäbe es nichts anderes unter der Sonne, wenn eine Welt, die du aus nicht ganz zu klärenden Gründen für die deinige hältst, sich zu drehen beginnt, auch wenn der ferne Anlass in nichts weiter als einer Fehlkalkulation im Herzen der Macht besteht, dann wird der geringste Handgriff zum gefährlichen Spiel mit dem Tabu und alle Beteiligten wissen das – es steht in ihren Gesichtern, es bekundet sich im Eifer, der sich ihrer bemächtigt hat, es steht in der Weise geschrieben, in der sie über sich hinausgehen, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
4
Nach Themiscyra, sag ich dir!

Das Spiel mit dem Tabu … worin sonst bestünde der Reiz der Kunst? Das Tabu, einmal angekommen in den Herzen und Köpfen (die es nie wirklich verlassen hatte, aber das steht auf einem anderen Blatt), lässt dieses Spiel beginnen, heimlich und offen, erst heimlich, dann offen, aber gewiss nicht einseitig, denn auch die Hüter des Tabus begnügen sich nicht damit, seine Wirkungen zu kontrollieren, auch sie sind Künstler, auch sie lieben das Wagnis, auch sie wollen seine Grenzen erkunden, indem sie es ausdehnen, doch was sie wollen, erweist sich am Ende als nicht so wichtig, nicht so … wichtig… das Tabu selbst bläht sich, es geht über alle Absichten hinaus, es wächst, von keiner Gegenmacht gebändigt, zu etwas heran, wofür es in der Sprache der Menschen keine Bezeichnung gibt, es sei denn die etwas altmodische der Tyrannei, einer tief in den Alltag der Menschen eingreifenden Tyrannei, einer Schmeißfliegen‑ und Schwarmtyrannei, die immerfort neue Parteigänger und Nutznießer, aber keinerlei Achtung hervorruft, dieses eine ist ihr verwehrt: sie lässt, im Gegenteil, die Selbstachtung derer, die von ihr eingehüllt werden, unaufhörlich sinken, bis vom Menschsein nur noch der Schmutz eines Alltags übrig ist, der niemanden befriedigt, während er doch nichts als Befriedigung herbeizuschaffen verspricht.

Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
5
Ionas, das Meer von Plagen besichtigend
Ionas, das Meer von Plagen besichtigend
PROTECT ART!

DAS WIRKLICHE

GEHT SO

SO NICHT

WER KANN DAS WISSEN

ÜBERSCHREITET

DAS DAGEWESENE

IN RICHTUNG AUF

TRAUER UND TERROR

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I INDIKATION

IN DIE HAND NEHMEN

DER MUT DES TÖRICHTEN


ÖFFNET DIE WELT

FÜR EINE SPANNE

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II DOSIERUNGSHINWEIS

BERÜHRUNGSFREIHEIT

IST KEINE


EINBAHNSTRASSE

DAS LEBEN / ZU KURZ

SICH MIT IHM ZU MESSEN


BESSER WÄRE
 

 BES 
 SER 

 

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III RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN

Rasierklinge

BANZEKUT I.

 
HERSCHER
VON
PRIBORAWIEN

 

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Die Kunst wird scharf an den Rändern

Rasierklinge

Medals

SPORTS

 

HEALTH

 

CIVIL RIGHTS

 

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Die Kunst wird scharf an den Rändern

Rasierklinge

Vortrag Raum E52
Dr. Alois Wegenaer


Magnifizenz!
Spectabilis!
Werte Kolleg*in*nen!

Die Rasierklinge, Werkzeug der Massenmobilisierung, hat tiefe Schnitte in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen. Ich werde darauf zurückkommen.

Wovon gehen wir aus? vom Ausgehen, möchte ich meinen. Der Kunst gehen die Mittel aus. Sie machen sich selbstständig. Sie werden zu Elementen des Wirklichen. Sie werden Wirklichkeit.

Die Gestaltbarkeit des menschlichen Handlungsraums unter den Prämissen ungebremster Virtualität ist das eigentlich Neue.

Wie oft bemerkt wurde, tendiert die Kunst zur Beliebigkeit. Das führt uns auf das erste Theorem, das ich Ihnen heute vorstellen möchte: Alle wirkliche Kunst ist beliebig. Sie werden es bereits stillschweigend um ein zweites ergänzen: Alles Beliebige ist Kunst. Nein, so ist es nicht. Aber alles Beliebige kann Kunst sein.

Das folgt unmittelbar aus dem genannten Theorem.

Wie platt, werden Sie sagen.

Wen hätte dieser Gedanke nicht bereits beim Gang durch ein Museum angeweht?

Meine Antwort lautet: Redlichkeit. Es ist eine Frage der Redlichkeit, dergleichen zuzugeben. Wer wäre im Angesicht der Kunst redlich? Darüber ist zu reden.

Wenn die Kunst die Maske ablegt, legt der Betrachter sie an.

Dahinter mag keine Absicht stecken, aber es ist der Gang der Dinge. Die Kunst hat lange gebraucht, diesen Mechanismus von Grund auf zu verstehen, es bedurfte dazu einer neuen Wirklichkeit und eines neuen Verständnisses von Wirklichkeit, um ihm zu vertrauen.

Duchamps Readymade wies vielen den Weg, doch der Weg war noch lang. Die Kunst entsteht im Auge des Betrachters, dort gehört sie auch hin.

Der Excess, was ist der Excess? Zum Excess kommt es, wenn im Auge des Betrachters die Kunst zum Ärgernis wird und der allgemein gewordene Zorn sie auszureißen beginnt. Die Klinge der Kunst, jeder weiß es, gleitet an der Oberfläche dahin, sie will glatte Flächen. Gleichzeitig zieht es sie unter die Haut, dorthin, wo es schmerzt.

Kunst mischt sich ein, sie kann nicht anders. Aber sie verliert dabei immer. Am Ende verliert sie sich selbst. Dann zeigt sich, dass sie im Ernst nicht verlieren kann. Sie verliert sich an ihresgleichen, so ließe sich das formulieren. Kunst verliert sich an Kunst. Das war das zweite Theorem, das ich Ihnen heute vorstellen wollte.

Die Kunst der Wenigen verliert sich an die Kunstlosigkeit der Vielen.

Die Kunst ohne Kunst, in der ein blinder Strich genügt, ein zufälliger Kameraschwenk oder ein ungehobelter Ton, verliert sich an den Mechanismus der Anerkennung.

Kunst ist das Ergebnis von Anerkennung. In einer virtualisierten Umwelt ist auch Anerkennung virtuell. Gewährung und Entzug sind miteinander verschmolzen und meinen dasselbe.

Der Entzug von Anerkennung bedeutet Gewährung et vice versa.

Die Verhüllung eines Bildes erschafft das Bild.

Die Entfernung eines Filmes erzeugt den Film.

Wer weiß, der sieht. Wer sieht, der weiß. Wer nicht sieht, erkennt die Zusammenhänge, jedenfalls idealiter, in der Realität gibt es Abstriche.

Dem Aufmerksamen gehört die Welt. Die Kunst geht nach Anerkennung wie alles andere auch. Und sie wird alles Andere: keine Kunst. Kein Weg führt daran vorbei.

Die vorläufig letzte Geste des Künstlers, in der Kunst zu geistern beginnt: Lass mich aus. Ich bin’s nicht.

 

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Die Kunst wird scharf an den Rändern

Rasierklinge

Nachschrift (von unbekannter Hand,
vermutlich unstatthaft):

 

Wer ist Alois Wegenaer?
Ein groß geschriebenes A, ein groß geschriebenes W: mehr braucht es in der Regel nicht, um einen Forscher zu charakterisieren. AW, der Champion unter den Kunsthistorikern der Pyramide, den jungen Wilden, wie sie sich selbstironisch zu nennen belieben, beherrscht das Alphazet der gediegenen Sprache, allerdings nicht über das W hinaus. Ihm fehlt das XYZ der Kunst und damit ihr Allerheiligstes. AW redet zur Kunst, als ginge es zur Sache. Es geht aber nur bis zum nächsten Kiosk, vermutlich, um die Zeitung zu kaufen, mit der einer gesehen werden will, wenn er zur Tagesform aufläuft. Darum geht’s doch. Aber presto, solange es der Karriere dient.

 

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Rasierklinge

 

ThinkIwannagotohellandkillanybodyelseonmywaydownthereyoudontaskmewhywhydon’tyouaskmewhywhyshouldIdoyousaywhatshouldIdowhydoyouaskmethiswayit’snotyourfaultyousaytha’snotyourfaultwhat’syourfaultamIaliarpleasecomeontellmeamIaliardoyoumeanthisnoyoudon’tmeanthiswhatareyoumeaningyouareadamnedoldliarpleaseforgivemeIcan’therlanymoreyouareadenierit’snotyourfaultit’syourfaultanywhere’causeyouareadamnedliarlyingaroundtheclockpissingyourdamnedtweetsintothemiddleofournicelittleclassrommwedon’tlikethisanymoreneverdoyouunderstandneveryouarealiaryouareadamnedliarwithalyingheadfullofeviltalkinghairstalkingbloodynonsensecuttingthewholeworld’sbreathtakingawaythegoodandtheniceaundthesoundthingsdestroyingmyheartandtheheartsofeverybodyexceptthatevilcrowdfollowingyourfootstepsjustintowhatareyousayingwhatareyouyouarealiaryouarealiarnoit’snotyourfaultyouarerightit’sthefaultofeverybodysittinghereintheroomandoutsidejustaroundtheworldourlittlepissyworld’causetheyarenotsmartohyesnotsmartenoughjustlikeeverybodysittinghereintherommtherommtherommtherommtherommit’snotyourfaultdoyoureallymeanthisdoyoureallyyoureallyhowcanonemanbesuchaliaranywhereyouarearacisohyesyouarearapistasexmaniacanabuserwellaren’tyoudon’tdeythisdon’tdenyanything’causeyourdirtystinkingmouthdoesn’tellthetruthjustlyingonyourpathyoucan’tseeityoucan’thearityoucan’tsmellitnoyoucan’tjustdon’ttryittryeverythingexceptthetruthwearethetruthholdersIandmyfriendsaroundtheworlddon’tgothiswayifyoudon’tneedexactlythetroublewe’llbringaboutyouyeswecanyeswewill’causetheworldisoursandnotyourshittylittleclassrommisn’titdon’taskmewhyneveraskmewhynevernevertellmeit’snotyourfaulthearmehermewellneverit’sinsaneisn’tit?

 

Rätsel des Westens, Teil 4

 

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Die Kunst wird scharf an den Rändern

Rasierklinge

UNE LANGUE TORQUÉE


Gemeine Indifferenz, sich zum Ausdruck bekennend

 

Aus: Das Werden / Gletscherparadiese

 

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Die Kunst wird scharf an den Rändern

 
 
WEGENAERS WEG
Sie können zwei, drei, fünf Geschlechter für sich ›akzeptieren‹, Sie können sich Identitäten in jeder beliebigen Zahl zulegen und Feldzüge zu ihrer Anerkennung starten, ganz wie es Ihnen beliebt, aber eines können Sie nicht: jenen dumpfen Begleiter loswerden, der Ihnen bar aller Sprache sagt, wer Sie sind. Er bleibt an Ihrer Seite, und während Sie sich einmal für dies, einmal für jenes ausgeben, gibt er Ihnen unmissverständlich zu verstehen, dass nicht Sie all diese Rollen sind, sondern der Hanswurst, der Sie niemals sein wollten und der jetzt die magere Beute Ihrer sogenannten Kämpfe einstreicht, während Sie auf der Strecke bleiben.
Subtiler Paukenschlag
1
Eike . Tronka
  • ―Norwegen, sagt Eike, wann waren Sie das letzte Mal in Norwegen?
  • ―Lassen Sie mich nachdenken. Das war…
  • ―Vergessen Sie Norwegen, Norwegen ist jetzt überall. Vergessen Sie die hellen Nächte am Nordkap, vergessen Sie die ewig singenden Wälder, vergessen Sie die grauen einsamen Fjorde, vergessen Sie alles, was sich in Ihren Gedächtniskammern erhalten hat. Vergessen Sie rasch, denn dieses Land gibt es nicht mehr.
  • ―Was ist passiert?
  • ―Ich sehe, Sie lesen nur BILD, um sich über das, was draußen so abgeht, zu informieren. Das ist zwar konsequent, aber in diesem Fall … nicht ganz ausreichend, es sei denn…
  • ―Ja?
  • ―Vergessen Sie’s. Ich dachte nur an die Kinder. Ich sehe, das sagt Ihnen nichts, aber das Thema Kinder ist, möchte ich annehmen, wieder in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, seit ein Mann sich mit einem Luftgewehr in einem Kindergarten eingesperrt hat und damit droht, Geiseln zu töten und das Gebäude in die Luft zu sprengen.
  • ―Wann war das denn?
  • ―War? Ich denke, es ist noch nicht vorbei.
  • ―Was hat er genommen? Weiß man das schon?
  • ―Nein, aber er ist im Fernsehen, natürlich nur im lokalen, er hält dort Reden über Telefon, er findet, die Behörden hätten kein Recht besessen, ihm die Kinder wegzunehmen, er gebe ihnen jetzt die Möglichkeit, ihre Entscheidung zu korrigieren, andernfalls… Na Sie wissen schon.
  • ―Psychopathen gibt’s immer.
  • ―Was machen eigentlich die Wälder, wenn sie nicht singen?
  • ―Sie stehen still, nehme ich an. Warum fragen Sie?
  • ―Ich vermute mal, das ist kein Fall für die Drogenfahndung. Der Mann wirkt völlig normal.
  • ―Na das klang aber gerade noch anders. Schöne Normalität, von der Sie mir da berichten. Besitzen Sie einen Waffenschein? Ich meine das jetzt im Ernst, ich zum Beispiel besitze keinen, aber das will nicht viel bedeuten.
  • ―Nein, das will nicht viel bedeuten. Vielleicht ja doch. In diesem Fall…
  • ―Erzählen Sie mir, wie’s ausgeht, wir trinken nachher ein Bier. Was sagt denn die Polizei?
  • ―Die Polizei sagt … die Polizei sagt … ich dachte gerade, ich falle vom Stuhl: die Polizei sagt…
  • ―Sagen Sie’s schon.
  • ―Die Polizei sagt, jetzt hätte er ja Gelegenheit gehabt, sein Anliegen vorzubringen.
Subtiler Paukenschlag
2
Tronka . Pw
  • ―Ach, Sie haben davon gehört?
  • ―Mich würde an dieser Angelegenheit ein Detail interessieren.
  • ―Mich würde da schon mehr interessieren. Aber schön: was für ein Detail wäre das?
  • ―Dieser Mann ist geschieden, er hat ein Sorgerechtsverfahren hinter sich, man hat die Kinder der Frau zugesprochen, das geschieht, wie wir wissen, in mehr als achtzig Prozent der Fälle, das ist also normal. Der Mann säuft nicht, er nimmt keine Drogen, er ist nicht gewalttätig, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, denn andernfalls wüssten wir das alles bereits. Andererseits nimmt er die Knarre, um seiner Bitte an die Behörden, ihm bei der Lösung seiner Probleme zu helfen, den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Ganz recht, so drückt er sich aus. Das ist doch seltsam. Man sollte annehmen, er verlangt seine Kinder zurück, er könnte mit ihnen ausreißen, das wäre zwar dumm und aussichtslos, aber in einer psychischen Ausnahmesituation durchaus üblich – doch nein, er will, dass die Behörde ihm bei der Lösung seiner Probleme hilft – und niemand will wissen, worin seine Probleme bestehen.
  • ―Das ist alles? Natürlich hat er ein Problem. Er hat sich in eine ausweglose Lage manövriert, der Kindergarten ist von Scharfschützen umstellt, er muss aus der Sache herauskommen und weiß nicht wie. Da haben Sie sein Problem, jedenfalls das augenblickliche, er mag noch andere haben, aber das hier überlagert nun einmal alle anderen und muss schließlich gelöst werden. Die Therapie kann warten.
  • ―Haben Sie Kinder?
  • ―Ich? Einen Sohn, das wissen Sie doch.
  • ―Haben Sie eigentlich Skrupel? Ich meine, wenn Sie so reden.
  • ―Hören Sie, Sie und ich, wir beide haben da kein Eisen im Feuer. Wir können die Sache nüchtern betrachten und konstatieren: der Mann demonstriert gerade, wie recht das Gericht daran tat, die Kinder der Frau anzuvertrauen, jedenfalls nehme ich jetzt einmal an, dass es sich um keinen Heimfall handelt, sonst müsste schon Ernsteres vorgelegen haben.
  • ―Da trifft es sich ja gut, dass jetzt Ernsteres vorliegt.
  • ―Jetzt werden Sie zynisch. Hören Sie, solche Entscheidungen werden nach reiflicher Erwägung gefällt, das Kindeswohl steht an erster Stelle, die Leute in den Ämtern sind in der Regel gut ausgebildet und unverblendet, sollte man annehmen, ich jedenfalls sehe keinen Grund, das nicht anzunehmen. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen: der berühmte Einzelfall, in dem alles anders ist… Warum gerade hier? Dafür gibt’s keinen Grund. Dieser Mann stellt ein Risiko dar, das hat er soeben unter Beweis gestellt, es gibt in solchen Fällen, wie Sie wissen, oft lange Latenzzeiten, ich für meinen Teil ziehe vor der Behörde den Hut.
  • ―Achtzig Prozent!
  • ―Na und? Wenn’s sechzig Prozent wären und die Kinder wüchsen als seelische Krüppel auf, wär’s auch wieder nicht recht.
 
 
Ein Staat, der die Staatsaffinität der Frauen auf die Spitze treibt, verändert nicht die Frauen, sondern das Geschlechterverhältnis: er erzeugt ein Geschlecht, das mit ihm verheiratet ist und gegenüber dem ›Partner‹ eine Politik der gespaltenen Loyalität oder der offenen Illoyalität verfolgt. Das ist nicht nach dem Geschmack jeder Frau und daher bleibt, neben den reinen Familienfrauen, das Riesen-Reservoir derer übrig, die in der Sehnsucht nach der Beziehung leben, die sie bzw. ihre Partner zwanghaft auf Grund von Fehlkonditionierung zerstören.


Argloser: Der geschiedene Staat

Die Juli-Attentate


Die tödlichen Angriffe richteten sich gegen zwei Ziele: das Büro des amtierenden Ministerpräsidenten und ein, bei blendendem Wetter, gut besuchtes Ferienlager auf der siebzig Kilometer entfernten Freizeitinsel Pansviga, ausgerichtet von der Jugendorganisation der regierenden Arbeiderpartiet. Zum Einsatz gelangte eine aus Benzin und Kunstdünger gebastelte Autobombe, desgleichen ein automatisches Gewehr, mit welchem der zunächst als verwirrt bezeichnete Täter mehrere Stunden lang Jagd auf die über die Insel verstreuten Jugendlichen machte. Danach gelang es den via Bus und Bahn aus der Hauptstadt angereisten Ordnungskräften, ihn dingfest zu machen. Der Täter ließ sich willenlos festnehmen, dabei war ihm eine gewisse Erleichterung anzumerken. »Es ist vollbracht« soll er zu den festnehmenden Polizisten gesagt haben, doch sicher verbürgt ist das nicht.
Während die im Kofferraum eines geparkten Wagens deponierte Bombe den Ermittlern keine größeren Rätsel aufgab, wies die Rekonstruktion der tödlichen Vorgänge auf der Insel zunächst größere Lücken auf. Wie konnte es geschehen, dass ein als Polizist verkleideter Fremder, ausgerüstet mit einem Sturmgewehr und größeren Mengen Munition, ungehindert die Freizeitanlage betreten durfte? Wie erklärte sich die systematische Wut, mit der er seine Opfer über das gesamte, zum Teil unübersichtliche Gelände verfolgte und wirklich in der Mehrzahl der Fälle aufspüren konnte? Warum verfügte die Anlage über keine sicheren Räume, in die sich die Jugendlichen bei Gefahr hätten zurückziehen können? Warum besaß die Verwaltung keinen Notplan? Warum schließlich waren die Sicherheitskräfte außerstande, innerhalb einer angemessenen Zeitspanne dem Wüten des Mörders ein Ende zu setzen?
All diese Fragen wurden in der Öffentlichkeit breit diskutiert und, so gut es ging, abschließend in der Gerichtsverhandlung geklärt. Dennoch bleibt ein unerklärliches Grauen angesichts der Verkettung von Umständen, die den hohen Blutzoll ermöglichte. Gemessen am kill factor, einer international von Experten genutzten Effizienzskala, rangiert die Tat des rechtsradikalen, von wirren Rassephantasien beseelten Einzeltäters unter Terrorakten, wie sie für gewöhnlich in Ländern außerhalb Europas zum Alltag gehören. Alvin K, der sich zu beiden Attentaten bekannte, bezeichnete sich vor Gericht als nicht schuldig. Vielmehr habe er aus ›Notwendigkeit‹ gehandelt. Nach juristischem Konsens beschränkt sich das reklamierte jus necessitatis (›opinio juris sive necessitatis‹) allerdings auf die Überzeugung, rechtmäßig, etwa auf Grund eines übergesetzlichen Notstands, zu handeln bzw. gehandelt zu haben. Davon kann hier selbstverständlich keine Rede sein. Auch die Berufung auf ein höher geartetes Naturrecht hilft dem Täter nicht weiter, weil die Tat ebenso wie die ihr zugrundeliegende Gesinnung einen entschiedenen Bruch mit dem allgemeinen Rechtsempfinden enthält, so dass Gesinnung und Tat im vorliegenden Fall gleichermaßen als hochgradig verwerflich zu gelten haben.


Scharfroeder/Michels: Handbuch des Terrorismus, 16. überarbeitete Auflage, Bd.22, Sp.1667f.

 

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Aus dem Umbauarchiv

 

First things first

Im Quadrat
1
Aus den Keynotes des Homomaris
/29/ Das Quadrat ist das Symbol des Bösen. Das schreibt sich so hin, aber ich empfinde es tief. Ich sehe ein Quadrat und es durchfährt mich: das Tor zur Hölle, umlagert von Dämonen. Vier gleiche Seiten, vier rechte Winkel, vier Geraden: mehr braucht es nicht, um die perfekte Leere zu erzeugen. Die perfekte Leere … übriggeblieben nach den Menschheitserregungen, als sei das hier gerade das, was sich von selbst versteht. Keiner versteht die Botschaft, keiner will sie verstehen. Warum? Weil man sich scheut, dem Boten ins Gesicht zu sehen. Dabei wäre das die geringste Sorge. Sein Maskenvorrat ist unerschöpflich. Die Kunst und die Leere – altes Thema. Die Kunst kennt keine Leere. Sie lässt sie nicht zu.
Dem Raum der Metaphysik fehlt ein T. Das eben ist Kunst: der metaphysische Traum. Chirico hat das gut erkannt. Ich setze das T gegen das Quadrat, den Tod gegen die Verdammnis, die Erlösung vom Leiden gegen das währende Leidlos. Ich bin ein Verächter des Immergleichen. Es muss immer anders sein. Die leidlose Gesellschaft – eine Fata Morgana, bewohnt von Schimären, die vorgeben, Menschen zu sein. Sind sie denn welche? Mit-Menschen sind sie. Sie machen mit, darin besteht ihr Mensch-Sein. Mache ich mit? Ich weiß es nicht. Ich träume den Traum des Dagegen-Seins. In Träumen fest: das ist meine Form der Existenz. Auch ich bewege mich in der Fata Morgana. Aber mein Beobachtungspunkt ist weit weg. Ich male sie kenntlich. Das behaupten viele, es ist die Eitelkeit, die es ihnen diktiert, es ist nichts dran.
Die Kunst kennt kein Leidlos. Wo Kunst ist, da ist Leiden. Der Weg zur Erlösung ist mit Funden gepflastert, die keinem begegnen, den das Leid scheut. Ich glaube nicht an das falsche Nirwana der Hygiene und des Sozialstaats. Ich glaube nicht an das Kapital, aber ich glaube fest, es ist die Essenz dieser wie jeder geschaffenen Welt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an das Böse. Man muss maßlos glauben, damit es nachlässt. Erst wenn der letzte Glaube verbraucht ist, wird das Böse aus der Welt sein. Ist das dann noch die Welt? Ist das dann noch eine Welt? Ich weiß es nicht. Vielleicht will ich es gar nicht wissen. Dieses Wissen ginge zu weit.
Im Quadrat
2
Aus den Keynotes des Homomaris
/30/ Homo anti-vitruvianus. Der Mensch im Quadrat ist Psychopath. Der Mensch, dem der Andere nichts sagt – außer dass er ihm zuflüstert: Beherrsche mich! Zieh maximalen Nutzen aus mir! Ein solcher Mensch hat viele Vorteile (ich unterscheide Vorteile von Vorzügen, das grenzt für den einen oder anderen bereits an Mystik). Entscheidend ist: für sich oder andere? Was wären das für Leute, die aus der Karriere von Psychopathen Vorteile ziehen? Ich weiß es nicht. Oder doch: ich weiß es zu genau. Steckt erst mein Geld in einem dieser Menschen, dann verlange ich nur, dass es arbeitet – und zwar in meinem Sinn. Und was ist dieser mein Sinn? Warum lagere ich ihn an einen Empathielosen aus? (Denn das geschieht, wenn ich den anderen in meinem Sinn arbeiten lasse.) Ganz einfach: weil ich, der homo empathicus, mit ihm nicht zurechtkomme. Weil mein Mensch-Sinn sich sträubt, in meinem Geld-Sinn zu wirtschaften. Weil mein Empfinden mir sagt: Das ist nicht recht. Ich heuere jemanden an, der nicht fragt, ob das, was er in meinem Sinn verrichtet, auch recht sei. Der Psychopath ist also ein Nutznießer meiner Lage (er lässt mich Mensch sein!), er besitzt erpresserisches Potential, das ihn, wie warme Luft im Kamin, nach oben führt. Irgendwann ist er mir überlegen und beginnt mich zu beherrschen. Wenn er gut ist (richtig gut), dann beginnt seine Herrschaft über mich lautlos. Vielleicht endet sie im Getöse, aber am Anfang steht: Kein Wort!
Im Quadrat
3
Aus den Keynotes des Homomaris
/31/ Der empathielose Mensch ist das Beste, was mir passieren kann. Er ist, auf den Menschen übertragen, dasselbe wie Geld heckendes Geld. Die Stümper mit den harten Gesichtern, die das Leben verheizt, sind bloß Gestörte. Psychopathen, falls sie wirklich gut sind, besitzen Philanthropengesichter. Ich habe ihresgleichen oft gemalt, anfangs aus reiner Faszination, ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Aber der Mensch lernt schnell. Die Kunst lernt schnell. Das Böse treibt.
Im Quadrat
4
Aus den Keynotes des Homomaris
/32/ Warum ist das Quadrat leer? Weil es nichts hält. Ein flacher Kubus, die Andeutung eines Kubus, nein, ein Kubus, dem die Gnade der Geburt verweigert wurde (aus gutem Grund, was wäre das für eine Ausgeburt), eine Form, in der jeder Inhalt klappert, es sei denn, er bestünde selbst aus lauter Quadraten, ein untragisches Nichts, das jede gewordene Umgebung aufsprengt. Die Bilder dieses Wegenaer sind gemalte Container, sie enthalten Gegenstände. Kein richtiges Bild ›enthält‹ Gegenstände. Wegenaer steckt sie zu Lehrzwecken hinein, sie bellen jeden an, der sich ihnen nähert, solange sich noch ein Funken Widerstand in ihnen regt. Ansonsten liegen sie wie tot herum und warten darauf, dass sie jemand dem Leben zurück gibt. Weiß Wegenaer das nicht? Er selbst steckt im Käfig seiner Professur und kann nicht heraus, das wird es sein. Er muss forschen, wo es aufs Machen ankäme, er tut forsch, wo er glaubt, etwas machen zu müssen. Eine forsche Kunst … was soll das sein? Er ist nicht schlecht … nicht schlecht … Er will die Kunst zu Ende bringen… Aber das stimmt nicht, er will sie bloß darstellen, als sei sie am Ende angelangt, und behauptet aufrichtig, das, was er macht, sei der einzig mögliche Abschluss, die letzte Konsequenz, die Quintessenz aller Kunst. Seine Kunst soll übrigbleiben, wenn ringsherum alles zum Teufel geht. Eher gibt er den Teufel, als dass er sich holen ließe.
Im Quadrat
5
Aus den Keynotes des Homomaris
/33/ Da habe ich ihn. Wer den Magier mimt, darf sich nicht wundern, wenn er erscheint.
 

Der Preis der Freiheit

Blowasser kennt sich aus
1
Blowasser . Tronka
  • ―Du hast recht, sagt Blowasser, das Geheimnis der Pyramide liegt in ihrer Existenz. Ihre Formel lautet, heute wie damals, Organisation + Masse = Macht. Das Einfachste daran ist die geometrische Form. Sie ergibt sich praktisch von selbst: e pluribus unum. Das einzige, worin Pyramiden sich unterscheiden, ist ihre Größe … und … ganz recht, ihre Ausrichtung. Aber die Ausrichtung ist weder das Rätsel noch seine Lösung. Ideologie ist immer die ihrer Zeit. Eigentlich ist das Wort Ideologie falsch … ›Weltanschauung‹ wäre das bessere Wort, weil es nicht den Wahn nährt, es handle sich um ein bloßes Konstrukt. ›Wir sehen die Sache so und so‹…: darin liegt schon das alle umfassende Wir, ferner die bestimmte Weise, eine Sache anzugehen, und wenn die Sache die ›Welt‹ ist, also die Gesamtheit aller Sachen, die angegangen werden müssen, weil sie nun einmal am Weg liegen (denn auch die Welt entfaltet sich nur in der Zeit, in aller Zeit der Welt, um genau zu sein), dann kann man eine Anschauung davon haben, aber keine Idee. Die Ideologie ist eigentlich das Gegenteil der Idee, sie enthält ein an die Wirklichkeit gerichtetes Sollen, das gegenstandslos bleibt, weil jedes Sollen, das es zu etwas bringen kann, die vorhandene Welt voraussetzt.

  • ―Das Geheimnis der Pyramiden? Komische Frage. Sie wurden gebaut und nun sind sie da. Bleibt also bloß die Frage, warum sie errichtet wurden. Unserer Pyramide zum Beispiel wurde, janein, einfach ein Zweck untergeschoben, indem man eine Universität in ihr unterbrachte. Nichts leichter als einen Zweck zu erfinden. Zu Pharaos Zeiten handelt es sich um die einfachste geometrische Idee, die sich mit Masse und nichts als Masse realisieren, das heißt errichten ließ. Darauf kommt es an. Die benötigte Technologie, wie das heute heißt, wurde einfach am Bau gewonnen und fiel nicht weiter ins Gewicht. Offenbar galt sie den Meistern der Schrift als so wenig bedeutsam, dass keiner sich der Mühe unterzog, sie dauerhaft zu überliefern. So können sich heutige Architekten nach Belieben den Kopf darüber zerbrechen, ›wie die Kollegen das damals wohl gemacht haben‹, ganz ohne unsere Kenntnisse. Das Geheimnis der Pyramiden ist, gemessen an den Maßstäben ihrer Erbauer, platt.

Blowasser kennt sich aus
1
Blowasser . Tronka
  • ―Was mich bewegt: warum ist eine stumpfe Pyramide ästhetisch unergiebig? Weil der Blick automatisch die Spitze sucht – und nichts findet. Die Spitze gibt dem Ganzen Sinn. Dabei hat sie, in Bezug auf das Leben der Vielen, nichts zu bedeuten, während die nächsthöhere Ebene alles bedeutet. Auch die Bürokratie bedeutet nichts. Aber sie bestimmt alles. Das ist zwar bekannt, wird aber weggespöttelt. Nur die Bürokratie zum Beispiel hat die Macht, dich deiner Sprache zu entfremden, indem sie dir vorschreibt, welche Wörter du, sobald du in ihren Dunstkreis eintauchst, zu verwenden hast und welche nicht. Was passiert? Keiner nimmt das ernst, alle lachen über den Esel Bürokratie. Allein das gibt ihr diese unheimliche Macht: sie ist und bleibt der Esel.
    Bürokratie ist und bleibt der Preis der Freiheit. Es ist ganz normal, dass es zu Erstickungsanfällen kommt, sobald der Einzelne sich bloß frei dünkt und keine Verbindlichkeiten kennt als die seiner Bank gegenüber. Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, setzt sich die Bürokratie an die Stelle der Person und beginnt das Selbstverständliche zu regeln, vom Fiebermessen über das Zähneputzen bis zum täglich verfügbaren Quantum Luft. Wer da »Mehr Licht!« schreit, ist schon der Staatsfeind. Du fühlst dich ›vergrippt‹ und willst dich im Bett verkriechen? Von wegen. Teste dich frei! Was, du willst dich nicht testen lassen? Staatsfeind! Kommunikationsverbot nicht unter drei Jahren. Und der Auslandsurlaub ist gestrichen. Aus dieser Nummer kommst du nicht mehr raus. Du lachst? Lach nur. Du kennst meine Frau nicht. Die arbeiten dran.

  • ―Ich lache nicht. Ich denke noch.

Tronka versteht nicht ganz. Er hätte gern ein Gespräch mit der Bedienung angefangen, deren Körperhaftigkeit ihn plötzlich anfällt, als handle es sich um eine Skulptur aus dem Louvre, Blowasser erscheint ihm wie hinter einem Schleier, er kann sich nicht erinnern, mit diesem Menschen je intim gewesen zu sein, außerdem gehört das Wort ›Weltanschauung‹ zu den pudenda, er ist schon aus Diskussionen aufgestanden und gegangen, in denen es fiel, es ist ihm zuwider wie der ›Geist der Zeit‹ oder ›kongenial‹. Dahinter wittert er den Unrat der verabscheuenswerten Epoche, die, so sein Eindruck, im Untergrund fortdauert und deshalb, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, mit Fußtritten bedacht werden muss: der Epoche der philosophischen Scharlatane, die seine Philosophie, wie er sie versteht, zur Lachnummer verkommen ließen und darüber, politisch gesprochen, selbst verkamen. Dass Blowasser so anfangen würde, hätte er nicht vermutet.

 

Wohin steuern wir? Was, wenn wir nicht steuerten?
Was dann?

Wegenaers Heimkehr
1
Herkunft

Wenn es stimmt, dass durch die Art, wie einer seinen Beruf angeht, die Welt seiner Herkunft schimmert, also im einfachsten Fall der Beruf des Vaters oder der Mutter, im komplizierteren eine bäuerliche oder handwerkliche Geschlechterlinie, dann liegt es zum Beispiel nahe, im verschlagenen Begutachtungswesen des Philosophen Leckebusch eine Kleinhändlertradition am Werk zu sehen, am besten im Obst- und Gemüsesektor, bei dem es darauf ankommt, ununterbrochen die Frische der Ware zu prüfen und rechtzeitig auszusondern, was den Ansprüchen der Kundschaft bereits ein paar Stunden später nicht mehr genügen würde. Was das Verfahren des Kunsthistorikers Wegenaer angeht, so könnte die Verpackungsindustrie Pate gestanden haben. Keiner faltet seine Objekte so zielsicher zusammen, bis sie den geringsten erdenklichen Raum einnehmen, und keiner entfaltet sie auf dieser Grundlage zu solcher Pracht wie gerade er…

… eine Fähigkeit, die auf Kunst-Synoden genauso hoch im Kurs steht wie auf kunsthistorischen Tagungen, weshalb er allgemein als Meister aller Klassen durchgeht, hochspezialisiert, von einer randscharfen Aura umgeben, die, würde ihm eines Tages einfallen, sich einer Grenzüberschreitung schuldig zu machen, ihn auf der Stelle als blasse, am Ende sogar nichtige Person dastehen ließe. Vorerst steht das nicht zu befürchten. So it is. Das Maschinchen schnurrt und liefert dem Betrieb gerade soviel ›Input‹, dass sich immer die gleiche Reputationsmenge im Raum erhält.

Wegenaers Heimkehr
2
Extrablatt

Ihren idealen Gegenstand fand Wegenaers Kunst der Entfaltung in der Brillo Box des geschätzten Kollegen Warhol. Der Wahrheit zuliebe muss gesagt werden, dass er, eher beiläufig, bei den Vorbereitungen zu einer der zeitweise beliebten Veranstaltungen zum Warenwert der Kunst über sie stolperte und er sie nicht, wie erwartet, dazu benützte, um Warenwert und wahren Wert der Kunst forciert ineins zu setzen, um daraus die zu dieser Zeit üblichen Paradoxien abzuleiten. Wegenaer fand einen klügeren Zugang: Wenn, so der einfache, aber schlagende Gedanke, eine mit Markenangaben und Werbesprüchen bedeckte Pappschachtel Kunst sein kann, dann bloß deshalb, weil alle Kunst in diesem idealen Behälter Platz findet, und zwar so, dass der Karton, und zwar er allein, von ihr übrigbleibt, weil nur er nachprüfbar von ihrer nie eingelösten Funktion kündet. Das Unvorhersehbare trat ein. Allein das Wörtchen ›nachprüfbar‹ riss das Gros der Kollegen zu einem selten dagewesenen Begeisterungstaumel hin. Manch einer biss sich auf die Lippen, dass nicht er auf diesen so naheliegenden Gedanken verfallen war. Ein paar Spezialisten der älteren Kunstgeschichte hielten dagegen, doch ohne jede Aussicht auf Erfolg. Mit einem Zauberschlag war die Brillo Box zur Prüfbox aller bisherigen Kunst aufgestiegen, in dem letztere auf Nimmerwiedersehen verschwand wie, unter Führung des kundigen Rattenfängers, die Kinder von Hameln im Berge. Der Einfall, ›die gesamte bisherige Kunstgeschichte‹ ins unbestimmte Dunkel der Box zu bannen, entpuppte sich als Wegenaers persönlicher ›Evergreen‹: wo immer er auftritt, sind die Leute enttäuscht, wenn er ihn nicht, wenigstens als Zugabe, zum Besten gibt.

Wegenaers Heimkehr
3
Extrablatt II

Wegenaer täuscht nicht, er spekuliert. Es würde ihm nichts ausmachen, die Brillo Box gegen ein anderes Objekt auszutauschen, genauso nichtssagend, genauso erhaben, aber er hat im Laufe der Jahre begriffen, welch halsbrecherisches Manöver das unter Reputationsgesichtspunkten darstellen würde und deshalb vorläufig zurückgestellt. Der Gedanke macht ihm nichts aus, dass gerade zu seinen Lebzeiten die Kunst in einer Pappschachtel schwunden sein könnte, um als Vorlesungscoup wieder zum Vorschein zu kommen, genausowenig der andere, dass es gerade in seinen Vorlesungen geschieht und sonst nirgends – denn die Kollegen, soweit er sie überblickt, halten seine These zwar für genial, aber dabei fassen sie sich an die Wange und in ihren eigenen Publikationen halten sie, bei aller freundlichen Zustimmung, peinlich auf Abstand.

Dieses zustimmende Auf-Abstand-Gehen trifft ihn ja nicht allein. Er kennt es aus vielen Veröffentlichungen, nicht zuletzt den eigenen, es gehört zum Handwerk, jedenfalls zum Handwerks-Zeug angesichts der Vielfalt der Hypothesen und der Nötigung miteinander im Gespräch zu bleiben. Man kann einen wissenschaftlichen Gegner nicht eliminieren, vor allem dann nicht, wenn er zur gleichen Gehaltsklasse gehört und ähnliche Sicherheiten genießt wie man selbst. Man kann ihm aber auf eine Weise zustimmen, die seine Rede verpuffen lässt und damit Raum für den eigenen Ansatz schafft. Dieser eigene Ansatz … Wegenaer hält nicht viel von ihm. Es liegen zu viele davon herum, ein einziges Trümmerfeld. Man ködert Doktoranden damit, dass man sie um einen eigenen Ansatz bittet, nein, ihn bei ihnen voraussetzt, um ihn anschließend zu zerreißen, in freier Rede, gewiss, auf dem Papier wird vorsichtig gelobt, es sei denn, die Arbeit wäre so schlecht, dass sie es nicht durch die akademischen Prozeduren schafft.

Ein gestandener Forscher wählt seinen Ansatz, indem er Zeit, Ort und Gelegenheit wägt. Das Thema, das er abzudecken gedenkt, saugt diese Momente auf: ein handliches Monster. Originalität entsteht durch Applikation plus Überraschung: Wende an, was du gelernt hast, aber so, dass keiner darauf gefasst ist. Was, der? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Aber interessant. Was daran ist interessant? Vorerst nur die Emphase: Es ist keine kleine Sache, die lange Linie der Kunst, ohne die Europa nicht kenntlich geworden wäre, mit der Schere durchzuschneiden, als handle es sich darum, ein neues Straßenstück zu eröffnen oder ein Hallenbad seiner Bestimmung zu übergeben – vor allem, wenn man sich vorher durch Studien zu Michelangelo und Géricault einen Namen gemacht hat, zwei Künstlern mit einem kraftstrotzenden, zur Nachfolge animierenden Œuvre, die sich Kunst nicht anders als von Ewigkeit zu Ewigkeit vorstellen konnten. Der Kontrast macht’s. Wegenaer schriebe gern ein Buch über die hohe Kunst des Kontrasts. Die innere Stimme flüstert ihm zu, das wäre sein Alterswerk. Noch fühlt er sich rüstig und entschlossen, das Geheimnis in seiner Brust zu verwahren.
Wegenaers Heimkehr
4
Wegenaer tätigt einen Fund

Die meisten Kunsthistoriker halten die Kunst für eine Mumie, von den Zeitgenossen mit Fleiß präpariert und bandagiert einer Nachwelt vermacht, die vor dem Erbe erschauert und sich fragt, was wohl unter den Bandagen verborgen sein mag. Wer das nicht weiß, dem sagen auch die Museen nichts, in denen die Kunst, ordentlich nach Epochen und Regionen sortiert, sich wie ein abgestorbener Bandwurm durch eine bild+skulpturbestückte Abfolge containerartiger Säle windet, um im Schlussteil mit Hilfe von ›Installationen‹ genanntem Gerümpel dem gedankenvoll wandelnden Besucher den Weg zu versperren und ihn just dadurch zur beschleunigten Flucht ins Freie zu veranlassen. Das wäre geschafft. Jetzt ab ins Café! Die leere Brillo Box, das imponierte Wegenaer schon immer, ist keine Installation, sondern ein Karton, geeignet, je nach Bedarf eine aus ihm hervorzuzaubern oder in ihm verschwinden zu lassen. Sie steht am Anfang und am Ende der Installationen. Was war doch der ursprüngliche Inhalt? Soap pads? Nicht schlecht, das Zeug, es hilft beim Großreinemachen, es tilgt, als Wille und Vorstellung, den Schmutz, der sich um die historischen Bestände lagert: Welcher warlord hat welches Gemälde in Auftrag gegeben, um seinen Ruhm an die Sterne zu nageln? Welche Arschkriecherei liegt diesem perfekt modellierten Marmor-Hinterteil voraus? Welche Höllenpredigten explodierten in Hörweite jener exzellent gearbeiteten Predella aus dem zwölften Jahrhundert? Welch närrischer Aberglaube spukte im Kopf des gefeierten Künstlers zur Linken, der seiner Zeit weit voraus eilt und ihr doch, nüchtern betrachtet, bloß hinterherhinkt? Welcher blutigen Tyrannei lieh sein Kollege XY den gefeierten Pinsel, vielleicht aus innerster Überzeugung, vielleicht, um die eigene Haut zu retten? Wo liegt der Unterschied? Welchen Unterschied macht es am Ende? Bilde Künstler, rede nicht! Ein kluger Spruch, kein Zweifel, ebenso ließe sich fordern: Putze, Putzfrau, frage nicht! Beim Großreinemachen der Kunst stellt Wegenaer sich in die erste Reihe und ruft: Ick bün all hier. Sein Wille, heiße Luft zu fabrizieren und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, erkennt in der Brillo Box einen Verbündeten, den natürlichsten von allen, den radikalen Vereinfacher, Burckhardts terrible simplificateur, der, bei Neonlicht betrachtet, so grässlich nicht ist – denn aller Witz will verschwendet sein, schon aus Trotz gegen die groteske Verschwendung der Märkte, die unser aller Leben bestimmen. Wegenaer ist ein Kämpfer, seine zahlreichen Feinde behaupten: ein selbsternannter.

Wegenaers Heimkehr
5
Der Mann des Quadrats

Soap pads … der Kunsthistoriker als Reinigungskraft … Wegenaer fühlt in sich die Kraft, die, zugegeben, prägnanten Bilder hinter sich zu lassen und ernst zu machen: Wenn alle Kunst am Ende ist … nun, alle vielleicht nicht, aber die Kunst, (den Unterschied hat er sich bei Hegel gemerkt und wendet ihn gnadenlos an) –, dann steckt sie vielleicht im Ende, in Warhols Diktum, jeder sei Künstler, nun, vielleicht nicht jeder, aber ein jeder, der sich mit ihm ausreichend beschäftigt hat, um es in seiner ganzen Brisanz zu realisieren … einer wie er zum Beispiel, der nie auf die Idee käme, sich als Erbe einer großen Tradition aufzuspielen, schließlich hat er keinen Reiterhof geerbt und übt sich nicht im Dressurreiten, auf dass die hohe Kunst der Fortbewegung zu Pferde nicht vor die Hunde gehe. Wenn er zum Beispiel ein Rechteck zeichnet – zu seinem Erstaunen fühlt er die Verpflichtung, den Gedanken auszuführen und wirklich zu zeichnen –, wenn er dieses Quadrat zeichnet, ein simples, kunstloses Quadrat, ganz ohne Füllung, dann ist dies das Ende der Kunst, es steckt keinerlei Wiederholung darin, gleichgültig, wie viele Quadrate jemals auf dieser Welt gezeichnet wurden, es kann darin keine Wiederholung geben, keine wiederholende Weiterführung, denn es bleibt immer dasselbe Quadrat, es bleibt es selbst, doch nun aufgeladen mit dem Gedanken, dass in ihm die Kunst ans Ende gelangt ist und allen Betrachtern allen Respekt abverlangt, es ist State of the Art, ohne Aussicht darauf, dass sie sich je wieder aus diesen Niederungen erhebe. Beruhigend, dass nicht er als erster auf die Idee mit dem Quadrat verfallen ist, beunruhigend wäre es, in diesen Gefilden Erster zu sein, im Ernst ein Stück Wiederlegung des Grundgedankens, es kann hier keine Ersten und Letzten geben, nur die reine Praxis, dieser Gedanke wäre dann vielleicht doch neu, man muss ihn unausgesprochen lassen, damit er Wirkung zeitigen kann.

Wegenaers Heimkehr
6
Der Ungleichzeitige
Wegenaer: Mann des Quadrats. Während Wegenaer die Kunstwelt bestückt, erklärt eine Frauen-Vorhut das Quadrat, letztes Herrschaftssymbol des weißen Mannes, für obsolet, lässt den puren Gebrauchswert als Ausstellungsware zirkulieren: auch eine Realisationsform der Reinheit, aber jenseits von allem, was jemals als Kunst das künstliche Licht der Museen zu erblicken Veranlassung fand. Die letzten Künstler, Wegenaer empfindet es tief, gleichen den letzten Menschen aufs Haar: sie irren zwischen den neuen Menschen herum, als gäbe es keinen Unterschied, dabei sind sie wie Feuer und Wasser, jeder weiß es, jeder trägt dieses messerscharfe Bewusstsein bei sich, als sei er der Bote. Gewiss, sie sind freundlich miteinander, die letzten und die neuen, jedenfalls in der Regel, aber sie haben einander nichts zu sagen und sagen es sich ins Gesicht.
Mutationen der BBox
 

Partners in poverty

American Gulag
1
Ohr ©US
Nassen und Blowasser bereiten eine Konferenz vor

  • ―Wir hängen ja doch, sagt Nassen (er trägt neuerdings Bart), wir hängen ja doch von den Bewegungen des großen Kapitals ab. Und wenn ich sage, des großen, dann meine ich nicht irgendwelche hergelaufenen Milliardäre, die sonderbarerweise annehmen, sie hätten jetzt auch etwas zu sagen. So einer kann zur Not Präsident eines Mafiastaates werden, aber wenn er seinen Standesgenossen nicht passt, dann werfen sie ihn hochkant hinaus, eher früher als später, notfalls per Stimmzettel, warum nicht? Diese Leute spielen in einer anderen Liga. Und: sie haben eine Agenda. Wer glaubt, sie hätten keine, der ist natürlich naiv. Ich persönlich habe nichts gegen Naivität, ich möchte nur nicht davon befallen werden. Sollen die Leute doch naiv sein. Die Naivität der Vielen ist das Pfund, mit dem die Agilen wuchern, das ist allgemein bekannt.
  • ―Willst du hier Phrasen dreschen oder worauf willst du hinaus? Du, wir haben keine Zeit, die Konferenz startet in drei Stunden und wir haben unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht.

Mit Blowasser ist in diesem Augenblick nicht gut Kirschen essen.

  • ―Ich weiß, wovon ich rede.

Nassen redet pikiert, er trägt die Nase höher als sonst, Blowasser könnte die Löcher sehen, doch dafür müsste er sich bücken.

Sie haben zueinander gefunden, die beiden. Über sie herrscht die Beziehung.

American Gulag
2
Ohr ©US

Seit die beiden Tisch und Bett miteinander teilen, schwirrt zwischen ihnen die Vokabel ›Hausaufgaben‹ umher.

  • ―Erst einmal müssen wir unsere Hausaufgaben machen.
  • ―Soll der doch seine Hausaufgaben machen.
  • ―Es wird Zeit, dass ich endlich an meine Hausaufgaben gehe.
  • ―Hast du auch deine Hausaufgaben gemacht?

Blowasser ersetzt sie das Brüsseler ›chéri‹, er gebraucht sie abundant, als könne er damit das Scharren des Hundes an der verschlossenen Zimmertür übertönen. Die untere, weitgehend unterdrückte Lebenslinie, die den Falten seines Bewusstseins eingezeichnet ist und nicht weggehen will, verzehrt sich nach einem ›chéri‹. Geist heißt Leiden, wer wüsste das nicht.

Dazu gehört ein neuer, bisher dort, wo er anklang, verlachter Ton. Seit Nassen nicht mehr undercover unterwegs ist, sondern partner in friendship, gehört die Warnung vor Denunzianten zu seinem täglichen Repertoire.

  • ―Pass auf, wenn du den Raum verlässt. Das hier ist safer space. Aber vor der Tür … wer weiß.
American Gulag
3
Ohr ©US

Safer space…? In Blowassers Universum gibt es so etwas nicht. Sein Jagdrevier ist die Pyramide, sein Hochsitz das Büro, seine Büchse das Schreibgerät, zartsinnig auf dem Schreibtisch arrangiert: Monitor, Tastatur, Maus, das liebe Mäuschen, huschend unter Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, auch eine Blumenvase hat ihren Platz gefunden, Blowasser lehnt es ab, dass die Sekretärin ihm darin zur Hand geht, jeden Morgen leert er das Blumenwasser und lässt neues einlaufen, über Nacht abgestandenes, sorgsam den dünnen Strahl überwachend – nichts Überschießendes an dieser Stelle, dafür sind andere Orte besser geeignet.

Überhaupt findet er, dass Nassen zu viel Geschwätz von draußen in die Pyramide trägt. Das Draußen stört, pflegt er seinen Studenten in den Videoseminaren einzutrichtern, die er mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks abhält. In der Wissenschaft, merken Sie sich das, ist alles Konstrukt. Da draußen tut sich etwas, aber was, das entscheidet sich auf dem Feld der Theorie, und Theorien werden nun einmal konstruiert. Das ist nicht weiter schlimm, erschrecken Sie nicht, das hat seine Vorzüge, Sie werden einige davon kennen lernen.

(Was er nicht weiß: sie haben es sich längst gemerkt, seine Studenten wie die seiner Kollegen. Sie haben Verwaltungslaufbahnen eingeschlagen und konstruieren dort Wirklichkeiten, wie sie es im Seminar gelernt haben. Natürlich gibt das Blowasser recht, das wissenschaftliche Konstruieren geht heute bedeutend leichter von der Hand als in den Anfängen, er ist überzeugt, dass sich sein wachsendes Genie darin zeigt.)

American Gulag
4
Ohr ©US

Pass auf, kontert Nassen, da draußen tut sich was.

  • ―Diesmal oder immer?

Blowasser lächelt.

  • ―Das ist nicht wie immer. Die großen Kapitalien haben sich so vermehrt –
  • ―… dass es schon wieder heiße Luft ist. Spekulationsgeld.
  • ―Das auch. Aber diesmal sammelt es sich in verdammt wenigen Händen. Und diese Hände, sie zucken, sie wollen etwas gestalten, etwas Großes –
  • ―… something big. Ich weiß. Die Freunde der Welt wollen immer gestalten. Aber sie können eben nur raffen. Das Drama der Geldproleten. Wollen täten sie schon. Sie beherrschen halt nur diese eine Sache.
  • ―Mag sein. Immerhin beherrschen sie so die anderen. Doch diesmal haben sie genug Geld in Händen, dass sie den Rest der Welt damit kaufen können. Einfach wegkaufen. Sie kaufen sich also…
  • ―die Universität, willst du sagen. Die Pyramide: ein Schnäppchen.
  • ―Was wollen die mit Universitäten? Die kaufen sich die Öffentlichkeit, dann haben sie die Universitäten im Sack. Oder das, was von ihnen übrig bleibt, wenn man die Drittmittel abzieht.
  • ―Und die Regierungen. Was von ihnen übrig bleibt…
  • ―Und die Regierungen. Sag mal, willst du wirklich diese Krawatte tragen? Ich frage ja nur. Wenn du auf die Uhr sehen möchtest…
  • ―Die Öffentlichkeit ist immer gekauft. Das wissen wir doch.
  • ―Bei der Gelegenheit … dein Hemd sieht Scheiße aus.
  • ―Du bist wahnsinnig. Das sagst du mir jetzt?

Blowasser vibriert.

American Gulag
5
Ohr ©US

  • ―Geldproleten. Sie kaufen sich also die proles, das willst du doch sagen?
  • ―Wozu kaufen, was man auf dem Grunde seiner Seele doch ist? Nicht mal Funktionäre wollen heute gekauft werden, sie sitzen alle in einem Boot. Gekauft hat sie bereits das System. Die Proleten sind keine Macht mehr. Sie sind Rohstoff, der durch die Finger rieselt. Sie sind dabei.
  • ―Also bei was jetzt?
  • ―Bei der Verwandlung der Welt. Dem großen Knopfdruck. Sagte ich bereits. Zuhören könntest du mir schon, sonst schaffen wir das nie.
  • ―Wollen wir es denn schaffen? Wollen wir da wirklich hin?
  • Ich will es schaffen.
  • ―Du auch?
  • ―Die Diskussion führen wir später.

(Sie sind keine Scharfsteller, die beiden. Das macht sie begehrt. Als Team geben sie das Blenderpaar, das sie im Grunde ihres Herzens immer waren: Schaut her, hier sitzen wir und diskutieren das Schicksal der Welt.)

American Gulag
6
Ohr ©US

  • ―Worauf sind wir eigentlich vorbereitet?
  • ―Glaub mir, das wird ein Schock.
  • ―Fragt sich für wen.
  • ―Diese Krawatte ist himmlisch. Nein, nicht die. Stop. Wir gehen auf Reset. Wir müssen neu nachdenken. Das geht so nicht.
  • ―Ich kann dir jetzt gerade nicht folgen.
  • ―Du sollst mir nicht folgen. Diesmal nicht. Ich brauche deine Kreativität.
  • ―Ich nehme diese.
  • ―Passt. Was ich sagen wollte…
  • ―Ja?
  • ―Du hintergehst mich doch nicht?
  • ―Wie meinst du das jetzt?
  • ―Etwas hast du in petto, ich seh’s dir an. Wenn du mich blass aussehen lässt –
  • ―Ist das eine Drohung?
  • ―Ach du. Wovon reden wir? Von gekauften Regierungen? Die Nummer hatten wir schon. Reden wir doch von der Plattformökonomie.
  • ―Alle Welt redet von der Plattformökonomie. Also reden wir von etwas anderem.
  • ―Sprich weiter. Wir kommen der Sache näher. Wie viel Zeit haben wir noch?
  • ―Wenn du mich fragst: alle Zeit der Welt.
  • ―Das ist nicht viel. Aber gut, mehr brauchen wir im Augenblick nicht.
  • ―Woran denkst du?
  • ―An das Elend der Vielen.
  • ―Du meinst…?
  • ―Ich meine.
  • ―Das ist kein Clubthema, das weißt du?
  • ―Natürlich ist das kein Clubthema. Deshalb machen wir es dazu.
  • ―Wenn uns das mal gelingt. Aber es ist so besetzt. Dystopien find’ ich bekloppt. Wie findest du Dystopien? Sie sind so … dystopisch. Aufgebretzelt, wenn du weißt, was ich meine. Dieser ganze Big-Brother-Hype lässt doch den wirklichen Menschen außen vor. Es gibt keine Dritte Welt mehr. In dieser Welt gibt es nur competitors. Es gibt auch keine Erste Welt mehr. Das hat sich herumgesprochen. Das soziale Problem ist gelöst. Manchen trifft’s hart, vor allem, wenn du im Slum hockst und der Fernseher geht kaputt. Da wächst ein Riesenproblem heran. Aber, ehrlich gesagt, das wussten wir schon vor fünfzig Jahren. Entschuldige, wenn ich das sage.
  • ―Willst du das wirklich sagen? Ich meine, das mit den fünfzig Jahren? Da wächst ein Riesenproblem heran… Dazu fällt mir ein: Sprechen wir die Sache mit den Impfungen an?
  • ―Welche jetzt? Sterilisation? Zwangsimpfung? Scheinimpfung? Verdeckte Implantationen? Impfterror? Junge, Junge, bist du naiv. Wenn du erst in dieses Fahrwasser kommst…
  • ―Der digitale Gesundheitspass ist clean. Damit können wir locker drei Stunden bestreiten und haben Oberwasser.
  • ―Du meinst?
  • ―Ich meine.
  • ―Und denk an die Knöpfe. Ich merk mir das nie.

Oberwasser. Was für ein Wort.

 

Da tut sich was

Paradise blue
1

Im Netz kursiert ein Video, auf dem eine abgerissene Person – ein paar Jahre früher hätte man sie liebevoll-abschätzig als Penner bezeichnet – einen Polizisten beleidigt. Der Zwischenfall spielt in einem öffentlichen Verkehrsmittel, der Rhein-Ruhr-Bahn vielleicht, vielleicht auch in der U-Bahn einer anderen Stadt, eng geht es zu, doch um die beiden ist leerer Raum, den die Kamera sich zunutze macht. Der Polizist antwortet kaum, murmelt ein paar begütigende Wort wie »Lass mal« und »Beruhigen Sie sich«, »Komm runter«, so wie man auf einen Betrunkenen einspricht, der eben im Begriff ist, einen Streit vom Zaun zu brechen, dessen unausweichliche Resultate er nicht mehr überblickt. Doch dieser Mann ist nicht betrunken und er provoziert weiter. Er steht dicht vor dem Polizisten, so dass er ihn fast berührt, und spuckt ihm seine Worte ins Gesicht – rauen, ätzenden Sprachschlamm, menschlichen Auswurf jenseits von Gut und Böse, der Polizist wankt und weicht nicht, er bleibt die Freundlichkeit in Person, fast könnte man meinen, er beachte den anderen nicht, oder nicht wirklich, nicht dienstlich: fast wie ein Kumpel, ein Schwager vielleicht, der weiß, welche familiären Zusammenstöße es auslöst, wenn er jetzt falsch reagiert, versunken in die dienstliche Weihehandlung, genannt ›Deeskalation‹, als habe er sie zu oft und zu intensiv trainiert, um jetzt von ihr zu lassen und die Situation aus einer umfassenderen Perspektive zu beurteilen. Denn inzwischen hat sich der zu erwartende Ring aus Zuschauern, Zuhörern, Zuspät- und Zukurzgekommenen um die beiden gebildet und verschmilzt mit ihnen zu einer Szene.

Paradise blue
2

Die abgerissene Person – man muss sie als ›Mann‹ bezeichnen, ganz sicher werden die Medien, soweit sie über den Vorfall berichten, sie als ›Mann‹ bezeichnen, ungeachtet aller journalistischen Selbstverpflichtung, die sexuelle Autonomie der Menschen zu achten, auch und gerade wenn kein Berichterstatter wissen kann, zu welchem Geschlecht die Person selbst sich zugehörig fühlt –, die abgerissene Person treibt das Spiel, das kein Spiel mehr ist, weiter, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet, denn der Polizist, müde offenbar der monotonen Beschimpfungen, hat, unvorsichtig vielleicht, der Kette seiner ›rituell‹ zu nennenden Beschwichtigungsversuche ein ›sonst…‹ eingefügt, die nebulöse Andeutung einer Konsequenz, die das Verhalten des Fahrgasts – nennen wir die Person ›Fahrgast‹ und bleiben wir hübsch neutral – nun einmal irgendwann in einer nicht weiter qualifizierten Zukunft nach sich ziehen könnte. Als habe sie auf diese Zuspitzung nur gewartet, wechselt die Person ins Verfolgtenregister und stößt eine Reihe von Drohungen gegen die Staatsperson aus, die von äußerster Furcht-, ja Sorglosigkeit hinsichtlich etwaiger Verfolgung seitens der Staatsmacht Zeugnis ablegen sollen, womit die Furcht unmittelbar auf die Corona von Gaffern überspringt: Sollte es sein, dass der Staat, herausgefordert von Mann zu Mann, tatsächlich kneift? Was passiert dann? Der Fall verspricht spannend zu werden, etwas wie das Schicksal aller steht plötzlich im Raum und wird, wie es aussieht, auf fahrender Bühne verhandelt – eine solche Verhandlung unterbricht man nicht, man stört sie nicht einmal, man will wissen, wie der Staat reagiert, um sein künftiges Verhalten danach einzurichten. Wirklich holt der Mann, offenbar um das Gesagte zu unterstreichen, aus und schlägt dem Polizisten vor den Bauch.

Paradise blue
3

Zweifellos ist der Mann in einer Art Paradies angekommen. Er fordert die Staatsmacht heraus und sie … kuscht? Kuscht sie wirklich? Sie hält sich an ihre Vorschriften. Es ist das Mindeste, was sie tun kann, sie würde ihren Auftrag verraten, ließe sie sich provozieren. Andererseits: Provokation heißt nun einmal Herausforderung, wer sie nicht annimmt, ist kein Mann. Ist die Staatsmacht ein Mann? Nein, das ist sie nicht. Kann einer die Staatsmacht herausfordern? Oh ja. Fast täglich sind ihre Mannschaften in den Zentren der großen Städte unterwegs, weil irgendjemand beschlossen hat, sie herauszufordern: Rangeleien am Rande von Demonstrationen, die sich blitzschnell zu richtigen Gewalttätigkeiten auswachsen können, Angriffe auf Dienstpersonal der Feuerwehr und anderer Einsatzdienste, die an den kleinen und größeren Brennpunkten der Gesellschaft ihren Pflichten nachgehen, die allnächtliche Verwandlung öffentlicher Plätze in Zonen verminderter Sicherheit (oder vermehrter Unsicherheit, wie man’s nimmt), Richter werden bedroht, Staatsanwälte, Einsatzärzte, Amtsärzte, Sachbearbeiter, selbst Krankenschwestern, oft genug bleibt es nicht bei der leeren Drohung: das alles geschieht, es geschieht pausenlos; geschähe es nicht, könnte man sich fragen, wozu all diese Staatsmacht nütze sei, da den Menschen die Neigung eigne, ihre Angelegenheiten friedlich zu regeln, was im Großen und Ganzen auch stimmt. Dieser Mann hier – unser Mann, konstatiert die jäh erwachte Aufmerksamkeit – könnte vielleicht zu den Anhängern des Friedfertigkeitsdogmas zählen, der Lammsgeduld, die jede staatliche Gewalt zutiefst verabscheut, weil sie den Bürger in ein abhängiges, zuinnerst unmündiges Wesen verwandelt, das überwacht werden muss, da es sonst ausfällig wird, und gerade diese Überzeugung lässt ihn angesichts einer zufällig seinen Weg kreuzenden Zivilstreife ausfällig werden, sie macht ihn rasend (denn das hier ist Raserei, jeder Anwesende empfindet es so), sie lässt ihn Grenzen passieren, die sonst dafür sorgen, dass Alltag ist. Er könnte, sicher sollte man sich da nicht sein.

Paradise blue
4

Die Perspektive … wieviele Kameras sind im Raum? Dreißig, vierzig? Siebzig? Wie viele sind auf die Szene gerichtet? Drei, fünf, zehn? Wo stecken die anderen? Was nehmen sie auf? Den Boden unter den Füßen…? Er ist beteiligt, gewiss, der Boden unter den Füßen, er ist der Grund des Zusammenstehens, denn er bewegt sich doch. Er bewegt sich doch. Er bewegt sich doch, oder nicht? Steht er in diesen Momenten still? Diese Szene, diese Szene, aufgenommen von einer Kamera, aus einer Perspektive, schafft den Weg nach draußen, die anderen bleiben eingeschlossen in die Wahrnehmung weniger, allzu weniger, anonymer Zeitzeugen ohne Zeit, Passanten eben, die nichts weiter wollen als weiterzuwollen. Man stelle sich vor, sie ließen sich anzapfen, man könnte die Filme kopieren und senden: Wie wirr wäre das? Nun gut, wirr ist hier alles, ein bisschen Wirrnis mehr oder weniger fällt da nicht auf. Offenkundig handelt es sich um eine Traumsequenz. Sie geht vorbei, sie wird vorbeigehen, das ist der einzige Trost, ein winziger Trostsplitter, den sie, tanzend im Strudel, mit sich führt. So ein Trost lässt sich nicht filmen, vielleicht bleiben die stets griffbereiten Kameras, eine ausgenommen, deshalb in ihren Halftern oder verkümmern untätig in den Händen ihrer konsternierten Besitzer.

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Die Polizei … wo bleibt die Polizei? Wenn man sie braucht, ist sie nicht da. Hier würde sie gebraucht und … sie ist zur Stelle. Unglücklicherweise ist sie zur Stelle. Gerade darin besteht ihr Problem. Sie hat ein Problem, die Gute, wäre sie nicht zur Stelle, hätte sie keines. Das fällt auf. Die Staatsmacht sollte Distanz zu den Problemen der Bürger halten, das dient ihrer Reputation und hilft, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Ein Mann wird angepöbelt und schließlich handgreiflich attackiert: »Polizei!« Ein Handy findet sich immer im Raum, das sie ruft – ein Ordnungsfaktor ersten Ranges, unersetzbar, kostbar, ein Zivilisationszeichen erster Güte. Hier wird die Polizei angegriffen und nichts passiert. Man will wissen, wie sie sich in so einem Fall behilft. Ein Polizist, der sich nicht zu helfen weiß, stellt die Staatsmacht bloß, er ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, er gehört suspendiert. Wird dieser hier suspendiert? Nein, er wird höheren Orts gelobt: Er hat alles richtig gemacht. Er wird belobigt ob seiner besonderen Verdienste, denn er zeigt, wie man es richtig macht. Das Publikum, darüber verwundert und ein wenig verwirrt, will auch gelobt werden, schließlich trägt es das Seine dazu bei, dass niemand gelyncht wird und die Szene nicht zur Massenschlägerei ausartet. Zweifellos verhält es sich ebenso besonnen wie der Polizist, recht betrachtet sogar ein winziges Stückchen besonnener, denn es enthält sich jeder, selbst der kleinsten Provokation. Nein, es tut keineswegs so, als ginge es die Szene nichts an. Es ist gespannte Aufmerksamkeit, denn es weiß: was sich hier abspielt, geht es etwas an, geht jedermann etwas an. Besser, man prägt sich jede Kleinigkeit ein, um sie nie wieder zu vergessen, denn hier entscheidet sich womöglich unser aller Schicksal: das Schicksal einer polizeilich gesicherten Welt, an die wir alle unendlich gewöhnt sind.

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Die pünktlichsten Züge sind die Gesichtszüge. Sie können entgleisen, ohne aus dem Plan zu fallen. Leckebusch, einer der Angepöbelten selbst, hat seinen Tram-Kurs hinter sich gebracht und weiß, wie es ist, öffentlich angefallen zu werden und keiner Hilfe gewärtig zu sein. Er hat ein Buch geschrieben und seither ist die Bande der Verleumder hinter ihm her. Er hat viele Bücher in seinem Leben geschrieben. Dieses, mit Herzblut geschrieben, wurde ihm zum Verhängnis. Vor kurzem mischte er sich ein, als ein Unbekannter im Bus eine Frau mit Schmähungen überzog, darunter sexuelle Grobheiten, die den mitteleuropäischen Raum entschieden hinter sich ließen. Man muss nicht jeden Irrsinn dokumentieren. Von den Umsitzenden wurde seine Einmischung abfällig vermerkt: Sie war gegen die Regel. Welche Regel? Die emanzipierte Frau steht ebenso auf dem Prüfstand wie der einsame Polizist: Wird sie sich wehren? Kann sie sich wehren? Die emanzipierte Frau lehnt, ähnlich dem Polizisten, der sich jede laienhafte Einmischung in seine dienstlichen Belange verbittet, männliche Hilfe ab. So hat die Welt es verstanden – schelte einer die Welt! Also gilt in beiden Fällen die Regel: Hilf dir selbst. Was geht es dich an, wenn diese da scheitert? Nicht anders der Anwalt, dem Leckebusch, Entrüstung im Tonfall, die Tiraden seiner Verleumder vortrug: Was geht’s den Staat an, wenn Sie sich in Schwierigkeiten befinden? Sie mögen sich verleumdet fühlen, doch was Sie mir da vortragen, ist, verzeihen Sie den Ausdruck, Standard: gedeckt durch Meinungsfreiheit und, wer weiß, vielleicht ein Stück notwendiger Aufklärung über einen wie Sie. Wer sind Sie schon? Wer ist dieser Polizist? Er vertritt die Ordnung und tritt sie selbst mit Füßen, weil er sich nicht zu helfen weiß. Doch, er weiß sich zu helfen, so wie der Kneipenwirt sich zu helfen weiß, der dichtmacht, weil er sich einer bestimmten Klientel nicht mehr zu erwehren weiß. Dieser Polizist macht dicht. Gern würde auch er, Leckebusch, dichtmachen, aber er wüsste nicht warum. Etwas in ihm sträubt sich dagegen.

Paradise blue
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Nein, es ist nicht der Polizist, der dichtmacht. Er ist nur das Schiebefensterchen, das sich schließt. Die Hand, die sich seiner bedient um dichtzumachen, bleibt unsichtbar. Sie ist nicht die Hand des Staates, der sich vieler Hände bedient, jeder zu ihrer Zeit, an unterschiedlichen Orten, zu Zwecken, die einander so wenig gleichen, dass die Halbklugen bereits ›Verschwörungstheorie‹ murmeln, wenn jemand ihn überhaupt als Urheber in Betracht zieht. Der Staat ist niemand. Der Polizist ist nicht niemand. Er hat einen Beruf, er hat Vorgesetzte, er hat ein Privatleben, er hat sich gerade verschuldet, er muss ein Haus abbezahlen oder seine Kinder, nachdem die Partnerin ihn vor die Tür gesetzt hat, er hat auch Ansichten, teils die üblichen, die niemanden interessieren, teils solche, die im Verborgenen blühen, für die sich vielleicht jemand interessieren würde, obwohl sie auch die üblichen sind. Er hat einen schmerzempfindlichen Körper, er hat eine schmerzempfindliche Psyche, er hat – auch er! – eine Ehre, von der er nicht weiß, ob sie ihm gerade genommen werden soll oder ob sie sich nicht bereits vor Jahren in die Büsche geschlagen hat, er glaubt, halb und halb, an ein Berufsethos, das ihm rät, in dieser Situation nicht zu versagen, sondern sie durchzustehen, wie es ihm eingeschärft wurde, teils der Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten wegen, die andernfalls auf ihn zukommen würden, teils, um sich nicht selbst das Etikett ›Versager‹ umhängen zu müssen, teils aus Trotz: Was geht’s mich an. Und, ganz im Ernst: Was geht es ihn an? In Situationen wie dieser spaltet der normale mitteleuropäische Mensch sich auf: ein Teil geht da-, ein Teil dorthin, einige machen sich unsichtbar, andere schweben über der Szene, der Rest filmt. Dort, wo es in anderen Kulturen hart zur Sache ginge, filmt der europäische Mensch. Es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, es ist sein Herzblut. »Das werde ich nie vergessen«, murmelt der europäische Mensch und füllt seine Festplatte.

Paradise blue
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Bleibt also der Mann. Der zusatzlose ›Mann‹ der Medien in seinem verbrauchten Outfit, dessen Erscheinung jeder Beschreibung spottet, weniger, weil sie so sehr außerhalb des Üblichen fiele, sondern weil bereits die Schutzmauern der journalistischen Sorgfaltspflicht um ihn hochfahren und ihn den Blicken der Allgemeinheit entziehen, die sich längst am kommentarlosen Video schadlos hält und ihre Mutmaßungen im tausendfachen Hinterkopf verbirgt. Was ihn treibt? Nun, auch hier das Übliche, völlig ausreichend für diesen banalen Fall. Einer will Aufmerksamkeit erregen und – da ist sie. So einfach geht das. Er will Aufmerksamkeit auf sich ziehen, auf seine Person, nicht auf sein abgerissenes Äußeres, sondern auf sich, als wollte er sagen: Seht, ein Mensch. Er könnte es auch ›auf Lateinisch‹ sagen und seine Wundmale vorweisen. Doch das gibt die Penne, soweit er sie besucht hat, nicht her, oder er hat den Ausspruch vergessen, weil es nichts bringt. Wahrscheinlich würde, wer ihm dergleichen vorschlüge, einen Wutausbruch provozieren und müsste sich schleunigst in Sicherheit bringen. Die Fäkalkultur, in der er sein Zuhause aufgeschlagen hat, hält dafür den Ausdruck ›Was soll der Scheiß?‹ bereit, er hat ihm schon gute Dienste geleistet, er denkt nicht im Traum daran, auf sie zu verzichten. Der Ausdruck ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er ist Fleisch von seinem Fleische und Blut von seinem Blut und er will, dass alle davon kosten dürfen, denn er hält sich für kostbar.

Paradise blue
9

In diesem Fall will er nicht bloß Aufmerksamkeit erregen. Dafür würde es genügen, sich hinzustellen und auf den Gang zu pinkeln oder sein Armutssprüchlein aufzusagen und ein vernichtendes »Gutntachnoch« hinterherzuschicken, um den kaum aufblickenden Mitfahrenden ihre Hartherzigkeit ins Gehirn zu ritzen. Nein, er will seine Wut an den Mann bringen und er verlangt vom Staat und seinem Vertreter vor Ort, sich als Dienstleister zur Verfügung zu stellen. Denn seine Wut ist auf Ordnung getrimmt und braucht einen ordentlichen Adressaten, nicht das Kind auf der Bank, das seinen Rucksack umklammert und ihn mit offenen Augen anglotzt, nicht den hageren Geschäftsmann, der sich gerade fragt, ob er nicht doch lieber das Taxi genommen hätte, oder … oder… Er hat sie alle taxiert und verworfen. Ordnung macht obszöne Gedanken. Diese Wut, diese aufspringende Wut, die er einem Klappmesser gleich zusammenfalten und wegstecken könnte, fände nur einer der Umstehenden den richtigen Knopf … es gibt eine Reputationsordnung der Wut, so wie es eine der Berufe gibt oder der Titelinhaber oder der Meisterdenker, in dieser Ordnung steht der Staat obenan, der Bullenstaat, wie ihn die Aufbegehrenden einst nannten, da kommt jeder Bulle, der sich in der Menge verläuft, gerade recht. Dieser hier hat sich nicht verlaufen, er waltet seines Amtes, so ein Glücksfall findet sich nicht alle Tage, wer da nicht zulangt, der … der … dem ist nicht zu helfen. Also bedient er sich, ein bisschen so, als wäre er an einem eingeschlagenen Schaufenster vorbeigekommen und die Auslage hätte ihn angelacht – was hätte er tun sollen?

Mann
 

Wie geht das: ganz Ohr sein?

Wegenaer telefoniert
1

Gedanklich gesprochen, bewegt Wegenaer sich auf plattem Terrain. Er gefällt sich, indem er sich nicht gefällt. Die Feststellung, so absurd sie klingt, gefällt ihm selbst. Er versucht sie mit Vorstellungen zu füllen, weit weg vom Mainstream, nur fort. Selbstredend! Denn Wegenaer hält große Stücke auf Distinktion. Gern möchte er die feine Spur eingebildeter Trauer um Augen- und Mundwinkel, die ihm am Philosophen Dassler so gut gefällt, dem eigenen Gesicht eingeschrieben wissen. Doch gefehlt! Sobald er es im Spiegel betrachtet, macht sich Enttäuschung breit: die Stirn zu breit, das Kinn zu weich, das Auge gutmütig bis zum Abwinken. Daraus wird nichts, in diesem Leben nicht mehr und im anderen… Daraus konnte nie… Er betrachtet sein Gesicht, wie er die Predella betrachten würde: mehr in Gedanken als Strich für Strich. Zu oft hat er es gesehen, es durchsehen müssen, als dass ein vertrauter physischer Zug seine Wahrnehmung auffrischen und in den Zirkel sinnlicher Neugier zurückbannen könnte.

Wegenaer telefoniert
2

Im Spiegel ist jeder ein Sechzehnender. Eine zweifelhafte Sentenz. Leicht verschwommen, aber gut lesbar, im Schriftzug an eine gepflegte Baskerville erinnernd träumt sie im Hintergrund, wann immer im Spiegel sein Ebenbild aufscheint. Ein ›Unebenbild‹, recht betrachtet. Wegenaer prüft seine Wörter wie andere die Reifen ihres Straßenrenners: Stimmt der Druck? Reicht das Profil noch? Oder sind sie schon jenseits des Vertretbaren und müssen gewechselt werden? Selbst ein Kunsthistoriker ist nicht immer flüssig und gerät hin und wieder an seine Grenzen. Dann müssen die Ausdrücke länger halten als eine aus einer verjährten Recherche destillierte Überzeugung. Ein Reizwort wie ›Unebenbild‹, richtig eingesetzt, kann segensreich wirken: das herausgeforderte Sprachgefühl, bereits zum Protest aufgelegt, kommt ins Stocken und vergrübelt sich. Daraus lässt sich gut und gern eine Vorlesungsstunde bestreiten. Reizwörter liebt Wegenaer über alles. Im Sprachuniversum des Dozenten kommen sie gleich hinter den von ihm so genannten Aufziehwörtern: man setzt sie auf eine ebene Fläche und sie spulen, praktisch selbsttätig, ein ganzes Programm ab. ›Uneben‹, um im Beispiel zu bleiben, wäre das zweidimensionale Abbild zu nennen, weil es prinzipiell unauslotbare Tiefen schafft, statt sich, wie das Modell, mit sanften Gewebe-Modulationen zufrieden zu geben. An dieser Stelle angelangt könnte er auf einfache Weise die ›fordernde Gewalt des Konterfeis‹ einführen, vergleichbar der bekannteren des Nichts, das bekanntlich alles fordern kann, um … nichts zu erhalten: ein Scherz, ein verbaler Triangel, der womöglich mehr über die Sache verrät als ein vorgehaltener Terminus, auf den sich die Philosophen-Zunft irgendwann in mühsamen Verhandlungen geeinigt hat.

Wegenaer telefoniert
3

Was fordert das Konterfei vom Betrachter? Zunächst: nicht viel. Eher scheint es ihm etwas zu geben, einen Eindruck zumindest, den es bei genauerem Hinsehen verweigert. Es ist der verweigerte Eindruck, der Eindruck macht. Ein Bild eindrücken heißt es zerstören. Bei der Plastik ist das anders, hier entsteht, wie es sich gehört, das Bild im Auge des Betrachters, während es im Spiegel … oder auf der Leinwand … gleichsam herausoperiert, auf eigene Faust existiert, und eben deshalb, anders auch als im Film, sich verrätselt, sich als Rätsel dem Auge nähert, das unschlüssig die richtige Distanz zu suchen beginnt. Aus welcher Entfernung ist ein Konterfei Bild? Das kommt auf den Zweck an, sagt der prüfende Blick. Mag sein, mag nicht sein. Der Prüfzweck erschafft kein Bild, er rückt ihm zu Leibe. Hat das Bild einen Leib? Strikt gesprochen: nein. Alles in allem ist der materielle Träger das Gegenteil eines Leibes. Eine Glasplatte, mit einem Mix aus Silber und Glukose hinterlegt, reicht völlig aus, um das Bild zu ›erzeugen‹, sprich, aus ›Zeug‹ erstehen und auf seine Weise ›Zeugnis‹ geben zu lassen. Welche Materialien ein Künstler benötigt… Die moderne Kunst ist wahrlich weite Wege gegangen, um der Sinnstiftung durch Öl zu entgehen, nachdem die Palette der Ölfarben ein paar Jahrhunderte lang die Welt der Bilder in sich zu enthalten schien. Dem Gefängnis der Ölfarben konnte die Kunst entlaufen, dem Bild nicht. Wer will, darf es ›Simulacrum‹ nennen. Was bessert das? Es verschlimmbessert nur, weil es die Differenz zwischen Bild und Plastik beiseite wischt. Das Gros der Kollegen arbeitet so – jemand tackert mit Hilfe von ein, zwei Klammerbegriffen zusammen, was bis dahin unter getrennten Bezeichnungen lief. Durch diesen scheinbar harmlosen Eingriff erschafft er das Monster der Saison, an dem alle sich abarbeiten, bis es wieder im Abgrund der Ideenlosigkeit versinkt, aus dem es aufstieg.

Wegenaer telefoniert
4

In diesem Moment – es muss schon ein ›Moment‹ sein, anders funktioniert die Story (eigentlich keine Story, sondern eine Art Schicksalsverkettung) nicht –, in diesem Moment schellt das Telefon – man sagt noch immer, ›es schellt‹, obgleich weit und breit keine Schelle ertönt, wohl aber ein paar ausgesuchte Takte aus Smetanas Moldau dem Ohr des Angerufenen schmeicheln –, Wegenaer, agil und prompt nach dem Hörer greifend, ahnt nicht, dass dies der Anruf ist, ›der sein Leben verändert‹ (gut möglich auch, dass er es wissen könnte, ohne es zu glauben, da er, im Leben wie in der Kunst, nicht an Anrufe glaubt), er ahnt gar nichts, das ist auch unnötig, da sein Leben, gerade jetzt, weit offen steht wie das sprichwörtliche Scheunentor und die Person X, die da hereinspaziert, zwar Wert auf Vorzeichen und Ahnungen legt, aber doch erst, nachdem sie abgelegt und das Fenster geschlossen hat – eine Geste, die Wegenaer in natura noch viele Male erleben wird, während sie bei diesem ersten Mal rein akustisch … vorgeführt…

  • ―Ja bitte?

Die Kunst, nein, die ganze Kunst besteht darin, nein zu sagen, nicht ›Nein!‹ und nicht ›nein…‹, sondern einfach nein: sie gehört, als Form der Rede betrachtet, zu den großen Verneinern, jedenfalls im Gewebe dessen, was die Europäer ›Kultur‹ nennen und was großenteils nichts weiter beinhaltet als die Überreste gewalttätiger Auseinandersetzungen, wie die behördliche Verlautbarungssprache das nennt, es sei denn, man studiert sie am Leitfaden der Kunst, um am Ende das Positive überwiegen zu lassen. Leider ist das Ende der Kunst selbst gewalttätig, so fügt sie sich in den Reigen europäischer Großereignisse ein, nachdem sie lange ihre eigene Ereigniskette gepflegt hat, in der alles, was geschah, sich dem Diktat der Schönheit zu beugen hatte. Zu beugen, gewiss, die Kunst hat Europas Barbaren aufs Knie gezwungen, eher gingen sie aufs Schafott, als dass sie jemals der Einsicht die Ehre gaben. Vor der Kunst haben alle den Hut gezogen – kein Wunder, dass sie heute, in einer Welt ohne Kopfbedeckungen, den Kürzeren zieht.

  • ―Wegenäär? Nein, ich heiße Wegena-er, so ist es, am Apparat. Was kann ich für Sie tun?

Am ›Wegenäär‹ erkennt Wegenaer den Künstler.

 

das Schwere leicht

Homomaris
1

Homomaris, eingedenk seines fortgeschrittenen Greisenalters, kämpft. Auf einen Zettel hat er den Satz gekritzelt: »Wer sammelt Sammler?«, auf einen anderen die Formel »X ≠ U« nebst einem sorgfältig ausgezogenen Quadrat: Vorboten der Zettelflut, die er nach und nach, wie Aktäons von Diana auf ihren verzauberten Herrn gehetzte Meute, Wegenaer ins Haus oder, um im Bild zu bleiben: auf den Hals schickt. Verblüfft muss dieser hin und wieder die Lupe zur Hand nehmen, um die einlaufenden Botschaften zu entziffern. Viel nützt auch das nicht. Der geheime Sinn dieser Notizen heißt Chaos. Was auf den ersten, zweiten und dritten Blick wie altertümlich anmutendes Gekrakel daherkommt, entdeckt sich dem forschend grübelnden Auge als Abfolge winziger Kunstwerke: tief ins Faserwerk des Büttenpapiers eingedrungener und mit ihm verbackener signa, die zwar, aus mittlerer Entfernung betrachtet, als Buchstaben durchgehen, aber in ihrer kleinteiligen Fülle Assoziationen an frei programmierbare Zeichensysteme Raum geben.

Homomaris
2

Der Zeichner Homomaris scheint das Zeichnen aufgegeben zu haben. Anders gesprochen: Krakelschrift und Zeichnung folgen dem gleichen Muster. Um das festzustellen braucht Wegenaer keine Lupe. Eher wundert ihn, dass der scherzgeborene Gedanke jedem ernsthaften Einwand standhält, ihn schließlich sogar überwindet, so dass der Professor, die tiefe, mit einem leichten Quäkton nach oben abgerundete Telefonstimme im Ohr, nach einer Woche innerer Kämpfe sich bereit findet, den Absender einen ›genialen Krakler‹ zu nennen – ohne zu wissen, worauf er sich damit einlässt. Denn Homomaris drängt nach, vielleicht zu sehr, so dass dem Geständnis eine leichte, vom Meister der signa vorausgesehene Abkühlung folgt, die dieser für eine größere Zusendung nützt: ein den Sinnen schmeichelndes Druckwerk, das Wegenaer, verunsichert, aus mehreren präzise gewickelten Lagen Seidenpapier schält und abschätzend, denn es besitzt die von Repro-Drucken gewohnte Schwere, in der Hand wiegt. What comes next?

Homomaris
3

Wieder und wieder stellt sich die Frage in diesen Tagen. Homomaris hat keine Zeit mehr. Er hat die längste Zeit im Aufschub gelebt und will, Wegenaer im Visier, reinen Tisch machen. Warum Wegenaer? Homomaris hat, still im Kämmerchen, nachgedacht und die Lösung ist einfach: das Quadrat bedarf der Füllung. Homomaris mag das Quadrat nicht, er hasst es geradezu und verachtet seine Expropriateure. Eben das hat seine suchende Aufmerksamkeit auf Wegenaer gelenkt, den Quadrat-Wegenaer, wie er ihn am Küchentisch nennt, als gebe es in diesem Gewerbe noch einen dem Quadrate-Geschäft abgeneigten Namensvetter, was aber nicht der Fall ist. Er hat einen Vortrag von ihm besucht und die falsche Magie des leeren Quadrats, ein ums andere Mal auf die ausgerollte Leinwand geworfen, zum ersten Mal nackt erlebt, ohne farbliche oder chemische Zusätze anderer Art, auf offener Bühne, denn bei sich, im Bann der eigenen Kritzeleien, praktiziert er sie als eine Art Gegenzauber, um die bösen Geister der Abstraktion zu bannen und sich abzugrenzen gegen die Zumutungen einer durchästhetisierten Lebenswelt, in der ein mit Pop-Farben nachgebesserter Malewitsch, millionenfach abgekupfert, noch immer als verkaufsfördernder Blickfang gilt. Les extrêmes se touchent. Die robuste und alltagstaugliche Maxime hat Homomaris sein Leben lang gute Dienste geleistet, dieses eine Mal vertraut er ihr blind. Was soll schon passieren? Ein verprellter Experte mehr oder weniger macht das Kraut auch nicht fett. Im Gegenteil, er hält es schön dünn und deshalb wählt der ›Mann des Meeres‹, halb träumerisch, halb listig berechnend, aus seinem umfangreichen Œuvre den Titel, von dem er sich in dieser Hinsicht die besten Dienste verspricht:

Zwischenformen der Heilkunst
Ein Werk für Alle und Keinen
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Medien
der Pyramide Digitales Archiv Dokumentationen Projekte

 

Archiv der verschollenen Bücher

 

Das Homomaris-Serum beginnt zu kreisen

Ein Werk für alle und keinen
1

Wegenaer, das Buch durchblätternd, fortlegend, holt es zurück. Ihm liegt eine Doktorandin im Sinn, deren Arbeit nach einem Abschluss verlangt: Das kleine Werk im großen. Künstlerschriften des zwanzigsten Jahrhunderts. Die perfekte Zusammenführung von Bild und Text, ihre Verschmelzung im Angesicht des Lesebetrachters, dem das Auge übergeht und mit dem Auge der Sinn –: so in etwa lautet die Formel, mit der die junge Dame ihn quält, weil er sie einerseits für banal, andererseits für ausreichend hält, ein solches Projekt zu legitimieren, vorausgesetzt…
… vorausgesetzt, es findet sich noch ein Werk, das den femininen Anspruch auf Perfektion glaubhaft transportiert, denn daran hapert es. Vielleicht liegt hier ein Anlass, erneut darüber zu reden, und sei es ein dilettantischer: soll sie doch herausfinden, was es mit dieser Zusendung auf sich hat, die so offenkundig an seine Zuständigkeit appelliert und sie eben dadurch verfehlt.
Recht gewogen, fühlt das Buch sich leicht an, eines unter Millionen, der graue Einband, durch einen schwebenden Blauton von den Toten erlöst, fällt breit genug aus, um das Öffnen zu einer großspurigen Handlung aufzublasen: eine Spur nur, merklich, doch nicht ins Umständliche verfallend – perfekt wie alle Konfektionsware, die in einem tausendfach erprobten Format daherkommt.

Ein Werk für alle und keinen
2

Wegenaer wäre nicht Wegenaer, hielte er an dieser Stelle allzu lang inne. Ein Blick auf das Einbandmotiv, ein flüssig beschriftetes Aquarell, hat ihm den Pastiche verraten und der einmal gewonnene Eindruck setzt sich von Abbildung zu Abbildung fort … als habe einer zu lange in Surrealisten-Katalogen geblättert und sein Pinsel habe ihm zugeflüstert: Das können wir auch. Aber gewiss doch, wer kann es nicht? Perfekt! Die Meister des Imperfekt kopiert man nicht ohne Schaden, nicht ohne Schaden… Man riskiert Missachtung, geht man in dieser Form auf Beachtung aus. Mehr: man riskiert Geringschätzung, wenn man allzu laut Anspruch auf ein Erbe erhebt, das längst Gemeingut geworden ist.
Die Hohenzollern können ein Lied davon singen, aber sie stehen damit nicht allein. In diesem Punkt ist die Kunst gnadenlos. Homomaris? Ein Scharlatan mehr. Mag Lydia ihn entlarven, ihr traut er es zu. Auf diese Weise könnte sie auch das Stück Vertrauen in ihre Arbeit herbeischaffen, das ihm bisher noch abgeht – ein hübscher Nebeneffekt, bei dem er vor und hinter dem Vorhang hantiert, als Schauspieler und Beleuchter.

Sie braucht die Coda.

Ein Werk für alle und keinen
3

  • ―Ach, wirft Tronka hin, Homomaris, den kannte ich nicht. Muss man ihn kennen? Ich sehe schon, ich sehe schon… Diese italienische Phantasie, die geht uns Nordmenschen ab. Pardon, aber ich habe Max Ernst immer langweilig gefunden, wie geht es dir damit? Bin ich jetzt durchgefallen? – Das ist ja köstlich. Hammer und Amboss in einem. Und darauf: ein Vogel! Ein Vögelvogel. Kolben und Zylinder, alles in diesem eleganten Grau, man möchte mit dem Finger darüberfahren, nur so, warum eigentlich? Was ist dran an der taktilen Kunst? Ich frage ganz ernsthaft, das hat mich immer beschäftigt: Kunst zum Anfassen, was ist das? Obwohl, zwischen Anfassen und Drüberwegfahren besteht noch ein Unterschied, für mich ein riesiger, andere Leute mögen das anders sehen. Dieser weibliche Torso rechts, stammt der aus einem Anatomiebuch? Es kommt mir so vor, als hätte ich ihn bereits gesehen, natürlich ohne Innereien, jedenfalls ohne diese, schreckliches Zeug, warum malt man sowas? Da stehen ja Beschreibungen drunter, ich habe jetzt meine Brille nicht dabei – was heißt das? Urgenetismus? Das will ich meinen, vor allem Ur. Ich seh’ schon, hier wächst die Wirbelsäule aus dem Blutkreislauf direkt ins Freie. Wohl bekomm’s. Die Intuition des Künstlers bleibt uns Verstandesmenschen immer ein bisschen fremd. Resignierst du nicht manchmal?

Wegenaer ist blass geworden. Das Experiment mit Lydia war ein Fehlschlag. Nach einem Monat nutzloser Schwärmerei hat er ihr das Buch wieder abgenommen, es liegt noch in seinem Büro, er hat vergessen, es mit nach Hause zu nehmen, wo sich die Zettel aus Büttenpapier häufen, samt Krakeleien. Und jetzt das hier.

Peinliche Szene.

Ein Werk für alle und keinen
4
Es gibt ein richtiges Buch im falschen

Du kennst das Buch, als hättest du’s nie gesehen. Es ist kein wirkliches Buch, aber eines nach deinem Herzen. Homomaris, der so gerne Bücher schriebe, hat sich den Eintritt ins literarische Universum ertrotzt: durch Reproduktionen seiner auf Büttenpapier gekratzten und aquarellierten Zeichnungen, auf denen es, zugegeben, von Schriftzeichen nur so wimmelt – lesbaren, unlesbaren, beschreibenden und expressiv gestalteten wie den Großbuchstaben des Alphabets, mit dessen Hilfe er die Abfolge der Blätter festlegt, als handle es sich, diesmal jedenfalls, um ein medizinisches Lexikon. In diesem Pseudo-Buch, Wegenaer hat das ganz richtig gesehen, regiert das Chaos. Aber es regiert nicht unumschränkt. Seine Herrschsucht wird gebremst durch das Alphabet, dem sich alles fügt. Dagegen scheint jedes einzelne Blatt den Betrachter anzuschreien: Falsch entziffert! Das gibt’s doch nicht! Das kann der Künstler nicht meinen! So kindisch ist keine Kunst! Da lacht das Kind im Erwachsenen und fühlt sich geschmeichelt.

Es lacht eine Weile, dann beschäftigt es sich mit etwas anderem.

 

Ein Buch    mit sieben Siegeln (Aber warum sieben?)
der falschen Redensarten (Was daran wäre falsch?)

Ein Werk für alle und keinen
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Unter den Büchern bilden die liegengebliebenen eine Extra-Klasse. Sie scheinen darauf zu warten, dass ihre Zeit kommt. Welche Zeit mag das sein? Jedenfalls ist sie noch nicht, darin liegt bereits das Verhängnis, denn ›noch nicht‹ bedeutet Aufschub: Störe unsere Kreise nicht, heißt es, damit beschäftigen wir uns später. Ein Buch, mit dem wir uns später beschäftigen wollen, hat Zeit, es hat alle Zeit der Welt (jedenfalls scheint es so) – wir haben keine. Dieses protzige Wir sind das Ich und sein Spiegel-Ich, sein Briefbeschwerer.

Erste und umfassendste Geste des Bücherlesens: das Aufschlagen. Ein schlechtes Buch versammelt so viele Eindrücke auf dem Einband, dass es sich gar nicht erst lohnt. Und es will belohnt werden, soll es zustande kommen. Woran also hapert’s? So ein Einband zeigt, wo es langgeht. Aber nicht jeder Weg will begangen werden. ›Das ist ein Holzweg‹, grinst das bäuerliche Gemüt, ›den kannst du dir schenken.‹ Wer nicht weiß, was ein Holzweg ist, der misstraut der Abzweigung und bleibt lieber auf der Geraden. Ein origineller Titel ist ein allzu flüchtiger Reiz. ›Ah, originell‹, sagt der Tastsinn, der unter der Betrachtung erblüht, ›dafür muss ich mir Zeit nehmen.‹ Womit schon gesagt ist, dass gerade dieses Stück Zeit fehlen wird.

Ein Künstler, der ins Buch will, stiehlt sich davon. Er misstraut den Ausstellungen, auch er will ›etwas Festes‹. Was noch? Nun, er will ausgestellt werden. Für ihn ist das Buch eine Dividende auf kommende Ausstellungen. Sie schlummern darin wie die verborgenen Kräfte des Drachen Niruwan, der zur gegebenen Zeit erwacht, es muss ihn nur einer wecken. Wer will so ein Buch? Sein Geheimnis ist das Prestige, vor allem dort, wo es fehlt. ›Schau, was ich gefunden habe‹, sagt das suchende Ich, ›lass doch‹ das blätternde: es ist schon weiter und erkundet ›den unbekannten Lagerfeld‹ oder ›Loriot: das späte Werk‹. Da weiß es, was es hat.

Was hat es denn? Ein Nachholbedürfnis.
Nichts darf ihm entgangen sein.
Deshalb ist alles, was ihm entgeht, nichts.

 

Et in Arcadia ego

Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
1
  • ―Kultur, erläutert Wegenaer seinen zum Dreitages-Enklave versammelten Studenten, hat neben der Fähigkeit, den Blick frei schweifen zu lassen, mit Fingerfertigkeit zu tun. Beim pinselschwingenden Maler oder dem mechanisch schuftenden Objektkünstler ist das offensichtlich. Aber es gilt auch im Bereich der Rezeption. Bücher zum Beispiel… Lieben Sie Bücher? Sie müssen Bücher schon lieben, sonst wird das nichts zwischen Ihnen und der dahinter steckenden Kulturtechnik. Die besten Bücher wollen erblättert werden. Ansonsten reden wir nur über Text. Blättern bedeutet, Sie vertrauen sich der unsichtbaren Führung durch Masse und Gewicht, aber natürlich auch durch all die eingebauten Klapp- und Faltstrukturen an, durch die sich das klassisch gebundene Buch von all den Billigimitaten abhebt, die den Markt überfluten. Was Sie dadurch erfahren, geht über bloß reproduktives Lesen weit hinaus. Der im Buche blätternde Mensch bedient sich des simplen, aber wirkungsvollen Mechanismus, der das Buch seit altersher zum Orakel prädestiniert. Damit gerät er in Sinnregionen, die dem Bravsein mit Worten auf ewig verschlossen bleiben.
  • Wie das?
  • ―Nun, er verschiebt etwas. Nennen wir es vorläufig das Verhältnis von Teil und Ganzem. Was heißt Blättern? Wer blättert, überschlägt die Lektüre. Er überschlägt sie nicht ganz, der Blick trifft auf dies und das, er nimmt Lese-Eindrücke auf, er springt von Eindruck zu Eindruck. Eine Reihe rasch erzeugter Eindrücke soll Aufschluss darüber gewähren, was dran ist am Ganzen, am ganzen Werk meinetwegen. Kann sie’s? Kann sie’s nicht? Nein, sie kann es nicht. Warum kann sie es nicht? Was meinen Sie? Nein, sagen Sie’s ruhig. Ganz recht, die Verknappung der Zeit erzeugt etwas, was der Autor nirgends im Sinn hatte, als er seine Sätze niederschrieb, sorgfältig, einen nach dem anderen, Satz für Satz. Das Blättern erzeugt eine künstliche Selektion und die erzeugt etwas anderes, etwas, das nur dem die Lektüre verweigernden Leser gehört. Aus diesem Grund legt der Blätternde das Ganze nie ganz aus der Hand. Er behält es hübsch in Reserve. Warum? Er könnte es irgendwann brauchen. Und nun hören Sie noch einmal hin: ›Das Ganze nicht ganz…‹ Da haben Sie die Formel für das erblätterte Buch. Was braucht der Mensch mehr, um ganz Mensch zu sein (um mich, was sonst nicht meine Art ist, bei Schillers Spielformel zu bedienen)? Gute Frage. Alles, womit der Mensch spielt, könnte er noch einmal brauchen. Das ist der Sinn des Spiels, die unaufhörlich schweifende Mimesis.
  • … ??
  • ―Ein Buch, wie ich es hier in der Hand halte, kann ebenso schweifend erschlossen werden wie … wie … eine Landschaft. Sie kennen das aus anderen Zusammenhängen… – versuchen Sie mal, sich innerhalb einer vorgegebenen Zeit in einer Bibliothek zu orientieren. Ich sage bewusst Landschaft, weil der schweifende Blick erst Landschaft ermöglicht. Er erschafft sie, man könnte sagen im Handumdrehen, aber das wäre dann wieder ein anderes Zeitmaß. Der Ausdruck ›Bücherlandschaft‹ gehört ins Feuilleton, da tauchen im Besprechungsteil von oben nach unten, von links nach rechts immer die gleichen Autoren plus, sagen wir, hin und wieder ein, zwei Neulinge auf: der Lesepfad geht vom allzu Bekannten zum weniger Bekannten, das sich nach wenigen Sätzen als das Altbekannte in frischer Verpackung entpuppt. Wer will, kann das natürlich Landschaft nennen. Die wahre Bücherlandschaft aber ist die Bibliothek. Sie erzeugt den Eindruck von Ordnung, weil sie eine Ordnung besitzt. Doch der Eindruck von Ordnung und die Ordnung selbst sind himmelweit unterschieden. Die bibliothekarische Ordnung ist kontraproduktiv. Warum? Weil sich das Schweifen in ihr erübrigt. Deshalb ist die Bibliothek nicht der richtige … nicht ganz der richtige Ort, um sich schweifend zu orientieren.
    Der richtige Ort ist, unter uns, die Terrasse.
  • Die Terrasse ist der Ort, an dem sich das bergende Haus zur Landschaft hin öffnet und im Subjekt mit ihr verschmilzt.
  • Das Buch ist der Ort, an dem die durch Material und Symmetrie eingebundene Schrift sich entgrenzt.

Da blicken die ›Studierenden‹ – wie die Krake Bürokratie sie neuerdings nennt – ihn fragend an und in den Köpfen beginnt es zu rauchen. Blicke durch, wer will.

Hier und da: gedämpftes Gelächter.

Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
2

Lydia, den bleichen Schopf straff nach hinten gekämmt, sitzt in der ersten Reihe.
Sie will sich hervortun.
Wegenaers schweifender Vortrag verwirrt sie.
Am liebsten würde sie ihm das Buch aus der Hand nehmen und aufschlagen, sie weiß die Seite, sie hätte damit kein Problem. Das Problem heißt Wegenaer. Er hat ihr das Buch, das sie bereits sicher in ihrem Besitz wähnte, wieder abgenommen und hält es verschlossen. Sie könnte sich melden, aber sie wagt es nicht. Warum sie es nicht wagt, weiß sie nicht genau. Es geht nicht. Aber, wie sie sich bereitwillig einräumt, das ist keine Antwort. Sie möchte die Antwort nicht wissen. Die Trennung vom Buch, das fühlt sie, ist ist ein traumatisierender Eingriff, den sie nicht so leicht wegstecken wird. Nie hat sie sich Männergewalt so … bloß ausgeliefert gefühlt, schutzlos in ihrer Hülle aus guten Vorsätzen und hochfliegenden Plänen, die sie sich liebend gern patentieren lassen würde, so eigen kommt sie ihr vor, so anschmiegsam weich und wunderbar, so ganz und gar passend, dass allein das Sicherheit gibt, Sicherheit, die jetzt zerbrochen ist, naja, vielleicht nicht zerbrochen, aber ›angeknackst‹ trifft es auch nicht, dem Ernst der Lage würde so ein Allerweltswort nun wirklich nicht gerecht. Ein Allerweltswort in einer Allerweltswelt … nicht dafür hat sie dieses Studium begonnen, nicht dafür sitzt sie an diesem Platz, nicht wirklich. Dafür hat sie nun wirklich nicht geforscht, denn das … das hat sie, fast bis zur Selbstpreisgabe, und sie will den Preis … natürlich will sie den Preis … ›einstecken‹ ist nicht das richtige Wort, sie will ihn schließlich nicht in der Tasche davontragen, auch nicht über oder unter dem Herzen, sondern … fast hätte sie eingesetzt: ›in der Gloriole‹, komischer Ausdruck, könnte auch ›Gladiole‹ heißen, dann hätte sie wenigstens etwas Handfestes, etwas, worüber sie lachen könnte, während sie die aufsteigenden Tränen verdrückt.

 

Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
2

Lydia, den bleichen Schopf straff nach hinten gekämmt, sitzt in der ersten Reihe.
Sie will sich hervortun.
Wegenaers schweifender Vortrag verwirrt sie.
Am liebsten würde sie ihm das Buch aus der Hand nehmen und aufschlagen, sie weiß die Seite, sie hätte damit kein Problem. Das Problem heißt Wegenaer. Er hat ihr das Buch, das sie bereits sicher in ihrem Besitz wähnte, wieder abgenommen und hält es verschlossen. Sie könnte sich melden, aber sie wagt es nicht. Warum sie es nicht wagt, weiß sie nicht genau. Es geht nicht. Aber, wie sie sich bereitwillig einräumt, das ist keine Antwort. Sie möchte die Antwort nicht wissen. Die Trennung vom Buch, das fühlt sie, ist ist ein traumatisierender Eingriff, den sie nicht so leicht wegstecken wird. Nie hat sie sich Männergewalt so … bloß ausgeliefert gefühlt, schutzlos in ihrer Hülle aus guten Vorsätzen und hochfliegenden Plänen, die sie sich liebend gern patentieren lassen würde, so eigen kommt sie ihr vor, so anschmiegsam weich und wunderbar, so ganz und gar passend, dass allein das Sicherheit gibt, Sicherheit, die jetzt zerbrochen ist, naja, vielleicht nicht zerbrochen, aber ›angeknackst‹ trifft es auch nicht, dem Ernst der Lage würde so ein Allerweltswort nun wirklich nicht gerecht. Ein Allerweltswort in einer Allerweltswelt … nicht dafür hat sie dieses Studium begonnen, nicht dafür sitzt sie an diesem Platz, nicht wirklich. Dafür hat sie nun wirklich nicht geforscht, denn das … das hat sie, fast bis zur Selbstpreisgabe, und sie will den Preis … natürlich will sie den Preis … ›einstecken‹ ist nicht das richtige Wort, sie will ihn schließlich nicht in der Tasche davontragen, auch nicht über oder unter dem Herzen, sondern … fast hätte sie eingesetzt: ›in der Gloriole‹, komischer Ausdruck, könnte auch ›Gladiole‹ heißen, dann hätte sie wenigstens etwas Handfestes, etwas, worüber sie lachen könnte, während sie die aufsteigenden Tränen verdrückt.

 

Wegenaer wird mich nicht aufhalten. Er hat mir etwas genommen und etwas in mir ist zerbrochen. So sieht es aus. Das Ganze raubt mir den Atem, wann immer ich daran denke. Das ist eine bloße Redensart, aber in diesem Fall voll gerechtfertigt. Ich leide unter Atembeschwerden, unter Schluckbeschwerden, allmählich meldet sich auch mein Magen. Das hat noch gefehlt. Ich kann das alles nicht brauchen. Ich nehme Medikamente. Ich habe mich bei meiner alten Yogalehrerin angemeldet, ich habe Siegmund erklärt, dass er besser vielleicht eine Zeitlang auszieht, weil ich ein Problem klären muss. Nein, nichts mit ihm, er darf sich da ganz beruhigt zurücklehnen und seine männliche Eitelkeit einfach für eine Weile stecken lassen. Ich habe alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Aber beim Joggen bereits überfällt mich Kurzatmigkeit. Alarm!! Ich komme nicht mehr voran. Die Diagnose der Lungenärztin habe ich: Keine organischen Ursachen (wie nicht anders erwartet). Das wäre also abgeklärt. Mein Problem heißt Wegenaer. Ich muss, ich will mir das Buch zurückholen. Ich habe es bereits bestellt, das ist, wenngleich nicht der entscheidende, so doch der erste Schritt.

 

Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
3
Eine Seite im Leben des Alois Wegenaer

Immer wieder kehrt Wegenaer zum Buchstaben F = Fettleibigkeit zurück. Wenn es eine Seite in Homomaris’ Buch gibt, die gleichsam von selbst aufklappt, sobald er sie berührt, dann diese, die vorgibt, der ›Adipositas‹ auf den Leib zu rücken, während es sie mit einem Lächeln, so zweideutig und hart wie das Leben, das er selbst nie geführt hat, feiert, nein, als Lösung des kulturellen Formproblems preist. Dass Kultur ein Formproblem hat, das sie lösen muss – so zu reden ist ganz alte Schule, aber das Problem bleibt, auch wenn die Wörter wechseln, und Wegenaer ist Ästhet genug, um von Zeit zu Zeit dem Charme der älteren Terminologie zu erliegen. Was liegt an Terminologie! Alles und nichts, folgt man Homomaris, der dieses Klavier benützt, als habe er es, einsam im Walde spazierend, auf einer wilden Müllkippe entdeckt und klimpere, unter tirilierenden Sängern, jetzt munter auf ihm herum.

Hat er nicht recht? Hat man die alten Ismen nicht wild entsorgt, sobald ein neuer anrollte? Sind sie nicht…? Nun ja, ebenso sehr Müll wie die traditionellen Mittel der Bildgestaltung, die im Malewitsch-Wegenaer-Quadrat spurlos untergegangen sind – er würde den Ausdruck ›restlos aufgehoben‹ bevorzugen, aber ein kleines Cave! läuft immer mit und will gehört werden. Plötzlich, unter den fleißigen Fingern dieses Homomaris, beginnt es zu plärren wie ein billiges Transistorradio, das jemand vor dreißig Jahren abgestellt hat und jetzt, ein Menschenalter danach, lärmt es los. Nein, man muss die sinnliche Schönheit des weiblichen Modells in seiner zur Üppigkeit neigenden Variante nicht mögen (ist das ein Widerspruch oder ein Sexismus?). Man darf sie aus vielerlei Gründen nicht mögen. Aber ohne Zweifel leiht das Gerede vom ›guillotinistischen Schönheitsverlust‹, gestisch unterstrichen durch die ›medizinische Kulturgrenze‹ des durchtrennten Halses, einer Verlustgeschichte die Stimme, die sonst unkommentiert die Museen bevölkert…

Formuliert er schon? Meldet sich hier die Stimme des nächsten Buches? Der dicke Strich, der die moderne Zwei-Reiche-Lehre der Kunst begründet, ist, wie es scheint, fadenscheinig geworden. Wegenaer wundert sich, wie leicht es ihm fällt, ihn tentativ zu überschreiten und sich den boys von der anderen Seite anzunähern, die dort auf Aufträge lauern. Dieser Homomaris, das spürt er genau, ist einer von ihnen, zweifellos mit dem Zeug zum Anführer, ein Sechzehnender, der am Ende seines Lebens stürmisch Aufschluss darüber begehrt, warum seinesgleichen nie zum Zuge gelangte. Die Sprache der Comics in ihrer stilisierten Hässlichkeit ist seine Waffe, er scheint sie zu beherrschen, aber sie ihn nicht, da liegt der Unterschied. Er benützt sie als Schmutzkübel, um Schönheit einzufordern: nicht ironisch, nicht gebrochen, wie es sich gehört, sondern mit dem Pathos des Alten, der zum Aufrührer mutiert, weil die Zeit des Aufschubs zu Ende geht.

Nun, auch er, Wegenaer, ist nicht mehr der Jüngste. Das verbindet, zumindest lässt es die Motive des anderen in einem milderen Licht erscheinen. Eine Beschäftigung mit ihnen scheint denkbar. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass da etwas liegengeblieben ist.

Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
4
Homomaris legt eine Spur und Wegenaer geht ihr nach

So jedenfalls würde die Geschichte, wie Wegenaer sie erzählt, rechtmäßig lauten. Würde er genauer hinsehen, dann würde er bemerken, dass bei dem Vorgang eine Instanz ihre Finger im Spiel hat, die sich selbst durch absolute Inkompetenz nicht abschrecken lässt, die Fäden zu ziehen. Diese Instanz ist nicht Lydia, die es liebend gern wäre, sondern das penetrante Geplapper, auf Grund dessen er ihr das Buch wieder entzog. Die Adipositas-Seite war darin bis zur Widerwärtigkeit gegenwärtig, auf jeden Fall gegenwärtig genug, um seinen Abwehrreflex zu provozieren.

Was heißt das schon?

Ehrlich gesagt, nicht viel. Es mögen ein, zwei Sätze gewesen sein, auch drei, übrigens nicht zurückrufbar, das Gedächtnis erweist sich an dieser Stelle, wie so oft, als blank sheet of paper, besser gesagt, als Leerstelle, in welche die Gedanken hineinströmen, als hätten sie nichts Besseres zu tun, als hätte sich hier eine dieser Mulden in ihrem Universum gebildet, von denen selten die Rede ist und ohne deren Hinzunahme es sich nicht wirklich begreifen lässt. Nein, die Neigung zur Korpulenz ist nicht sein Problem. Er hat sich den federnden Körper bewahrt. Auch gehört er nicht zu den Männern, die den weiblichen Fettansatz über alles schätzen. Diese sehr eigene Welt der Kalorien und der verzweifelten Versuche, sie im Alltag zu kontrollieren, soviel kann gesagt werden, ist ihm wesensfremd. Allein: der Teufel steckt im Detail.

Wegenaer ist verheiratet.

Liegt hier der Punkt, an dem Lydias Geplapper ihm zu nahe kam? Eine Spur jedenfalls wäre es, der nachzugehen sich lohnte. Wir kennen, so würde der Philosoph Dassler, falls eine unbekannte Instanz ihn zwänge, so tief unter sich zu greifen, es wohl formulieren, Wegenaers Privatleben nicht genau genug, um an dieser Stelle augenblicklich weiter zu kommen. Im Leben des Kunsthistorikers Wegenaer ist der Augenblick alles. Er hat ihn kultiviert und wurde reich dafür belohnt, nicht zuletzt durch den akademischen Posten, der ihm den freien Rundblick erlaubt, prinzipiell zumindest, auch wenn er sich hin und wieder, wie jetzt gerade, ein bisschen eintrübt. Jedenfalls liegt das Buch, seit Wegenaer es Lydia wegnahm, nutzlos bei ihm herum, als fehlte etwas, sagen wir: der rechte Gebrauch.

 

Das abschließende Credo ist das aufschließende

Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
1

Leckebusch am offenen Grab, Mompti durch den Sargdeckel hindurch kognoszierend, räuspert sich. Er räuspert sich eine Spur zu scharf und legt, begütigend, wie er meint, der Witwe, die für diesen Tag den dichtesten aller schwarzen Schleier gewählt hat, mit vertrauter Geste die Hand auf die Schulter, von letzterer unwillig dankbar quittiert, denn auch Amas warm unter seinen Verhüllungen atmender Körper kommt gegen die Mechanik der Gesten nicht an. Selbstverständlich, doziert Leckebusch, den Blick weit über die klaffende Öffnung hinauswerfend, sei es ihm Ehre und Freundespflicht, an diesem Ort in dieser eben auch historischen Stunde … sein unstet schweifender Blick saugt sich an Hölzchens Kutte fest – von allen Verkleidungen, die sich am Morgen vor den Spiegel drängten, hat gerade sie das Rennen gemacht und lockt nun beim Grabredner einen Hustenanfall hervor, der kaum zu bändigen ist. Denn aller Anläufe sind, in der Philosophie wie im Leben, die infamen drei, das verfügt schon die Dialektik, das dia-legein, in dem das Überhaupt seine Fortgänge plant.

Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
2

Was redet Leckebusch da? Tacheles, wie er sagt. Der Furor hat ihn gepackt, der Furor Europas, des alten, so oft verwüsteten und aus Trümmer wiedererstandenen Kontinents, der, wie der Dialektiker mit bitterem Tonfall beteuert, hier vor den Augen der in seinem Namen Versammelten ins winterliche Grab sinkt, so wie er mit jedem letzten Künstler, Gelehrten, Ingenieur, soweit er die Berufsbezeichnung da Vincis verdient, ins Grab sinkt. Denn nach ihnen, nach uns allen wird kommen nichts Nennenswertes… Diesem schroffen, durch keinen Sophismus zum Verschwinden zu bringenden Befund sei, wenngleich im Innersten bebend, standzuhalten, ihm gelte es mit aller begrifflichen Schärfe nachzuspüren, damit … damit auf den Verblichenen im Kreise seiner … wieder ein leichtes Stocken, er macht das gekonnt, das Stocken ist der rhetorische Kniff, den Leckebusch, am Katheder stehend, das Mikrophon gut unter dem Revers verborgen, mehr als jeden anderen schätzen gelernt hat … im Kranz seiner Getreuen ein letzter Schimmer gewesenen Glücks falle.

  • ―Vermag sie es denn? Vermag sie die Opakheit dieses härtesten aller Momente zu durchdringen? Das Versprechen des Logos gilt – es trägt seine eigene Dauer, seine ewe in sich und bedarf daher der äußeren, mathematisch ohnehin fragwürdigen Ewigkeit nicht. Zudem gilt es dem Werk, über dem in den klassischen Lettern des lateinischen Alphabets das Wort ›vollendet‹ steht, auch wenn dem Abschluss stets ein Stück Kontingenz innewohnt, denn im Verweilen steckt bereits die ›Weile‹, die unbestimmte Dauer, das letztlich Unbestimmbare aller Existenz in der Zeit.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
3

An dieser Zeit-Stelle beginnt der Kuttenträger zu husten, als müsse er, nach dem Muster der ersten, nun die zweite Stimme ins Spiel bringen. Es ist nicht so, dass er die These vom Untergang Europas nicht teilt. Europa musste fallen, damit Welt wird. Doch drängen sich dem Historiker andere Fragen auf, vor allem solche der Periodisierung. Dagegen bleibt ihm der Vollendungsgedanke, an dieser Stelle in den Gedankengang eingefügt, eher suspekt. Er weiß auch nicht, ob auf Momptis Arbeiten, soweit er sie überblickt, das Prädikat ›vollendet‹ zutrifft. Ihm kam, was er sah, wie aufgegeben vor, nachdem der Künstler sich, seiner subjektiven Auffassung nach, lange genug mit ihnen abgemüht hatte – ›da hätten wir ja gleich eine Parallele zu Europa‹ –, sei’s drum, hier ist wahrhaftig nicht der Ort, sich mit ketzerischen Ansichten nach vorn zu drängen. So verrichtet stellvertretend der Husten sein Werk. Andererseits fragt sich, auf welcher Seite das Ketzertum liegt. ›Mompti der Europäer‹: das haut nicht hin, das sortiert ihn an einer Stelle ein, an die er einfach nicht gehört. Die ganze Kunstszene hat sich, gleich nach dem Krieg, enteuropäisiert, sie ist erst atlantisch und dann ›international‹ geworden. Warum? Weil sie nach dem Geld geht, ganz einfach. Überall schnüffelt sie ihm nach und richtet ihre icons danach ein, wer sie gerade bezahlt. Die Kunst ist eine Hure. Das unterscheidet sie grundsätzlich nicht von Europa, aber beide arbeiten auf eigene Kasse. Davon versteht der Großphilosoph Leckebusch nichts.

Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
4

Ist Momptis Kunst eine Hure? In gewisser Weise… In gewisser Weise ist immer Montag. In gewisser Weise … ist immer Montag auf seinen Blättern. Sie kündigen eine Woche an, die sich, von Tag zu Tag, vertagt. Wie ist das möglich? Ist es möglich, an der Schwelle dahinzuleben, vermummt in die Attitüden des Künstlertums, ohne den Schritt zu tun, der ins Innere führt? Den Schritt, um dessen willen der Aufwand… Na sicher. Nichts ist gewöhnlicher. War Mompti gewöhnlich? Aber keineswegs. Es sind die Ungewöhnlichen, die den Gang des Gewöhnlichen gehen. Selbstauslöschung? Wer sich auslöschen könnte, wäre einen Schritt weiter. Es ist die Selbstvermessung, die uns weiter bringt. Welch ein Irrtum. Mompti, in seiner letzten Phase: ein Selbstvermesser, der für den Papierkorb produziert, unter Kunst-Orten der gehaltvoll-leerste. Wer nach dem Geld geht, wer nach ihm geht, ohne je anzukommen, wohin geht der? Er geht nach. Der Nachgeher, der allen zuvorkommt: hier sein Grab. Was tut er da? Dieses Grab war nicht für ihn bestimmt und er legt sich hinein: Angeber. Kletter heraus, wisch diesen Leckebusch weg und sag dein: Weiter geht’s! So gehört es sich, so hat es sich immer gehört. Warum konntest gerade du nicht hören? War die Stimme, die rief, nicht entschieden genug? War die Stimme, die abrief, verführerischer? Kann es sein, dass du den Weg verlorst, als du dich für ihn entschiedest? Warum in aller Welt hast du dich dann entschieden? Ama, die Kunst-Gefährtin, hat sie…? Für dich entschieden? Worin bestand dann die kommende Aufgabe? Ama zufriedenzustellen? Ama zu ermöglichen? Dein Worumwillen: ein whataboutism?

Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
5

Nein Mompti, nicht du hast entschieden. Entschieden hat diese Frau, die du verlassen musstest, weil sie es so wollte. Entschieden hat der Kinderwunsch dieser Frau, dem du nicht zu Willen sein konntest, da dir ein Künstlertum ohne Verpflichtungen vorschwebte. Entschieden hat … es wäre besser, hier abzubrechen, aber der Gedanke, einmal im Fluss, lässt sich nicht aufhalten: entschieden hat der Blick dieser Frau, der erkannte, dass der Künstler, der vielleicht in dir steckte, vielleicht auch nicht, auf sich warten ließ. Das ist die bittere, von dir mit ins Grab genommene Wahrheit. Ama gelang nur, woran die andere scheiterte. Ama war’s, die dich zum Künstlerdasein gezwungen hat. Dich gezwungen hat, mit vollgekritzelten Blättern Geld zu verdienen … was dir gelang, weil diese Blätter von einem unbezweifelbaren Talent redeten, einem grüblerischen Talent, was die Preise ein wenig anhebt, weil der Markt seine grüblerischen Talente liebt – nicht auf Hochpreisniveau, bewahre, dorthin gelangen nur ausgesuchte Säufer- und Herointypen, Selbstzerstörung treibt den Preis ungemein. Die höchsten Dotierungen greifen die Ingenieure des Ruhms ab, Leute, die etwas von Marktanalyse verstehen und in Produktlücken springen. In dieser Region hat Grüblertum nichts zu suchen. Wie man es immer dreht, Mompti ist ein Versager. Ein hochtalentierter … Versager. Ein Versager vor dem Herrn – ja sicher, vor wem denn sonst? Alles wirkliche Versagen geschieht vor dem Herrn. In der Kunst gelten, wie vor uralten Zeiten, nur Herr und Knecht. In der Kunst musst du Knecht sein, sonst bist du nichts. Als Frauenknecht bist du nichts.

 

Leckebusch lernt, was Aufschub heißt

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
1

Der Staat schiebt seine Aufgaben auf, fast wie ein unwilliges Kind, das lieber auf den Spielplatz geht, weil in den Hausaufgaben, das spürt es unbestimmt, aber heftig, der Misserfolg lauert: ein Springteufel, schwer in den Kasten zurückzubannen, sobald er erst einmal befreit wurde. Befreit? Der zu sich selbst befreite Misserfolg, doziert Leckebusch leise, ist dem Misserfolg an sich in mehreren Punkten überlegen, er ist, für sich betrachtet, das heißt, mit den Augen des Misserfolgs, ein Opfer der Verhältnisse bei voller Verantwortung, so wie man in anderen Zusammenhängen sagt: bei laufendem Motor. Soll heißen, das Vehikel des Misserfolgs, die Staatsmaschine, wartet darauf, dass ein anderer hineinspringt und, nach kurzem Gerangel um die Führung, davonbraust. Deshalb hält, wer gerade regiert, den Kasten mit dem vermuteten Springteufel fest verschlossen, solange es irgend geht. Gerade so geht Regieren, möchte man meinen, aber das Gegenteil ist der Fall. Regieren geht anders, so geht es zu Bruch. An und für sich, doziert Leckebuschs leise Stimme weiter, ist es nicht schwerer, die Alltagsprobleme eines Staates anzugehen, als sie auszusitzen, ausgenommen das regierende Interesse profitiert an ihnen und wünscht, still und heimlich, dass sie fortexistieren. Es sei denn – hier kommt der Zeigefinger ins Spiel, natürlich als gefühlter, denn der reale steckt tief und fest im Hosensack –, es sei denn, man verfügt über eine fanatische (oder vernagelte) Anhängerschaft, die keine Probleme sieht, weil sie keine sehen will, teils, um sich ihre Überzeugungen nicht rauben zu lassen, teils, weil es ihr fürs erste gut dabei geht und sie nicht über den Tellerrand des Heute hinausblicken möchte. Der moderne Staat ist vom Zerfall bedroht. Wer hat das geschrieben? Zu viele haben es geschrieben, es ist das konservative Mantra, der moderne Staat denkt vorerst nicht daran zu zerfallen, vielleicht dank der Konservativen, vielleicht trotz ihrer Einrede. Wenn aber – der Finger hat sich der Fahrkarte bemächtigt und Leckebusch schält seine Hand aus Hose, Sakko und Mantel ans Licht –, wenn aber der Konservatismus selbst zerfällt, wenn seine letzten Vertreter unter Hohn und Spott vom Schauplatz der Auseinandersetzung gejagt werden, wenn ihnen – Leckebusch räuspert sich, seine Stimme klingt inwendig belegt – die Ehre genommen wird, ihr Andenken besudelt, ihre Bücher aus den Auslagen entfernt, ihre Überzeugungen unter Kuratel gestellt werden, wenn ihre Kinder in der Schule gehänselt, ihre Partner bedrängt, ihre Versammlungsorte verwüstet, ihre Wege überwacht werden, was dann? Was, wenn die Überwachung lautlos geschieht, berührungsfrei, wenn alle Welt darüber Bescheid weiß und alle Welt demjenigen Paranoia bescheinigt, der sich darüber beklagt? Nun, dann ist es Zeit, an Exil zu denken. Wenn aber … verfluchtes wenn! Kein Wenn, kein Aber, kein Drumherum: Im Exil der Gestrigen findet das Heute keine Zukunft. Exil ist Massenware, benützt von Heutigen, um Staaten zu entrinnen, in denen der Zerfall bereits eingesetzt hat, ohne dass sie jemals im Heute angekommen wären.
Leckebusch steckt den Fahrschein in den Entwerter und erwartet das »Klick«. Überhaupt erwartet er viel. Der Tag ist noch lang.

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
2

Klickt’s? Eher nicht, würde er sagen, doch sicher ist er sich nicht. Die Bahn rollt und neben ihm schnäuzt sich ein Prolet-Typ, jedenfalls taxiert er ihn so.

Der Tag ist noch lang.

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
3
Der Typ

Der Prolet-Typ, auf dem Weg nach Hause, hängt Sexualphantasien nach, die ihm, locker überschlagen, zehn Jahre Haft eintragen könnten, falls er sie äußern und ansatzweise umsetzen sollte, vorausgesetzt, er würde sich das falsche, also das richtige Milieu dafür aussuchen, denn im richtigen, soll heißen im falschen, da ist alles richtig und normal. Ginge es in dieser, also der anderen Welt richtig und normal zu, dann müsste er heute noch einen Nobelpreis sein eigen nennen und in Gedanken die Speisekarten von Cutter’s oder Ditters Braustube gegeneinander abwägen, um über den Verlauf des anstehenden Abends zu entscheiden, denn diese Phantasien, die er besser steckenlässt, hätten ihm, aufgeschrieben und in Millionenauflage um die Welt geschickt, vor ein paar Jahren – nun gut: vor wenigen Jahrzehnten, aber was ist das schon? – im System der Ehrungen einen sicheren Listenplatz eingebracht und ein hübsches Sümmchen, ach was: einen Haufen Kohle eingefahren. Heute könnte er, in Erwägung eines unerklärlichen Zitterns angesichts der Schwierigkeit, die dafür nötigen Sätze auf Papier oder einem anderen dafür geeigneten Datenträger zu fixieren, einen jener Menschen mit der Aufgabe betrauen, die man damals Ghostwriter nannte und in den Untergrund des Gewerbes verbannte, während dergleichen inzwischen zu den regulären Tätigkeiten des professionellen Schriftstellers zählt und sein Label begründen hilft. Dafür ist der Markt empfindlich geschrumpft und der professionelle Schriftsteller würde, angesichts der heiklen Thematik, mit ein paar dürren, vorsichtig distanzierten Sätzen den Kopf aus der weiträumig ausgelegten Schlinge ziehen. Schwein bleibt Schwein. Naturschützer sehen das naturgemäß anders.
Bloß Prolet bleibt Prolet.

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
4
Der Angriff

Hombre, tönt der innere Monolog, dieser Mann führt eine scharfe Klinge. Alles Schein. Wäre er nicht, aus einer unerklärlichen Anwandlung heraus, einen heben gegangen, er hätte mich gar nicht bemerkt. Der Alkohol macht ihn sehend, jedenfalls was mich angeht. Alles an ihm ist scharf geschnitten: vom Scheitel bis zu den Schuhspitzen. Hallo Meister Scherenschnitt, was hast du gesagt? Mäßigen Sie Ihren Ton, wir sind hier nicht im Zirkus. Hierher, Schaffner, dieser Mann wird ausfällig, schaffen Sie ihn fort. Das können Sie nicht? Wo stecken Sie überhaupt? Mein Gott, was gäbe ich jetzt für einen Schaffner. Ist nur ein Wort. Weiß du, zum Pöbeln gehören zwei: einer, der es versteht, und einer, der damit anfängt. Du meinst, ich versteh was davon? Kann schon sein, kann schon sein. Also was ist? Was ist, frage ich. Wirds bald? Ich verlange eine Antwort. Da kannst du die Zähne zusammenbeißen, solange du willst. Ich höre das Knirschen bis hierher. Reiß dich nicht so zusammen, das ist unnatürlich. Wenn ich jetzt auf eines deiner blitzblanken Schühchen trete – so –, dann sieht deine Welt schon anders aus. Aha! Auf diesen Effekt habe ich gewartet. Ich soll dich getreten haben? Du bezichtigst mich –? Komm mir nicht zu nah, sonst tret’ ich dir in die Eier. Komm mir nicht zu nah. So ein Pinkel. Scheut sich nicht, einem Werktätigen in die Eier zu treten. Er hat mich angegriffen, die Sau. Ich sage dir, das geht nicht gut aus. Das geht nicht gut aus. Ich ruf jetzt einfach mal die Polizei. Dieser Herr hat mich angegriffen, Sie bestätigen mir das, ja? Ja? Ja, hab ich gesagt, glotzen Sie nicht so verschüchtert, Sie wissen genau, wer recht hat. Ich habe recht und dieser Scheißkerl … will sich aus dem Staub machen. Hiergeblieben! Keiner lässt ihn durch! Ich halte die Bahn an. Ich will, dass man mich vernimmt. He du, deine Fingernägel sind morgen immer noch dreckig. Sieh besser her, sonst gibt’s eins auf die Fresse. Du weißt, was dieser Kerl mit mir gemacht hat, du kannst es bezeugen. Na klar kannst du es bezeugen. Vorwärts, wir steigen aus. Alle miteinander. Ich muss jetzt raus und ihr kommt mit. Ihr kommt alle mit. Gutntachnoch.

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
5
Leckebusch sucht den Feind

Eigentlich beschäftigt ihn etwas anderes, eine dumpfe Abwesenheit. Tätlich angegangen zu werden ist nicht gerade die Erfahrung im Leben Leckebuschs. Er hat sich dem bisher entziehen können und plötzlich ist es passiert. Der Andere hat ihn, während er sein albernes Zeug schrie, am Revers gepackt und geschüttelt, nicht, um sein Gewissen wachzurütteln, sondern um den Feind in ihm hochzukitzeln. Er hätte auch brüllen können: »Schlag mich doch! Schlag mich doch!« Es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Leckebusch könnte sich gut verstehen, würde sein Inneres kochen. Tragischerweise ist das nicht der Fall. Was ihm ins Bewusstsein tritt, ist der abwesende Schläger, diese komische Figur, mit der zu identifizieren er, von jugendlichen Anwandlungen abgesehen, bisher noch keine Gelegenheit fand. Nun ist sie da und – er schlägt sie aus. Er würde sich durchaus verstehen, wenn sein beleidigtes Ego tobte: In die Fresse! Politikerinnen reden so, manche jedenfalls, der Feminismus hat dem friedfertigen Geschlecht die Zunge gelöst und seiner verbalen Schlagkraft, jedenfalls in der Öffentlichkeit, neue Denkmäler gesetzt. Eine Frau an seiner Stelle, dessen ist er sich sicher, wüsste zu toben. Da kann er sich ruhig ein wenig anstrengen, um ihr zumindest äußerlich ebenbürtig zu wirken. So, als Memme, fühlt er sich unwohl in seiner Haut.

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
6
Der Schläger

Der Schläger, als kulturelle Randfigur, profitiert von der Abwesenheit der Ordnungsmacht. Genausogut könnte ein Interpret, sagen wir Leckebusch, behaupten, dass sie ihn überfordert und dass sie ihn provoziert. Er weiß nicht, dass sie immer da ist und dass sie, wenngleich verzögert, auch diesmal in Erscheinung treten wird. Er hat die Überwachungskamera vergessen, die jede seiner Bewegungen filmt, oder sie ist ihm in diesem Intervall seines sozialen Daseins egal. Leckebusch benötigt die Kamera nicht, er kontrolliert sich selbst. Gerade in diesem Moment kontrolliert er sich selbst. Er ist selbstbeherrscht bis an den Punkt, wo es schmerzt. Nicht der innere, den Hintergrund wie einen Türrahmen füllende Schläger bereitet ihm Schmerzen, sondern die gefühlte Unfähigkeit standzuhalten, käme es hier und jetzt zu einer physischen Eskalation. Er würde sich schlagen und er würde verlieren: eine Doppelfigur aus Unbehagen, der er nichts entgegensetzen kann als das Bewusstsein der Grenze zwischen sich und dem anderen, der ihn rüttelt, während er seine sinnlosen Bezichtigungen brüllt. Leckebusch könnte, was ihn durchwallt, als Wehen bezeichnen. Doch der Gedanke würde das Gitter sprengen, das ihn umfängt. Das Standhalten beschäftigt ihn durch und durch. Dennoch sind es Wehen: ein neuer Leckebusch, einer der vielen neuen Leckebuschs, die sein Leben auswirft, wird diesen Zug verlassen. Der Schläger, ab jetzt stets im Hintergrund, wird seine Sprache durchsetzen, seinen ›Gemütshaushalt‹, sein Lebensgefühl. Er wird die Grenzen seiner Erregbarkeit verschieben und sein Verhältnis zur Ordnungsmacht mit einem Groll aufladen, der sich nicht mehr besänftigen lässt, der Genugtuung verlangt und weiß, dass sie nicht zu erreichen ist. Er wird, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, sich zwischen ihn und die einfache Wahrnehmung schieben, die nicht so einfach ist, wie sie sich darbietet, gar nicht so einfach…

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
7
Einfache Wahrnehmung. Exkurs

Excuse me, suchen Sie etwas? Ja sicher, ich suche … Normalität. Wo wollen Sie sie finden? Hier und da … hier natürlich, wo sonst? Gerade hier, gerade hier und jetzt, sonst wäre sie keine – Normalität, nicht wahr? Ganz recht, sonst wäre sie keine. Warum ist sie nicht da? Aber sie ist doch da. Gefühlt ist sie da. Gefühlt ist sie immer da. Es fehlt nur etwas… So, was denn? Ein Quentchen Wirklichkeit, sozusagen. Das Wirkliche ist normal, aber nicht ganz. Ein Stück Normalität fehlt. Wo ging es hin? Gerade war es noch da und jetzt vermisse ich es. Habe ich es nicht vermisst, als es da war? War es also da? Ich weiß es nicht. Was soll die Fragerei! Ich will es nicht wissen. Ich verlange Normalität, und zwar jetzt. Und wenn sie nicht zu erreichen ist? Ich will mich beschweren. Ich werde durch alle Instanzen gehen, denn diese Beschwerde übertrifft alle anderen. Normalität ist Menschenrecht. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo Normalität herrscht. Das beginnt in ihm selbst.

Ich nehme wahr, du nimmst wahr, sie – Sie, ja Sie dahinten, auch Sie nehmen wahr, und wo die Wahrnehmungen zusammenfließen, da entsteht Wirklichkeit, nein, da entsteht Normalität. Und wenn sie aufeinanderkrachen? Dann gibt es Krach. Verstehe. Ist das normal? Nicht wirklich. In Krachgesellschaften ist Normverletzung die Norm. Normal ist nichts. Das Normale ist nicht normal, nicht ›vorhanden‹ oder doch nur in Spuren, es hat keinen Zweck, es vorauszusetzen, wie das, nun ja, normal wäre. Deshalb ist in solchen Gesellschaften der Wunsch nach Normalität auf der Suche, unerfüllbar, ein edler Ritter mit schwarzem Visier, gehüllt in unauflösliche Trauer, schweifend am Rande der Welt, wie es im Liede heißt. Nur vom Rande her ist die Welt einsehbar, die erste einfache Linie ist der Horizont. Es bedarf komplizierter Entwicklungen jenseits des streitbaren Einzelnen, ehe das Gewebe der Welt einfach einsehbar wird, nicht rückwärts im Zorn, nicht vorwärts im Rausch des Erwachens, sondern von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Mal zu Mal. Please don’t care. Don’t trust me. Trust anybody anywhere. You will not be disappointed. Not always –

Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
8
Der Kreis

Hat, was nicht aufhört, jemals begonnen? Es überzieht das Gewesene mit einem Film, einem Schmutzfilm, als sei es nie etwas anderes gewesen als die Falle: für wen? Für dich, Dummkopf. Wo andere leben, steckst du in der Falle. Du würdest dich gern aus ihr befreien, allein könnte es dir gelingen, aber eingeklemmt zwischen all diesen Personen, die zufällig das gleiche Abteil benützen, hast du keine Chance. Dies hier zeigt keine Neigung aufzuhören. Der randalierende Typ hat Gefallen an seiner Rolle gefunden und niemand, Leckebusch eingeschlossen, hält ihn auf. Im Gegenteil, der Kreis, der sich um ihn geschlossen hat, scheint seinem Anliegen nicht günstig gesonnen. Niemand hat den Platz gewechselt. Doch im Gedränge hat sich ein Raum gebildet, ein Raum aus Körpern, Schweigen und Aufmerksamkeit, ein Spannungskreis, der sie einschließt und isoliert – ganz recht, isoliert. Niemals in seinem Leben hat Leckebusch sich so isoliert gefühlt, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, das Gespräch mit der Stasi steht auf einem anderen Blatt und dort wusste er sie auf seiner Seite. Damals beseelte ihn die Empfindung: die Welt schaut zu – er wusste es nicht, überhaupt konnte davon nicht die Rede sein, und heute, wenngleich anders, spürt er es wieder, auch wenn dieses armselige Zufallspersonal nicht die Welt ist, nicht die Welt, nicht die … welche Welt hätte er gern? Dieser Mann mit dem Sozialarbeitergesicht missbilligt zutiefst, wie Leckebusch sich benimmt, jeder Muskel seines Gesichts zeugt davon: er wüsste, wie man deeskaliert, er hätte die Sache längst erfolgreich beendet … vielleicht. Um welchen Preis? Den der Selbstachtung? Überlegenheit kennt keine Selbstachtung, sie nimmt das verletzliche Ich aus dem Spiel und fährt ihre Geschütze auf. Hast ja recht, Kumpel. Den ›Scheißkerl‹ annehmen, nur weil der andere ihn offeriert? Ist es das? Nein, das ist es nicht.

 

Das erreichte Ziel ist das überschrittene

Die Zerstörung der Ehe
1
Renate Solbach: Nachtplanet ©Renate_Solbach
  • ―Eigentlich ging es ganz leicht, erzählt der einfache Abgeordnete und Minister S seinem Freund, dem Nahostexperten Triphan, sie blicken vom obersten Stock der Pyramide, den man ihnen für die Dauer des Inkognito-Besuchs überlassen hat, in den Nachthimmel, er lächelt ein wenig dabei, was der andere nicht sieht, ihm ist wolkig zumute, das mag am Champagner liegen oder am Höhenfieber, das ihn an dieser Stelle stets überkommt. Verlass mich nicht, kritzelt der Minister auf eine Serviette, tupft sich damit die Mundwinkel und reicht sie dem Nahostexperten, der sie schweigend überliest.

Die Ruhrstadt strahlt. Sie hat sich herausgeputzt diese Nacht wie seit Generationen nicht mehr. Triphan rechnet die vielen kleinen Freudenfeuer dort unten zu einem großen zusammen. Die Ruhrstadt brennt. Sie brennt von innen heraus, aus den Eingeweiden, den Bars, Kinos, Restaurants, den Diskotheken, Nachtclubs, Mitternachts-Fitness-Studios, 24-Stunden-Saunen, Glücksspiel-Orten, Grilltheken, Gebetstrichtern – gewiss, auch die Stätten vertikaler Inbrunst, im Inneren fahl erleuchtet von Ewigen Lichtlein und polizeilich vorgeschriebenen Notfunzeln, feiern, sie alle feiern die Auferstehung der Gorgo, der Großen Verdrängten.

  • ―Wir haben das erreicht, spricht Triphan, er befleißigt sich desselben Tonfalls wie Friedenwanger, ohne es sich bewusst zu machen. Er und Friedenwanger sind Kumpel aus alten Kampfzeiten, auch sie vergessen einander nicht, verflossene Kämpfe ergeben zusammen eine Kordel, die keinen außen vor lässt. Friedenwanger, der nach der Kampfzeit in die Wissenschaft ging, um dort zu reüssieren und die Verhältnisse aufzumischen, hat ihm den Tipp mit dem Fu-Projekt gegeben, nicht ohne Hintergedanken, nicht ohne Hintergedanken… Aber natürlich trifft man sich gern, auch wenn der Liaison des anderen mit dem Minister in seinen Augen etwas Degustables innewohnt, das nicht weggeht. Triphan sieht am Flackern der Augen, dass etwas nicht stimmt, er trägt es mit derselben Gelassenheit, mit der er Pressekonferenzen bestreitet, wissend, dass das Interesse an Information im Ernstfall jeden anderen Impuls überwiegt, auch wenn man nie wissen kann, was wirklich geschieht. Dass er für manche als Friedenwangers Spion durch das Fu-Projekt geistert, lässt ihn kalt, so wie ihn das ganze Projekt stets nur am Rande berührt hat, als eines aus der Unzahl von Sandkastenspielen, in denen viele kleine Helfer im Geiste den Umbau der Gesellschaft simulieren, während er draußen, weitgehend unberührt von den Einfällen und Erkenntnisgewinnen der Modellierer, seinen Gang geht.
Die Zerstörung der Ehe
2
Renate Solbach: Nachtplanet ©Renate_Solbach
  • ―Wir haben das erreicht, spricht Triphan, er ist froh, den Sandkastenspielen für ein paar Stunden entronnen zu sein. Ihm ist nicht nach Feiern zumute, eine neue Klasse von Entscheidungen drängt in sein Gesichtsfeld und er weiß nicht, ob er dafür gerüstet ist. Worauf warten wir noch, wird der eine oder andere Mund an seiner Wange in der nächsten Zeit flüstern, diese Mann-Frau-Maschine ist passé, der öffentliche Umbau einer Institution zieht viele private nach sich, fatal sind die Hoffnungen, die sich daran knüpfen und nun rigoros zerstört werden müssen, während andere in Erfüllung gehen, die so nie gehegt wurden. Scheiß drauf. Ein Kraftwort kommt selten allein. Falls doch, hat es sich verirrt oder es gibt einen Grund.
  • You need satisfaction, sagt der Minister, der ihn lächelnd betrachtet hat. We all need satisfaction. Ehemäßig bleibt’s bei den Frauen. Sei’s drum. Ich werde mich nicht mehr umstellen. Ihre Leidenschaft … kitzelt so, im übrigen lässt sie mich kalt. Sie haben mich immer gemocht, mancher wird sagen: umschwärmt, ihnen verdanke ich viel. Da werde ich jetzt nicht von der Stange gehen.
  • ―Wenn du das meinst, bleibe ich doch eher einseitig konstruiert. Was die Frauen angeht, naja … sie haben ein paar Fortschritte hingelegt, die sie im Wesentlichen uns verdanken, aber sonst? An der sklavischen Abhängigkeit von den Heteros scheinen sie nichts ändern zu können. Da hat ihnen Mutter Natur wohl einen Streich gespielt. Dieser verantwortungslose Wunsch, Kinder zu empfangen und in die Welt zu setzen, naja naja.
  • ―Warst du nicht selbst einmal eines? Die Stimme des Ministers glimmt, ein Streichholz im Dunkeln. Du hast mir doch mal so ein Foto gezeigt. Oder ist das jetzt eine falsche Erinnerung?
  • ―Das ist lange her, Boy, lass die Finger von meinen Erinnerungen, sonst möchte ich weinen. Andererseits: Ich könnte mir vorstellen, mit einem Partner ein Kind großzuziehen, schon um den Schlamassel meiner Kindheit wieder gutzumachen. Irgendwann, eines Tages… Es ist schön, seinesgleichen heiraten zu können, ich will dich da jetzt nicht unter Druck setzen, so ist das nicht gemeint, verlass dich drauf. Mein Kind ist noch nicht geboren. Gestern hat dieser unsägliche Strunzhart geschrieben, nach dem neuen Gesetz könnte er ja jetzt einen Lampenschirm heiraten. Darauf muss einer erst kommen. Unsereiner scheint da draußen ja gewaltig im Kurs zu steigen.
  • ―Einen Lampenschirm? Soso… Der hätte auch vorgestern einen geheiratet … das einzige Wesen, mit dem er zurechtkommt. Eine Nachteule, gar nicht unsympathisch, kennst du ihn? Im übrigen: Was soll daran falsch sein? Ich sehe nicht, was daran falsch sein könnte.
  • ―Bleibt die Sache mit dem Jawort. Oder habt ihr das auch abgeschafft?
  • ―Lass das mal unsere Sorge sein. Ich denke da an eine geeignete Technik … es soll bereits intelligente Lampenschirme geben, die ihre Durchlässigkeit den herrschenden Lichtverhältnissen anpassen. Da hätten wir doch schon eine Definition der Ehe.
  • ―Was die Lichtverhältnisse angeht…
  • ―Jetzt mal Butter bei die Fische…
  • ―Mehr Licht…
  • ―Mehr was?…
Die Zerstörung der Ehe
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Renate Solbach: Nachtplanet ©Renate_Solbach
  • ―Schläfst du?
  • ―Ich denke nach.
  • ―Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.
  • ―Wir haben die Ehe zerstört und die da draußen reden von Lampenschirmen. Was bedeutet das? Ein zweihundert Jahre währender Kampf ist zu Ende gegangen und sie merken es nicht einmal. Ich meine, da muss man doch auf Gedanken kommen.
  • ―Schon Scheiße, das Ehegefängnis für alle.
  • ―Ehejoch, wenn’s geht.
  • ―Wir haben die Frauen aus ihren Käfigen geholt…
  • ―Das waren wir?
  • ―Das waren wir… Weißt du noch? Der Kampf gegen die Versorgungsehe … von heute aus betrachtet … was war eigentlich so schlecht daran?
  • ―Fünfzigprozentige Steigerung des Arbeitskräftepotentials, das entsprechende Kaufkraftvolumen eingeschlossen, das konnte sich doch sehen lassen, oder nicht? So bringt man Volkswirtschaften zur Expansion, ganz ohne Krieg. Es war das größte Friedensprojekt aller Zeiten.
  • ―Bei schrumpfender Bevölkerung.
  • ―Das ist nicht wahr. Bis gestern stiegen die Zahlen noch.
  • ―Welche Zahlen? Du meinst die der Altenheim-Insassen?
  • ―Na und? Nichts gegen meine Mutter. Die Bevölkerung wird älter. Was soll daran schlecht sein? Außerdem macht es Einwanderung attraktiv.
  • ―Quod erat demonstrandum.
  • ―Noch immer eifersüchtig? Das ist jetzt aber lächerlich.
  • ―Ich hör mich mal um.
  • ―Das wirst du schön bleiben lassen.
  • ―Eine Drohung?
  • ―Warum nicht? Macht droht. Das ist ganz normal. Nimm das jetzt bitte nicht persönlich, ich meine, du kannst dir was wünschen, aber ob du es bekommst, entscheiden die Umstände. Und in diesem Fall sagen mir die Umstände, dass du schlechte Karten hast. Ich mach dir ein Angebot –
  • ―Hilf mir mal hoch. Ich habe da einen Krampf. Um Himmelswillen, hilf mir doch mal. So, ja, so. Vorsicht.
Die Zerstörung der Ehe
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Renate Solbach: Nachtplanet ©Renate_Solbach
Triphan

Ein rarer Vogel. Hin und wieder man trifft ihn auf den Fluren, zerstreut und freundlich, das Ziehköfferchen hinter sich, das ihn nie verlässt. Er ist viel im Nahen Osten unterwegs, beruflich, die Pyramide erfährt davon nichts. Einmal im Jahr, zur Karnevalszeit, nimmt er sich frei und fliegt nach Rio. Seine Rede fließt sanft, seine Worte wiegen leicht, anschließend fragst du dich, was er gesagt hat, und findest die Antwort nicht. Es hat dich beeindruckt, soviel ist dir erinnerlich, der Eindruck sitzt noch fest in den Knochen: Gut, dass es solche Menschen gibt. Man reiche ihnen einen Zwirnsfaden und sie halten die Welt zusammen, mit einem darüber gestrichenen Satz, einem Heben und Senken der Braue. Das Bild hinkt, ein lahmer Gaul, nicht vorstellbar, dass ein Triphan jemals an Ränder geriete. Er ist immer mittendrin. Zwischen Not und Nagel, zwischen Nah und Ost, zwischen dir und dir. Ein Mittler? Vielleicht. Du weißt zu wenig über das, was ihn treibt.

 

Wer Duro kennt, weiß:
sein Autor-Ehrgeiz ist ungesättigt

Tschipek. Ärger im Kontroversum
1

Duro schreibt:

Querzüge eines Weltgenies

I

Der Taschenspieler Tschipek, der später als Philosoph zu einer Art Weltruhm gelangte, hat als Junge zuviel Ljubljanicawasser geschluckt. Das führte über allerlei Zwischenstufen dazu, dass er für alle Probleme, die man ihm vorlegt, eine brachiale Lösung zu besitzen behauptet. »Der Klassenkampf«, pflegt er auszuführen, »ist der Schlüssel zu einer Sache, die weder Tür noch Schloss besitzt.« Die wahre Natur der Besitzergreifung sei daher der Einbruch. »Ich persönlich bevorzuge die direkte Aktion, aber nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Das erleichtert das Weglaufen.« In Erwartung der Nacht, in der alle Katzen grausam sind, schrieb er ein paar Bücher, die seinen Namen um die Welt trugen – teils, weil sie Kopfschütteln erzeugten, teils, weil er ihnen persönlich auf dem Fuße folgte. »Was nützt ein Ruf, wenn nach Abzug der Spesen nichts bleibt? Wenn ich als persona non grata meine Einkünfte verdoppeln kann, dann vervierfache ich sie als persona non grata grata und verzehnfache sie, nach einem mir selbst nicht ganz durchsichtigen Schlüssel, als persona non grata gratissima. Das heißt den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen schlagen. Nun denn: ich bin der letzte freie Kommunist der westlichen Hemisphäre, der östlichen sowieso. Und jetzt kommt her, Erniedrigte und Beleidigte, damit ich euch einen Aufwärtshaken verpassen kann.«

Tschipek. Ärger im Kontroversum
2

II

Tschipek weiß, dass Kleineleutephilosophie niemanden auf der Welt zu fürchten hat als die kleinen Leute. Aus diesem Grund (und einigen kleineren) hat er ein ausgeklügeltes System geschaffen, das es ihm erlaubt, sie berührungsfrei vor den Kopf zu stoßen. Das Mittel, das er dazu verwendet, ist die Psychoanalyse oder das, was unter dem Druck seiner mächtigen Pranken von ihr übrigbleibt. Das ist wenig, manche sagen: weniger als nichts, denn auch die einst mächtige Psychoanalyse ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, ganz wie der Sozialismus, aus dem Tschipek stammt, wie zu betonen er nicht müde wird: zwei Knetkugeln, denen jeder die Gestalt verpasst, die ihm einfällt. Das eigentliche Instrument seines Philosophierens ist daher die Zwille. In diese legt er einmal die eine, einmal die andere Knetkugel ein, während er sich rasch um die eigene Achse dreht und auf jeden zielt, der sich gerade zu einer Sache geäußert hat und jetzt auf Einwände wartet. Es kommen aber keine. Tschipek hat es sich zur Regel gemacht, niemals auf seine Gesprächspartner einzugehen. Als Begründung führt er an, dass er den westlichen Diskurs für Geschwätz hält, den östlichen übrigens auch. Tschipek überantwortet. Die Frage ›Wen wem?‹ hat ihn sein Leben lang beschäftigt. Diese Beschäftigung hält an. Einmal hat ihn die Frage, ob er Gedankenpolizei befürworte, zu einer dialektischen Antwort verführt. Mittlerweile würde er sie gern wieder los. Sein Pech, denn sie hat Geschmack an ihm gefunden. Leider kann er sich nicht mehr an sie erinnern.

Tschipek. Ärger im Kontroversum
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III

Wenn Tschipek die Zeitung liest, hält die Welt den Atem an und Ängstliche verzichten auf ihren geliebten Sport: die einzige Sparte, in der er niemals brilliert. Seit er einen Redakteur mit dem Ruf »Ich will keine Abzeichen, ich will Anzeichen« überraschte, lauert die neoliberale Welt bei ihm auf erste Anzeichen physischer Schwäche. Das kann dauern. Die Wartezeit teilt sie sich mit der Zeit, die heimlich von der taz Auffassungen zukauft. Das Kleeblatt soll sich bereit erklärt haben, dem New Yorker den Vortritt zu lassen, wenn es denn einmal sein soll. Warum? Einer wie Tschipek hat mächtige Gönner. Niemand kann wissen, woran er bei ihm ist. Andererseits: Woran sollte er schon sein? Tschipek ist Tschipek. Wer ihn von hinten sah, kennt ihn von vorn. Nur durch und durch kennt ihn niemand, ihn eingeschlossen, und damit hat es dann auch sein Bewenden. »Wenn Sie wissen, was Sie von mir zu halten haben, wollen Sie es dann noch?« So eine Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Man hat Tschipek gesehen, wie er Redaktionsräume verließ, in denen noch Stunden später das Aufräumkommando wütete. Wut ist sein Markenzeichen. »Die Wut«, räumt er lachend ein, »ist gerade die Woge, die mich trägt. Warum sollte ich ihr gram sein? Fassungslosigkeit ist mein Lebenselixier. Am liebsten würde ich meine Brille fassungslos tragen. Aber das geht nicht, denn wie Rosenmund sagt: Die Brille ist der Mann. Wenn einer im Raum die Fassung behält, dann bin ich das.«

Tschipek. Ärger im Kontroversum
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IV

So gern Tschipek kommt, so gern kommt er von Hölzchen auf Stöckchen. Denn eines weiß er bestimmt: Wo alles mit allem zusammenhängt, fällt alles auseinander. »Warum soll meine Rede konsistenter sein als die Wirklichkeit? Das wäre ein Fehler.« Also erlaubt die Wirklichkeit ihm, immer wieder auf den Punkt zu kommen. »Die Wirklichkeit ist der Klassenkampf, alles andere tut nur so. Nichts ist wirklicher als das, was wirklich vorgeht. Erst wenn wir das festhalten, wissen wir wirklich Bescheid. Glaubt mir, Freunde: Für den, der nicht Bescheid weiß, ist alles wirklich. Das ist absurd.« Es soll Schüler geben, die daraus schließen, Tschipek wisse, wo es langgeht. »Ich weiß nichts. Ich existiere gar nicht, es sei denn als Mittelfigur und jede Mitte ist falsch. Lebe dein Extrem. Ich kann das sagen, denn es kann mich mal. Mein Extrem ist dein Extrem. In Wahrheit ist es niemandes Extrem und das ist der Kommunismus.« Dann lächeln die Wissenden. Die Unwissenden schweigen, denn sie wissen: Es hat keinen Zweck. Das ist es, was Tschipek an den Mann & die Frau zu bringen versucht. »Ein Mittel, das einem Zweck dient, übt schon Verrat. Ich bin das Mittel, das nichts verrät.« Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, auch nicht die halbe. Es ist die ausbuchstabierte Wahrheit, soll heißen das Ergebnis einer Lektüre, die in Wahrheit, das heißt angesichts der Zeitung, nichts anderes meint als Hader: Zeige mir ein bedrucktes Stück Papier und ich zeige dir, was darin schief läuft. Über das bedruckte Papier ist Tschipek nicht hinausgekommen. Er wirkt sehr beruhigt, seit er erfuhr, was im Netz alles schief läuft. Seither kennt er sich wieder aus.

Tschipek. Ärger im Kontroversum
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V

Der russische Roman, aus dem Tschipek kommt, heißt Wir. Tschipek kommt darin bloß deshalb nicht vor, weil er sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hat. Das heißt, wenn er ›Wir‹ sagt, dann meint er ›Ich plus…‹, genauso wie die LGBTQ-Leute einfach ein Plus an ihre Chiffre hängen, wenn sie es leid sind, so genau zu sein, wie sie es von ihren Mitmenschen verlangen. Eigentlich weiß man nicht, was Tschipek meint, wenn er ›Wir‹ sagt oder schreibt. Der Verdacht steht im Raum, dass er es selbst nicht weiß. Es ist auch kein Verdacht, sondern eine Gewissheit, die nur darunter leidet, dass Tschipek immer weiß, was er sagt. Wie das? Nun, die analytische Schule, von der Tschipek herkommt wie ein anderer vom Frühstück, sieht in der misslingenden Unterwerfung unter den Anderen den wahren Ursprung des Ich. Daher ist letzteres nichts weiter als ein falscher Fuffziger, wie man damals sagte, als die Seelenklempnerei noch zum Gesellschaftsspiel taugte. Und folglich ist Tschipeks ›Wir‹ bloß der fortgesetzte Versuch, den falschen Fuffziger in einen echten zu tauschen … aber unauffällig, so dass nichts auffliegt. Wenn das Ich, eingezwängt zwischen dem kleinen a der Begierde und dem großen A wie ›Autorität‹, das manche als A*** buchstabieren, zu nicht mehr als einem Aha taugt, dann taugt das ewige ›Wir‹ dazu, aus möglichen Gegnern Proselyten zu machen, bevor der Schwindel auffliegt und der Kredit erlischt. Denn Tschipeks Weltruhm ist, wie der Kapitalismus, auf galoppierende Kredite gebaut. Er gleicht damit einem Hütchenspiel, bei dem Tschipek auch das Aufdecken mitbesorgt, damit alles schneller geht.

Tschipek. Ärger im Kontroversum
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VI

Sein Gefährte Le Moi-le-double hat ihm einmal den Tipp gegeben, ein Buch über die Hoffnungslosigkeit zu schreiben. Damit sollte all denen, für die eine Tschipek-Lektüre ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt, ein Licht aufgesteckt werden. Erst wenn die Hoffnung erloschen ist, wird es Licht. Das erinnert an den Witz, in dem drei Bauern den Mond vom Himmel holen, weil sie finden, dass sein Licht dem Nachbarn nicht zusteht. Sie kriegen aber kein Auge mehr zu und einer sagt endlich, was Sache ist: Besser fest geschlafen als wach geträumt. Tschipek hat sich, wie billig, nicht lange bitten lassen und den Hoffnungslosen zur Hoffnung verholfen, der Schlaf der Vernunft möge in baldiger Zukunft zurückkehren und den Alb namens Tschipek von ihren Häuptern verscheuchen. »Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts«, so schreibt er, »lehrt uns, dass wir die Kraft aufbringen müssen, die Hoffnungslosigkeit vollständig anzunehmen.« In Tschipek für Laien heißt die entsprechende Passage: »Wer sich mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts beschäftigt und dennoch den Mut nicht sinken lassen will, muss sich voll und ganz auf die Verhältnisse einlassen.« Natürlich steht dahinter Tschipek und lacht sich ins Fäustchen. Wer aber glaubt, ihn an dieser Stelle packen zu können, der zielt zu kurz. Als guter Analytiker streicht Tschipek die Hoffnung gleich wieder, um sie durch den Trost zu ersetzen. Merke: Nur wer nicht ganz bei Trost ist, buchstabiert die große Pleite als Weg, der direkt in den Kommunismus des 21. Jahrhunderts führt. »Nordkorea kommt Shangri-la heutzutage am nächsten – in welchem Sinn?« Nun denn, in jedem. Eine trostlose Theorie ist für einen, der nicht bei Trost ist, das Tröstlichste auf der Welt. So oder ähnlich muss Tschipek beim Schreiben gedacht habe. Seine Freunde in aller Welt geben ihm recht.

Tschipek. Ärger im Kontroversum
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VII

Tschipek wäre nicht Tschipek, wäre er nicht auch der Spatz, der von den Dächern pfeift, wie man’s macht, wenn man Tschipek heißt und nichts zu verlieren hat außer vielleicht dem Ruf, nichts zu verlieren zu haben (es sei denn den Ruf, berechenbar unberechenbar zu sein). Treibe die Unberechenbarkeit auf den Punkt, an dem sie als Wiederholungszwang auftritt, um ultimativ zu wirken! »Das darf doch nicht wahr sein!« entfährt es dem Leser an dieser Stelle. Mit Kennergeste setzt Tschipek hinzu: Gerade deshalb ist es wahr. Das verwirrt den Leser, weil sein Ausruf keiner Sache galt, sondern Tschipeks verzweifeltem Manöver, sie von sich fernzuhalten. ›Vielleicht ist ja doch etwas dran‹, denkt er resigniert und um seinen Geisteszustand besorgt, und Tschipek setzt hinzu: »Was soll schon dran sein, du Analphabet! Du bist dran.« Denn Tschipeks Leser ist stets das Salz in der Suppe, sein Jüngstes Gericht, nachdem die älteren aufgebraucht sind und der Verdacht aufscheint, dass sich’s nach Tisch wieder anders lesen wird. Tschipeks Welt ist ein Kartenhaus. Fällt es zusammen, steht er lachend auf und sagt: »Siehst du!« Er verlangt aber vom Leser, dass er sitzen bleibt und es weiter versucht: »Du wirst es schaffen! Klar schaffst du es! Bleib dran, damit du es schaffst!«

Das schafft den Leser.

 

Wer fragt, gewinnt

Existiert Tschipek?
1

Duro schreibt weiter:

VIII

Existiert Tschipek? Wer kann das wissen? Irgendwo dort draußen im medialen Universum, im digitalen Rauschen, treiben Bilder von ihm vorbei. Doch sie fügen sich nicht zusammen. Sie ergeben keine Person. Was ergeben sie dann? Eine Unperson? Eine Unperson ist eine persona non grata, eine weggewünschte Person, eine Person, die Ärger macht. Macht Tschipek Ärger? »I wo«, sagen seine Freunde. »Tschipek ist lustig.« Tschipek, falls es ihn gibt, sieht das anders. »Ich bin, im Paradies der Gesten, der Wort gewordene Ärger. Seht auf mich! Seht auf mein Bild! Was seht ihr da? Ihr seht Tschipek. Würdet ihr daran zweifeln? Wenn einer hier zweifelt, dann ich. Ich bin euer Zweifel, vergesst das nicht. Wenn einer, dann ich. Warum? Weil ihr nicht zweifeln dürft. Zweifelt an eurer Existenz und ihr seid geliefert: So sieht es aus. Ihr müsst zweifeln und dürft es nicht. Aus diesem Grund gibt es mich. Ich nehme euch eure Zweifel und verkaufe sie mit Gewinn zurück. Berappen müsst ihr, ich bin nicht billig. Glaubt, was ihr wollt, aber glaubt nicht, ihr werdet mich los. Ihr zweifelt, ihr wiegt das Haupt? Versucht’s erst gar nicht. Nehmt mich! Ich mache den Ärger und ihr Karriere. Ich mache Karriere und ihr habt den Ärger gratis, als Aufschlag. Niemand soll an mir zweifeln. Das hieße ja am Zweifel zweifeln und das gelingt keinem so schnell.« Manche behaupten, er sei ein Produkt der Medien. Das freut ihn und er stimmt gerne zu. »Im Kapitalismus ist alles Produkt.« (Im Sozialismus auch, fügt er hastig hinzu.) »Wenn die Medien mich produzieren, bitte! Einer muss es ja tun. Wer bin ich, sie daran zu hindern?«

Existiert Tschipek?
2

IX

Als der Kapitalismus noch Zwiesprache mit den Menschen hielt, kam er einmal zu Tschipek und unterbreitete ihm ein Angebot. Worin dieses bestand, weiß niemand. Aber es muss umfassend gewesen sein. Seither weiß Tschipek alles, was den Kapitalismus betrifft, folglich alles. Mit diesem supranaturalen Zustand ist nicht gut Kirschen essen. Deshalb beschreibt Tschipek den Kapitalismus auch gern als Hölle. In solchen Phasen ist er ganz er selbst und ganz außer sich. »Geht’s euch gut? Geht’s euch gut?« fragt er die Leser, »Das ist die Hölle.« Irgendwann, weiß Tschipek, macht der Kapitalismus jedem ein Angebot. Daher wundert’s ihn nicht, wenn andere dagegenhalten: Neunmalkluge, gestützt auf Statistiken, die vorgeben, in der besten aller bisherigen Welten zu leben. »Globale Krise? Welche Krise? Die Menschheit stürmt voran. Also hinterher!« Tschipek widerspricht ihnen nicht. Er findet nur, sie sollten sich teurer verkaufen. »Mit vielen Einschränkungen kann man grob die Daten akzeptieren, auf die sich diese ›Rationalisten‹ beziehen.« Man sieht, er kann schmallippig sein. Er ist schon ein Genie. Warum, das schiebt er gleich hinterdrein: »In der Tat leben wir heute eindeutig besser als unsere Vorfahren vor 10 000 Jahren, und selbst ein durchschnittlicher Häftling in Dachau (dem Nazi-Arbeitslager, nicht Auschwitz, dem Todeslager) lebte wenigstens etwas besser als wahrscheinlich ein Sklave der Mongolen.« Das werden sich die 41 500 Toten des KZ Dachau auch gedacht haben (von denen, die nach Auschwitz weiterdeportiert wurden, einmal abgesehen). ›Wir‹ wissen nicht, welche Formen des ökonomischen Realismus sich im Zeichen der Vernichtung durch Arbeit entwickeln. Selbst ein Tschipek hält sich da zurück, aber nur mühsam. Seine wahre Hölle ist der Schreibtisch.

Existiert Tschipek?
3

X

Was verbindet die Erschossenen, Gehenkten, zu Tode Geprügelten, die Verhungerten, Gefolterten, Vergewaltigten, Entwürdigten, Versklavten, Dekapitierten, Dehumanisierten außerhalb der privilegierten Regionen dieser Erde, über die Stalin und Mao ihre schirmende Riesenfaust hielten, mit den Reichen, den Satten, den Zufriedenen, den Konsumidioten, den Korrespondenten und Kritikern in ihren klimatisierten Büros? Richtig: der Kapitalismus. Der Kapitalismus, findet Tschipek, ist der große Gleichmacher auf Erden. Wer glaubt, es könnte einen guten und einen bösen Kapitalismus geben, der liegt radikal schief. Der böse, kapiert es endlich, ist nichts als die dunkle Unterseite des guten. Als Postkartenmotiv macht sich das nicht schlecht. Dabei weiß Tschipek, dass mit solchen Fabeleien kein Blumentopf zu gewinnen ist. Ihre Zahl ist Legion und jeder Sozialarbeiter war bereits weiter. Im Grunde findet Tschipek, es sei besser, den Kapitalismus für sich sprechen zu lassen. Das meint natürlich, dass er, Tschipek, als Sprachrohr mit gutem Beispiel vorangeht und dekretiert: Gesundheit im Kapitalismus ist Scheingesundheit.

Existiert Tschipek?
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XI

Tschipek hat ein loses Mundwerk. Doch er will nicht, dass ein Handwerker kommt und es festschraubt. Das heißt, er scheut die Ausgabe, weil in der Krise, wie er sagt, sich der Wert nicht im Produkt, sondern im Geld konzentriert. »Bedeutet das nicht, dass sich der Fetischismus in diesem Moment, anstatt sich aufzulösen, in seinem direkten Wahn durchsetzt?« Irgendwie schon, denkt Tschipek. Das lose Reden erzeugt eine Abwärtsspirale, aus der zu entkommen schwierig wird. Wenn der direkte Wahn sich durchsetzt, so ist das dem Kapitalismus gesetzmäßig inhärent und deshalb zwingend. Folglich erscheint Tschipek alles, was er gerade erzählt, gesetzmäßig inhärent und zwingend. Er selbst muss sich nicht zwingen. Er steht unter Kontrakt und der Kapitalismus erledigt die Sache im Handumdrehen. Aus dieser Sicht erscheint ihm der Kapitalismus als Witz, aber als einer, der, wie er selbst, alles ernst meint. »Tatsache: dass etwas faul ist mit einem System, in dem unkontrollierte Bankgeschäfte den Bankrott eines ganzen Landes verursachen können.« Wäre es da nicht besser, kontrollierte Bankgeschäfte würden den Bankrott verursachen? Im Prinzip schon. Es müsste nur einer da sein, der kontrolliert. Woher nehmen, wo alles korrupt ist? Das ist nicht so einfach. Die Demonstration, dass mit einem korrupten System etwas faul ist, gehört zu den Glanznummern Tschipekscher Dialektik. Doch da sein ganzer Systembegriff faul ist, weil er sich niemals bewegt, entgeht ihm dessen eigener Witz, das heißt, sein Korruptsein. Nie würde sich Tschipek der Frage stellen, wie zum Beispiel das Geldsystem funktioniert oder wo die Krisenauslöser sitzen. Sobald er vom ›System‹ redet, ist immer alles irgendwie inbegriffen und geht mit allem einher wie ein misstrauischer Obdachloser, auf den der lateinische Merksatz zutrifft: Omnia mea mecum porto. »Welches Porto?« könnte Tschipek fragen, »Ich kenne nur Portwein.«

Existiert Tschipek?
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XII

Als Tschipek einmal originell sein wollte, erfand er, wie Brunelleschi, die Kuppel. Das ist kein Witz, es hat nur welchen. An dieser Stelle sollte von Tschipeks Kollegen geredet werden. Ja, auch Tschipek hat einen Kollegen. Er ist, Brunelleschi herausgerechnet, der eigentliche Erfinder der Kuppel. Der gute Kollege hatte den Einfall, die Globalisierung als eine Art Treibhaus zu beschreiben, in dem die Reichen und Satten sitzen, während die Armen und Hungrigen ihnen von außen auf die Finger sehen. Er wollte damit sagen, unter der hermetischen Kuppel könnten keine richtigen historischen Ereignisse (wie zum Beispiel Revolutionen) mehr eintreten, vergaß aber in seiner gewohnten, etwas zerstreuten Eile, die Zerbrechlichkeit solcher Glaskonstruktionen zu erwähnen. Tschipek hingegen erkannte sogleich mit geübtem dialektischem Blick die alte Zweiteilung der Welt. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Wo Klassen sind, da herrscht Klassenkampf. Wenn aber die Ausgeschlossenen die neue Klasse bilden, das neue emanzipatorische Subjektsubstrat der Geschichte, dann tschüss, ihr nie wirklich funktionierender Ersatz für die abgehalfterte Arbeiterklasse, ihr FeministInnen, Schwule, Lesben, Transen, Gastarbeiter, Farbige, Abgehängte! Objektiv reaktionär, wie ihr unausweichlich von jetzt an seid, habt ihr keine andere Chance, der ziellosen Idiotie des Privatlebens zu entkommen als die, euren Kampf mit dem der vom globalen Kapitalismus wahrhaft Exkludierten zu verbinden. Was wird den Exkludierten verweigert? Inklusion. Was verlangen die Exkludierten? Inklusion. Was ist Kapitalismus? Inklusion durch Exklusion. Wie zerbricht man Exklusion? Man zerbricht Grenzen. So denkt Tschipek, weil es in ihm so denkt. Kommt es hart auf hart, so denkt es aus ihm heraus.

Existiert Tschipek?
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XIII

An dieser Stelle muss Tschipek den Kopf aus dem Sand gezogen und nachgedacht haben. Jedenfalls redet er seither mit gespaltener Zunge. Im Grunde seines Herzens kann er sich nicht entscheiden, ob er das Elend der Ungleichheit dem Elend der Gleichheit vorzieht oder umgekehrt. Sobald er den einen Elendszug passieren lässt, setzt er den anderen in Bewegung. Offenbar hegt er die Hoffnung, an ihrem Kreuzungspunkt müsse zweckmäßigerweise eine Art Himmelfahrt stattfinden. Sicherheitshalber lässt er sich nie an ihm blicken. Er zeigt nur flüchtig in seine Richtung. Der Schock der radikalen Gleichheit, so Tschipek, trifft die Kuppelbewohner im Morgengrauen. Warenfetischisten, die sie sind, gleichen die Mindergestellten ihren Bessergestellten wie ein Krokant-Ei dem anderen. Doch der consumismo verrät die Ungleichen. Gleicher ist, wer mehr konsumiert. Wenn aber die radikal Ungleichen die Hölle stürmen, dann ist sie wirklich das Paradies, als das sie den Ausgeschlossenen fälschlich erscheint. Allerdings gilt das nur für den kurzen historischen Moment, bevor es unter dem Ansturm der Ausgeschlossenen zerbirst. Es kommt also darauf an, die Hölle zu verteidigen, mit allen Finten und Finessen des Diamat, der jetzt als Galimathias firmiert, um nicht aufzufallen, da es allenthalben heißt, er sei tot. Wie Tschipek das macht, ist schon lesenswert. Bleibt, wo der Pfeffer wächst, und revolutioniert euch redlich, steckt er den Wanderlustigen, die irgendwann entdeckt haben, dass die Kuppel nur eine Zirkuskuppel ist und untenherum voller Löcher. Im übrigen: Seid willkommen! Er könnte auch schreiben: Wir lieben euch doch alle: gebongt! Aber dann käme er sich schäbig vor wie die Vorsichtigen, die schon länger so reden und die er verachtet, wenngleich nicht wirklich. Ein bisschen Schäbigkeit muss halt sein, denkt er sich und tritt im Vorbeigehen nach dem Sack mit der Aufschrift ›Xenophobie‹: Das Wimmern da drin ist ja nicht zum Aushalten.

Existiert Tschipek?
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XIV

Am liebsten wäre es Tschipek, die Unangepassten aller Länder, die Ausgeworfenen, Ausgeflippten, Zurückgebliebenen, Abgedrifteten, die Sentimentalen, die Kokser, der ganze Rest, die Herrenreiter ohne Gestüt, aber mit Vergangenheit, die Kokainbauern, Hühnerzüchter, Brieftaubenhalter, Frauendrangsalierer aus Herkunftsgründen, die religiös Musikalischen mit dem absoluten Gehör, die erfolglosen Modedesigner, die Überlieferungsfreaks, die nicht Überzeugten aus Überzeugung, die grundsätzlich Überzeugten jeder Himmels- und Farbrichtung, die »Nö« rufen, sobald das Wort ›rationale Verständigung‹ fällt, sie alle sammelten sich unter der Fahne des Tschipekismus zur wahren Tat und riefen: »Passt!« Das wäre schön. Ginge es nach den üblichen Millenaristen, die allzu ungeduldig dem Ende der Zeiten entgegenfiebern und gewohnt sind, das Fell des Bären zu verteilen, ohne sich an der Jagd zu beteiligen, es gäbe einen Tschipek des Nordens und einen Tschipek des Südens, daneben einen des Westens und einen des Ostens. Im Grunde ist es schade, dass nicht mehr Himmelsrichtungen zur Verfügung stehen. Die wundersame Tschipekvermehrung käme sonst an kein Ende. Die Leute sind scharf auf Tschipek und jeder will seinen ungeteilt. Das liegt teils daran, dass Tschipek, sobald man ihn teilt, in lauter Bekanntes zerfällt – »Das soll Tschipek sein? So ein Quatsch!« –, teils an der nicht unplausiblen Überlegung, dass jede Teilung in Klassenkampf mündet, ja ihn gewissermaßen voraussetzt. In mancher Hinsicht ist Tschipek der Null-Meridian des Klassenkampfes. Praktisch verkörpert er die Reißleine des Planeten. Wer an ihr zieht, dem öffnet er sich und fliegt im Ethanolrausch davon. Daher ist es wichtig, ob oben oder unten gezogen wird. Wer oben zieht, ist so frei, wer unten zieht, hängt im Freien. »Stellt euch nicht so an«, scheint er den Gebeutelten aller Länder zuzurufen, »besser wird’s nicht.« Das ist seine Deutung des bereits erwähnten Satzes, dass Veränderung erst eintreten kann, wo alle Hoffnung zertreten wurde. Haut drauf, aber werdet nicht kriminell, bevor ich weg bin. Tschipek sitzt im Flieger, wenn ihn die Nachrichten einholen. Er fliegt sich frei, darüber erwartet die Welt ein Buch von ihm. Teile daraus zirkulieren bereits, aber unerkannt.

Existiert Tschipek?
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XV

Wenn Tschipek keine Lust hat, sich mit anderer Leute Geschwätz zu befassen, dann findet er es obszön. Zum Beispiel fände er, spräche er über sich selbst, es obszön, dass so viel über ihn gesprochen wird. Das bedeutet nicht, dass die Dinge sich besserten, hielte er stattdessen den Mund. Das Gegenteil wäre der Fall. Das Obszöne existiert ja, es will heraus, so wie das Böse, auf dessen Oberfläche es glitzert. Auf Tschipeks nach oben offener Obszönitätenskala ist obszön, wer das Obszöne obszön findet. Tschipek lässt die Beine baumeln und starrt ins Leere. Adieu Psyche, adieu Seminarwelt, adieu Universum! What comes next? Wer hat die Pfoten verdeckt im Spiel, wenn das Spiel aus ist? Wer im Märchen lebt, der will am Ende heraus. Was aber, wenn das Märchen aus lauter Märchen besteht, die einer selbst gesponnen hat? Wohin fällt, wer beschlossen hat, nicht mehr aufzufallen? Im Grunde, sinniert Tschipek, ist das exakt die Lage, in der sich der Westen befindet. Er ist der Westen nicht mehr, während er doch davon lebt, der Westen zu sein. Angekommen zu sein und das Haus steht leer: ein Debakel. Das darf nicht sein. Wenn die Amerikaner vor lauter correctness anfangen, Renegaten zu wählen, dann hat die Theorie, mit Verlaub gesagt, versch***. Allein die Sternchen zeigen schon, wohin dort die Reise geht. Zeit, sich auf das alte Europa zu besinnen! Der Kommunismus, da kommen wir der Sache schon näher – das europäische Ereignis schlechthin! Nun gut, streichen wir das ›schlecht‹, es verdirbt den Geschmack, schreiben wir ›guthin‹. Gut Ding hat Weile, das Stück Wegs will genossen werden. Nur im Genuss findet der Mensch sich, jedenfalls bruchstückhaft. Was will mir ein Bruchstück von mir? Das soll mir genügen? Eurozentristisch gedacht, ist der Eurozentrismus schlecht. Nieder mit dem Eurozentrismus! Ganz nach unten damit, denn er ist die Basis von allem. Was wäre die Welt ohne einen gesunden Eurozentrismus? Sie wäre ärmer – das zumindest verbindet uns mit den Reichen. Oder mit den Armen? Oder mit den Anderen? Oder mit den Fremden? Wieso dann fremd? Mittun kann jeder, es kommt immer drauf an, was einer daraus macht. Oder wir mit ihm. Oder es mit uns. Oder es mit sich… Unsinn.

Dieser Duro hat zuviel Zeit, sinniert der Rektor, nachdem er das Manuskript durchgeblättert hat, ich werde ihn mit einer Kommissionsleitung betrauen. Wir sollten diesen Tschipek einladen, falls es ihn wirklich gibt.

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Dürrobst rastet aus

Dürrobst rastet aus
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Climate Change
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Kollege Agosch ergeht sich in Andeutungen

Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Agosch
  • ―Stellen Sie sich vor… Nein, stellen Sie sich nichts vor. Vorstellen ist gefährlich, dabei können vertraute Bilder auftauchen und schon sind Sie … bin ich … stellen Sie sich nichts vor, ich bitte darum. So ist’s schon besser. Jetzt ruhig halten, ganz ruhig halten, ich bin ja dabei, alles zu erklären. Sie, ich meine jetzt Sie, niemand anderen, jedenfalls niemanden hier im Raum, Sie entdecken, durch Zufall, nehme ich an, bei einem Kollegen irgendeine Unregelmäßigkeit. Es fängt damit an, dass er Ihnen, bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten, von ein und demselben Antrag erzählt, genauer gesagt von ein und derselben Antragsgeschichte, nein, auch das ist ungenau, er erzählt Ihnen, und zwar haarklein, ein und dieselbe Antragsgeschichte, obwohl zwischen dem einen Antrag und dem anderen, sagen wir dem zweiten (später stellt sich heraus, es ist vielleicht der dritte oder vierte) ein paar Jahre verflossen sind, es sich also, egal, was Sie von der Sache halten, nicht um ein und denselben Antrag handeln kann. Sie empfinden das, sagen wir einmal, als komisch, denn der Kollege neigt nicht zur Vergesslichkeit und seine Geschichte ist ziemlich detailreich, es muss ein halber Nachmittag gewesen sein, an dem er Sie damit unterhielt, und Sie müssen sich blendend unterhalten gefühlt haben, denn auch Sie besitzen eine Wissenschaftler-Natur, und Ihr Herz schlägt höher, wenn es um Geschichten von Forschungsgeldern und geplatzten Anträgen geht, und diese hier scheint ziemlich erfolgreich gewesen sein. Und auch Ihr Gedächtnis arbeitet, nach allen Anzeichen, die Sie aus der Umgebung empfangen, ziemlich präzise, vielleicht sogar überdurchschnittlich, ganz sicher überdurchschnittlich sogar, denn darauf beruht Ihr Erfolg, wenngleich nur beruflich.

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Natürlich gehen Sie der Geschichte nicht nach. Was für ein Zug wäre das denn? Es ist nur … in der Regel bleibt das Befremdliche, wie man so sagt, besser im Gedächtnis haften als anderes und es gibt Tage, da beherrscht es einen vollkommen… Es darf dann nichts hinzukommen.
Sie erraten es schon: in diesem Fall kommt etwas hinzu, etwas Unvermutetes, etwas Drittes. Sie erhalten, zunächst nichts Besonderes, eine Anfrage von unserer Forschungsbehörde (genau genommen handelt es sich, wie Sie wissen, eher um eine Gemeinschaft, eine illustre Notgemeinschaft in Zeiten fehlender Not, denn in der Wissenschaft ist immer irgendwo Not am Mann, auch wenn der Mann gelegentlich eine Frau ist) und diese Anfrage betrifft … naja, sie betrifft den erwähnten Kollegen, der offenbar einen neuen Forschungsantrag eingereicht hat, es geht dabei um Millionen, so dass Sie plötzlich hellwach werden, denn Geld schärft bekanntlich die Sinne. Und nach und nach … wie soll ich es ausdrücken? … fällt es Ihnen wie Schuppen von den Augen: das ist kein neuer Antrag, sondern der Ihnen bereits vertraute, wiederum bereits Jahre zurückliegende und, wie Sie annehmen müssen, erfolgreich abgewickelte. Aber dieser Antrag hier ist zweifellos neu, das heißt seine Ausgangsdaten und einige Details der Projektbeschreibung sind neu, aber es handelt sich um die gleiche Sache, nur in anderer Verpackung, um es etwas rüde zu sagen, um eine Art Selbstplagiat, wenn so etwas möglich wäre.

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Sieh an, denken Sie, der Kollege arbeitet mit sparsamen Mitteln, aber ziemlich effizient, um nicht zu sagen außerordentlich erfolgreich, denn die Hälfte des Antragstextes handelt von nichts anderem als der Wichtigkeit dieses Vorhabens, das offenbar bereits von ein paar Ministerial­beamten, vielleicht nach einem ausgedehnten Restaurant­besuch, mit ein paar dicken Strichen abgesegnet wurde, so dass die ausstehende Bewilligung mehr das Aussehen einer Formsache annimmt. Vielleicht ist ja gerade das der Grund, dass Sie, als guter Kollege, um eine Stellungnahme gebeten wurden. Es sei denn … es sei denn, es handelt sich um eine Art Test, durch den Sie in diese Sache hineingezogen werden sollen, vielleicht weil Sie selbst unter dem Verdacht der K…, nein, das wäre jetzt wirklich zu hart, aber man kann nie wissen und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Also recherchieren Sie, was Ihnen in diesem Fall nicht besonders schwer fällt, und schon nach ein paar Tagen befinden Sie sich im Besitz von Informationen, die unwiderruflich beweisen… Was beweisen Sie? Nichts. Sie beweisen, dass der Kollege, besessen von einer, sagen wir: Intuition, seine ganze Karriere (oder doch ihren bedeutenderen Teil) auf eine fixe Idee gegründet und dabei stets willige Helfer auf der anderen Seite gefunden hat, um es bei dieser allgemeinen Benennung zu belassen. ach innen schweigen wir ohnehin, doch wenn man genau hinhört, auf den Fluren, da zeigt sich so ein Gewimmel von Spuren, denen niemand nachgeht, man käme ja sonst wohin.

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Warum nicht, werden Sie fragen? Die meisten Entdecker sind Besessene. Was hat er denn entdeckt, der Herr Kollege? Da, sehen Sie, beginnt das Geheimnis. Ich persönlich darf Ihnen nichts verraten, ich bin Teil des laufenden Verfahrens, selbst wenn ich wollte, dürfte ich nicht… Aber ich darf Ihnen etwas verraten. Auch wenn ich dürfte – kein Wort davon. Dazu sitzt der Schreck zu tief. Nein, ich bin nicht bedroht worden, es ist nichts Persönliches, es ist auch nichts Allgemeines, es ist etwas dazwischen, wenn Ihnen das etwas sagt. Viele Dinge, die unser Forscherdasein betreffen, sind irgendwie dazwischen, nach außen schwer zu vermitteln, nach innen schweigen wir ohnehin, doch wenn man genau hinhört, auf den Fluren, da zeigt sich so ein Gewimmel von Spuren, denen niemand nachgeht, man käme ja sonst wohin.

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Die fixe Idee und die Wissenschaft

Was Agosch hier vorträgt – er trägt es wirklich vor, mit zitternder Stimme und einem leicht belustigten Zug um die, ja was wohl, Mundwinkel –, folgt einerseits den bekannten Regeln des Flurtratsches, andererseits weist es auf ein Problem hin: das Problem der Kontrolle, das Leib-und-Magen-Problem aller Bürokratie. Warum sollte gerade die Wissenschaftsbürokratie eine Ausnahme machen? Dafür gibt’s keinen Grund. Die Bürokratie kontrolliert die Wissenschaft, niemand sonst, damit kontrolliert sie, niemand sonst, den Wissenschaftsausstoß. Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken schrieb einst Goethe. Das ist zwar, gerade unter Weimarer Lichtverhältnissen, physikalischer Unsinn, aber es umschreibt trefflich das Wesen der Bürokratie, der sich alles anverwandeln muss, was in ihren Dunstkreis einzutreten gedenkt. Wissenschaft, das unerhörte Ding, das Wissen schafft, gedeiht im Dunstkreis der Bürokratie, nirgends sonst, sie ist sowohl Herz als auch Seele des Betriebs und der Betrieb ist die Sache selbst, denn eine Tätigkeit, die Wissenschaft sein will, ist entweder Wissenschaft oder sie begründet eine – letzteres ein Vorgang, der bekanntlich so selten vorkommt, dass er sich in der Praxis vernachlässigen lässt. Als Wissenschaft jedoch ist sie Teil der Wissenschaft und damit Teil des Betriebs.

Alle Bürokratie beruht auf Repetition: der Ausführung immergleicher Griffe. Wie ein Experiment, das sich nicht wiederholen lässt, keines war, so sorgt ein Zwischen-Fall, der die Bahnen der Bürokratie durchkreuzt, für örtlich und zeitlich begrenztes Chaos und damit – Zerfall. Eine wissenschaftliche Fragestellung, die schon fünfzigmal durchgewunken wurde, wird es auch das einundfünfzigste Mal schaffen, die zu ihrer Verfolgung notwendigen Mittel zu generieren. Das ist keine Frage. Wir haben viel Geld in diese Sache hineingesteckt und die Ergebnisse sprechen für sich: 78 Studien, an erstklassiger Stelle publiziert, die neunundsiebzigste durchläuft gerade das Peer-Verfahren – und es sieht gut aus! Das kann sich doch sehen lassen. Und alle sagen im Grunde dasselbe. Das gibt Entscheidungssicherheit.

Entscheidungssicherheit: darauf kommt es an. Nicht die Politik allein giert nach diesem Stoff. Auch nachgeordnete Behörden können nicht genug davon bekommen. Schließlich wollen nicht sie im Regen stehen, falls es irgendwann regnet. Die sicherste Entscheidung ist eine, die schon so oft getroffen wurde, dass sie als einzelne bereits verschwimmt, während sie fällt.
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  • ―Wer spricht von Bürokratie, schwatzt Tronka, wenn ich eine Tagung ausrichte und ein Panel besetzen muss, dann benenne ich zwei oder drei Vertreter der gängigen Lehrmeinungen und einen, der etwas erzählt, von dem keiner so recht weiß, was daraus werden soll. Ich versuche also erstmal die einschlägige Prominenz zu gewinnen. Wenn das fehlschlägt, dann sind die Verlässlichen aus der zweiten Reihe dran, honorige Leute, die bei jedem Auftritt dasselbe vortragen. Auch dafür gibt’s Geld. Janein, isso. (Mittlerweile sagt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit isso. Das ist so.) Bleibt der unsichere Kandidat mit den originellen Ansichten: Woher nehmen? Am besten nimmst du dafür eine Frau. Da ist das Unkonventionelle gleich eingepreist und du bewegst dich auf sicherem Boden. Obwohl man ja nie weiß. Also Vorsicht! Nimm zwei, das gibt Konkurrenz. Tja. Man muss vorsichtig sein. Isso.

Dass Tronka einmal so reden würde –

Das hättest du nicht gedacht.

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Also gut: Die Wissensbürokratie fördert das Immergleiche. Damit fördert sie etwas anderes: nenne es Indolenz, Geistesträgheit, Heuchelei, Beschäftigungstherapie, selbst Lüge (denn was soll es anderes sein als Lüge, etwas als Forschung auszugeben, was doch bloß Wiederholung ist und nichts weiter?), also das Gegenteil von Wissenschaft. Nach dieser Regel verkehrt Wissenschaft sich langsam, aber unaufhaltsam in ihr Gegenteil. Was ist das Gegenteil von Wissenschaft? Aberglauben. Nein, das ist es nicht. Eher: Aberwissenschaft. Etwas sieht aus wie Wissenschaft, ohne Wissenschaft zu sein. Es hat die Hülle gekapert und kassiert Prestige ab. Dabei sinkt das Prestige und weicht … der Skepsis? Aber nicht doch: dem Aberglauben.

Der irreligiöse Kern des Aberglaubens ist die fixe Idee. Überall, wo der Wissenschaftglaube frenetisch wird, wird Wissenschaft (»Die Wissenschaft sagt…«) zur fixen Idee. Man findet diese Idee … überall: in den Medien, in den Reden der Politiker, den Programmen der politischen Parteien, am Küchentisch, in den Chatrooms – überall. Kein Wunder also, dass an allen Ecken und Enden Wissenschaftler auftauchen, die einer fixen Idee huldigen und daraus ihr Prestige beziehen: Karus zum Beispiel, unser Mann fürs Grobe, der in die Politik abgedriftet ist, aber er ist beileibe nicht der einzige. Die Pyramide brütet diese Spezies aus, hier scheint, alles in allem, die richtige Temperatur zu herrschen, abgesehen von den Strukturen.

 

Kurtzweil heißt das Spiel

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Kurtzweil ante portas

  • ―Was, und du meinst wirklich … Nein, das glaube ich jetzt nicht.
  • ―Seltsam klingt die Sache schon. Aber was willst du? Der Bibliotheksjob lastet den Mann nicht aus. Das sieht doch jeder. Aber er gibt ihm Gelegenheit zu wahlloser Lektüre…
  • ―… um sich wie ein Schwamm mit den abartigsten Theorien vollzusaugen. Da ist was dran.

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Du rufst die Bibliotheksaufsicht Kurtzweil vor dein inneres Auge und da kommt sie: eine große, knochige Gestalt mit starkem Haarwuchs, physische Stärke ausstrahlend, ausgestattet mit einer kernigen, von Allerweltsweisheiten überlaufenden Stimme, die Einspruch im voraus wegdrückt, besonders wenn er von schwächerer Seite kommt, kurz, kein besonders sympathischer Zeitgenosse, von den Kollegen ignoriert oder belächelt, um gleich wieder der Vergessenheit anheimzufallen. Dieser sich in seinen Anfängen am Arbeitsplatz mit Wurststullen und zerfledderten Perry-Rhodan-Heften auffütternde Kurtzweil also sollte…

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Stimmt. Dieser Kurtzweil hat jahrelang die Leserbriefspalten des Ruhr-Kurier mit Kurztraktaten gefüllt, bevor er sich endlich seinen eigenen Blog zulegte. (Wie hieß der noch? Aber sicher: Kurtzweil’s Kurzweil, gez. Kurtzweil. An solchen Sprach-Details ermisst sich die Klaue des Adlers.) Kurtzweil hat, wie mancher bedeutende Kopf vor ihm, die Welt an seiner Radikalisierung teilnehmen lassen. Nur dass er wirklich eine ›Gruppe‹ um sich geschart haben soll, um die sich letztlich, wenngleich in diskreten Tiefen, offenbar sogar der Staatsschutz kümmert, das wundert dich jetzt doch. Eine Bibliotheksaufsicht! Aber vielleicht liegt da der Hase im Pfeffer.

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Eine Aufsichtsperson ist eine Person … eine Person, ganz recht, eine Maske, durch welche die Hausordnung spricht. Und nicht nur spricht: tief beugt sie sich über die Büchertasche des Bibliotheksbenutzers, die Ein- und Ausgänge der Bücher kontrollierend, auf dass, so die Theorie, aus den Aus- keine Abgänge werden, während die stets nachlässige Praxis gerade letzteres nicht gewährleistet und auch gar nicht gewährleisten will. Was will sie dann? In ideologisch angespannten Zeiten … wo denken wir hin? Die Freiheit der Wissenschaft beginnt beim Buch. Dort endet sie in der Regel auch. Ein Kurtzweil im Betrieb, der seine Nase in jeden abzustempelnden Titel steckt, funktioniert wie eine Geheimpolizei, von der man vorderhand nur die sittsamen Informationen abschöpft, wohl wissend, dass in ihren Archiven noch ganz andere Kaliber lauern. In normalen Zeiten hat sich Kurtzweil darauf verlegt, mit seinen platten Sarkasmen die jungen Frauen zu verschrecken, die das Schicksal täglich an ihm vorbeiführt. Doch die normalen Zeiten sind längst vom Tisch, es herrscht der Ausnahmezustand. Mittlerweile sortiert sein geübter Blick in Sekundenschnelle, was alles ihm über die Theke geht: Ach sieh an, der Herr Professor liest ein Buch von diesem irren Killus. Hat man den nicht schon vor Jahren von allen Kongressen verbannt? Der ist doch quasi im Exil gestorben. War wahrscheinlich das Beste. Schaun Sie mal, Herr Professor! Wie gestern angeschafft. In all den Jahren keine drei Mal ausgeliehen! Wollen Sie wirklich Ihre kostbare Zeit…? Es gibt soviel zu erforschen. Wollen Sie sich wirklich damit beschmutzen? Sowas färbt ab, wissen Sie. Wie war das letzte Woche … das kleine Büchlein. Meinen Sie, mir entgeht das? Ihr Kollege Blowasser zum Beispiel, der hält sich eng an den Kanon, da weiß man schon, was einer wie der auf den Tisch legt. Ein produktiver Mann! Und so geschäftig. Man sagt, der Rektor hält ihn für einen fähigen Kopf. Jedenfalls klug. Der Rektor, das ist ein Mann. Den sieht man hier praktisch nie, höchstens in Begleitung von Gaggauer. Aber er wird alt. Ich gebe Ihnen einen Rat: Legen Sie’s zurück. Ich verstehe Sie ja, aber sind Sie wirklich der Kopf, damit umzugehen? Das ist doch Geschichte, das kommt nie wieder. Dieser komische Eike, Sie wissen schon, der Kerl, der dem R die Tasche nachträgt, obwohl sich die beiden eigentlich nicht … der schleppt solche Sachen pfundweise nach draußen. Manchmal juckt es mich einzuschreiten, aber was geht’s mich an! Wir haben ja Wissenschaftsfreiheit. Wenn ich so sehe … der Hanbüchl zum Beispiel, das ist doch die reine Pornographie, was der hier abgreift. Wenn die Menschen draußen verstehen würden, was hier so alles erforscht wird, wer weiß. Mittelalter! Mein Gott, wo leben wir denn?

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Kurtzweils Geheimnis: die Langeweile. Frust nagt nicht allein an den jungen Frauen, die das Nadelöhr meiden, wo sie nur können. Kurtzweils Gespräche sind Kopfgespräche, denen, da kaum ein Dozent sich dem Gemetzel auszuliefern gedenkt, selten die Ausführung blüht. In der profanen Welt sieht man ihn daher meist von Hilfskräften umlagert, die, beauftragt von den fernen Chefs, gewaltige Bücherstapel durch die Gegend schleppen, von denen neunzig Prozent dafür bestimmt sind, kurz durchgesehen und wieder zurückgelegt zu werden – womit sich das leidenschaftliche Blättern in der Bibliothek erledigt. Gleichzeitig verschleiern die Chefs damit auch ihre wirklichen Interessen. Die Hilfskräfte wiederum, soweit männlichen Geschlechts, betrachten Kurtzweil als Unikum. Sie ergötzen sich an seinen Sprüchen und schlagen gern die Zeit mit ihm tot, indem sie ihn dazu verleiten, auf jede absurde Bemerkung eine noch absurdere zu setzen.

Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Soweit die Fassade. Was sich dahinter verbirgt, wird aus den wirren Berichten nicht ganz deutlich. Irgendwann scheint es Kurtzweil gelungen zu sein, ein paar von den Hilfskräften, auch zwei Assistenten sollen darunter sein, zu privaten Zusammenkünften zu bewegen, bei denen Kurtzweils tiefer Abscheu gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb das hauptsächliche Bindemittel abgab: den Studenten gefielen seine Kraftsprüche, je kerniger, desto besser. Immerhin entfiel jetzt die Rücksicht gegenüber anderen Bibliotheksbesuchern. Irgendwann kochte man gemeinsam und überlegte, was man ganz konkret tun könnte, um den eigenen Anspruch gegenüber dem Betrieb provokativ zur Geltung zu bringen. Die Liste der Vorschläge reichte vom nachträglichen Gendern der Bibliotheksbände (als zu aufwändig verworfen) über das Verbrennen von Büchern missliebiger Autoren (könnte falsch verstanden werden) bis zum Abhalten geheimer Tribunale, deren Ergebnisse illegal über die diversen Kanäle des Universitätsnetzes kommuniziert werden sollten. Keiner dieser Vorschläge scheint zu größeren Aktivitäten geführt zu haben, wohl nicht zuletzt deshalb, weil Kurtzweil selbst nicht im entferntesten daran dachte, seinen bequemen Job mit Kindereien aufs Spiel zu setzen.

Andererseits sieht er sich als Vordenker in der Pflicht.

 

Werkmeister sind wir

Kurtzweil staunt
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Das Werk

Im Foyer der Pyramide wächst das Werk. Eigentlich wächst es nicht, sondern ballt sich von Tag zu Tag neu. Homomaris’ rüstiger Pinsel, wochenlang mit dem Grundieren der weiten Holzfläche beschäftigt, zaubert Wolkenspiele. Kurtzweil betrachtet sie eingehend, sooft er daran vorbeikommt. Manchmal sieht man ihn eine halbe Stunde lang in Versenkung verharren, bevor sein schwerer Schritt sich entfernt. Soso. Das also ist die Kunst, steht in seiner reglosen Miene geschrieben, dafür wird unser Geld hinausgeworfen. Und was soll das geben?

Die wandgroße Holzplatte hat Homomaris, ganz misstrauischer alter Fuchs, der oft genug zusehen musste, wie ihm die Felle wegschwammen, sich explizit ausbedungen. Nie wieder nackter Betongrund, mochte der Klang seiner Stimme sagen, und die Vasallen der Kunst, vom Rektor zu strikter Folgsamkeit angehalten, beeilten sich, dem Befehl des Geistes Folge zu leisten.

  • ―Er soll bekommen, was er braucht. Alles. Punkt.
Kurtzweil staunt
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Katze im Sack

Auch der Rektor fragt sich in den sorgfältig weggesteckten Falten seines Bewusstseins, was da wohl entstehen mag. Nicht dass er dem Meister misstraute: der Mann scheint seinen Job zu beherrschen. Nur wer die Profession des anderen achtet, versteht die Welt. Andererseits werden Menschen unruhig, sobald sie zu argwöhnen beginnen, dass aus einer gewaltigen Anstrengung nichts entsteht. Die Anstrengung des Meisters ist geistiger Natur … jeder, der Körpersprache versteht, sieht es, jeder, der sich aufs Geistige versteht, versteht das. Doch jedes Verstehen braucht Anreize in der sicht-, fühl- und riechbaren Welt, ansonsten versickert es. Der Geruch frischer Malfarbe, auf Dauer gestellt, dreht alle Köpfe zur großen Fläche hin, auf der vorderhand nichts entsteht, jedenfalls nichts Nennenswertes, bloß jene Modulationen in Weiß, die Wegenaer wider seinen Willen bewundert. Ginge es nach ihm, Homomaris müsste darin fortfahren, nur fort, bis zu jenem fernen Tage, an dem es an der Zeit ist, den Pinsel aus der Hand zu legen, um mit einem kleinen Beben in der Stimme zu verkünden: Es ist getan. Doch in diesen Wochen ist Wegenaer nicht gefragt. Der Rektor, dienstgrau und vigilant, will mehr sehen als eine leere Breite, wie er sich auszudrücken beliebt, um damit den Umfang des Projekts anzudeuten. Ihm ist durchaus bewusst, dass er die Katze im Sack gekauft hat: arglos, denn gerade darin, die Katze zur rechten Zeit aus dem Sack zu lassen, besteht für ihn die Kunst. Zur rechten Zeit … jedenfalls nicht darin, den Sack zu prügeln, bis sich nichts mehr regt.

Kurtzweil staunt
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Homomaris, pinselschwingend,

langweilt sich. Erwartet hat er lebhafte Gespräche auf Augenhöhe, nicht jedoch ein den scheuen Seitenblick trainierendes, sich stumm vor der Kunst verpissendes Professorenvolk. Nie wieder erwischt werden, so steht es in ihren Gesichtern, jedenfalls steht es auf dem Blatt, das seine Linke aus Überdruss anfertigt, denn das Handwerk, so sehr er es schätzt, füllt ihn nicht aus, nicht wirklich jedenfalls, dazu gehen seine Gedanken zu schnell. Womit wollen sie nicht erwischt werden, fragt die Linke, oder besser: wobei? Zehn Lagen Grundweiß lassen sich nicht von heute auf morgen auftragen, sie verlangen Zeit und Geduld ab, selbst ihm, dem vieles Bedenkenden. Wobei also? Es hat etwas Unbotmäßiges, wenn eine leere Fläche sich allmählich mit Leere füllt. Die zweite Leere, man muss es so sagen, provoziert: sie enthält eine verschlüsselte Botschaft, die Botschaft der reinen Intention, die man sonst nur bei sich selbst kennt, das eigentlich Gemeinte, das man nie aus der Hand gibt, die stille Reservation des Ich. Hier nun wird sie öffentlich zur Schau gestellt, man sieht und man sieht nichts, noch nichts, nicht ohne zu argwöhnen, dass es am Ende bei diesem Nichts sein Bewenden haben könnte. Schließlich ist Homomaris ein moderner Künstler, der die Finessen seines Metiers im Schlaf beherrscht. Es fehlt eben das Vertrauen und damit das Urelement aller naiven Kunstbegeisterung. Etwas bedeutet etwas: etwas muss zu sehen sein, damit es etwas bedeuten kann, und eine weiße Fläche ist zwar auch etwas, aber eines, das sagt: Hier ist nichts zu sehen.

Kurtzweil staunt
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Hier ist nichts zu sehen

Kurtzweil, immer stärker in die Wächterrolle hineinwachsend (die Herrschaft über den Buchbestand des Instituts, stellt er fest, genügt seinen sich wandelnden Intentionen nicht mehr), fühlt, wie eine grimmige Zufriedenheit in ihm wächst: Was soll denn herauskommen? Kunst ist Betrug am Menschen. Einer der verwirrenden Tricks, mit denen der arbeitende Mensch um die Früchte seines Schaffens betrogen wird. Weißmaler und Schwarzmaler, das gibt sich nicht viel, beide sind Holz vom gleichen Stamme. Drop your guns, heißt es im Western, drop your guns and raise your hands. Die Schnellen fressen die Langsamen, jedenfalls entwaffnen sie sie und rauben sie aus, bevor sie sie umbringen. Der Weißmaler hat die besseren Karten, weil er absolut harmlos daherkommt, harmloser als der Schwarzmaler, der sich eine erste Andeutung dessen leistet, was gerade im Anmarsch ist. Weißmaler, so nennt Kurtzweil Homomaris bei sich, nachdem er den Trick einmal durchschaut hat. Hin und wieder lässt er Andeutungen über ihn fallen, welche Gesprächspartner wie Gaggauer, Kurtzweils Privatsprache nicht mächtig, nicht zu dechiffrieren vermögen. Der Weißmaler hat seinen Arbeitsplatz heute drei Stunden früher verlassen als sonst. Das nennen sie kreative Freiheit. Was soll daran kreativ sein? Kreativität ist ein Abrechnungsschwindel. Gaggauer, das Schaf, weiß davon nichts, während er ungerührt den Bücheretat des Instituts hinter dem Rücken der Professoren verbrät, die, aus Bequemlichkeit, so tun, als merkten sie nichts – ein Simulant im Grunde auch er, der den Anschein erweckt, als halte er die Bibliothek auf dem Stand der Wissenschaft, während er in Wahrheit nur das Zeug von ein paar Handvoll Autoren anschafft, an denen er, aus unerfindlichen Gründen, einen Narren gefressen hat. Autoren… was soll das sein? Friedenwanger hat ihm erzählt, das Wort bedeute ›Urheber‹. Urheber allen Unheils, das mögen sie sein, im Großen und Ganzen jedenfalls, aber jeder für sich sind sie die Urheber allen Unfugs, der bereits in der Welt ist und sich täglich vermehrt. Wenn Gaggauer die Wissenschaft überblickt, dann überblickt er die Welt. Wer den Betrug einmal erkannt hat, der weiß auch in anderen Dingen Bescheid.

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Jedem Teilchen sein Antiteilchen

Kurtzweil, ein Opfer ausgedehnter Science-fiction-Lektüren, fühlt sich geladen, und zwar entgegengesetzt, wann immer er des pinselschwingenden Homomaris ansichtig wird. Vielleicht sind wir beide bloß Materieteilchen im sozialen Kosmos, die beim Eintritt in eine Hochenergiezone Antimaterie erzeugen. Die Welt der Physik flößt ihm Respekt ein. Das sind wenigstens wirkliche Wissenschaftler. Zwar kennt er keinen persönlich, doch die Weltretter vom Dienst haben tiefe Spuren in sein empfängliches Gemüt gegraben. Käme ihm einmal Hegels Ausdruck leere Negativität in die Quere, so wüsste er auf der Stelle, was Homomaris’ Kunsthandwerk bei ihm (oder aus ihm?) erzeugt. Zwar würde es tief in ihm brummen: Negativität, was soll der Scheiß? Aber die Empfindung der Negativität, der aggressiven Ladung wäre nicht wegzuleugnen und er der letzte, es zu versuchen.

Kurtzweil, der Negativist. Wie viele Sorten gibt es davon? Zehn, zwanzig, hundert? Kurtzweil ist, bezogen auf die Kultursphäre, Nihilist: Das ist doch alles nichts. Sie gilt ihm nichts, folglich ist sie nichts. Ein sehr populärer Schluss, vielleicht der populärste von allen, vermutlich das Fundament allen Populismus. Schieben wir diesen ganzen Schmarrn zur Seite und beschäftigen wir uns mit der Wirklichkeit. Was ist die Wirklichkeit? Pech, Pleiten und die üblichen Betrügereien – mehr ist nicht dran an der berühmten Wirklichkeit, der Wirklichkeit des gemeinen Menschen, geboren aus Gemeinheit, der Gemeinheit des gesunden Menschenverstandes, der Tag und Nacht unterwegs ist, um sich die Taschen zu füllen und sich den Anteil am großen Ganzen zu holen.

Homomaris, der Weißmaler, passt perfekt in diese Umgebung. Aber ihm ist nicht zu trauen. Mag sein, dass aus dieser riesigen weißen Fläche eines Tages doch etwas herauswächst. Was kann das sein? Was wird das sein? Zweifellos bereitet sich, wo alles nach Betrug riecht, hier der nächste Betrug vor.

Kurtzweil staunt
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Es muss nichts passieren / Etwas wird passieren

Doppelgesicht alles Wirklichen: in gewisser Weise passiert nie etwas, ausgenommen die Momente, in denen es gerade passiert.

Das ist alles.

Homomaris spürt, etwas liegt in der Luft. Kurtzweil desgleichen. Alle spüren: etwas liegt in der Luft. Alle? Wer ist das? Wie groß ist ihr Kreis? Niemand weiß es. Niemand kann so etwas wissen. Der Kreis besitzt keinen Innenradius. Man könnte ihn von außen bestimmen, aber auch das ist, aus völlig einleuchtenden Gründen, unmöglich. Ein Gespür ist ein Gespür, nichts weiter. Was die Leute später darüber zu berichten wissen, ist ohne Belang. Die Erinnerung an ein Gespür besitzt keinen Zeitindex. Streng genommen hinterlässt es keine Erinnerungsspur. Ich habe es immer gespürt: klassischer Ausdruck einer Nebenwahrnehmung, deren Zeit gekommen ist. Eigentlich wusste man es immer – aber gewiss doch, nur eben: eigentlich. Soll heißen: eigentlich nicht. Auch Wahrnehmung braucht ihr window of opportunity.

Längst hat Homomaris den knochigen Kerl registriert. Ein Spion, aber wessen? Wer schickt eine solche Person an die Front? Der Rektor? Seine Feinde im Kollegium? Jemand, der ihm einen solchen Auftrag verschafft, muss Feinde haben, das liegt auf der Hand. Von diesem Menschen geht eine Bedrohung aus. Was er nicht wissen kann: ein Platz auf dem Gemälde, das da entsteht, ist ihm bereits sicher. In Homomaris’ Kopf hat sich die Handskizze, nach der er arbeitet, längst verflüssigt. Während er Lage um Lage Weiß aufträgt, nimmt das Sensorium unermüdlich, bis hin zur kleinsten Schwingung, Signale aus der Umgebung auf und setzt sie in bildnerische Impulse um, aus denen, fortwährend seine Zusammensetzung wechselnd, das innere Bild heraufdämmert. Hic Rhodus, hic salta. Niemand wird dieses Bild je zu Gesicht bekommen. Umsetz-, aber nicht abbildbar. Das wirkliche Bild ist Hand-Werk, Produkt von Händen, deren Konditionierung für die große Aufgabe Tag für Tag vorankommt.

Davon weiß Kurtzweil nichts.

Homomaris, den Eingang zur Pyramide passierend, registriert eine aufsteigende Empfindung: überwachter Raum. Rein technisch gesehen ist das nicht falsch. Doch die Empfindung verweilt nicht bei den Überwachungskameras im Foyer, sie umfasst die Gesellschaft der Pyrmidonen, wie er sie bei sich nennt, als Ganzes – ein schattenhaft anwesendes Totum, das einzelne seiner Glieder als Boten vorbeischickt. Der Raum der Pyramide ist ›besetzt‹, wie das Modewort lautet, ›gekerbt‹ würde Teuschner mit Kennerblick hinzusetzen, sofern er vom Innenleben des Malers wüsste. Unbekannt ist ihm das Verfahren, in dem die Psyche des Künstlers, einer Dämonologie folgend, deren Ursprünge vermutlich bei C.G. Jung und den Alchymisten zu suchen wären, das blanke Terrain mit einer zirzensischen Truppe von Feld-, Wald-, Wiesengeistern bevölkert. Denn Homomaris ist, wie er sich selbst in seltenen Stunden bezeichnet, ein Naturalist der Seele. Abends trägt er in seine Keynotes ein:

DER MENSCH IST NUR DA GANZ TIER, WO ER HANDELT, DAS HEISST, WO ER SICH AM WEITESTEN VOM TIER ENTFERNT.

Kurtzweil staunt
7
Aus den Keynotes des Homomaris
/222/ Festhalten: den exquisiten Moment, der eintritt, bevor die Gedankenpolizei eingreift und das abrollende Spektakel hinter die Bühne verlegt. Theatermalerei: die Bühne als Welt, die Welt als Bühne der materialisierten, d.h. mit Kopf und Hals und Schwanz ausstaffierten Ideen.

Die Malerei ist dazu berufen, das Drama überflüssig zu machen. Alles ist da, eingehüllt in den richtigen Zeitpunkt wie in Gazeschleier, ungleichzeitig, aber auf einmal, ohne die Täuschungen des Hintereinander, wenn die Begebnisse sich in den Schwanz beißen. Doch wie immer: Beruf ergriffen, Berufung verfehlt.
Die Malerei entfaltet sich im Raum wie die kranke Welt in der Zeit.

Großer grüner Dämon, halb Fisch, halb Ziege, präsentiert vor einem aufgezogenen Stück Leinwand wie auf einer silbernen Fischplatte, gefolgt von Hanseln jeder Couleur. Anbetung Satans, der sorgfältig seine Zeichen verbirgt. Das eben ist das Zeichen. Sorglose Sorgfalt erzeugt den Sog der Sorge.
Ich will dieses Ungeheuer stellen.

Die Wirkung stelle ich mir magnetisch vor – ein Reinigungsmagnet, der die kranken Ideen aus der Halle des laufenden Aberglaubens herauszieht.
Der Name des Ungeheuers lautet: Impertinenz.

HOMO HOMINI LEPUS
Kurtzweil staunt
8
Versuch und Irrtum

Ein Bewohner der Pyramide irrt sich nicht. Er ist es gewohnt, so geläufig über trial and error zu sprechen, als sei dergleichen die übliche Vor-, Haupt- und Nachspeise seiner akademischen Mahlzeiten, dass er gar nicht auf die Idee kommt, sich zu fragen, was denn den erfolgreichen Wurf vom erfolglosen unterscheidet, außer eben der Erfolg, der für sich nichts besagt. Was so auch nicht richtig ist, da er alles einschließt. Die Menschen lieben den Erfolg. Sie lieben nichts mehr als ihn, sie sind so erfolgversessen, dass sie offen zusammenlegen, um ihn zu ermöglichen, und insgeheim alles tun, um ihn zu verhindern, es sei denn, es handle sich um den eigenen. Im Zusammenlegen-und-nichts-weiter besteht eben der Erfolg. Auf einem Feld, auf dem alles widerlegbar ist – vorausgesetzt, man betrachtet jedes hartnäckige Hindernis auf dem Weg zum Erfolg bereits als Widerlegung –, muss der Wille zum Beiseiteräumen groß sein. Je organisierter eine Wissensgemeinschaft ist, desto mehr ist sie imstande, Einwände beiseitezuräumen. Wehe, ein Einzelner, Unberufener kommt ihr in die Quere. Er kann sich heiser reden und bleibt doch nur … ein Störenfried, einer, auf den man besser nicht hört. Sein Votum stempelt ihn zum Verdächtigen, die Operationen, die er ausführt, die Bilder, deren er sich befleißigt, die Termini, die er wählt, seine Definitionen, Landmarken, Zwischenrationen – all das trocknet in Windeseile aus und wird gemieden, je länger je lieber, je überzeugender desto entschlossener. Die Karawane, auf der Hut vor der Fülle der Möglichkeiten, die sich bei jedem Schritt vorwärts auftut, bleibt dem einmal gewählten Kurs treu.

Ist der Irrtum das Gegebene, zählt bloß der Erfolg. An dieser Stelle kommt der Faktor Zeit ins Spiel. Der Erfolg nährt den Erfolg. Das wissen alle und lassen es sich gesagt sein. Auch Homomaris liebt den Erfolg. Er nähert sich ihm wie der Gefangene einer lockenden Ration, immer der Möglichkeit gewärtig, dass ein sadistischer Wärter sie im letzten Augenblick seinen bebenden Lippen entzieht. Der Künstler ist einer von denen, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. Was könnte gerechter sein als der Erfolg, gesetzt, jemand ist sich seiner Sache sicher? Und Homomaris ist sich seiner Sache sicher, ganz sicher, so sicher, wie einer es überhaupt sein kann, der weiß, dass nur der Irrtum vorstellbar ist und jeder neue Versuch der Gnadenerweis einer metaphysischen Gewalt, die seltsamerweise die Gesichter seiner Umgebung annimmt, wann immer sie sich bemerkbar macht. Kein Wunder also, dass die ersten skizzenhaften Züge, dem flächigen Weiß beigemischt, wolkenhaft bleiben, leere Pinselphrasen, dazu bestimmt, die Phantasie der Vorübergehenden zu fesseln und eine positive Erwartungshaltung zu stimulieren. Was geht mich meine Pinselei vom Vortag an? Heute ist heute und jetzt ist jetzt. Je länger die Formen im Fluss sind, desto länger ist die Straße zum Erfolg offen. Glücklich der Künstler, der noch mit dem letzten Strich ein ganzes Werk zu wenden versteht: diese hohe und höchste Kunst nimmt Homomaris für sich in Anspruch.

Sabine A bebt für ihn. Sie hat das seltsame Prekariat seiner Kunst begriffen, sie hat es tief in ihre Seele aufgenommen, still betet es in ihr für den Erfolg dieses Mannes, sobald sie seiner Pinseleien ansichtig wird. Kurtzweil beäugt sie von der Seite, bei ihrem Anblick feixt das innere Teufelchen, es wünscht der anspruchsvoll harmlosen Dame den Reinfall, der endlich auch ihr beweisen würde, was Menschen ihrer Gehaltsklasse sich selbst und der Mitwelt geflissentlich zu verbergen trachten: dass diese sogenannte Kunst nichts weiter darstellt als Sozialschmarotzertum auf der untersten Stufe, als Augenwischerei – das Wort, soviel weiß auch Kurtzweil, gehört nicht zu den in der Pyramide wohlgelittenen, also beginnt sich seine Rede zu kräuseln und…

  • ―Aha. Langsam kriegen wir was zu sehen.
  • ―Wer ist wir?
  • ―Schaumer mal. Ich seh mir das hier jeden Morgen an. Sollten Sie auch, junge Frau. Aber passen Sie auf, unsereins kriegt da leicht den Weißkoller. Ehrlich gesagt, ich wundere mich seit Tagen, wie der Mann das durchzieht. Aber bitte: er ist der Fachmann. Wir mischen uns da besser nicht ein, stimmt’s? Sein Auftrag, sein Risiko. Ich frage Sie: Wo bleibt das Risiko? Wo bleibt die … Kunst? Die Kunst, die Kunst… Vornehm in Weiß kommt sie daher, ein paar Schatten hier und da, heute so, morgen so. Vielleicht ist der Herr ein Versager? Wir wissen es nicht. Nichts wissen wir. Er malt halt weiß. Den Auftrag hat er so oder so in der Tasche. Wissen Sie was? Ich habe den Verdacht, er schaut heimlich nach der Uhr. Aber ich konnte ihn nie dabei erwischen. Ein Künstler eben. Dem geht die fette Beute ins Netz wie unsereinem… Neinnein, ich will mich nicht mit Ihnen vergleichen. Mein Hort sind die Bücher. Wann sieht man Sie wieder? Die Bibliothek hat geänderte Anfangszeiten, sollten Sie wissen, für den Fall, dass wir uns dort einmal sehen. Das habe ich durchgesetzt. Was haben Sie denn? Ist Ihnen kalt?

Kurtzweil staunt
9
Fette Pferde

Sabine A bebt und Kurtzweil staunt. Nie und nimmer hätte er das hinter der nüchternen Fassade vermutet. Der Rektor, die Szene aus dem Augenwinkel verfolgend, sieht es mit Neid. Dass dieser Kurtzweil etwas von Kunst versteht… Wer hätte das gedacht? Offenbar weiß er, was sich dort auf der weiten Fläche tut. Schade, man versteht ihn kaum. Immerhin, ›fette Pferde‹ ist ein handfester Hinweis, gleich nachher wird er ihn in seine Abschiedsrede einbauen. Sie muss doch irgendwann fertig werden.

 

Nur wer sich wandelt

A Star is Born
1

Du kannst die Gendersprache, nein: gendergerechte Sprache zum Teufel wünschen (›Was will sie da?‹), wie das, zu aller Überraschung, Argloser tut, der, mit seinem akademischen Ruf spielend, sich an die Spitze des öffentlichen Unmuts gesetzt hat, aber eines musst du ihren Konstrukteur*innen lassen: Sie haben die bürgerliche Sprachkultur aufgemischt, wie es keinem Schriftsteller, gleich welchen Geschlechts, der letzten hundert Jahre gelang. Dabei gab es Sprachzerstörer erster Ordnung unter ihnen. Am Willen kann es folglich nicht gelegen sein, auch nicht an der Sparsamkeit der Mittel oder des Denkens. Es muss etwas anderes, schwer Fassbares mit im Spiel sein, Sex zum Beispiel oder, besser noch, verweigerter Sex, der stets wirkungsvoller in Erscheinung tritt als der erfüllte. So ein Asterisk trennt die Geschlechter wirkungsvoller als jede Hinrichtung, wo er sie doch zu verbinden scheint … kurz: er stört den Verkehr. Nichts anderes ist sein Zweck und er erfüllt ihn ausgezeichnet. In aller gebotenen Kürze erklärt er beiden Geschlechtern, dass nicht sie gemeint sind, dass sie niemals gemeint waren und, vor allem, nie wieder gemeint sein werden, vielmehr das dritte, unbekannte, sich erst in der Zukunft enthüllende, das sich zwischen ihnen auftut. Dem Dritten gegenüber befinden die Parteien, die sich bereits erklärt haben, von Grund auf sich im Nachteil: voreilig, übergriffig, nachlässig im Umgang, stets verständigt mit ihresgleichen, anmaßlich und voller Ressentiment glauben sie zu wissen, was sie erwartet. Nein, nicht ums Wissen ist es ihnen zu tun: ihre klebrige Sexualität drängt sich in den Hiatus zwischen den Menschen und füllt ihn aus – eine Gnadenlosigkeit ohnegleichen, nur vergleichbar der Bosheit dämonischer Mächte, wie sie das Christentum über zwei Jahrtausende bekämpfte, um sich ihnen am Ende nahezu willenlos auszuliefern. Die Dichter haben den Dritten nur interpretiert. Sie haben sich von der Sprache des Geschlechts blenden lassen und ihn als ewigen Konkurrenten, als Versucher in die Beziehung eingeführt. Heute wissen wir: Das war ein Fehler. Der Dritte, das ist der jeder Festlegung vorausliegende Horizont aller Geschlechtlichkeit. Ein unvermutet im Herzen des Universums aufflammender *Stern zeigt ihn an, er vermittelt ihn den einfältigen Menschennaturen, auf dass er nie mehr verloren gehe.

Damit, Fu, alter blecherner Fu, hast du nicht gerechnet.
Dein Projekt ist zerstört, kaum dass es sich rechnet.
Die Erfüllung ist größer als das Erfüllte, sie löscht es aus.
Löscht es aus.
A Star is Born
2

Die Historikerin schlägt die Peitsche, sie rührt sie sanft, sie entlockt ihr die wunderlichsten Töne, ein Rauschen geht durch den Sitzungsraum, kaum dass sie Platz genommen hat, ebenso unhörbar wie unüberhörbar, die passenden Sensoren vorausgesetzt, und welcher Mann hätte sie nicht? Die Kolleginnen spüren die Konkurrenz und nehmen sie als Zugang in ihren Reihen, sie sind, wie sie sagen, dankbar für jede Verstärkung, zugleich sonnen sie sich im Glanz der Ansprechbarkeit für gewisse … Dinge, ›rationale Argumente‹ zum Beispiel, denn Annabell Asche-Aigner, die Neue, setzt in puncto Zuständigkeit neue Maßstäbe, sie mischt überall mit. Gegen ihre Suada ist, wie das Kollegium nach und nach feststellen muss, nirgends ein Durchkommen. Wenn sie losgeht, dann wie eine Bombe, manchmal in Zeitlupe, dann wieder mit der unvermischten Wucht einer klassisch zu nennenden Detonation.

  • ―Der Antrag ist abgelehnt.
  • ―Das sehe ich nicht so.
  • ―Aber Frau Kollegin, wir haben abgestimmt.
  • ―Dann sollten wir noch einmal nachdenken. Dieser Antrag ist mir wichtig. Ich finde es eine unhaltbare Situation…
  • ―Ganz recht. Deshalb sollten wir…
  • ―Sollten wir nicht. Ich verlange eine erneute Diskussion. Sie können nicht mit einer einfachen Mehrheit vom Tisch wischen, was an anderen Universitäten längst Usus…
  • ―Also gut. Was schlagen Sie vor?
  • ―Dass wir uns erst einmal hinsetzen und alle gemeinsam nachdenken.

Da sitzen sie jetzt und denken nach: der dicke Blowasser, Agosch mit den gegelten Haaren, Argloser, sich in den Bart fassend, Dürrobst, Pfeifchen samt Pfeifenputzer vor sich hinhaltend, in der Bewegung erstarrt, Stutenkeil, den Blick abwesend auf die im milden Sonnenlicht verschwimmende Fensterfront gerichtet, Werferich, die etwas behäbig wirkende Juniorprofessorin, Sabine A., die gute A., die es endlich geschafft hat und nun darauf vertraut, dass der Name ihr einen der vorderen Plätze beim weiteren Fortkommen sichert, denn ihr Ehrgeiz reicht in höhere Sphären – seit sie hier sitzt, in inniger Feindschaft mit Agosch verbunden, der ähnlich denkt, ohne zu ahnen, dass einige seiner Kollegen, des Bajuwarischen mächtig, ihn unter dem Namen ›A Goschn‹ handeln und unter G rubrizieren, bei dem graumelierten Herr dort drüben handelt es sich, wie bekannt, um Friedenwanger, ihm zur Linken hält Kypras sich aufrecht, der es auch, endlich, geschafft hat, und damit beenden wir vorerst die Vorstellerei, denn in diesem Gremium geht es wie in tausend anderen seiner Art zur Sache und um nichts weiter.

Kypras übrigens: der einzige, der sich Asche-Aigners Redefluss unbekümmert entgegenstellt. Nein, er stürzt sich in ihn hinein, scheinbar ein guter Schwimmer, jedenfalls unerschrocken, doch man hat auch solche untergehen sehen.

  • ―Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Kollegin!
  • ―Oh doch! Wie kommen Sie dazu, mir den Ernst –
  • ―Das hatte ich befürchtet.

Für solche Momente wurde das Amt des Dekans geschaffen.

  • Herr Kollege, Sie wollten damit doch nicht –

A Star is Born
3

Kypras fragt sich, wie er sagt – er sagt es wirklich unter Kollegen und darin liegt eine Sensation –, was an gendergerechter Sprache gerecht sein soll, wie der Begriff der Gerechtigkeit sich überhaupt in diese triste Region des menschlichen Geistes, wie er sich ausdrückt, verirren konnte. Kypras, der Grieche, steht nicht an, das Wort ›Geist‹ zu verwenden, die ideologischen Sperrriegel seiner deutschen Kollegen existieren für ihn nicht –

  • ―Wenn ihr zusammen mit dem Ungeist auch gleich den Geist loswerden wollt, bitte: Mind the gap!

Er ist nicht der Mann fürs Feine, er klotzt:

  • ―Wer sagt, Geschlecht sei eine Rolle, der soll sich gefälligst auch daran halten. Das wäre ja eine tolle Aufführung, wenn auf der Bühne alle Rollen zugleich angesprochen werden müssten – aus ›Geh-rächt-ich-keit‹. Intrigant(e)*Naive(r): So schweig, DuSie, bevor die Sprach’ / Dein Leben mordet, weil sie Brettgang hat. Sprache ist weiblich*.
  • Herr Kollege, Sie wollen damit doch nicht –
  • ―Nein, will ich nicht.
  • ―Was wollen Sie dann?
  • ―Ihre Frage nicht beantworten, wenn es Ihnen recht ist.
  • ―Aus welchem Stück ist das überhaupt?

Er vermisst ihn sehr, den Geist, umso gieriger hält er sich an den Ungeist der Gegenwart.

  • ―Wer behauptet, Geschlecht sei eine soziale Rolle, der kann sich nicht nachher hinstellen und verlangen, dass sein Geschlecht alle Rollen bekommt. Das ist nicht gerecht, sondern lächerlich. Überdies heißt es, sich eine Blöße geben. Das ist eine Körper-Metapher. Der Körper spielt also mit bei alledem, so wie er auch auf der Bühne mitspielt. Auf der Bühne kann einer behaupten, er habe kein Hinterteil, und es gleichzeitig dem Publikum hinhalten: das nennt man einen Effekt. Nichts anderes erzielt, wer Gendergerechtigkeit verlangt. So, und jetzt will ich dieses Thema ad acta legen, denn dort gehört es hin.

Da hat er die Rechnung ohne Asche-Aigner gemacht.

  • ―Ich verlange, dass dieser Kerl Hausverbot bekommt.
  • ―Sie wissen schon, dass er unser Mann in Athen ist?
  • ―Ich höre ›Mann‹. Das reicht mir vollauf, um auf meiner Forderung zu bestehen.

Das geflügelte Wort »Ich höre ›Mann‹. Das reicht mir vollauf« umzittert sie, wo immer sie geht, steht oder sitzt. Es führt dazu, dass sie gewählt wird, wann immer es etwas zu wählen gibt. Schon schwebt sie hoch über der Kollegenschaft, ein Heißluftballon, aus dem immerfort Botschaften abgeworfen werden, von den untertänig(st)en Scardanellis der Fakultät gierig aufgegriffen und als Regieanweisungen missverstanden. Andererseits: Was ist eine Rolle gegen die Regie? Asche-Aigner wächst rascher in die Rolle der Regisseur*in hinein, als ihr Flügel sprießen. Auch die wurden hier und da schon gesichtet.

Selbst aufs Hier-und-Da ist nicht immer Verlass.
Ganz wie aufs Selbst.

A Star is Born
4

Memo
Enteignet Aigner!

So stand es lange an einer Hauswand, an der du vorbeikommst, sooft du den Weg zur Pyramide einschlägst. Die schmutzige Fassade gab das Geheimnis des Namens nicht preis, es standen auch andere Parolen darauf, doch diese stach weiß-auf-grau unter ihnen hervor. Was du nicht wusstest: Aigner, Herr Aigner, Produzent von Büromöbeln, der auch für die Bestuhlung der Pyramide verantwortlich zeichnet, jedenfalls in technischer Hinsicht, war vor Jahren Objekt einer Entführung gewesen. Asche-Aigner schweigt über diesen Punkt, er gehört zu den Familien-Pudenda, sie schweigt auch deshalb, weil sie ›davon ausgeht‹, dass in ihrer Umgebung jeder Bescheid weiß.

Woher weißt du das? Weil du sie beobachtest, seit du Bescheid weißt. Du siehst sie seither mit anderen Augen, das genügt, um in ihre Augen die Zuversicht einzupflanzen, dass du Bescheid weißt und diskret genug bist, nicht darüber zu reden, weil es ihr vielleicht peinlich wäre. Peinlich insofern, als der Mann seit dem Unfall sein Leben geändert und in Tagebuchform darüber öffentlich Auskunft gegeben hat. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass auch diese Ehe am Ende war und durch die Entführung eine zweite, vampirhafte Existenz erfuhr. Gewiss, auch Ehen machen Erfahrungen, die man ihnen als Unbeteiligter gern ersparen würde, sie gehen aus ihnen wundersam gestärkt – oder besser: gestrafft – hervor, es lohnt sich wirklich nicht mehr, sie jetzt abbrechen zu wollen, ohnehin würden sie jeden Abbruchversuch spielend überdauern, um in alle Ewigkeit fortzulaufen. Das muss verhindert werden, schon um der Hoffnung willen, sie möchten dereinst erlöschen wie eine der flackernden Kerzen im Märchen vom Gevatter Tod. Stattdessen fährt Asche-Aigner im Familien-Benz vor, den ihr Gatte seit jenen Tagen der erzwungenen Einkehr nicht mehr angerührt hat.

Auch dieses Gerät will entsühnt sein. Dafür eignet sich eine Karriere gut. Du stellst dir einen jeden Morgen ins Büro radelnden, diskret von Bodyguards beschatteten Aigner vor, der sein geläutertes Kapitalisten-Dasein ganz in den Dienst an dieser Karriere gestellt hat, du buchstabierst die Erleichterung in den gespannten Zügen des Mannes, der zu hohen Zielen unterwegs ist, und du verstehst die subtile Technik, mit der es ihm endlich gelang, sich seiner Frau zu entledigen, also gerade des Wesens, das Asche-Aigner mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Eine Ehe, in der beide Parteien aushäusig sind, gibt den Zusammenhalt, den es braucht, um ein alleiniges Leben zu führen, ein Leben als Ipsissimus oder -ma, ohne Wenn und Aber, ohne die Kämpfe der Intimität, in der sich gewöhnliche Mitmenschen so gern verbrauchen. Du verstehst: das Fluidum, das Asche-Aigner umgibt, entstammt jenem Geist-Ersatz, den begüterte Menschen aus ihren Unfällen ziehen wie andere Leute eine Behindertenrente.

A Star is Born
5

Warum die Reprise? Haben wir das nicht alles schon einmal gehört? Und nicht einmal: hunderte Male? So fragen sich viele, wenn sie den Ausführungen Asche-Aigners folgen.

  • ―Sie werden es noch öfter hören. Sooft Sie wollen. Und wenn Sie es nicht mehr hören wollen, wenn es Ihnen zu den Ohren heraushängt – dann erst recht!

Sie geht einen scharfen Trab, sie ist mit der Rektorin verbündet, sie möchte so schnell wie möglich den Coup wiederholen, der kürzlich einer befreundeten Kollegin an einer Universität im Ostteil des Landes gelang. Dort gilt seit zwei Semestern, unabhängig vom biologischen Geschlecht der so Titulierten, die Anrede ›Frau Professorin‹ als Standard: aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit und einigen anderen, die nicht so leicht über die Lippen gehen, aber ihren Anteil am Gedankenleben behaupten.

  • Ich habe nichts dagegen, bekundet Langwasser, ohne abzuwarten, was seine hedonistischen Freunde in Frankfurt dazu anmerken werden – denn das werden sie ohne Zweifel –, die Mundwinkel zittern, so dass, wer ihn kennt, sogleich den Sarkasmus aufnimmt und Bescheid weiß: Natürlich hat er, gerade er etwas dagegen, und nicht nur ›etwas‹, sondern eine ganze Menge, in Wahrheit wirft er alles an die Front, was an Argumenten irgendwie laufen kann, bis hin zu der Überlegung, dass Asche-Aigner zusammen mit ihren Gesinnungsgenossinnen die Abschaffung der Frauen betreibe:

    • ―Wo jedermann Frau ist, hat sich doch nichts geändert. Nur die Frauen selbst sind verschwunden.

    Asche-Aigner kann über diese müde Übung nur lächeln.

    • ―Seit wann so besorgt, Frau Kollegin?
    • ―Ich bitte die Frau Kollegin, ihrem Antrag nicht vorzugreifen und Fakten zu schaffen, wo noch Klärungsbedarf besteht. Ich behalte mir vor, sie zum gegebenen Zeitpunkt mit der Anrede ›Herr Kollege‹ zu konfrontieren.
    • ―Konfrontieren Sie ruhig. Das sind wir ja von Ihnen gewöhnt.

    Sie kann den Tag nicht erwarten, an dem »die Wahrheit weiblich« sein wird, wie sie sich ausdrückt, um sich damit vom neuerdings ebenfalls emeritierten, aber noch keineswegs zahnlosen Dürrobst die maliziöse Bemerkung einzufangen:

    • ―Ist sie das nicht?
    • ―Nein.
    • ―Ich wusste nicht, dass sie an eine Gehaltsklasse gebunden ist.

    Letzteres murmelt er nur: ein zahnloser Greis.

A Star is Born
6

Dürrobst, jung, unverbraucht, statt des Pfeifchens ein Ho-Tschi-Minh-Sprüchlein zwischen den Lippen, untergehakt im rauen Chor der Genossen das Unmögliche fordernd, fühlt sich in der alt und rissig gewordenen Haut, als habe er sein Lebens an einem dekadenten chinesischen Kaiserhof zugebracht und irgendein undurchdringliches Zeremoniell führte in ihm Regie, während die mongolischen Krieger in hellen Scharen über die Mauern des Palastes springen, den kein unbefugtes menschliches Auge erblicken darf, und mitten in der tobenden Schlacht bereits mit dem Plündern und Vergewaltigen beginnen, als sei der Gegner für sie kaum mehr als Luft.

 

Zeichen mit Zeichen, Wort mit Wort

Vorhut der Frau*innenklasse
1

Asche-Aigner, ganz Entschlusskraft, nimmt das Dekan*innenamt sehr ernst. Sie hat, wie sie gelegentlich anmerkt, es allererst entdeckt, seinen Dauerschlaf beendet und die angetroffene Frau*schaft auf Vorderfrau* gebracht … geradezu geprügelt, denn, wie sie täglich mit einem dicken und mehreren Aufwärtsstrichen unterstreicht, Frau*innenmacht ist weder sanft noch sexy, sie ist hartes … hartes…

  • ―Wir stellen diese Sprache ab, versichert sie beim Morgenappell, ihrer ersten Neuerung im Amt, vom Dekanatsangestellten Frentzen mit einem trockenen »Und wer weckt uns?« quittiert, das ihr Ohr nicht deutlich erreicht, nur einen Verdacht auf Unbotmäßigkeit in der zweiten Reihe erregt. Frentzen ist vorgemerkt, wenngleich unersetzlich:
  • ―Ich weiß, Sie sind das Mädchen für alles.
  • ―Sie dürfen das gern so ausdrücken.
  • ―Ich werde Sie ausdrücken. Geben Sie acht. Unter mir wird es kein Mädchen geben, schon gar nicht für alle.
  • ―Ich bin froh, dass Sie kommen. Vergessen Sie das Mädchen für alle. Ich werde ausschließlich für Sie da sein.
  • ―Absolute Loyalität?
  • ―Bis in den Tod und darüber hinaus.
  • ―Das will ich sehen.

Ihr erstes gemeinsames Projekt: die Einführung des Großen Sterns.

Die Aufnahme des Gender-Asterisks (*) in den offiziellen Sprachschatz hat Annabell Asche-Aigner schwer getroffen. Vertraute ihrer Psyche vermuten mit hochgezogenen Schultern, es habe sie fürs Leben gezeichnet. Einfach aufgenommen und das ganz ohne ihr Zutun: allein der Gedanke versetzt sie in Raserei. Sie hat, via Frentzen, in der IT-Abteilung das Projekt ›Großer Stern‹ losgetreten und möchte Ergebnisse auf dem Tisch haben, aber flott. Jeden Büro-Morgen brütet sie über den einlaufenden Entwürfen. Seit Leistung von ihnen verlangt wird, hat die Computerleute die Borgersche Lähmung befallen. Leistung und ›Kreativität‹ im Dienst sind Fremdwörter, die ausgiebig diskutiert gehören, am besten in langen Kaffeepausen. Der Große Stern ist keine kleine Sache. Er soll den Asterisk nicht bloß ersetzen, sondern tunlichst dem kulturellen Vergessen überantworten und mit ihm jeden von diesem Sprachzeichen ausgehenden Kleinheits- und Behelfsgedanken. Der Große Stern muss den Sprung ins Alphabet schaffen. Darum geht es.

 
 
 

BALLADE VOM ZUTUN

 

Was
ohne dein Zutun geschieht, geschieht
das überhaupt? Jedes Mal
bist du im Spiel.
Nichts geschieht
ohne dein Zutun.
Frage: Wann
geschieht nichts?
Niemals.
Niemals geschieht
nichts. Demnach
geschieht, was geschieht, nach
einem Plan, der
dein Zutun einschließt, jedoch:
Vergiss den Plan!
Kennen
lernst du ihn nie.
Wann ist nie?
Dein Zutun verläuft
planlos, demnach
ohne dein Zutun, per
Zufall. Als sei’s
deiner nicht mächtig. Das sagt
dir jetzt nichts. (Oder alles.)
Sein Zutun sagt
dir jetzt
nichts.
Dein Zutun,
zur Rede gestellt,
bekennt: Du bist schuld.
Schämst du dich gar nicht?
Du sagst: Das kommt ganz darauf an,
wie es ankommt.
Du bist schuldig,
also trage die
Schuld.
Die nach dem Lob gehen,
werden auch schuld sein.
Die dann gelobt werden,
werden den Pranger erleiden
und von der Bildfläche verschwinden,
der ewig bewegten.
Die bleibenden Namen,
der Nachwelt sind sie
ein Rätsel. So oder so.

 

Vorhut der Frau*innenklasse
3

Petra Gobelin-Trocken, ein Rätsel für Fachfremde, Schlüssel, der überall schließt, wo Asche-Aigner draufsteht: Petra schreibt dies, Petra schreibt jenes, Asche-Aigners wütender Widerstand ist ihr gewiss. Petra weiß nicht, wie ihr geschieht, sie besucht Stalking-Kurse und lernt: Wissenschaftliches Stalking ist Wissenschaft. Hier gelten andere Regeln. Asche-Aigner falsifiziert Gobelin-Trocken, Gobelin-Trocken erhebt sich, schüttelt den Staub des Widerspruchs aus dem Hosenanzug und zieht, als sei nichts weiter geschehen, des Wegs. Gobelin-Trockens Gegenwart widerlegt die röckeliebende Asche-Aigner im Handumdrehen. Verschlungen sind die Wege der Wissenschaft, an den Knotenpunkten laufen sie alle zusammen. Das Geheimnis des Erfolgs heißt wie überall Tempo.

Erfolgsfrauen: Gobelin-Trocken schnell vorneweg, Asche-Aigner schnell hinterdrein. Zwei Arten zu sein, zwei Arten, unterm Sonnensegel der Theorie Karriere … zu gestalten. Asche-Aigner, raschen Schrittes die Pyramide, zumindest den ihr zugewiesenen Flügel, durchstreifend: in Wahrheit sucht ihr Blick Petra. Längst hat ihr inneres Auge die Konkurrent*in gesichtet, unstet, abgelenkt wandert das äußere… Ein Schlag mit der Wimper, elektrisch, bringt es zurück.

Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte. Ist das wahr? Ist Gobelin-Trocken frei und Asche-Aigner Knecht Ruprecht? (Genderpolitisch ein Unding, aber bisweilen fordert das Leben harte Entscheidungen, auch sprachlicher Art. Wer dann nicht zögert, gewinnt.) Asche-Aigner sieht das ein wenig anders. Strategisch überblickt sie das Feld der anzugehenden Aufgaben, notiert sich Rezepte, überschlägt den Kalender, wirft einen Blick aus dem Fenster – und wen sieht sie: Gobelin-Trocken, Maulwürf*in, geschäftig dabei, den Vorgarten umzugraben. Eine unendliche Aufgabe, gewiss, für eine wie Petra drei Stufen zu hoch, aber, einmal angegangen, geeignet, den sorgsam erstellten Plan zu durchkreuzen, ließe ihr frau freien Lauf. Das muss unterbunden werden.

Vorhut der Frau*innenklasse
4

Was treibt die beiden Frauen gegeneinander? Nichts. Schon die Frage ist falsch gestellt, ein blinder Zeiger auf einer türlosen Wand, denn Gobelin-Trocken … sie versteht nicht, was ihr die hartnäckige Verfolgung durch die andere einträgt, oder, falls da in tiefer Vergangenheit ein dunkler, ihr nicht bewusster Tatbestand ruhen sollte, worin er bestehen könnte, sie versteht nicht und will nicht verstehen, sie wittert die Gefahr, in etwas hineingezogen, hineingesogen zu werden, hinab in den finsteren Malstrom, und sie wehrt sich, wehrt mit aller Gewalt… Aber nein, Gewalt, diese Gewalt liegt ihr fern, sie wehrt sich gegen den Malstrom, sie wehrt sich gegen die Gewalt, die sich gegen ihn stemmt, sie wehrt sich passiv, sie begehrt nicht, Teil des Geschehens zu sein, natürlich ist ihr Begehren Teil des Geschehens, niemand lehnt es ab, Teil des Geschehens zu sein, ganz und gar nicht… Was denn?

Was denn?

Petra Gobelin-Trocken geht zur Psychiaterin. Jede Woche geht sie zu ihr, die beiden verstehen sich gut. Sie geht zur Psychiaterin, wie sie ansonsten schwimmen ginge, einmal die Woche, wenn diese Körpersache sie anmachen würde. Ein Bad pro Woche macht die Psyche nicht nass.

Ruhr-Professor erklärt Universität Gender-Krieg
Ausriss aus: AVZ-Kurier, 27.3.**

 

O-Ton Argloser: Pfui Teufel! Gut gemacht. Ihr kriegt noch mehr.

Warum Argloser? Die Antwort ist relativ einfach. Argloser war schon immer ein unsicherer Kandidat. Keiner weiß, welcher Zufall ihn in die Pyramide befördert hat: Er war schon immer da. Sobald das Institutsgedächtnis versagt, gilt das geflügelte Wort Das muss vor Argloser gewesen sein. Sein Faible für chaotisch verlaufende Prozesse macht vor dem eigenen Leben nicht Halt. Was hat einer wie er zu verlieren? Nichts. Argloser hat nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren, das hebt sich auf.
 

Medien
der Pyramide Digitales Archiv Dokumentationen Projekte

 

Aus dem Umbauarchiv

 

Dürrobst steigt aus

Mehr Luft!
1
Apropos Luft

Dann und wann
Dann und wann
Dann und wann kommt es jetzt vor, dass Dürrobst keine Luft mehr bekommt. Jedenfalls redet er so. Wozu braucht ein grau gewordener Panther wie Dürrobst Luft? Es scheint, er präpariert seine letzte Rolle. Leicht ist es nicht, ein Publikum dafür zu gewinnen, vor allem eines, das gewillt ist, die Botschaft weiterzutragen:

  • ―Mehr Luft!

Was bedeutet der Umstand, dass einem Kämpfer die Luft zum Atmen knapp wird, gegen die Überzeugung der Massen, toxische Gase zu atmen, wann immer sie Mund und Nase aufsperrt? ›Pollution‹ lautet das Stichwort, gegen das Dürrobst, von gelegentlichen Kabbeleien wie jener mit der geschätzten Kollegin Asche-Aigner einmal abgesehen, seinen letzten Kampf ficht. Ein Leben lang hat das Wort ihn begleitet, hat ihn gelehrt, die bürokratische Vokabel ›Luftschadstoffe‹ mit dem nötigen, stets ein klein wenig Abscheu enthaltenden Anstand in den Mund zu nehmen, es abends griffbereit, vergleichbar einem künstlichen Gebiss, auf dem Nachttisch aufzubewahren, um es sich morgens wieder über den zahnlosen Kiefer ziehen zu können, und jetzt wendet es sich gegen ihn. Der neue Feind ist ebenso unsichtbar wie unumgänglich:

CO2

Jeder stößt ihn aus, er, Dürrobst, sein neuer, etwas unangenehm wirkender Hausnachbar ebenso wie der letzte Seychellen-Heimkehrer – ganze Kontinente atmender Mitwesen, Christen und Heiden, selbst Buddhas sanfte Jüngerschar, das Leben … ganz recht, das Leben selbst, sofern es ihn nicht einfach – so wunderbar ist das Leben gemischt – verbraucht. Auf diese Weise vergeht sich jeder am Leben, sofern er seins lebt, nur die Pflanzen, sie machen es richtig und dafür essen wir sie ungerührt auf.

Mehr Luft!
2
Was geht den Pädagogen die Kohlendioxid-Frage an?

Nichts.
Die Pyramide ›verfügt‹, wie der Ausdruck lautet, über ein renommiertes Klima-Institut. Seine Leute gehen in der Neumayer-Station ein und aus, ebenso bei der NASA oder im Kanzleramt, wo ihre Expertise immer wieder für Turbulenzen sorgt.
Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Klimaforschung kümmern Dürrobst nicht. Er hat zeit seines Lebens in der Community genug gesehen, um sich seinen Reim auf das Zusammenspiel von Erkenntnis und Interesse im öffentlichen Raum zu machen. Er lauscht auf die Obertöne, er beobachtet die Karrierewege, er liest die Zeitungen und gesteht sich mit leisem Bauchgrimmen ein: Sie haben’s drauf.
Auch wenn er dem einen oder anderen Journalisten zutraut, das Spiel zu durchschauen – ansatzweise, sehr ansatzweise –: im Entscheidenden, das funkelt ihm aus fast jeder Seite entgegen, sind die Herolde des öffentlichen Bewusstseins Wachs in den manipulativen Händen allzu ehrgeiziger Kollegen, deren politisches Bewusstsein, wie er sich ausdrückt, auf dem Niveau von Sechzehnjährigen festgezurrt ist, die sich nicht allzu sehr für Politik interessieren, wo sie doch so furchtbar korrupt ist und es einfach nicht bringt, weil die Welt, die Menschheit, der Planet, das globale Geschehen Entscheidungen in ganz anderen Größenordnungen verlangt.

 

  • ―Think global!

Dürrobst kennt den Wahlspruch seit jenen fernen Zeiten, in denen er als ›kleiner Student‹ einträchtig an ihrer Seite dem Hörsaal entgegentrottete. Seit einiger Zeit klingen die Stimmen von damals verstärkt in ihm wider. Selbst die Gesichter, bleich, verwaschen, kommen hoch. Das muss wohl das Alter sein.

  • ―Und auch das wird nicht genügen: die Erde ist ein viel zu unwichtiger Punkt im Universum, um sich lange bei ihr aufzuhalten. Es lohnt einfach nicht.

Den Punkt, nimmt er an, hat mancher von ihnen still und heimlich inzwischen revidiert, nachdem sich herausstellte, wie lukrativ es sein kann, so zu denken, wie die Generation es nun einmal liebte. Dazu musste die Politik ins Spiel kommen, grüne Politik, nicht irgendeine, sondern die alles begrünende Euphorie politischer Bratenwender. Deren ungebremster Voluntarismus kann den Dialektiker in ihm noch immer zur Weißglut bringen.

Er ist ein Roter, die Grünen sind ihm zuwider.

Mehr Luft!
3
Autsch!

Blitzwach wird Dürrobst, der Experte für Massensteuerung durch Massenerregung, sobald es im Medienwald klingelt. Das Klingeln in den Kassen der Konzerne hört er gleich mit. Friedenwanger, den alten Gegner, der ihn jetzt gelegentlich besucht, weil man ihm nach seinem Abschied von der Lehre kein eigenes Zimmer in der Pyramide zubilligte, zwingt er, das Ohr auf die Tischplatte zu legen:

  • ―Hören Sie’s?
  • ―Alter Freund, was soll ich hören?
  • ―Ich wusste es. Er hört immer noch nichts.

Aus Feindschaft ist Kumpanei geworden, wie sie es im Grunde immer schon war. So ist auch der gegenwärtige Klima-Dissens der beiden nicht mehr als ein schwaches Säuseln, in dem der frühere Donnerhall mitgehört werden muss. Friedenwanger, im Alter noch immer geschmeidig, hat sein Repertoire dem herrschenden Diskurs angepasst und hält gut bezahlte Vorträge vor Laien darüber, wie der Mensch seine Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde zerstört, obenan durch besagtes CO2, das Klima-Gas, dessen chemische Formel ihn vage an seine Schulzeit erinnert. Er konzentriert sich auch mehr auf die kulturellen Folgen des an die Wand gemalten Debakels. Übrigens spürt er den Klimawandel bis in die Knochen. Was er über frühere Winter ›in unseren Breiten‹ zu erzählen weiß, siedelt gleich neben der Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein und wird vom Publikum mit derselben innigen Anteilnahme konsumiert. Mancherorts, so kolportiert man, soll es Tränen gegeben haben.

  • ―Aber das ist Unfug, Kollege. Der Wandel liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des menschlichen Organismus.
  • ―Das behaupten Sie.

Dürrobst ist entsetzt. Er hat sich die Statistiken angesehen und weiß Bescheid. Von Friedenwanger auf den Status eines Behaupters zurückgeworfen zu werden, annihiliert seine Existenz als Wissenschaftler. Längst hat er das Gesetz der wachsenden Entfernung ausgegraben und seinen aktuellen Beobachtungen dienlich gemacht: Je weiter sich eine Disziplin von den ›harten‹ Klimafächern entfernt, desto überzeugter geben sich ihre Vertreter von den grundlegenden Annahmen der Klimaforscher, also jener globalen Truppe, die jedem aufkommenden Zweifel an der Welt-Unheilswährung Kohlendioxid mit harten Diskursschlägen entgegentritt. Wobei auch Dürrobst weiß, dass Sich-überzeugt-Geben und Überzeugtsein in der Wissenschaft wie in der Theologie auf verschiedenen Beeten gedeihen. Deshalb ärgert ihn ja Friedenwanger so sehr. Die perfekt sitzende Maske traut er ihm nicht zu und die Naivität nimmt er ihm nicht ab.

  • ―Geben Sie zu, das Ganze erinnert an Galilei: Da steht das Fernrohr. Schauen Sie doch hinein, meine Herren. Schauen Sie einfach hinein.

    Friedenwanger scheint der richtige Zeitpunkt für einen Schnitt gekommen zu sein.

  • ―Auf dem Niveau diskutiere ich nicht. Soll ich ehrlich sein? Meiner Auffassung nach leiden Sie unter einer verzerrten Weltsicht. Vielleicht sollten Sie einmal hören, was die Menschen da draußen über Sie reden.
Mehr Luft!
4

Fossil Dürrobst gesteht: mit dieser Front hat er nicht gerechnet. Sie ist die härteste und er fühlt, er wird den Einsatz an ihr nicht überleben. Er hat diesen Krieg nicht gewollt, er kann auch nicht behaupten, er sei ihm aufgezwungen worden, aus freiem Willen stürzt er sich ins Getümmel, wissend, dass er damit alte Freundschaften pulverisiert und sich im Grunde nur Feindschaften einhandelt, die zu kontrollieren über seine Kraft gehen wird. Eines weiß er mit Sicherheit: den Kampf ist er sich schuldig. Wenn er etwas beherrscht, dann das Lesen von Statistiken, von objektiven Verlaufskurven und projektiven Aussagen, es ist sein Ein und Alles, er hat Generationen von Studenten bis aufs Blut damit gequält und denkt nicht daran, der Welt, die es offenbar nötig hat, diese Lektion zu ersparen. Es macht ihm nichts aus, als ›Wir‹ schuldig zu sein, im Gegenteil, die Schuldfrage zieht sich als roter Faden durch seine Lehrbücher, gern würde er in den überdimensionierten Chor derer einstimmen, die ›kein Problem‹ mit der Annahme haben, dass sich der Mensch zum Störfall der Natur entwickelt hat und, jedenfalls auf dem Sektor ungebremster Bedürfnisse, teilentsorgt gehört – kein Problem, aber: beim Atmen hört der Spaß auf. Warum beim Atmen? Weil er ahnt, schmeckt, riecht, wittert, dass hier ein neuer Feind in die Welt gesetzt wurde, dessen hitzköpfige Verfolger vor keiner Verfolgungstat zurückschrecken werden, so wie sie bisher jedesmal bis zum Äußersten gingen, Brudermord, Vater-, Mutter-, Schwestern- und Kindsmord inklusive. Außerdem weiß er natürlich, denn Psychologie gehört zu den Grundvoraussetzungen seines Fachs, dass, wer das Atmen mit Schuldphantasien infiziert, den ganzen Organismus – und damit den Menschen – irreparabel beschädigt. Schuldphantasien aber, das ist jedem Pädagogen aus statistisch geronnener Erfahrung geläufig, treten unausweichlich auf den Plan, sobald der Stoff, den jeder Einzelne mit jedem Atemzug in die Umwelt entlässt, als Umweltgift entlarvt und der Kampf an allen Fronten gegen ihn zur universellen Pflicht erklärt wird.

Ceci n’est pas une pipe
Mehr Luft!
5

Dürrobst gibt ein Interview

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
Dürrobst, Dürrobst folgend

 

Große Unke (what AI really said)

Kippppppppppunkte
 

Der Weltuntergang ist immer flüssig

Apokalypse
1
Du verlässt den schützenden Raum der Pyramide und gleich –

… stehst du am Laufsteg der Apokalyptiker. Noch bist du Publikum. Aber du spürst, kaum dass du Platz nahmst, das Zupfen und Reißen in deinen Gliedern. Dort hinauf (oder hinunter, the way up and the way down … das alte Glasperlenspiel!) geht der Weg, dein Weg, willst du nicht am Wegrand verkümmern oder dich im Gelände der Gleichgültigkeiten verirren. Von der Sorte gibt’s viele. Allein wärst du daher nicht, im Stich gelassen schon. Von wem? Von dir. Gewiss, einer wie du kann sich im Stich lassen, aussetzen gleich einem Hund oder einer Katze, diesen Standardbegleitern des psychischen Elends: dort draußen läufst du herum, ziel-, richtungslos, mit knurrendem Magen, während hier das Licht erlischt und die Wände, eine nach der anderen, in Staub und Rauch aufgehen.

Wähl’ dir eine kleine Apokalypse. Das wird doch nicht so schwer sein? Die Auswahl ist überschaubar, jedenfalls auf den ersten Blick: im planetarischen Maßstab (drunter geht nichts) verbrannt, verbrüht, gesotten, erfroren, erschlagen, verhungert, verdurstet, von Parasiten gepeinigt, von Viren zerstört, von Künstlicher Intelligenz in den Kerkern des Bösen gehalten oder gleich in den Wahnsinn getrieben, versklavt von Verschwörern, entmannt durch Verrückte, ausgewrungen durch Superreiche, gekreuzigt durch Sklaven, von Machos vors Mündungsfeuer ihrer neuesten Waffengenerationen gezerrt, von Femokriegerinnen – Halt!

(Immer wieder hält der Zug der Gedanken an dieser Stelle. Das macht dich stutzig, doch nicht allzu sehr. Jetzt nicht!)

Apokalypse
2
Hinweis für Adepten

Hast du dir deine Apokalypse gewählt, so behandle sie pfleglich. Gern zum Beispiel badet sie lau. Als erstes also ertaste ihre Binnentemperatur und sorge für die passende Umwelt aus gleichtemperiertem Gedankengut. Sonst wird es nichts mit ihr und die Qual der Wahl übermannt dich aufs Neue. Achte auf strenge Diät.

Auch die fetteste Apokalypse kennt den vergeblichen Hunger nach mehr und neigt zur Autophagie. Es ist ihr gutes Recht, sich nach dem Anderen ihrer selbst zu verzehren, und woran hätte sie es, wenn nicht an sich selbst? Die moderne Apokalypse ist selbstverhütend und wäre sehr überrascht, träte sie einmal ein. Ihr Wesen –

Ihr Wesen? Woher hätte sie…? Woher wohl?

Eine gute Apokalypse, eine, die in Betracht kommt, verfügt über deren mindestens vier: ein vorderes und ein hinteres, ferner ein An- und ein Unwesen. Hinzu kommen die unwesentlichen Differenzen im Inneren, denn jede Apokalypse, so klein sie auch sein mag, laboriert an ihren inneren Widersprüchen und wäre längst zu Grunde gegangen, wären ihre Adepten nicht darauf geeicht, auch die gröbsten logischen Fehlgriffe auszuhalten, solange die gute, sprich: die schlechte, sprich: die gute Sache davon profitiert.

Das innere Wesen der modernen Apokalypse ist die Kakophonie, ergänzt und zusammengehalten durch das Mantra der Unentwegten, jenen Satz immergleicher Behauptungen, an denen man sie von ihresgleichen unterscheidet.

Apokalypse
3
Die Büchse der Pythia

Nicht unwesentlich ist es zum Beispiel, Atom-Apokalyptiker von CO2-Apokalyptikern zu unterscheiden. Nicht, weil sie einander nichts zu sagen hätten! Ganz im Gegenteil, sie haben einander unendlich viel zu sagen und erscheinen gern Arm in Arm. Nur die Bereitschaft des Publikums mitzugehen sinkt mit dem Fortgang der Ausführungen: Schon gut, die Katastrophe ist gebucht. Jetzt zu etwas anderem. Gleich neben den Nah-Apokalyptikern des Artensterbens finden sich die in Jahrtausenden rechnenden Liebhaber finaler Supervulkanausbrüche und Meteroriteneinschläge, die gespannt darauf lauern, den entscheidenden Moment der ›Extinction‹ noch in eigener Person erleben zu dürfen. Apokalyptikern des kommenden Bankencrashs, die das Ende des Währungssystems und des Wirtschaftssystems und überhaupt der Welt, wie wir sie kennen, im Portfolio haben, fällt das nicht sonderlich schwer. Sie rechnen fest mit dem nächsten Jahr und buchen nur rasch um, wenn es wieder vorbeiging und die Welt noch steht. Was, alles in allem, nicht schlecht ist. Denn der nächste Symposiums-Auftritt steht bereits und der private Terminkalender erstreckt sich weiter, als der globale Erwartungshorizont es erlaubt. Überhaupt erstaunt bei den Matadoren der Schwarzmalerei die enge Verbindung von Welt-Unheilserwartung und solider Lebensplanung. Das ändert sich, betritt man die Gefilde der Alltagsapokalyptiker, denen ein Kind, ein Mann, eine Frau, ein Job oder Nichtjob genügt, um die Welt Kopf stehen zu lassen, als hätten die Dämonen nur auf ein Stückchen Nähe gewartet, um hervorzubrechen: dies aber mit einer als ›elementar‹ erlebten Wut und Wucht, dass das Ende deiner und meiner Welt, auf die sich am Ende alles reduziert, nur eine Frage der nächsten Zeit ist, denn wir sind zu erschöpft, uns dagegen zu wehren.

Apokalypse
4
Fazit

Apokalypsen sind Primadonnen. Sie stehlen einander die Schau. Wer sich erst an eine verliert, gewahrt die Konkurrenz wie durch einen Schleier. In der Regel bestreitet niemand, dass es sie gibt und dass sie ernst genommen zu werden verdienen. Aber leidenschaftliche Aufmerksamkeit kann man nun einmal nicht teilen und gern überlässt man sie daher Leuten, die andere Reizmittel benötigen, um sich zu echauffieren. Dennoch … dennoch haben sie – die Apokalypsen wie ihre Liebhaber – einander im Blick, teils aus banaler Eifersucht, teils aus dem einfachen Grund, dass sie, da auf Erregungen fußend, psychischen Druck aufbauen und daher Linien gleichen Drucks erzeugen, an denen sich die Erregungszustände einer Gesellschaft ablesen lassen: Isobaren des Allgemeinbefindens, deren einsam scheinende Gipfel sicht- und fühlbar miteinander korrespondieren. Nicht selten findet die Korrespondenz in der Öffentlichkeit statt, wenn kämpferisch veranlagte Adepten die Aufmerksamkeit des Publikums von einer Gipfelschönheit zu nächsten zerren, als warte erst dort das Glück der tiefen Einsicht in das, was uns allen bevorsteht. Was ebenso richtig wie falsch ist, denn am Ende wird die Geschichte sich für einen Ausgang entscheiden müssen, wenngleich der Verdacht im Raum steht, dass sie, wie bei früheren Gelegenheiten, just den Hinterausgang wählen wird, mit dem keiner gerechnet hat. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Apokalypse
5
Postscript

Die Frage: »Was trage ich, wenn der Zeitpunkt da ist?« bewegt insgeheim mehr Gemüter, als das Pokerface der Gesellschaft erkennen lässt. Vor der Apokalypse sind alle nackt. Zumindest empfinden die Menschen es so. Nicht im Moment des Verschlungenwerdens wird Nacktheit zum Problem. Ausschlaggebend sind die Momente davor.

  • Die Selbstbewahrung ›im Angesicht des Grauens‹ bis hin zum persönlichen ›Kipp-Punkt‹ ist ein Bekleidungsproblem: die richtigen Sachen, richtig getragen, sie tragen auch ein Stück weit durch die Apokalypse. Gewiss machen sie den Einzelmenschen nicht feuerfest. Aber letztlich lassen sie ihn so erscheinen. Für diese Differenz gibt er sein letztes Hemd, will sagen, den letzten Funken Verstand. Er gibt ihn nicht weg, er gibt ihn dran – als bohrendes Kreisen um den Exzess, der wir sind: »Wie begegne ich dem, was allen bevorsteht, aber mir in besonderer Weise?«

Diese besondere Weise: was, bitteschön, wäre sie anderes als Bewährung? Offenkundig besteht das Paradox der Bewährung, dieser Bewährung darin, dass sie nicht mit Bewahrung einhergeht, stattdessen mit einer zur Idée fixe eingefrorenen Illusion der Bewahrung – oder der Widerständigkeit –: zerplatzen wird sie, so die irre Hoffnung, eine Sekunde (sprich: eine Ewigkeit) später als all die Seifenblasen, in denen, deinem untrüglichen Glauben-zu-wissen nach, die unbedarft-schuldige Mitwelt dahintreibt.

  • Outdoor-Klamotten, wie du sie schätzt, sie schützen nicht wirklich. Die simple Wahrheit (dir sehr bewusst): sie sind Stoff vom Stoff jener ›Kluft des Vergehens‹, die, wenn’s drauf ankommt, auf deiner Haut brennt wie das sprichwörtliche Nessusgewand. Sie geben die Illusion des Schutzes, an die du dich klammerst wie je ein Wesen, das nicht vergehen will.

Eher möchtest du die Welt in den Abgrund reißen als sie dich.

Soviel Unterscheidung muss sein.

 

Ein Wort nimmt das andere

Frenetische Begriffe
1
Auffällig die Zunahme der Leugner,

sinniert Stutenkeil, ich habe sie zum Hausgebrauch einmal alphabetisch aufgelistet, das Durcheinander ist ja kaum zu bändigen:

ABC-Leugner, Abgasleugner, Abredeleugner, Abstandsregelleugner, Ad-hoc-Leugner, Affektleugner, Ahnenkultleugner, Aktionsleugner, Alkleugner, Alzheimerleugner, Amerikaleugner, Angstleugner, Anstaltsleugner, Anwesenheitsleugner, Apfelleugner, Atomwaffenleugner, Autonomenleugner, Autorenleugner, Bankrottleugner, Barriereleugner, Bedarfslückenleugner, Befähigungsleugner, Befehlsleugner, Beistandsleugner, Besessenheitsleugner, Betriebsleugner, Betrugsleugner, Bettenleugner, Blasenleugner, Blitzleugner, Braunkohleleugner, Buchleugner, Chaosleugner, Chipleugner, CO2-Leugner, Datenleugner, Dauerleugner, Demokratieleugner, Demoleugner, Dieselleugner, Differenzleugner, Diktaturleugner, Dystopieleugner, Eigentumsleugner, Einflussleugner, Einflussleugner, Einsamkeitsleugner, Elendsleugner, Enteignungsleugner, Erektionsleugner, Errungenschaftenleugner, Erziehungslagerleugner, Ewigkeitsleugner, Fahnenleugner, Fake-News-Leugner, Faktenleugner, Feiertagsleugner, Feinstaubleugner, Feld-Wald-Wiesen-Leugner, Fleischkonsumleugner, Folterleugner, Freiheitsleugner, Frugalleugner, G-Punkt-Leugner, Gefahrleugner, Gerechtigkeitsleugner, Geschlechtsleugner, Gesundheitsschädenleugner, Gleichheitsleugner, Globulileugner, Gottesleugner, Haltungsleugner, Hassleugner, Heiratsleugner, Herthaleugner, Hymenleugner, Identitätsleugner, Impfleugner, Informationsleugner, Insidejob-Leugner, Inzidenzleugner, IQ-Leugner, Jenseitsleugner, Karikaturenleugner, Karteileugner, Katastrophenleugner, Klasseleugner, Klimaleugner, Knastleugner, Konsensleugner, Kontaktleugner, Krankheitsleugner, Kultleugner, Kurzzeitleugner, Laborleugner, Lagerleugner, Langzeitleugner, Leberleugner, Lustleugner, Marktleugner, Marxleugner, Maßnahmenleugner, Matrixleugner, Medizinleugner, Meeresspiegelleugner, Mondlandungsleugner, Moralleugner, Motivleugner, Müllleugner, Mutleugner, selbst Mutterschaftsleugner, Nachtleugner, Naturleugner, Nazikeulenleugner, Nazileugner, Nebelwerferleugner, Nietzsche-ist-tot-Leugner, Nine-eleven-Leugner, Notenleugner, Opferleugner, Oppositionsleugner, Ozonleugner, Paarleugner, Pandemieleugner, Parteileugner, Pearl-Harbour-Leugner, Pegelleugner, Pendelleugner, Persönlichkeitsleugner, Personenkultleugner, Positivleugner, Potenzleugner, Protestleugner, Putinleugner, Quartalsleugner, Querbeetleugner, Rassismusleugner, Rassismusleugnerleugner, Realitätsleugner, Regenwaldleugner, Regierungslagerleugner, Reichsleugner, Rettungsleugner, Rufmordleugner, Ruinenleugner, Schamleugner, Schufaleugner, Schuldenleugner, Schuldleugner, Schwangerschaftsleugner, Schwerkraftleugner, Seitensprungleugner, Selbstleugner, Selbstmordleugner, Sexismusleugner, Sexleugner, Siebentagesleugner, Sommerzeitleugner, Sonnenfleckenleugner, Speichelleugner, Spendenleugner, Spitzelleugner, Spitzenleugner, Staatsleugner, Stasileugner, Strahlenleugner, Stromleugner, Suchtleugner, Technikleugner, Tendenzleugner, Terrorleugner, Todesleugner, Topleugner,Transleugner, Traumaleugner, Troposphärenleugner, Trotzleugner, Tut-nichts-zur-Sache-Leugner, Typhusleugner, Tyrannenleugner, Überlegenheitsleugner, Überzeugungsleugner, Überwachungsleugner, Unbestimmtheitsleugner, Utopieleugner, Validitätsleugner, Vater-und-Mutter-Leugner, Vaterlandsleugner, Vaterschaftsleugner, Veganleugner, Verantwortungsleugner, Verbrechensleugner, Verbreitungsleugner, Verfahrensleugner, Verfallsleugner, Verfassungsschutzleugner, Verfassungsleugner, Vermögensleugner, Verschwörungsleugner, Viralleugner, Wahrheitsleugner, Wesensleugner, Windleugner, Wissenschaftsleugner, Wutleugner, Zahltagleugner, Zeitgeistleugner, Zensurleugner, Zerrbildleugner, Zinsleugner, Zivilisationsleugner, Zustellungsleugner, Zwischenleugner…

Gestern noch las ich ›Zukunftsleugner‹ und setzte mich vorsichtig in die Vergangenheit ab: Fehlanzeige. Vergangenheitsleugner gibt es zuhauf, sie kommen aus keiner Gegenwart mehr heraus, sie ist ihnen angewachsen, ein zweites Paar Ohren, sie hören auf nichts anderes.

Stutenkeil ist nicht dumm. Beherrscht das Alphabet aus dem Effeff (in aller Vorsicht).
Frenetische Begriffe
2
Schmalz & Sulz. Trägerraketen des Absoluten

  • ―Nein, fabuliert Weißäcker, fahl im Gesicht, die sparsame Sonne hat ihre Bräunungskraft noch nicht entfaltet, wir wissen nicht, was wir tun, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir wissen nicht, warum wir sind, wie wir sind. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit, die keiner kennt, weil sie, im Ganzen betrachtet, dem Denken nicht zugänglich ist, liegt nun einmal darin, dass wir ziemlich genau wissen, was wir tun, dass wir sehr genau wissen, was uns zu tun bleibt, bevor es mit uns zu Ende geht, und dass wir viel darüber wissen, warum wir, als biologische Wesen betrachtet, so sind, wie wir sind. Die Evolution beherrscht uns bis aufs i-Tipfelchen im Alphabet und wir, wir … beherrschen das Alphabet der Evolution, zwar nicht in alle Feinheiten hinein, da bleibt noch eine hübsche Summe Forschung zu leisten, aber im Prinzip haben wir den Bauplan der Natur entziffert. Da gibt es gar keinen Zweifel. Trotzdem frage ich mich an Tagen wie heute: Woher weiß letztendlich die DNA das alles?

Im Zweifel gibt es gar keinen Zweifel. Nach diesem Grundsatz verfahren alle – Weißäcker, Argloser, Gaggauer, Werferich, Nassen – und legen die bekannte Verdauungsminute post mensam ein.

  • ―Kollege Weißäcker, krächzt Argloser, will uns damit sagen: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Jetzt haben wir Schnaps. Das letzte Alphabet, das ich entziffert habe, war das meiner Tochter und es sah ziemlich grauslig aus. Ich bezweifle, dass eine Generation, der schon der Spracherwerb partiell misslingt, weil die Erzieher ideologische Flausen im Kopf haben, wissen wird, was uns zu tun bleibt. Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht.
  • ―Rein sprachlich betrachtet, sagt Weißäcker, der große Blonde, bezeichnet der Ausdruck ›wissen, was zu tun ist‹ keinerlei Wissen. Er besagt nur, dass ich in der Pflicht bin. Wenn ich zu einem Abhängigen sage: ›Du weißt, was zu tun ist‹, dann verlange ich von ihm, dass er das Verlangte tut, und wünsche gerade nicht, dass er sich darüber seine eigenen Gedanken macht. Ich könnte ihm genauso gut sagen: ›Mach dir darüber mal keine Gedanken, das geht schon in Ordnung‹. Ich weiß: sobald er anfängt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, geht die Sache schief. Vielleicht springt er auch ab, weil er plötzlich in einen Abgrund starrt. Das wäre, je nach Auftrag und Konstitution, gut möglich. Was werde ich sagen, wenn es schiefging? Ich werde ihn fragen: »Wo waren deine Gedanken? Was hast du dir dabei gedacht? Hättest du getan, was ich dir gesagt habe, dann wäre das nicht passiert!«

Werferich kommt zur Sache.

  • ―Ich finde die ganze Unterscheidung sophistisch. Die Regeln sind in unsere Körper eingeschrieben und verlangen von jedem von uns, gelebt zu werden. Ich kann mich dagegen sperren, damit sperre ich mich praktisch vom Leben aus und stürze mich und meine Umgebung ins Unglück. Aber wenn das so ist, weiß ich dann nicht, was zu tun ist? Wie kann das sein? Wie kann es mir passieren, dass ich etwas nicht weiß, was mein Körper doch weiß? Mein Körper weiß mehr als ich, gut, das kann ich, rein grammatikalisch, so in den Raum stellen, aber wäre ich nicht einmal mein Körper, dann wäre ich nichts weiter als ein Häuflein Unglück und, ehrlich gesagt, so fühle ich mich ganz und gar nicht.
  • ―Da möchte ich in aller Form widersprechen, Frau Kollegin. Die Regeln, die Regeln … entschuldige, die Regeln geben wir uns selbst, uns selbst als Gruppe betrachtet. Die Sozialwissenschaften haben sich definitiv vom Individuum verabschiedet. Das scheint so zu sein. Ob es klug ist? Was ist schon klug? Weißt du, was klug ist? Du bist eine Frau, du solltest es wissen. Okay, ich nehm’s zurück. Neinneinnein, so geht das nicht. Okay, nehmen wir das Individuum. Das Individuum meldet sich im System als Störfall. Falls es sich meldet, andernfalls ist es tot. Zu den Akten! Für den Umgang mit Störfällen aber … – Sie verwirren mich, wenn Sie mich so unvermittelt fixieren, stimmt etwas nicht mit meiner Frisur? –, für diesen Umgang existieren klare Anweisungen. Wo nicht, sollten sie schleunigst erlassen werden. Und was den berühmten Körper angeht, so machen gewisse Leute eindeutig zu viel Aufhebens davon. Okay, mein Körper leistet mir im Alltag ganz gute Dienste, ich will nicht klagen, toitoitoi. Eigentlich will ich ihn gar nicht missen. Es sei denn, ich bekäme ein definitiv besseres Angebot. Dann müsste ich natürlich umdenken. Dann wäre es eben nicht dieser, sondern ein anderer und ich müsste mit dem zurechtkommen. Was ich sagen will: die Regeln des Sozialen gelten absolut. Jedenfalls in den Grenzen der Empirie und darüber reden wir hier doch. Hättest du, nur als Beispiel genommen, drei Arme (was die Evolution glücklicherweise verhütet hat), dann brächte dir das in bestimmten Situationen, in denen es aufs simultane Greifen ankommt, einen technischen und in der Folge einen sozialen Vorteil, der sich wiederum in anderer Hinsicht, etwa bei den Heiratschancen, als Nachteil erweisen dürfte. Was ich sagen will, es gibt körperliche Vorteile, die sich evolutionär durchsetzen, weil sie neue Aktionsmöglichkeiten eröffnen, und es gibt andere, die von den Nachteilen aufgewogen werden und deshalb im Prozess bloß mitschwimmen und irgendwann wieder verschwinden. Entscheidend ist in jedem Fall der Gebrauch. Ja? Bin ich über die Zeit? Oh.
  • ―Ich sinniere, sagt Elisabeth vom Nachbartisch herüber, wann ich den letzten Dreiarmer gesichtet habe. Das muss auf hoher See gewesen sein, im Vollrausch, nehme ich an, es soll grausam einsam da draußen zugehen können. Das mit dem Individuum kaufe ich Ihnen nicht ab. Man kann eine Sache gut weglassen, wenn man sich ihrer sicher ist. Seien Sie sich mal nicht so sicher in Ihrer Kollektivhaut. Das Fell des Löwen wird erst am Ende verteilt. Das Individuum ist in diesem Fall der Löwe und er brüllt immer noch so, dass die Steppe von ihm widerhallt. Auch die von uns allen so geliebte Sozialwissenschaft kommt nicht vom Individuum los. Na und? Ist das ein Unglück? Wir sollten das Feld nicht völlig den Rechten überlassen. Sie halten das Individuum für ein Glied in einer Kette, das bleibt Ihnen natürlich unbenommen. Ich behaupte: nicht einen Augenblick könnte die Kette existieren, stünden nicht all diese Individuen, eines wie das andere, für sie ein. Kommt einer auf die Idee zu sagen, geht nach Hause, Leute, hier gibt es nichts mehr zu tun, löst sich im Nu die ganze schöne Kette auf und ist hastunichtkannstunicht verschwunden. Einfach verschwunden.
  • ―Die evolutionäre Kette verschwindet nicht einfach, bloß weil einige Leute beschließen, sie nicht sehen zu wollen.
  • ―Das ist Theorie, Kollege. Dafür sind wir zuständig. Wenn wir für einen Augenblick unsere Hausaufgaben vergessen, wo bleibt sie dann, die Theorie?
  • ―Du bist ein Ekel. Aber gut. Gehen wir wieder an die Arbeit.

Bei Weißäckers Worten ›Du bist eine Frau, du solltest es wissen‹ ist Werferich leicht zurückgeprallt, affektiert befremdete Blicke à la ›Hört das denn nie auf?‹ in den Raum werfend, aufgefangen und sorgsam apportiert vom Bibliotheksverweser Gaggauer, der damit einen seiner kleinen Triumphe über die Professorenwelt feiert, bevor er wieder in seine Unterwelt abtaucht.

Frenetische Begriffe
3
Kollege Agosch muss eine Vorlesung halten und klärt seine Gedanken am Schreibtisch:

Wenn der Mensch von Natur aus böse ist, was ist dann die Natur? Böse? Mitnichten. Warum sollte der Mensch dann böse sein? Ganz einfach: weil er contra naturam lebt. Warum tut er das? Weil er einen falschen Begriff von sich besitzt. Welcher Begriff wäre das? Nun, der Mensch … der Mensch … warum verwirrst du mich? Der Mensch ist ein Abstractum, das so in der Natur nicht vorkommt, ein Konstrukt, das jederzeit dekonstruiert werden kann und genau deshalb dekonstruiert werden muss, solange noch Zeit dazu bleibt. Denn die Zeit läuft uns davon. Wohin läuft sie? Ins Verderben. Der Mensch hat ein Stadium der Naturbeherrschung erlangt, das es ihm erlaubt, sie und sich mit einem Schlag auszulöschen. Nicht die ganze Natur, bewahre, aber exakt den Teil von ihr, der sein biologisches Vorkommen ermöglicht. ›Ermöglichen‹ ist ein wundervolles Wort, es ersetzt ganze Bibliotheken frommer Literatur, soweit sie auf Ergebung hinausläuft. Da kann einer ganz naiv fragen: Warum tut er’s dann nicht? Warum hat er’s bisher nicht getan? Aus Verantwortung? Ein plausibler Grund ist das nicht. Auf einen Menschen, der imstande und willens ist, Verantwortung zu tragen, kommen, bloß der Größenordnung nach, hundert Unverantwortliche. Warum hat’s dann keiner aus dieser Riege getan? Warum haben sie’s bislang nicht getan? Die Antwort, sturznüchtern, lautet: Sie haben einen Weg gefunden, es trotzdem zu tun, den Weg der tausend Schritte, der mit tödlicher Sicherheit dorthin führt, wohin der rote Knopf uns alle mit einem Schlag befördern würde: die Vernichtung der Biosphäre durch Arbeit & Konsum.

Wie kann einer solchen Unsinn lehren? Ist ihm die Schamröte ausgegangen? Wie kommt er dazu…? Auf dem einfachsten aller Wege: blinde Nachahmung. Es sind überhaupt nicht seine Gedanken. Es sind die anonym gewordenen Gedanken anderer, die irgendwann einmal erdacht wurden und den Weg in eine gierige Öffentlichkeit gefunden haben, an deren Zuckungen einer wie Agosch sich ohne weiteres anschließt, weil diese Hörigkeit ihm – Arbeit und Konsum ermöglicht.

Der Weg der tausend Schritte, wie ich ihn hier definiere, der Weg des Weiter-so, ist keiner, der neben der normalen Tätigkeit von Millionen Menschen herläuft, sondern diese Tätigkeit selbst. Das muss begriffen werden. Es ist der Weg des sich selbst konstruierenden Wesens, genannt der Mensch. Wie gesagt, dieses Wesen ist kein Naturprodukt, sondern das Produkt einer Entscheidung: man muss Mensch sein wollen, um es zu sein. Um Mensch sein wollen zu können, muss – irgendwann im Neolithikum – ein Anonymus die Unterscheidung Mensch / Nichtmensch in die Natur eingeführt und damit die Spur gelegt haben, die auf vielfach gewundenen Pfaden direkt zu unserer heutigen Existenzform führt. Ein kluger Kopf zweifellos, aber nichtsdestotrotz ein Verhängnis: denn der Mensch existiert bloß als Natur, ergo überhaupt nicht, legt man einmal den Begriff zugrunde, den er von sich gemacht hat. Praktisch hat er sich mit diesem Schritt aus der Natur herausgezaubert. Sie hat das lange Zeit hingenommen, wenngleich bockig (merke: in der Antike wurden riesige Landmassen durch ungebremste Nutzung verwüstet, Kulturen, siehe Osterinsel, verschwanden selbstverschuldet von der Erdoberfläche, weil sie leichtfertigerweise einen Lebensstoff verprasst hatten), im Großen und Ganzen hat sie ihrem heiklen Produkt Schonzeit gegeben und diese Schonzeit ist abgelaufen. In dem Moment, in dem der Mensch das Wesen der Biosphäre begreift, ist seine Schonzeit ein für allemal abgelaufen. Die Entdeckung der Biosphäre und die Nötigung zur Dekonstruktion des Menschen sind eins. Der moderne Mensch kann dieser Nötigung scheinbar beliebig lange widerstehen. Aber der Schein trügt, die Uhr tickt: Ressourcenvergeudung, Artenvernichtung und Klimawandel, sie alle sprechen deutlich zu uns, sie sprechen eine nicht-subjektive Sprache, die jeder verstehen kann, der verstehen will, und sie dulden keinen Widerspruch.

Hier liegt der Hase im Pfeffer. Das absurde Wort von den Fakten, die keinen Widerspruch dulden, ist aus einer korrupten Naturwissenschaft in die Politik entlaufen und von dort auf die heikleren Bezirke der Wissenschaften übergesprungen, die man Verständigungswissenschaften nennen könnte, weil sie aus dem menschlichen Wunsch nach Selbstverständigung hervorgegangen sind – ›auf vielfach gewundenen Pfaden‹, wie Kollege Agosch süffisant anmerken würde. Ein Massenphänomen. Die moderne Masse ist Biomasse. Das Wissen vom Menschen ist ihr – ›naturgemäß‹ – Satan.
Frenetische Begriffe
4

Was will Agosch? Will er uns umbringen? Mitnichten. Er will brillieren. Womit brilliert man als Mann* der Theorie? Durch Radikalismus. Nicht durch einen Radikalismus der Tat, das wäre ja … kontraproduktiv und nicht mit dem angegriffenen Herzen vereinbar, nein, durch radikales Denken. Worin besteht radikales Denken? Es besteht in einer fixen Idee und dem unbedingten Impuls, sämtliche theoretisch erfassbaren Sachverhalte an ihr aufzuhängen, ganz recht, aufzuhängen, so wie man Wäsche aufhängt, zum Trocknen beispielsweise oder für den Verkauf. Worin besteht nun der spezielle Radikalismus unseres allseits geschätzten, ungemein umgänglichen Agosch? Er will den Menschen auslöschen. Warum? Er hält ihn für ein überholtes Konzept, das nur Unheil über die die biologischen Wesendiewirsind gebracht hat. »Lösche den Menschen aus und wir sind alle frei!« Das sagt er nicht so geradeheraus, er ist schließlich kein Dummkopf, aber es ist die Zusammenfassung dessen, was er seinen Studenten beizubringen versucht. Wie vollzieht sich die Auslöschung des Menschen? Durch den Strang? Keineswegs. Die Auslöschung des Menschen vollzieht sich durch Arbeit – durch das langsame stete Bohren dicker Bretter (Agoschs Lieblingsausdruck, sobald er über seine berufliche Tätigkeit sinniert und von seinen Schülern verlangt, es ihm gleich zu tun). Nie kommt ihm in den Sinn, damit könne ebenso gut das Brett vorm Kopf gemeint sein, das jede Nacht wieder nachwächst. Natürlich riechen die Studenten den Braten und verhalten sich abwartend. Aber der Lehr- und Lernmechanismus überträgt säuberlich seine Phrasen in die Merkhefte, die das Gehirn vorsorglich für sie angelegt hat. Agosch (wie hunderte Kollegen neben ihm) ist, was die Lehre angeht, ein Schleicher: seine Gedanken, radikal gedachte Allerweltsgedanken, schleichen sich über das Lehrer-Schüler-Verhältnis in die Umwelt ein und entfalten dort, als Gedankenstummel, abrufbar über Reizvokabeln, Wirkung: ›Auslöschung‹, gerade noch das Entsetzen der Welt, ist wieder positiv konnotiert und sucht ihre Opfer. Und da ›der Mensch‹ ein Passepartout für praktisch beliebige Inhalte ist, sollte sich niemand sicher sein, dass nicht gerade er irgendwann dran ist – Dekonstruktion zeugt Dekonstruktion. Darin besteht schließlich ihre Produktivität.**

 

*  Stellen wir dem Mann der Theorie die Frau der Theorie an die Seite. Wodurch brilliert sie? Durch Radikalismus? Das auch, aber er ist nur einer der Vorhänge, die sie niedergehen lässt: »Der Mensch ist Mann.« Und da eine wichtige Instanz oberhalb des theoretischen Sinns ihr mitteilt, dass er, bei aller Negativität, noch zu gebrauchen sein wird (auch Hardcore-Feministinnen votieren in diesem Punkt allzu oft uneindeutig), folgt die feministische ›Dekonstruktion‹, wann immer sie frei bekommt, dem Muster des Schmäh, der üblen Nachrede, der den Gegen-Schmäh auf den Plan ruft, auch wenn er sich vorderhand mehr hinter der Hand räuspert – schließlich läuft ihr niemand gern ins offene Messer, einmal abgesehen von den männlichen body guards, welche sie, ganz Gruppenbild mit Dame, in die Mitte genommen haben.

** ›Dekonstruktion‹: die Fähigkeit des theoretischen Menschen, mit dem Hintern abzuräumen, was seinesgleichen mit Gedankenhänden erbaut hat. Auch das erfordert Statur.

Frenetische Begriffe
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Ist Frenetismus eine Denkrichtung? Njet. Eher die Summe aller Denkrichtungen, soweit sie dem Irrtum erliegen, man könne dem Denken eine Richtung vorschreiben: Das Gegenteil ist der Fall. Ist das eine Richtung? Die Richtung aufs Gegenteil? Das wäre doch … das wäre doch … geh, such nach den passenden Worten, alles ist besser als diese furchtbare Gewissheit, der die Wörter zuströmen, als hätten sie nur auf den Moment gewartet, um aus den finsteren Verliesen ziviler Zurückhaltung auszubrechen, eine disziplinlose Horde, die sich, nachdem sie, einmal in Freiheit, sich ausgetobt hat und der Anfall in den obligaten Katzenjammer der Kritik am Bestehenden, wie es nun einmal besteht, überging, mit ihren Advokaten kurzschließt, Schlaumeiern à la Agosch, gewohnt, jedem das Wort im Munde umzudrehen, der sich jenem Cordon sanitaire nähert, den sie um sich und ihre Mandanten, lauter patentierte Rührmichnichtan-Gestalten in ihren safer spaces und Überzeugungsblasen, gezogen haben, warum auch immer –

Denn hier, hier enden die Argumente und die Auszeit des Denkens beginnt. Die Klettergerüste der leeren Reflexion glänzen, nass vom letzten Regenguss, in der Sonne, deren Kraft, wie man hört, ohne darüber Gewissheit zu erlangen, täglich zunimmt, aber vorerst nicht ausreicht, um Wärme für alle zu spenden, der Sonne des Ungeistes (denn eine in Bedrängnis geratene Zivilisation ruft ihre ältesten Bilder auf), gleißend in Nebeln verschwimmend, deren sonderbare Reinheit, kontaminiert mit allem Schmutz dieser verrotteten Welt, die Geburt einer neuen ankündigt, in der sich endlich leben lässt.

Eine eliminatorische Geburt – denn darauf läuft es hinaus … worauf sollte sie hinauslaufen, wenn nicht auf den tausendsten Anlauf zur Eliminierung des Sohnes, seine ›finale‹ Herausnahme aus dem Schöpfungsplan, den man sich zurechtgelegt hat, seit man aus dem Vollen zu schöpfen begann… Denn hier, im Aus-dem-Vollen-Schöpfen, liegt das Betriebsgeheimnis der im Überfluss der Gedanken und ihrer ökonomisierten Realgestalt aufgewachsenen Agoschs, Nassens, Weißäckers, Gaggauers, Werferichs. Sie schöpfen, um zu leeren, aus keinem anderen Grund, und sie vertrauen darauf, dass diese vornehme Tätigkeit niemals endet, jedenfalls nicht bis ans Ende ihrer akademischen Tage, also bis ans Ende der Welt, denn darüber hinaus zu denken wäre … schon Frevel, was sonst?

 

Der Schein des Unfriedens gebiert den Unfrieden des Scheins

Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
1

Die neue Rektorin verändert alles. Du meinst sie zu kennen – früher, in einem anderen Leben, habt ihr Seite an Seite … gelebt. Was dein Urteilsvernögen angeht, so glaubst du dich auf der sicheren Seite. Dennoch fühlst du schwankenden Boden unter den Füßen. Ein Zwang, der tiefer geht als alle Vernunft, lässt dein Urteil … tanzen, so sagt man … ein Kork auf den Wellen … so sagt man doch. Woher kommt so ein Bild, passend, wie gegriffen, ganz recht, gegriffen zur rechten Zeit, doch nicht du bist der Greifende. Dieses Bild greift nach dir, es greift … auf dich über, ja gewiss, so kann man es sagen. Manche Bilder graben Stollen im Untergrund, sie haben einen langen Weg hinter sich und plötzlich schütteln sie dich. Warum plötzlich? Was daran ist das Plötzliche? Was ist das … Plötzliche? Das Plötzliche ist das Unbeherrschte.
Wirkt sie unbeherrscht? Keineswegs. Bist du’s? Woher dieser Gedanke? Du musst all deine Beherrschung zusammennehmen, das ist richtig, jedenfalls zu gewissen Zeiten, in gewissen Momenten, das ist wahr, aber ebenso wahr ist, dass es dir keine Mühe macht, es ist dir unwillkürlich dich zu beherrschen, das Unwillkürliche, so scheint es, nimmt im Quadrat der Herausforderung zu.

Falls du noch keine Medikamente genommen hast: jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt.

Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
2

Diese Person zwingt dich zur Selbstbeherrschung. Ist das gut, ist das schlecht? Es ist, wie so vieles, gegeben, nichts weiter, ein Stück Existenz, mit dem du rechnen musst, um es zu gestalten, glücklicherweise stehen im Alltag nicht viele Begegnungen an. Eigentlich gleitet sie an dir vorbei, als existiertest du nicht. Mach dir nichts vor, es liegt nicht an dir. Sie ist aufmerksam, äußerst aufmerksam, so sehr, dass nichts und niemand ihrem Blick zu entgehen scheint, aber: auf selbstbezügliche Weise. Das ist es. Sie ist ganz und gar selbstbezüglich, selbstreferenziell, etwas fehlt ihr, ja sicher. Sie nimmt nicht teil. Stimmt das? Nein. Wenn sie teilnimmt, dann an allem und nichts. Aber wenn das so ist, ist sie dann nicht … die ideale Vorgesetzte? Rohrwasser scheint so zu denken, die ganze Gilde der jungen Kollegen, Nassen liegt ihr zu Füßen, er verehrt sie abgöttisch. Jedenfalls scheint es so oder er hat sich in die Ergebenheitsfalle gestürzt. Der freie Mann, der er eben noch war, hat sich aufgelöst, er ist verschwunden, keiner weiß zu sagen wohin. Heute ist er ein Paladin. Was ist ein Paladin? Ein Wächter ihrer Magnifizenz, ihrer Majestät, um die erste der von ihr vollzogenen Konversionen zu benennen: Magnifizenz zu Majestät – diese Person beherrscht die Zauberformeln wie einst Harry Potter, ihr literarischer Liebling, und zögert keine Sekunde, sie zu gebrauchen. Fehlt nur der Schlag mit dem Fächer. Aber den braucht sie nicht. Er wäre zu … direkt.

Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
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Sei nicht dürftig. So ein Fisch, aus dem Wasser gezogen, zum Vermessen aufgehängt, scheinbar aufgehängt an einer imaginären Waage, doch wenn man genauer hinschaut, kommt der Faden, an dem er hängt, aus einer Region jenseits des Bildraums herunter, also aus einer im Wortsinn unermesslichen Höhe. Er verschwindet im Maul des Fisches, als sei er schon immer darin verschwunden. Die Waage … was an diesem Gerät wäre geeignet, eine Fast-Person wie diesen Fisch – einen Stör vielleicht – zu wiegen? Was wird da gewogen? Zu leicht befunden? Aber vielleicht handelt es sich um keine Waage? Wo nichts gewogen wird, da ist eine Waage überflüssig, ja fehl am Platze. Diese hier … ein schlankes stählernes Instrument mit dem Charme einer Schublehre, dem Fisch zur Seite gestellt, als gehe es darum, das volle Maß seiner Unvermessenheit anzuzeigen, wirkt überzeugender als jede denkbare Funktion. Ihre Pleuel und Zahnräder, ihre Transmissionsriemen und Ausgleichsgewichte, ihre Kurbeln, Gelenke, Bügel und Muffen scheinen geheime Aufträge auszuführen, deren gemeinsamer Horizont im Geheimnisvollen verdämmert. Tatsächlich, als hätte der Künstler dergleichen geahnt und in einem Anfall von Besorgnis für den Fall, surrealer Machinationen verdächtigt zu werden, Vorsorge getroffen, lässt er den Faden, den feinen Fischfaden, auf dieser Seite des Bildes aus seinem Jenseits zurückkommen und, straff gespannt, auf eine Spule treffen, eine aus der Klasse der Spindelartigen, die suggeriert, hier werde irgendetwas gemessen, Druck oder Zug, wer weiß das schon genau. Vielleicht wäre es richtig zu sagen, hier werde Gewicht gesponnen, doch auch dieser Gedanke verläuft sich im Ungefähren. Schade, der Künstler hatte den Wurf gewissermaßen in der Hand und zerstört ihn durch Kleinlichkeit. Und siehe, gerade dadurch hält er der Gesellschaft den Spiegel vor, den guten alten Spiegel, in den keiner hineinschauen mag, weil alle wissen, was sie darin erwartet.

Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
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Die Vermessung des Mannes geschieht im Morgengrauen. Wenn der Tag beginnt, gilt jede seiner Handlungen als vermessen, das heißt, sie gilt nicht, denn Geltung, männliche Geltung, bedarf des freien Horizonts und dieser hier bleibt verhangen. Kein Frauengericht trat zusammen, um die Entmachtung des Mannes zu verfügen. Allenfalls tagt es in Permanenz und die Vielzahl an Urteilen, die aus seinen Verhandlungen den Weg in die Öffentlichkeit finden, lässt keine rechtlich gesicherte Vollstreckung zu. Andererseits tagt es, wie einst das Reichskammergericht zu Wetzlar, bereits zu lange, als dass sein Urteil ergebenst erwartet würde, geschweige denn mit Spannung, weshalb alle denkbaren Urteile im Volk kursieren, als seien sie bereits wirklich erlassen und eine feste Basis für alles Kommende. In Wahrheit herrscht Faustrecht im Lande, das Recht des Stärkeren, und stärker ist, wer sich ins Fäustchen lacht, während die Schwachen sich prügeln.

Fühlst du dich vermessen?

Das Gefühl, vermessen zu sein, gleicht dem Faden, nicht dem seidenen, der allzu leicht reißt, nicht der Seidenschnur, die chinesische Herrscher einst ihren in Ungnade gefallenen Lieblingen sandten, vielmehr jenem von ungefähr durch einen sinnreich im Kiemen verankerten Haken gestrafften, in einer nicht einzusehenden Höhe verschwindenden Faden der Fischerin Minerva, la grande Déesse, die außerhalb des Bildwerkes ihr Werk verrichtet. So ist es: Sie verrichtet ihr Werk. Inwieweit es ihr Werk ist, darüber gehen die Ansichten auseinander, weit auseinander, ohne den Hauch einer Chance, im heiteren Rätselraten wieder zusammenzukommen. Denn diese Diskussion darf nicht geführt werden, sie wäre – Ohren zu! – sexistisch. Dann wäre auch die Vermessung des Mannes sexistisch? Aber gewiss doch, es klingen die Ohren, es klappern die Sporen, zu den radikalen Asymmetrien des Lebens im Gender-Bann gehört, dass er, als sorgfältig angelegter und mit Bedacht gewarteter Regelkreis, den Vorwurf nur in einer Richtung passieren lässt.

Wozu die Apparatur?

Die Apparatur dient dazu, dir ins Gesicht zu lügen. Sei eine Sekunde lang nicht diskret und die Wahrheit des Satzes leuchtet dir unmittelbar ein. Die Apparatur besitzt keine Funktion, jedenfalls nicht die von ihr simulierte. Ein Simulacrum ist sie, ein Götzenbild. Nichts anderes und nichts weiter. Anders als suggeriert steht es auf keinem festen Grund. Es schwebt. Selbstverständlich schwebt es – im Bildraum, wo sonst? Wo sonst? Auch sie hängt an einem Faden, nicht dem des Fisch-Manns, wie suggeriert, schon gar nicht wiegt sie ihn oder wiegt sie ihn auf – wie suggeriert –, wohl aber am Schnürchen mit Sorgfalt gestreuter Anmutungen, und zwar ausschließlich, nicht ›irgendwie auch‹ und ›ein bisschen vielleicht‹, wie der leicht befriedigte Augenschein gern zu Protokoll gibt. Ja, es gibt einen Augenpakt, der den Verstand plättet, er liegt nicht im Bild, sondern in den Beziehungen, die es spinnt, es selbst ist nur der Augenverdreher und dazu braucht es nicht viel. Was liegt an Bildern? Viel. Nirgendwo gilt der Satz ›Masse ist Macht‹ mehr als hier. Wer immer Bilder nachschiebt, beherrscht die Denkfunktionen, ohne sie beherrschen zu müssen. Von Bildern erschlagen – heißt es nicht so?

Nimm dir eines vor und es richtet dich wieder auf.

 

Zur Herrin gehen

Frauenlob und -schimpf
1

Elisabeth hat dich rufen lassen. Das ist ein überraschend gutes Gefühl. Nicht, als hätte sie nach dir gerufen: das wäre ein anderes Gefühl. Aber so war es nie. Die Trennung von Leckebusch und der ›neue Job‹ – tatsächlich nennt sie ihr Rektorinnenamt so – haben eine neue Nähe geschaffen (ganz als sei die alte, verschattete, niemals Ausgespielte nun nach vorn getreten, nicht ganz nach vorn, in den Mittelgrund eher). Beim nächsten Gespräch kann das wieder vorbei sein.

  • Warum hat sie dich rufen lassen? Sie wollte ›dich sprechen‹. Da hätte ein Anruf genügt. Sie wollte dich sehen, kein Zweifel, und sie wollte dich ihre neue Macht spüren lassen. Besitzt sie jetzt mehr Macht über dich? Seltsame Frage. Du wusstest nicht, dass sie die ganze Zeit Macht über dich besaß. Eine Schande zweifellos, eine Schande. Jetzt weißt du es. Was auffällt: noch immer ist sie Frau Leckebusch, nur ein wenig kecker, als müsste sie das bitterheimliche Spiel auf die Spitze treiben – nun, nachdem alles vorbei ist. Da bist du ganz sicher: eine abfällige Bemerkung über ihn und sie fährt ihre Krallen aus. Leckebusch geht dich nichts an, das ist etwas anderes.
Frauenlob und -schimpf
2

Kein Wort über Guido. Personal existiert zwischen uns nicht, wenn es ernst wird. Du kommst dir vor wie Jünger, der zur Herzogin geht. Wie ernst ist das alles? Albern war sie dir lieber. Was nun? Wäre es an der Zeit, ein geheimes Tagebuch anzulegen: Die unterirdische Beziehung zu meiner Rektorin? Aus purer Neugier, bloß um zu sehen, was alles hineinpasst. Warum so aufgekratzt? Das ist nicht dein Stil. Seit wann machst du dir Gedanken über deinen Stil? Weil du Gefahr läufst, ihn zu verlieren. Demnach lautet die Frage: Brauchst du ihn? Wozu brauchst du ihn? Wirf ihn über Bord und sie hat dich in der Hand. Was dann?

Stil ist das, worauf der Mensch zurückkommt, sobald er Halt in sich selbst sucht. Nur ein Haltloser sucht Halt. Sie lässt dich haltlos erscheinen. Vor wem? Vor dir, Dummerchen. Auch diesmal bist du Bühne, Zuschauer und Schauspieler (oder solltest du sagen: Akteur?). Wo steckt sie? Hinter allem.

Geht doch (das mit dem Tagebuch). Schreibt sich ganz wie von selbst. Willst du, dass es geht? Willst du, dass es so geht? Falls nicht, sag Bescheid. Dann löschen wir alles. Wir beide, will ich sagen. Will sagen, kaum ergreift dich die Leidenschaft, blickst du dir über die Schulter. Blick zurück!

In unserer Kultur wird das Zurückblicken nicht geübt, es sei denn, man nähme das Leid für die Übung. Der Blick zurück (über die Schulter) ist der Blick des Gekränkten. (Es gibt auch die triumphale Variante, aber die ist gesperrt. Gilt als Ausweis niederer Gesinnung. Du kommst nirgends heraus aus den amoralischen Spielen der Gesinnung.)

Hast du gewusst, dass Elisabeth dir bevorsteht? Du hast es immer gewusst. Seit sie so vor dir stand, bist du dir nicht so sicher. Sie verunsichert dich. Sie zeigt dir eine Nähe, als handle es sich um einen langen dunklen Flur. Was du siehst, ist die Wand.
Vergiss das nicht.

Frauenlob und -schimpf
3

Die Spiele der Ebenbürtigkeit sind vertrackt. Hast du gewusst, dass Elisabeth dir immer ebenbürtig sein wollte? Welch ein Unsinn. Der Mann will der Frau gewachsen sein. Die Natur hilft nach, wenn es sein muss, ansonsten ist, was kommt, das Werk der Frau. Sie mussten die Frau zerstören, um diese Ebenbürtigkeit zu erlangen. Diese Ebenbürtigkeit hat einen Geburtsfehler.

Man kann das Geschlechterverhältnis abkoppeln vom Geschlecht. Was erhält man dann? Gute Frage. Was immer man will. Die Frage lautet also: Was will man? Der Feminismus sagt: In der Frage steckt schon der Mann. Jedenfalls behauptete er das eine Weile, heute behauptet er etwas anderes, das aber so ähnlich klingt. Der Feminismus will das Geschlechterverhältnis, bereinigt um das Geschlecht. Das Geschlecht ist der unsaubere Rest, der entsorgt werden muss. Dabei lebt er vom Geschlecht. Das klingt wie eine kapitalistische Parabel.

Geschlecht ist keine Gleichung. Aufrührer auf dem Papier behaupten, es sei das Element des Aufruhrs. Selbstverständlich ist auch das eine Gleichung. Das ›Geschlecht meiner Wahl‹ ist das andere. Man muss die Sprache verdrehen, um an die Gleichung zu kommen. Warum sollte man das tun? Offenbar, weil der Zwang, es besser zu machen, übermächtig geworden ist.

Eine Frau abbekommen, einen Mann –: warum so verächtlich? Und gleichzeitig so ehrfürchtig? Denn es ist und bleibt Ehrfurcht, die bei dieser Art von Sprüchen den Griffel führt. Ehrfurcht vor dem Geschlecht, dessen Götterspruch seine Tücken erst langsam enthüllt. Das einfache Denken spricht: Da ist es einfacher, sich an die Familie zu halten, die alles verfügt (und vermasselt) hat. Besser verkauft als verhext.

Wenn das einfache Denken sich kompliziert, bleibt es dennoch einfach. Was heißt das? Es nützt die Negation, um Profil zu gewinnen. Man kann auch sagen: Es profiliert sich durch Neinsagen. Das Neinsagen aber gehört – wem musst du das sagen? – zu den elementaren Äußerungsformen des Geschlechts, es etabliert das Element der Wahl, ohne das nichts läuft. Der sexuelle Aufbruch bleibt, wie immer die Sache gedreht wird, ambivalent. Das kann zu großer Erregung führen. Viele meinen, so zu denken sei zynisch. Andere argumentieren, es sei der Zynismus der Natur, der so zu denken zwinge. Man muss die Natur verlassen, um von Natur aus gut zu sein. Moralisten kennen die Zwickmühle von jeher, neueren Datums ist der Eingriff für jedermann. Seit auch dieser Rausch verflog, gilt der schonendste Eingriff wieder als Nonplusultra: Man macht sich und anderen etwas vor.

Woher die Wucht, mit der diese Sätze aus dir herauspurzeln?

 

Dürrobst ist unzufrieden

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
1

Das Interview hat sich nicht so entwickelt, wie er sich das vorgestellt hatte. Ja, es ist ihm entglitten. Ein selbstgefälliger Journalist hat ihn übertölpelt: ein Ausrutscher, keine Frage. Früher hätten die Kollegen gefeixt, diesmal umgibt ihn eisiges Schweigen. Selbst Ruffmann, der auswärtige, huschte eben im Foyer emissions- und geräuschfrei an ihm vorbei, gleich hinter Teuschner, der notorischen Null.

Als elitärer Bewohner der Pyramide achtet Dürrobst bei seinen spärlichen Auftritten in der Öffentlichkeit peinlich genau auf Fachgrenzen – in der Regel. Dürrobst zählt zu den Großen der Zunft (jedenfalls zählt er sich dazu), es schickt sich nicht, in den Vorgärten anderer Disziplinen zu wildern. Es untergräbt die notwendige Distanz. Ob eine physikalische Theorie in Fachkreisen als alternativlos gehandelt wird, geht, streng genommen, den Pädagogen nichts an. Wohl aber, wie sie gelehrt wird. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Es wurmt Dürrobst, wie hier ein bloßes Modell gelehrt, vor allem aber, Lehre hin, Lehre her, wie es allerorten lanciert wird: überheblich, unduldsam, eine Kapuzinerpredigt, die mit den Schrecken des Jüngsten Gerichts hausieren geht.

So jedenfalls will es ihm scheinen. Und nein, er steht, wenngleich auf verlorenem Posten, mit dieser Wahrnehmung nicht allein. So ihr nicht Buße tut, werdet ihr den Planeten zerstören. Redet Wissenschaft so mit ihrer Gefolgschaft? Worin denn sollte die Buße bestehen? Nichts leichter als das: darin, den Anweisungen der Wissenschaft Folge zu leisten. Ein Weltklimaziel ist vor allem ein Ziel, ein Weltziel, drunter macht sie es nun einmal nicht. Aber Wissenschaft gibt keine Anweisungen. Sie kann keine geben, ohne dass sie aufhört, eine zu sein. Wissenschaft beobachtet, stellt Hypothesen auf, ihre approbierten Verfahren heißen Beweis und Widerlegung … Seminarweisheit, bis zum Überdruss wiederholt, so dass er irgendwann anfing, Schabernack mit ihr zu treiben. Heute muss er sie sich selbst ins Gedächtnis rufen, immer und immer wieder, um dem Sog standzuhalten.

  • ―Wissenschaft, es wäre besser, Sie merkten es sich gleich jetzt, ist … stets auf dem Sprung nach einem neuen Beweis oder einer neuen Theorie, die den erkundeten Sachverhalt in ein anderes Licht tauchen und neue Perspektiven eröffnen, theoretische, praktische … technologische … letztere überlässt sie mit Freuden den fleißigen Entwicklern in ihren Labors. Wie wir alle vermuten, besteht deren Aufgabe in der Übertragung abstrakter Hypothesen auf das Reich des Machbaren, vulgo Technik: Mal sehen, ob’s funktioniert. Haben Sie das notiert? Nichts, merken Sie sich das für Ihren Alltag als Lehrende, nichts ist so fließend wie eine Theorie, selbst die unumstößlichsten unter ihnen offenbaren, sobald die Zeit reif ist, überraschende Defizite und stehen danach anders da. Aber, werden Sie vielleicht einwenden, wenn es doch funktioniert? Ist das kein Beweis? Gewiss, das ist ein Beweis. Fragt sich nur wofür. Ein Grund dafür, dass etwas funktioniert, findet sich immer. Daneben haben wir Bereiche, in denen ist so ein Beweis einfach nicht zu führen, obwohl sie als ausgesprochen praxisrelevant gelten.

Diese Klimaforschung … ist sie überhaupt eine Disziplin? Sicher, unter dem Dach der Pyramide existiert ein Fach namens Klimatologie…

Doch Dürrobst weiß, wer alles sich mittlerweile als Klimaforscher versteht, darunter etliche Pädagogen, ihm schwillt der Kamm, wenn er in ihren Aufsätzen blättert. Sie bleiben Vermittlungsspezialisten, auch wenn sie sich in die Aura von Wissenden kleiden, dabei sind sie nur Überzeugte. Was hat sie überzeugt? Wer hat sie überzeugt?

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
2

  • ―Da fragen Sie, lacht Tronka, er lacht ihm mitten ins Gesicht, was Dürrobst als ungehörig empfindet, wissen Sie, was es heißt, sich als Wattforscher durchs Leben zu schlagen? Nein, ich sehe es an Ihrem Gesicht, Sie wissen es nicht. Als Wattforscher sind Sie ein ganz kleines Licht. Und, was erschwerend hinzukommt: Sie haben Lebenslänglich. Sie sitzen irgendwo in der Provinz, dort, wo sie am flachsten ist, praktisch schon hinterm Deich, und kommen nicht weg. Wenn dann der Herrgott Ihnen ein Licht aufsteckt, sowas soll ja vorkommen, dann gehen Sie ab wie eine Rakete. Versuchen Sie so einen zu bremsen, versuchen Sie’s nur! Sie werden scheitern. Und jetzt stellen Sie sich die vielen kleinen Fachkollegen draußen im Lande vor, ich will ja Ihrem Fach nicht zu nahe treten, das gilt schließlich für alle Fächer, aber die gefährdetsten sind natürlich diejenigen, die … sagen wir … im Wahrnehmungsschatten der Öffentlichkeit dümpeln, stellen sie sich so jemanden vor, dem im Zuge seiner Recherchen plötzlich der Messias begegnet. Ja, er begegnet ihm wirklich. Er verfügt über eine Lehre, er besitzt eine Überzeugung, er brennt. Die Fähigkeit Proselyten zu machen hat er bereits unter Beweis gestellt, ein Kranz von Jüngern hat sich um ihn geschart… Was haben Sie denn?

Nichts hat Dürrobst, was sollte er haben? Er mag Tronka nicht, er hat diesen Typ nicht gemocht, seit er das erste Mal den Fuß über die Schwelle der Pyramide setzte. Auch wenn er es nie zugeben würde: rein physisch ist ihm Tronka zuwider – das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Er stellt sich die Füße des anderen vor – ein probates Mittel, seinen Reden zu trotzen – und er ist sich sicher, dass er Schweißfüße besitzt, bleiche, von bläulichen Kapillargefäßen gefärbte Watschelfüße, obwohl er Tronka nie hat watscheln sehen, aber in diesem Fall ist die Anmutung stärker als alle Wahrnehmung.

  • ―Watt sagten Sie… murmelt er und verstummt.

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Tronkas Beziehung zum Schwachsinn – ein weites Feld, ein zu weites vielleicht … du solltest darauf zurückkommen, betrachte dies als Merkzeichen.
Tronka, der ein Lied davon zu singen weiß, wie Ablehnung schmeckt, rein physisch, der darüber zum Spezialisten für alles geworden ist, was in der Luft liegt, stellt sich Dürrobst Abneigung gegenüber taub, er hat mit ihr nichts zu schaffen. Warum sich anziehen, was in keiner Beziehung zum eigenen Inneren steht? Dort ist Dürrobst ein Wicht, ein Pfeifenmännlein, ein Niemand, ein langsam erkaltendes Relikt aus einer Geistes-Epoche, die er als ›Herrschaft des akademischen Schwachsinns‹ zu den Akten gelegt hat und an die er nicht mehr zu rühren gedenkt. Auf dieser Grundlage empfindet er fast so etwas wie Sympathie für ihn, vermutlich, weil Dürrobst sich zum ersten Mal in seinem Leben gegen etwas gestellt hat, das mächtiger ist als er und ihn, sofern er nicht aufpasst, wie eine Mücke zerquetschen wird.

Dürrobst, der gegen die Empfindung des Alters angeht, indem er es zelebriert, als handle es sich um ein besonders prestigeträchtiges Pfeifenkraut, ist taub gegen Tronkas überragende Intelligenz. Nichts hat sich daran während all der Jahre geändert, die sie sich nunmehr kennen. Es hätte sich auch nichts ändern können, da diese Taubheit nicht speziell gegen Tronka geht und auf Uninformiertheit beruht, sondern darauf, dass er nie gelernt hat, die Zeichen der Intelligenz zu lesen. Für den Pädagogik-Dozenten ist Tronka eine bizarre Gestalt aus der Mottenkiste des ›Ancien regime‹: ein Passepartout für alles, was vor den Schlüsselereignissen seiner akademischen Anfänge Anspruch auf Rang und Namen erhob (wenn man davon absieht, dass er sich heute noch an denen abarbeitet, die damit Erfolg hatten).

Dahinter steckt eine private, nie ausgearbeitete, aber im Bewusstsein außerordentlich rege Typologie: in seiner Sturm- und Drangperiode hätte Dürrobst einen wie Tronka als ›reaktionären Wichser‹ bezeichnet, ungeachtet der Tatsache, dass Tronka jahrelang, eigener Auskunft zufolge, radikal-egalitären Parolen anhing und Dürrobst in all den Jahren nichts, rein gar nichts über seine sexuellen Aktivitäten zu Ohren gekommen ist. Der ›reaktionäre Wichser‹ vereinigt in sich die bourgeoise Eigenschaft der Verklemmtheit (und damit der Anfälligkeit für Neurosen aller Art) mit der supponierten Überheblichkeit einer Klasse, die immer und überall Bescheid zu wissen beansprucht, nicht zuletzt über die heiklen begrifflich-moralischen Grundlagen der ›Revolte‹ – die übliche Skala eben. Zwar ist der Ausdruck aus den ›Diskursen‹ verschwunden, aber das Feindbild hat sich eingebrannt und steht jederzeit zum Abruf bereit: ›rein physiognomisch‹, wie Kärich jetzt sagen würde. Zwischen Kärich und Tronka, diesen einander so ähnlichen Charakteren, waltet in Dürrobsts Pandämonium ein dunkler, nicht zu klärender Unterschied und er würde keine Bedenken tragen, sich immer und überall auf Kärichs Seite zu schlagen. Doch diesmal ist Kärich nicht gefragt.

Rein beruflich benötigt Dürrobst das Gefühl, sich unter seinesgleichen zu bewegen – nur dann gelingt es ihm, die großen Differenzen aufzumachen und damit zu punkten. Einer wie Tronka zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Zumindest, so sein Argwohn, versucht er es, und Dürrobst, wie jeder gestandene Seemann, reagiert darauf breitbeinig: er vergrößert die von ihm eingenommene Standfläche.

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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In ihm arbeitet es. Und wie!
  • ―Sie leugnen den Treibhauseffekt nicht?
  • ―Ich? Wie kommen Sie denn darauf. Es gibt Physiker, die ihn leugnen. Bin ich Physiker?

Nein, er ist kein Physiker. Was dann? Pädagoge? Geschenkt. Informierter Zeitgenosse? Soll heißen: abgefüllt mit heißer Luft? Auf diesen Titel kann er gerne verzichten. Wissenschaft ist ein Heißluftballon. Wer keine heiße Luft produziert, der bleibt unten. Er ›versucht, den Kollegen ein Stückweit zu folgen.‹ So kann man es sagen und es folgt daraus: nichts. Kein Außenstehender kann dem Kampf der Argumente vorgreifen, als fände sich die Lösung in seiner eigenen Tasche. Gern würde Dürrobst Schiedsrichter spielen und bei Foulspiel abpfeifen, aber er weiß, dass auch diese Rolle nicht zu vergeben ist, es sei denn, einer nimmt sie sich und stürmt mit dem Ball davon. Wissenschaft hat immer mehrere Bälle im Spiel. Der Verlust eines einzelnen kümmert sie nicht. Das wissen auch die Spezialisten für heiße Luft, die nur aufsteigen wollen, egal wohin – im Himmel der Aufschneider und Schwadroneure sind immer noch Plätze frei. Je mehr sich dort drängeln, desto mehr finden Platz. Das liegt daran, dass man sie nur aufblitzen sieht, sonst nichts… Diese Figur, wer war das? Sind die Ergebnisse neu? Sind sie valide? Wurden sie bereits widerlegt? Besitzen sie den Stellenwert, den der da für sie beansprucht? ›Der da‹ ist eine Frau: da wird das Urteil schwierig, denn es ist mehrfach gezinkt. Hat sie geforscht? Oder ist sie ein Sprachrohr? Sie schieben Frauen nach vorn, um ihre Ergebnisse unangreifbar zu machen. Funktioniert das? Im Angesicht der Medien: ja. Hintenherum geht alles seinen Gang, solange die Gelder fließen.

Es soll Länder geben, da halten Industrielle und Spekulanten sich Forschungsteams wie andere Leute Fußballmannschaften. Dann tritt das ›Team Newtrich‹ gegen das ›Team Eriwan‹ an: Mal sehen, wer gewinnt. Wer wird schon gewinnen? Wer die meiste Kohle einsetzt, aber man kann sich täuschen. Ein falscher Einkauf und die Saison ist gelaufen. Auch die Pyramide ist keineswegs sakrosankt. Der milde Blick der Regierung ist unerlässlich. Fließen die Mittel, fließen die Ergebnisse. Wer einsetzt, bekommt heraus. Wer, auf der anderen Seite der Schranke, aufbricht, die Welt zu verändern, lernt rasch die Abgesandten der Götter kennen, die ihre Geschicke lenken (oder er tappt lebenslänglich im Dunkeln).

Bei sich, ganz bei sich, ohne störenden Interviewer und Tronkas
magische Einflüsterung, hat Dürrobst freie Bahn
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
5
  • ―Lassen wir die Winde Winde sein und den natürlichen Treibhauseffekt seine Wirkung tun. Treibhauseffekte gibt es, wie bekannt, nicht nur in der Natur und der ihr in Treue fest ergebenen Klimawissenschaft, sondern auch in den menschengemachten Klimaten der Hysterie und der Ideologieproduktion, in denen eine ebenso treu ergebene Dienerschaft tagtäglich Wissen zu Klicks und Phrasen verarbeitet, um daraus Profit und Macht zu generieren, gelegentlich auch Macht und Profit, je nach Windrichtung und -stärke, denn den reinen Übergang von Wissen und Wissenschaft in Zukunftsplanung und Politik, den gibt es nicht, den kann und darf es nicht geben, weil wissenschaftliche Aussagen wesentlich schwerer wiegen (und zu knacken sind) als publizistische Verlautbarungen, daher, angesichts ihres äußerst geringen Anteils am Gesamtvolumen menschlicher Rede, unweigerlich zu Boden sinken würden, kämen ihnen nicht die Winde zur Hilfe, so dass sie zirkulieren müssen, Betonung auf ›müssen‹, denn um den ihnen zugehörigen Platz im Universum des menschlichen Denkens einzunehmen und, sagen wir, feste Strukturen auszubilden, Verknöcherungen, Korallenbänke oder dergleichen, fehlt ihnen – Sie werden lachen – der Grund. Warum Grund, werden Sie fragen, haben wir nicht den Boden der Tatsachen? Hat Wissenschaft nicht Grund genug, sich an die Tatsachen zu halten? An nichts als die Tatsachen, um die alte Bekräftigungsformel zu bemühen? Liegt darin nicht sogar ihre Begründung? Bevor ich antworte, sollte ich Sie auf die Hohlheit der Phrasen aufmerksam machen, die Sie da über mich ausgeleert haben, es klang, als seien Sie einem Grundkursus für fact checkers entsprungen: Sitzen Sie ein, sitzen Sie ein! Die Winde, von denen ich rede, berühren sich nicht mit der Welt der Fakten, an keiner Stelle, es sei denn, man betrachtet Macht und Geld in ihrer unlösbaren Verbundenheit als das factum brutum, was in diesem Fall keinen rechten Sinn ergibt, weil das Duo mit jeder Art von Aussage blendend zurechtkommt – vielleicht auch nicht, darüber müsste einmal Rechenschaft abgelegt werden. Eine Tatsache, wissen Sie, eine Tatsache – Sie merken, wie es um die Mundwinkel zuckt –, eine Tat-Sache, in der Tat, es bedarf der Tat, des wissenschaftlichen Täterätä, um an die Sache zu kommen, aber das ist immer noch nur die Hälfte der Wahrheit, es bedarf auch der gemeinsamen Sache, um Taten zu … wissen Sie, wir benutzen dafür das schöne Kunstwort ›generieren‹, man will schließlich etwas herausbekommen, der eine wie der andere, vielleicht auch der Dritte, der Geldgeber, ganz gewiss will er, dass etwas herauskommt, vielleicht auch nichts, auch das kann im entschiedenen Willen dessen liegen, der da gibt, jedenfalls erweist sich, wie überall im Leben, Motivation als der entscheidende Faktor, und der motivierende Faktor im Leben des modernen Wissenschaftlers ist nun einmal der Ehrgeiz, es weit zu bringen oder wenigstens dabei zu sein, ja, sie wollen dabei sein, sie wollen nicht abseits stehen müssen, das wäre das Schlimmste. Also bohren Sie ein Loch in die wunderschöne Welt der Wissenschaft! Schaffen Sie ein Abseits, einen leise von diesem Loch ausgehenden Sog, und Sie können zusehen, wie alle sich ängstlich am entgegengesetzten Ende drängen, ganz als gäbe es dort etwas umsonst, was definitiv nicht der Fall ist, die Nieten pushen das Fach in die als angesagt geltende Richtung, die Breite des Raumes aber, die Mitte, in der am meisten zu holen wäre, weil dort die verschiedensten Motive zusammentreffen, Forschungsmotive, gewiss, aber es gibt auch andere, – sie präsentiert sich mit einem Mal als verdünnte Zone, von ein paar Mutigen durchquert, die sich mehr mit dem Misstrauen ihrer Zunftgenossen herumschlagen müssen als mit ihren berühmten Forschungsfragen und deshalb weit länger brauchen und weniger Ergebnisse einfahren, als es unter normalen Umständen der Fall sein müsste. Sie verstehen? Nein? Bahnhof? Auch gut. Das war’s, was ich Ihnen … und tschüss!
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Ist es mutig, so zu denken? Es ist ein wenig … redundant, denn wenn alle so denken, wie er es ihnen unterstellt, dann liegt es bereits in jedermanns Gedanken und er kann sich seine Ausführungen auch schenken. Tronka, der Hassmund, spuckt es ihm ins Gesicht:

  • ―So tief hängen die Trauben nicht, Kollege Dürrobst, ein bisschen mehr strecken muss man sich in unserem Beruf schon.

In unserem Beruf? Wovon redet der Mann? Nichts anderes hat die Philosophie, seit es sie gibt, getan: bewusst machen, die Blindheit der Prozesse durchkreuzen, an allererster Stelle der Denkprozesse, darüber mag man streiten, darüber muss gestritten werden, aber es kann nun einmal kein Zweifel darüber bestehen… Worüber? Es kann nun einmal kein Zweifel darüber bestehen, dass unser Denken nicht autonom ist, dass es gesteuert wird, die moderne Gehirnforschung hat das ihre dazu beigetragen, dass keiner hinter diese Einsicht zurückkann, aber was ist Forschung nun einmal, wenn nicht Denken, angewandtes Denken, gewiss, aber eben doch Denken, nimm die Gedanken heraus und… Was daran soll unterbestimmt sein, Herr Kollege? Sagen Sie’s mir. Nein, sagen Sie’s nicht. Nein, reden wir nicht mehr darüber. Ich kann mich über die Angepassten nicht echauffieren, wenn ich weiß, dass Anpassung das allgemeine Gesetz ist und alle das wissen. Muss ich sie deshalb leugnen? Das wäre widersinnig.

Ein Loch in der Wissenschaft … wie komme ich auf dieses Bild? Hat es jemand hineingebohrt? Der große Unbekannte? Das Kapital? Die Macht? Nur ein Bild … gewiss. First things first. Die Freiheit der Wissenschaft geht allem vor. Also reicht es, die Wissenschaft zu reglementieren, die fetten Forschungsaufträge zu monopolisieren, die Wertigkeiten zu verschieben, die Lehrstühle an den Einsatz von Drittmitteln zu knebeln, dabei die Gehälter ein wenig zu senken oder, bleiben wir vorsichtig, auf der allgemeinen Skala der Einkommen nach unten zu korrigieren, und schon sehen wir andere Gesichter auftauchen, Menschen, denen man ein paar Jahre früher jede wissenschaftliche Motiviation abgesprochen hätte, was ja auch stimmt, nein, was stimmen würde, handelte es sich immer noch um dieselbe Wissenschaft. Das gerade, das … steht doch in Frage. Ein paar Minister treffen sich, sagen wir, in Siena, es könnte aber auch Nizza oder Palermo oder Bologna sein, klangvolle Namen, und sie machen Politik in den Wolken, indem sie beschließen, die Wissenschaft ihrer Länder zu bündeln … zu bündeln, darin liegt der Trick, darin liegt der Sündenfall, wollt ihr die totale Wissenschaft, nein? Ein bisschen krass formuliert, aber im Grunde –

Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Davon weiß Tronka nichts. In Tronkas Universum ist der Wissenschaftsbetrieb korrupt und die Wissenschaft sakrosankt. Wie er das hinbekommt, weiß nur er. Doch er weiß es von Grund auf. Vergessen Sie’s, würde er Dürrobst die Leviten lesen, wüsste er, was sich in dessen Gemüt zusammenbraut, diese Klimaleute sind ausgebuffte Naturwissenschaftler, die ihr Handwerk verstehen, da bekommen Sie keinen Stich. Was juckt Sie das Klima? Genießen Sie Ihre Pension, genießen Sie Ihre Reputation, die eine oder andere Tagung werden Sie doch noch beehren. Es soll ja wärmer werden hierzulande, stört Sie der Gedanke? Warum eigentlich? Ich denke, im Alter hat man’s gern warm. Ja wirklich, lassen Sie die Erregungen an sich abtropfen, wer stört sich an öffentlichen Erregungen? Die Klimasteuer kommt oder nicht, man kann schließlich auch den Genuss von Rindfleisch besteuern, wäre Ihnen das angenehmer?

Tronka glaubt nicht an die Apokalypse. In diesem Genre arbeiten andere, seine Expertise ist da nicht gefragt.

  • ―Wissen Sie eigentlich, wie viele Zeitgenossen Tag für Tag den Weltuntergang bis ins kleinste Detail auspinseln, fragt er Pw, der ihm in diesen Angelegenheiten nicht von der Seite weicht. Die beiden telefonieren in diesen Wochen fast täglich.
  • ―Gut, das sind Spinner. Aber seriöse Wissenschaft –? ätzt Pw mit scheinempörter Stimme zurück.
  • ―Wo wollen Sie die Grenze da ziehen? Das interessiert mich jetzt aufrichtig.

Da staunt Pw.

  • ―Aber Sie selbst haben doch –
  • Was sollte ich? Da haben Sie etwas gründlich missverstanden.
  • ―Also jetzt mal Butter bei die Fische. Falls ich Sie recht verstanden habe, hat es keinen Zweck, die Klimaforschung in Frage zu stellen, weil nur sie die relevanten Fragen kennt und beantworten kann. Im consensus omnium der führenden Forscher spiegelt sich also nichts weiter als der Stand der Forschung. Liege ich da richtig?
  • ―Bis jetzt: ja. Aber passen Sie auf.
  • ―Ich hoffe, ich habe aufgepasst.
  • ―Da bin ich dann mal gespannt.

DAS BLAUE BUCH

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Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern

C. Himmelschick im Gespräch mit Prof. Dr. Günter Dürrobst

DBB: Sie sind Erziehungswissenschaftler. Was weiß Ihr Fach über CO2?
DÜRROBST: Was alle wissen. Kohlendioxid ist ein natürliches, geruch- und farbloses Gas – CO2 –, bestehend aus einem Kohlenstoff- und zwei Sauerstoffatomen. Sein gegenwärtiger Anteil an der Atmosphäre beträgt circa vierhundert ppm, also nullkommanullnullvier Prozent.
DBB: Das klingt fast wie ein Vorwurf. Sind Sie Klimaleugner?
DÜRROBST: Sehen Sie, genau das leugne ich.
DBB: Sie erkennen an, dass der Mensch ein CO2-Problem hat?
DÜRROBST: Der genaue Anteil des anthropogenen, also von Menschen erzeugten CO2 an der atmosphärischen Konzentration ist unbekannt. Das ist ein CO2-Problem.
DBB: Aber es gibt Schätzungen?
DÜRROBST: Die Schätzungen liegen zwischen einskommazwei und vier Prozent des atmosphärischen CO2-Gesamtvolumens. Das mag morgen schon wieder anders sein, aber das ist der Stand.
DBB: Ich verstehe nicht ganz. Worin liegt dann das Problem?
DÜRROBST: Das Problem? Sie gefallen mir. Erst einmal weiß niemand so genau, wieviel davon in der Atmosphäre verbleibt.
DBB: Erscheint Ihnen das wichtig?
DÜRROBST: Auf welcher Basis reden wir? Von welchen Fakten reden wir? Worüber spekulieren wir? Welche Unsicherheiten nehmen wir in Kauf? In welchen Bandbreiten bewegen wir uns? Welche Effekte addieren sich, multiplizieren sich, heben sich gegenseitig auf? Sind alle in Betracht kommenden Wirkungen untersucht? Alle Wechselwirkungen? Überall? Bis zu welcher Höhe? Mit welchen Mitteln? Welche Messeffekte sind zu bedenken? Was bewirken sie? Was messen wir? Wo messen wir? Sind wir auf der richtigen Spur? Wie viele Klimamodelle sind denkbar? Wie viele wurden bisher entworfen, verworfen, sauber durchdacht, mit den nötigen Daten gefüttert? Was daran ist Design? Was heißt es theoretisch, wenn man mehrere zur Verfügung hat und mit dem Durchschnitt weiterrechnet?
DBB: Wissen Sie’s?
DÜRROBST: Nein. Wissen Sie’s? Aber Ihre Zeitschrift weiß es. Deshalb sitzen wir hier und führen dieses Gespräch. Nein, ich weiß es nicht. Eines allerdings weiß ich ziemlich genau. Bevor diese Art Forschung in Gang kommt, braucht man Geld, sehr viel Geld. Da kann es durchaus vorkommen, dass man erst einmal Alarm schlägt und dann untersucht, was dran ist an der Sache. Das geschieht alle Tage und es ist ganz normal.
DBB: Um aufs CO2 zurückzukommen…
DÜRROBST: Etwas ist sicher: Mensch und Tier atmen es aus, Böden und Meere lagern es ein und Pflanzen verwenden es im Rahmen der Photosynthese, um Kohlenhydrate zu erzeugen, die wiederum eifrig von Mensch und Tier einverleibt werden, um als Organismen zu überleben … siehe oben. Die Lösung des CO2-Problems, wie Sie sich ausdrücken, heißt durchatmen.
DBB: Die Wissenschaft sieht das anders.
DÜRROBST: Wissen Sie, mit wieviel Augen die Wissenschaft sieht? Glauben Sie im Ernst, die sehen alle dasselbe? Aber selbst angenommen, alle sähen dasselbe: Glauben Sie denn, die alle würden es auf dieselbe Weise interpretieren? Wenn Sie das glauben, dann verstehen Sie nichts von Wissenschaft. Meine Augen mögen alt geworden sein, aber noch gehören sie dazu.
DBB: Was sehen Sie?
DÜRROBST: Was ich sehe? Ach wissen Sie… Kohlendioxid, von Puristen Kohlenstoffdioxid genannt, ist einfach ein Bestandteil der Luft, die wir ein- und ausatmen. Wir können das Atmen auch lassen, dann ist es immer noch da.
DBB: Bestreitet das jemand?
DÜRROBST: Es ist ein Teil des Lebenszyklus, jedenfalls auf chemischer Ebene. Jeder, der, auf den Spuren einiger Witzbolde wandelnd, es als giftige Schwaden aus den Kaminen auffahren und als gewaltige, über die Erde gelagerte Schmutzwolke das reine, saubere und patentiert klimaneutrale Sonnenlicht verdunkeln sieht, sollte das wissen.
DBB: Wollen Sie provozieren?
DÜRROBST: Ich fühle mich provoziert.
DBB: Durch wen?
DÜRROBST: Durch Menschen, durch Fakten. Praktisch durch alles. Das Spurengas CO2 ist anderthalb mal so schwer wie Luft, damit wesentlich schwerer als Stickstoff und Sauerstoff, aus denen sie hauptsächlich besteht. Was folgt daraus? Sagen Sie’s mir!
DBB: Sagen Sie’s mir.
DÜRROBST: Daraus folgt, dass es sich in Bodennähe sammelt, jedenfalls sammeln würde, wäre die Luft, nun ja, ein ruhendes System.
DBB: Was sie nicht ist.
DÜRROBST: Was sie nicht ist. Ich lese Ihnen jetzt mal was vor. »Es ist wie überall in der Atmosphäre: die Winde reißen es mit, sie tranportieren es überallhin, in die Höhe, in die Weite, im Prinzip verteilen sie es über die gesamte Erdkugel. Luft ist überall Luft, darauf können Sie wetten. Wenn Sie warten wollen, bis sie sich irgendwo entmischt: Bitte sehr! Da steht der Gartenstuhl. Das Warten wird Ihnen nichts nützen, alles verwirbelt sich immer und überall, Sie können irgendwo CO2 in die Luft blasen, dann finden Sie da eine kurzfristig erhöhte Konzentration, aber im Ganzen gleicht es sich aus…« Das sagt einer der von Ihnen geschätzten Gurus, aber es ist, sagen wir, eine falsche Fährte.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Führen Sie sich eine Weltkarte zu, auf der die verschiedenen CO2-Konzentrationen verzeichnet sind. Ja, sowas gibt’s. Sie werden sich wundern. Kleiner Tipp: die höchsten Konzentrationen erwarten Sie nicht in Nord-, sondern in Südeuropa. Dann rund um das Kaspische Meer und über dem Atlantik, wenn wir den Westen Nordamerikas einmal etwas vernachlässigen.
Fragen Sie mich nicht, warum das so ist. Physikalisch gesehen mag das trivialer Stoff sein. Aber ich finde es überaus bemerkenswert. Ich bin kein Physiker, mich fasziniert die Wissbarkeit der Welt.
Und dann der Kontrast: Fragen Sie mal ihre Kollegen. Die meisten von denen glauben doch, dass das Zeug sich irgendwo im oberen Luftraum sammelt, selbstverständlich weltweit. Sie haben die vage Vorstellung, dass es dort die Atmosphäre abschirmt, so dass nicht genug Wärme in den Weltraum entweichen kann.
Völliger Blödsinn! Wie gesagt, manche fangen schon an es zu sehen. Es ist nicht zu fassen. Die Winde sind’s. Wohin tragen sie das Zeug? Wie hoch tragen sie das Zeug? Was geschieht dort oben? Ich weiß es nicht. Wissen Sie’s? Sagen Sie’s mir.
DBB: Sie lieben die Flaute?
DÜRROBST: Ich? Nein. Ich persönlich habe immer gewollt, dass es hoch hergeht. Das können Sie mir glauben.
DBB: Sie warnen vor der CO2-Steuer?
DÜRROBST: Sehen Sie, da kommen wir auf den Punkt. Diese Sache ist ganz und gar nicht trivial. Wenn Sie auf tausend Leute zwanzig Personen bekommen, erfahrungsgemäß überwiegend junge Leute, die glauben, sie müssten sich beim Atmen einschränken, um ihr Kohlendioxid-Budget nicht überzustrapazieren, und rechnen die Zahl auf die Bevölkerung dieses Landes oder Europas hoch, dann laufen wir mit Sicherheit in ein gewaltiges Problem. Denn diese Leute werden körperliche Funktionsstörungen bekommen. Davon können Sie ausgehen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dann müssen noch achtzehn von diesen zwanzig Schuldkomplexe entwickeln, weil sie es nicht schaffen sich einzuschränken und daher fürchten, an der Erde oder an der Schöpfung schuldig zu werden. Wissen Sie, was das bedeutet?
Das bedeutet, summa summarum, Sie finden praktisch über Nacht eine ganz andere Bevölkerung vor. Das reicht dann bis ins Politische. Die Rede von der Klimakirche ist ja kein leerer Wahn, die Warnung ist vollkommen berechtigt.
DBB: Was befürchten Sie?
DÜRROBST: Zunächst einmal fürchte ich um die Gesundheit der Leute, rein physisch. Dann aber natürlich auch um ihre geistige Gesundheit und um die der Gesellschaft, in einem solchen Fall lässt sich das gar nicht trennen.
DBB: Was schlagen Sie vor?
DÜRROBST: Was ich vorschlage? Die Politik soll die Finger vom Klima lassen. Das ist eine Nummer zu groß für sie.
DBB: Forschen Sie noch oder genießen Sie Ihren Ruhestand?

 

Anmerkung: Das Rektorat der Pyramide legt Wert auf die Feststellung, dass Prof. a.D. Dürrobst in diesem Gespräch nicht die wissenschaftlichen Auffassungen der Pyramide vertritt. Es handelt sich vielmehr um eine Privatmeinung, die in keinem Zusammenhang mit den Forschungen der mit diesen Fragen seit Jahren befassten Kollegen steht.

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Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich danke für die mir zugedachte Ehre und reiche sie hiermit an die Verleiher zurück.

Gäa die große Schlampe bereitet dem Hornissengeschlecht ein jähes Ende ein Heer von Arbeitsbienen überzieht den gefurchten Kontinent die Blase des Alls starr furchtsam unerbittlich fortschreitend
1028 EIN IRISCHER MÖNCH BERECHNET ERSTMALS DAS MENSCHLICHE ATEMZUGVOLUMEN an einem Geheimort im Herzen Burgunds treffen sich Militärs Baumeister Steuerfachleute Ziel Unterwerfung des Nordens unter ein neues System Choräle brausen in dunklen Gemäuern schwitzende Mönche entführen ein atemberaubend schönes Mädchen nahe Cherbourg und werfen es in den Atlantik diese Festung des Ungewissen die allen Attacken der braunen blauen und schwarzen Kutten trotzt aber zu schwächeln beginnt
1140 ERFINDET SUGER DIE GOTIK HOHE LICHTE RÄUME WERDEN ERBAUT UM ATEMLUFT FÜR GRÖSSERE MENSCHENANSAMMLUNGEN BEREITZUSTELLEN die Menschen kommen in Massen die Bessergestellten auf Ochsenkarren zu schauen die gläsernen Wunder Blei Zinn Cadmium werden gebunkert überall in Europa steigt der Preis für Naturstein Alkohol fließt in Strömen die Altstadt von Basel erhält ein goldenes Pflaster in Lorsch wachsen mannshohe Königskerzen der Rheingraben füllt sich mit warmer Pisse ein Jahrhundert soll das so weitergehen doch
1163 BEGINNT DIE ARBEIT AN NOTRE DAME DE PARIS kommandiert von Maurice de Sully und Ludwig VII sowie den späteren Baumeistern Jean de Chelles Pierre de Montreuil Pierre de Chelles Jean Ravy Jean le Bouteiller Raymond du Temple nicht jeden Namen behält die Geschichte Nachfolgebauten schießen wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden der Städte Bauholz ist kostbar Europa wird Steinbruch Knappheit an Arbeitskraft treibt die Löhne Alteuropas Heiratsmodell erleidet den ersten Schwächeanfall Weihwasser und Ehering sollen das Schlimmste verhüten apropos Verhüten währenddessen wächst die BESORGNIS ÜBER DEN WELTWEITEN SCHWUND AN ATEMBARER LUFT bis anno
1232 DIE ERSTE KLIMASEKTE zu Bremen gegen den Widerstand der Pfeffersäcke aus der Taufe gehoben wird Handelseinbrüche bleiben nicht aus für die Dauer eines Dezenniums mausert sich Bremen der Not gehorchend zum führenden Technologiestandort nördlich der Weser mit beachtlicher Strahlkraft auch auf die unteren Stände bis
1248 KÖLN MIT DEM BAU EINER VOLLKLIMAKIRCHE BEGINNT die anfallenden Berechnungen geraten so umfassend dass überschattet von Hitlers Unternehmen Barbarossa sie erst 1941 zum Abschluss gelangen dem Jahr in dem ein Berliner Ingenieur genannt Konrad Zuse den Computer erfindet das Basiswerkzeug aller seitherigen Klimaforschung auch das ein Wunder aber ein blaues
1284 EINSTURZ DER KATHEDRALE VON BEAUVAIS die Glocken der Christenheit läuten Sturm auf dem Vorplatz verbrennen sie Ketzer im Stundentakt bis das Desaster ideologisch verdaut ist und dem Verlangen des Pöbels nach Gerechtigkeit Genüge getan der Papst organisiert Kreuzzüge ins Heilige Land La Douce France ein Heerlager Deutschland schickt Helfer Italien Legaten
1285 POSTULIEREN FORSCHER DER NEUGEGRÜNDETEN UNIVERSITÄT PISA EINEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DEM LUFTVERBRAUCH GOTISCHER KATHEDRALEN UND ZUNEHMENDER EINSTURZGEFAHR DURCH UNKONTROLLIERT AUSBRECHENDE BRÄNDE Massenmailer und Schöngeist Petrarca schleudert ciceronianische Brandfackeln gegen den barbarischen Stil aus dem Norden doch dessen Kathedralen erweisen sich als beständig wie ihre Erbauer vorausgesagt der Glöckner von Notre Dame unterschreibt seinen Arbeitsvertrag klettert verfolgt vom Hassgeheul der Sektierer die den sofortigen Abriss fordern hinauf in die Turmspitze um sein erstes Frühstücksbrot voll Hochgefühl zu verspeisen dann dämmert das Jahr
1386 NACH LANGWIERIGEN STUDIEN ZUR ERWÄRMUNG DER LUFT AN DEN HAUPTORTEN DER CHRISTENHEIT STELLEN FORSCHER DER UNIVERSITÄT OXFORD DAS ERSTE ALLGEMEINE KLIMAMODELL VOR unmittelbare Auswirkungen keine aber die moderne Öffentlichkeit ist geboren REGE SEKTENTÄTIGKEIT IM GESAMTEN CHRISTLICHEN RAUM umfassende Bilanzierung/Überarbeitung der bestehenden Sexualpraktiken koordiniert an eigens dafür eingerichteten Stabsstellen Brüsseler Stäbe erweisen sich als rasch überlastet Berliner sind härter ab 1540 dann fußend auf Gutenbergs Erfindung entsteht in Schüben die sogenannte Ratgeberliteratur für das lesende Geschlecht auch Schund genannt Facetien und Novellen füllen die Bestsellerlisten doch im Jahr des Herrn
1488 ERSCHEINT AUF ISLAND DIE KLIMAGÖTTIN ISGULDA ihr Haar fällt glatt ihre Zunge lispelt ihre glühende Überzeugungskraft durchfährt die Jugend der Welt mit der Schärfe des geschliffenen Schwertes und stimmt sie ein auf die Ära der großen Entdeckungen der massenhaften Morde an Indigenen der Ausrottung fremder Hochkulturen den unerbittlichen Gang der Geschichte den Blutschritt der Hegelei
1492 REITET ISGULDA AUF EINER EISSCHOLLE IN DIE DEUTSCHE BUCHT fordert auf den Schultern ihrer frenetischen Anhänger liegend den ABBRUCH DER KATHEDRALEN SOFORT die Löschung allen Feuers in den Öfen der Alten Welt die rechtsverbindliche Einführung einer von schwäbischen Tüftlern ersonnenen Atemtechnik mit Einsparungen bis zu zwanzig Prozent einmaliges Zuwiderhandeln wird mit Pranger und Brandzeichen der mehrmalige Verstoß mit gestaffeltem Entzug von Grundnahrungsmitteln geahndet Steuernachlässe bei Partneratmung währenddessen sinken in der nördlichen Hemisphäre die Temperaturen die Gletscher rücken vor die Arbeitsbienen lernen das Schlittenfahren Leben wird eine ernste Sache die Herrscher in Paris und Wien zahlen Höchstpreise für Kunst&Kanonen
1525 VERJAGT EINE HORDE FANATISCHER KLIMASCHÜTZER DIE STÄDTISCHE OBRIGKEIT ZU MÜNSTER UND ERLÄSST DIE ERSTEN ATEMGESETZE DES UNIVERSUMS der Erdkreis soweit im Bilde hält den Atem an Luther im fernen Wittenberg hustet zweimal und lässt sich da für Essensentzug nicht geeignet aus freien Stücken den Schreibarm amputieren sein Kommentar Gott schuf die Linke auf dass sie der Rechten zur Hand sei
1560 WERDEN DIE BAUARBEITEN AM KÖLNER DOM VORERST ENDGÜLTIG EINGESTELLT bei der Einweihung des Isgulda-Altars im unfertigen Querschiff kommt es zu zahlreichen Fällen von Atemnot offener Panik die Menschen fliehen die schwarze Pest kehrt zurück die stolze Colonia versinkt in einer der restlichen Welt unbekannten Abart des Katholizismus

1580 ENTDECKT DER HEIDELBERGER ORNITHOLOGE MARCUS ZUM LAMM BEI DER SICHTUNG BIS DAHIN VON DER WISSENSCHAFT VERNACHLÄSSIGTER ZEITZEUGENBERICHTE DIE KLEINE EISZEIT

 

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Dichter M verweigert den Auftrag, zum Auftakt der Klimakonferenz eine Brandrede zu halten

 

 

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Im Zeichen des Salamanders

Dürrobst verbreitet Fakenews und wundert sich
1

Nein, untätig ist er nicht geblieben, der Journalist Himmelschick, in seinem festen Willen, dem Dürrobst-Interview, einer klassischen Steilvorlage, den finalen Treffer folgen zu lassen. Die Nachbereitung, kurz und heftig, über die ›unglaublichen Aussagen des Professors Dürrobst‹, welcher im Interview ›jede Schamhülle‹ fallen gelassen und sich ›eindeutig gegen den Konsens der Klimaforschung‹ gestellt habe, überschreitet das Genre des Berichts gleich mit dem ersten Satz. »Was hat ein Pädagogik-Professor«, steht da schwarz-auf-weiß, »als Ergebnis seiner lebenslangen Forschungsarbeit an einer unserer renommiertesten Universitäten den Menschen zu bieten? Richtig: einen ganzen Haufen. Genauer gesagt: Gefährlichen Schwachsinn, der andernorts zum sofortigen Entzug der Lizenz führen würde.«

Lizenz? Komischer Vogel.

Dürrobst verbreitet Fakenews und wundert sich
2

Das klingt ein bisschen reißerisch, ein bisschen übelwollend, ein bisschen ehrabschneiderisch, billig sowieso, überdies tückisch. Das Interview ist schließlich ohne Missklang zu Ende gegangen. Dürrobst bebt. Wer ist dieser Journalist H? Die Lektüre der Morgenzeitung, in den Modus ›rauchender Zorn‹ wechselnd, verlangt beidhändigen Einsatz, das Recycling-Papier knüllend und spannend bis zum Zerreißen.

Seid nicht behende ihr, so umso grausamer.
Zerreißt den Boten mit der Botschaft, die doch ewig fortbrennt.

Dürrobsts Blick stapft durch die Zeilen. Mit finster gerunzelter Braue mustert er schroff jeden Buchstaben, bevor er ihn zurücklegt ins Abgelegte, mit Schande Bedeckte für alle Zeit.

Das Ticken der Wanduhr, ticketacke, ticketacke, verhaspelt sich bei dem Wort ›Fakenews‹, das sich in Dürrobsts Gehirn festsetzt und dort, vergleichbar einer Nanofräse, seinen Unheilsweg nimmt.

Also geschieht es im Jahre des Herrn sowieso, dass dem großen Dürrobst sich ein kleiner dürrer ins gemachte Bett legt, die Hände ballend und wirres Zeug redend, dann wieder ein blasiertes Grinsen aufsetzend, erfahrend, dass es mit aller Reputation einmal zu Ende geht, im Leben oder danach, warum nicht heute, an einem bemerkenswert heiteren Tag, komisch, sehr komisch, abgestanden hört sich’s an, is’ aber was dran, geschieden muss sein, fein’s Mädel mein, tandaradey, ey ey, wo der Unfug bloß herkommen mag, hat keiner danach gefragt, Zeiten und Töne strömen da ein, gebrandmarkt bist du auf immer, also hör auf jetzt mit dem Gewimmer.

Dürrobst erhebt sich vom Tisch, gewillt, diese Sache in Ordnung zu bringen, und stürzt.

In dieser Sache gibt’s keine Ordnung.

 

Wegenaer äußert sich im kleinen Kreis

Politschrott
1
Ostrakismus

  • ―Ich verstehe das nicht, sagt Wegenaer. Wir sind doch lauter Menschen mit gemäßigten, will sagen halbwegs gesitteten politischen Überzeugungen. Was macht die Leute so giftig? Ich meine, wie kann ein gesunder Mensch zu der Auffassung kommen, er werde von den Kollegen oder der öffentlichen Meinung ausgesperrt, wenn er sich selbst aus freien Stücken, ich meine, ins Abseits…? Und doch laufen Wissenschaftler, mit denen man letztes Jahr noch beim Wein zusammensaß, plötzlich mit einem Brett vor dem Kopf herum. Ist das normal? Ich halte das nicht für normal. Dürrobst, der Mann war immerhin unser Dekan, entwickelt auf einmal Ansichten, also ich muss schon sagen… Das zu lesen hat mich ein bisschen schockiert. Hätte ich nicht von ihm gedacht. Sich so vom Kónsens entfernen! Gut, er wird sich sagen, jetzt hat er frei, was kann einem Emeritus schon passieren, aber er ist und bleibt doch ein Teil der Pyramide, von der Community nicht zu reden, er darf einfach nicht zulassen, dass unsereins sich seinetwegen zu schämen beginnt, denn das geschieht jetzt gerade, es hätte vermutlich schon früher geschehen müssen, man blickt ja nicht in die Verbindungen hinein, die so ein Mann im Lauf der Jahre eingegangen ist. Akademischer Comment ist vorhanden oder nicht, das verlernt sich nicht, das geht auch nicht verloren, das Defizit muss also schon dagewesen sein, höchste Zeit, ihn jetzt zu entfernen. Ich nehme an, um seine Homepage hat man sich schon gekümmert? Ich werde die Dekanin darauf ansprechen, dafür besitzt sie ein offenes Ohr, auch wenn sie sonst mehr im Gender-Bereich aktiv ist. Wenn sie nicht reagiert, dann ist es eine Sache fürs Rektorat.

Er zieht ein Blatt Papier zu sich, entblößt den Füllfederhalter, ein Geburtstagsgeschenk seiner Tochter, zeichnet ein Rechteck und schreibt hinein:

161
Politschrott
2
Frage: Wozu dient Wegenaers Kopf?
Antwort: Hat er einen?

Alle Themen der einst mächtigen Politik zu Staub zerrieben, in diesem Wind, der drückt und drückt, aber nicht weggehen will: wohin soll das führen?

Die Frage führt unmittelbar zu der anderen: Wer führt?

Die Menschen, abgefüllt in staatliche Kanister, ahnen, dass es mit der Staatlichkeit nicht weit her ist, während der Staat immer tiefer in ihre ›Belange‹ eingreift, seltsames Kunstwort, das scheinbar alles umfasst, was in die ordnende Aktivität des einzelnen Menschen fällt, aber darüber hinaus alles, was ihn persönlich ›angeht‹, und das ist eine ganze Menge, es richtet sich auch nach der Person. Eine starke Person kümmert sich um Belange, die dem Schwächling, dem Urteilslosen, dem Conformista am A… vorbeigehen. Insofern eignet allen Belangen auch etwas Allgemeines, und falls einer die Demütigung nicht empfindet, wenn ihm ein anderer einen Latz ins Gesicht drückt, unter dem er Atembeschwerden bekommt und seine Haut sich mit Ausschlag übersät, so ist die Frage, ob es sich dabei um seine Belange handelt oder nicht, nicht etwa akademisch, sondern zynisch.

Was ist zynisch? Die Disproportion eines Sachverhalts und seiner Auslegung? Nein, es ist die himmelschreiende Ungerechtigkeit in dieser Disproportion, welcher der Himmel vorsätzlich abgeschnitten wurde. Diese anomische Staatlichkeit, die sich der Machtmittel des Staates bedient, ohne damit seiner Aufgabe gerecht zu werden, es sei denn, man sähe seine Aufgabe darin, fremden Interessen zu Willen zu sein, erzeugt keine Politik, sondern hoheitliches Handeln, das auf Knopfdruck anspringt und auf Knopfdruck verschwindet. Politik, die so oft den Tod bringt, ist die Kunst des Leben- und Überlebenlassens in und zwischen komplexen sozialen Systemen; ihre Spanne reicht vom verzweifelten Strampeln darum, am Leben gelassen zu werden, bis zum hochmütigen Versuch einer finalen Überwältigung des Gegners, wohl wissend, dass keine Finalisierung endgültig sein kann und jede Überlegenheit neue Herausforderungen schafft.

Kanisterpolitik, wie die Menschen sie gerade erleben, was sollte sie anderes sein als Antipolitik: Überwältigung derer, um deren zu hegendes Leben es geht, immer geht, immer ging und gehen wird, und ihre Auslieferung an gierige Kräfte, gegen deren Übergriffigkeiten sie Schutz bieten müsste.

Wie die Menschen sich beugen, wenn nur noch Wind geht! Wie sie die Backen blähen und mitblasen nach Leibeskräften, nicht bedenkend dabei, dass ihr persönliches Windchen nichts ist im großen Sturm.

Politschrott
3
Ist Wegenaer ein politischer Mensch?

Die Frage ist falsch gestellt. Richtig müsste sie lauten: Ist Kunst politisch? Nicht weil Wegenaer der Kunst gleichgesetzt werden könnte, sondern weil ihm nicht im Traum einfiele, sich in einem anderen Sinn als politischer Mensch zu verstehen, als die Kunst – das Medium Kunst, wie er sich in solchen Zusammenhängen auszudrücken pflegt – es von ihm – und er von ihr – fordert. Unpolitische Kunst gibt es nicht, pflegt er seinen Studentinnen einzutrichtern, Kunst ist politisch. Denken Sie in der Konzeptphase daran, das erspart Ihnen später viel Ärger. Sie müssen Ihre Motive so lange mit politischen Augen betrachten, bis aus diesem Akt der sinnlichsten Konzentration das Thema scheinbar selbsttätig hervorgeht. Nachträglich hineingeschriebene Parolen sind nichts anderes als angeklebte Preisschildchen, die jemand von der Ware zu entfernen vergessen hat, wie Marcel Proust monierte. Scheinbar selbsttätig ist die Parole. Ohne Schein geht in der Kunst gar nichts und das hier ist der wichtigste von allen. Wenn Albrecht Dürer davon überzeugt war, dass die Schönheit in den Objekten schlummert und der Künstler sie herausreißen muss, so besteht Ihre Aufgabe darin, das Politische aus der Sie umgebenden Objektwelt herauszureißen. Wenn Ihnen das nicht gelingt, dann geben Sie auf, verschwenden Sie nicht Ihre Zeit an eine verlorene Sache. Künstlerzeit ist knapp bemessen, sie ist ein kostbares Gut. Verschwenden Sie nichts davon!

Gern verweist er bei diesen Ausführungen, das Whiteboard im Rücken, das Haupt leicht zur Seite geneigt, zwischen den Fingerspitzen die Filzstifte rollend, auf seine Banzekut-Serie – diskret, versteht sich: eine für die Hörerinnen leicht dechiffrierbare Travestie, geeignet, ihre ernsthaften Mienen für einen Augenblick aufzuhellen. ›Seht‹, will er damit sagen, ›wie spielerisch Kunst sich der größten Aufgaben zu entledigen weiß. Ein wenig Mut gehört natürlich dazu, und Talent, was sage ich: Talent. Künstler sein heißt bedeutende Dinge tun, und seien sie noch so unscheinbar.‹

Banzekut I., Herrscher von Priborawien
 
 
DIE HITZE
Die rote Hitze ist das Aphrodisiakum für Leute, die das Weltall zu vögeln wünschen. Das Weltall, eine schweigende Grösse, verhält sich abwartend, um nicht zu sagen abwertend gegenüber diesen fortgesetzten Versuchen.
 

Mach einen scharf und du findest sie alle

Mom-X
1
Mime @US
Mime

Das ist Mime, Einzelgemüt, aus Mutters Bauch gekrochen, gedüngt mit Muttergedanken, gespickt mit Muttergefühlen, keines Vaters gewärtig, lebenslang, lebensbang unterwegs nach dem unerreichbaren: Muttersohn, der das Schwert schmiedet, aber nicht führt, es sei denn reflexhaft in Gedanken und Worten. Gerade noch Notschicksal, Krieg+Nachkrieg, schon wächst das Heer, hier ist die kriegerische Metapher am Platz.

Mom-X = der friedlichste Mensch unter der Sonne

Soviel Friedlichkeit kann und darf nicht reell sein. Sie verzehrt sich nach dem Absoluten und das Absolute, zur Kenntlichkeit verzerrt, schlägt ohne Erbarmen zurück. Mom-X, das wäre … das wäre … das ist der unter die Räder gekommene Mann, der Mann unter allen Rädern: kaum den einen entronnen, stürzt er unter die folgenden, teils aus eigener Zutat (denn von Schuld ist hier nicht zu reden), teils aus Versäumnis, teils, weil der nächste und übernächste Verräter sich seiner annimmt, denn auch das Absolute beschäftigt diese Spezies und nicht zu knapp.

Nicht zu knapp! steht über Mimes Leben, teils Wahlspruch, teils Orakel. In gewisser Weise – oh wie du diese Phrase liebst! – ist Mimes Leben selbst das Orakel, seine Zeit, ins Orakel gefasst, ihr entgegengehend, als habe niemand, nieeeeeeeeemand sich der Mühe unterzogen, ihm die einfachsten Verkehrsregeln beizubringen, ihn selbst eingeschlossen, dabei testet er sie, unter Einsatz seines Lebens, ohne Unterlass.

Das Programm Mime –: ist Fu noch einmal, aber als Geisterfahrer, abgedunkelt bei Nacht.

Love's Labour Lost
Mom-X
2
Drachengeschichte

Mime hat den Drachen im Leib. Lange Zeit ruhend, doch endlich, auf halbem Wege, erglühend: Schweiß tritt auf seine Haut, mächtige Blasen perlen aus seinem Mund, sein Gang stockt, seine Rede beginnt zu flattern. Der Drache aber spannt die Flügel, als wolle er auf- und davonfliegen. Davon wird Mime die Brust so eng und das Herzlein beginnt zu pochen. Er kann nicht rennen und tun, er kann nicht liegen und ruhn. Es drückt ihn an Schulter und Brust so sehr… Das ist eine spannende Geschichte, aber niemand ist darauf erpicht, sie zu hören und eigentlich geht sie auch niemanden etwas an. Sie ist einfach gegeben, eine Jedermannsgeschichte, warum erzählt er sie überhaupt?

Darauf verweigert Mime die Auskunft.

Drache
Mom-X
3

Wie kommt so ein Mensch in die Pyramide? Mächtige Hände haben ihn hereingewunken, durchgewunken bis zu der Stelle, wo ihn Tafel und Wachsstift erwarten, sie haben das Mikrofon angeschaltet, die Kamera läuft, da steht er und spricht:

  • Summertime, it’s summertime.

Nun, da es Winterzeit, Kornblumen verblüht, liegt Mime im Koma. Er bekommt alles mit, erzählt die Betreuerin und tupft ihm liebevoll, wie sich’s gehört, das Gesicht. Der Name der Betreuerin lautet Elisabeth, sie betreut ihn nicht wirklich, richtig ist, sie hat ein Auge auf ihn, aus der Ferne, die manchmal zur Nähe mutiert, zur Nahferne, Güte genannt, so empfunden von Mom-X, dem zweifach Gezeichneten, unendlicher Dank quillt in ihm auf, ein Crescendo der Dankbarkeit: Weide meine Lämmer. Ganz recht, nicht ein Lamm ist Mom-X, sondern viele Lämmer, jedenfalls mehrere, sie stehen unterschiedlich im Futter und harren des passenden Signals … wozu? Um loszublöken.

Noch immer liebt Mime das Mikro und das Mikro liebt ihn.

  • Don’t call me Mom-X. That makes me really angry.

Excess: 3 Thesen
Die Sitzung I
2
Im schalen Licht der Aufklärung vertiefen sich die Züge

  • ―Kommen wir zur Rhetorik der Überschreitung. Überschreitungen sind entweder positiv oder negativ konnotiert.

Stutenkeils Gesicht glänzt vom Vortrag. Er wähnt sich auf der Habenseite der Existenz und übersieht dabei das Soll.

  • ―Das überzeugt mich nicht, unterbricht ihn Blowasser scharf. Überschreitungen sind kulturelle Vorkommnisse. Sie zielen auf das Selbstverständnis einer Gruppe, einer Gemeinschaft, der Gesellschaft.
  •  

  • ―Exzesse, sinniert Nassen, ohne Gehör zu finden, sind negativ konnotierte Überschreitungen.

Er ist noch jung und möchte korrekt sein.

  • ―Exzesse sind Ausschweifungen. Sie führen seitab: ins Gelände, in die Niederungen, ins soziale Chaos, ins Verderben. Sie sind sozial, rechtlich, kulturell nicht hinnehmbar.

Wer war das? Egal.

  • ―Lederstrumpf: ein Exzess, brummt Kärich.

 

Stutenkeil überschreit sie alle.

  • ―Überschreitungen besitzen eine starke Wertkomponente. Das bedeutet aber nicht, dass sie automatisch verurteilt werden. Im gelungenen Fall produzieren sie Staunen, positive Erregung, Bewunderung, Nachahmung. Entsprechend groß ist die Bandbreite möglichen Scheiterns. In der Überschreitung treten Individual- und Kollektivverhalten unübersehbar auseinander. Der Akteur, gleichgültig, ob Individuum oder Teilgruppe, setzt sich in einen partiellen oder totalen Gegensatz zur Gruppe und ruft damit ihren Widerstand hervor. Das kann durchaus um gemeinsam formulierter Ziele willen geschehen. Es kann auch auf naiven oder komplexen oder bizarren Annahmen über die wirklichen (›wahren‹) Ziele oder Werte der Gemeinschaft beruhen, die von der Gemeinschaft nicht geteilt werden. Letztendlich kann es den gemeinsamen Verständnisrahmen quittieren, wie das bei Deserteuren oder Auswanderern der Fall ist. Zeigt sich kein Widerstand, so wird er einfach imaginiert.
  • ―Logisch.
  • Ich habe Gott da draußen nicht gesehen. So brüstet sich, falls die Legende stimmen sollte, der erste Mensch im All. Die Spitze gegen die Religion, das imaginierte Vorurteil derer, die unten geblieben sind, ist unüberhörbar.
  • ―Religion? Warum Religion? ereifert sich Duro. Die Wege des Einspruchs sind unergründlich.
  • ―Lass ihn ausreden.

Die Sitzung I
3

  • ―Blowasser hat natürlich recht. Kulturell bedeutet Überschreitung: Aufkündigung des Selbstverständlichen. Ein als gegeben angesehener Orientierungsraum wird zugunsten einer partiell oder vollständig differenten Orientierung verlassen. Zum Beispiel ist die Geste der Hinterfragung auf kulturelle Überschreitung hin angelegt. Das Selbstverständliche weniger selbstverständlich machen, darin besteht die Grundnorm der Überschreitung, die natürlich ihrerseits Züge des Selbstverständlichen annehmen kann.
  • ―Oha. Sie meinen, wer eine Grenze überschreitet, der verlässt den Konsens. Sehe ich das richtig? Wie erklären Sie sich dann, dass die meisten Ausbruchsversuche scheitern?

Blowasser lässt nicht locker. Doch Stutenkeil enteilt ihm aufs Neue.

  • ―Das ist ein bezaubernder Gedanke. Haben Sie eine belastbare Statistik? Vielleicht kommt hier ja doch die Religion ins Spiel. Für die antike Religiosität, das wissen wir alle, bedeutet Überschreitung Hybris. Um das zu verstehen, genügt es, sich kurz die Funktion der Götter im griechischen Mythos in Erinnerung zu rufen: was den Menschen gesetzt ist, ohne ihrem Veränderungswillen zu unterliegen, das wurde von den Göttern über sie verhängt. Wer sich diesen Grenzen nähert oder sie zu übertreten versucht, der nähert sich dem Verhängnis oder liefert sich ihm aus. Hybris ist also eine Art Wette auf die Duldsamkeit der Götter: Reagieren sie oder reagieren sie nicht? Das ist stets die Frage.
  • ―Einspruch.
  • ―Stattgegeben.
  • ―Wenns sein muss. Was wollen Sie denn sagen?
  • ―Nichts. Ich erhebe Einspruch.
  • ―Ist notiert. Herr … Mime? Mime erhebt Einspruch. Ich fahre fort: Kulturell etablierte Hybris ist institutionalisierte Religionskritik. Religion wird zurückgedrängt auf das immer kleiner werdende Reservat dessen, was noch nicht verändert werden kann. In säkularen Gesellschaften erwächst daraus für Religionen die Notwendigkeit, entstehende Konflikte in sich selbst auszutragen.
  • ―Gibt es denn säkulare Gesellschaften?
  • ―Ich setze das mal voraus.
Die Sitzung I
4

    Aufbraust Argloser aus der letzten Reihe.

  • ―Ach hören Sie doch auf. Religionen bekommen ein Fundamentalismusproblem, wenn sie den etablierten Mechanismus der Überschreitung als Exzess brandmarken, also wenn sie die gängigen Wertvorzeichen umkehren. Dabei ist Religion durchaus kein Feind jeder Überschreitung. Eher scheint sie … sagen wir: scheint ein bestimmter Religionstypus säkularen Überschreitungsideologien das Muster vorzugeben. Was ich damit sagen will: Es handelt sich um genuine Deutungskonkurrenz.
  • ―… die sich gegebenenfalls zur Zwillingskonkurrenz steigern kann. Genau das wollte ich gerade ausführen.
  • ―Woran denken Sie da?
  • ―Na ans christliche Abendland. Aber ich wollte noch etwas zum Thema Ausschweifung sagen. In dem, was ich Exzess nenne, fällt die religiöse mit der säkularen Deutung von Transgression zusammen. Schauen wir doch einmal hin. Was dem säkularen Deutungsbetrieb zu weit geht, geht für den religiösen auf gar keinen Fall et vice versa. Meines Erachtens liegt die Pointe in der unterschiedlichen Begründung. Während die fundamentalreligiöse Deutung für den Exzess die Kultur der Überschreitung selbst verantwortlich macht, bemüht diese im Ernstfall lieber psychiatrische Erklärungsmuster. Das kennen wir alle ganz gut. Bezeichnenderweise erscheint im üblichen Hickhack der religiöse Begriff des Bösen auf beiden Seiten des Grabens … als spontane und bizarre Erscheinung des ›Anderen‹ auf der einen, als fatale Konsequenz des dominanten Modells auf der anderen Seite.
  • ―Sie meinen, der säkulare Staat steckt die Leute in die Klapse und die Religionen schieben ihm derweil die Verantwortung zu.
  • ―So kann man es sagen, ja.
  • ―Der er dann auch gerecht wird.
  • ―Und was sind die nicht-diskursiven Instanzen?
  • ―Darauf möchte ich später dann eingehen.
  • ―Taube Nuss, murmelt Mime, die Lippen fest verschlossen. Argloser wirft ihm einen befremdeten Blick zu.

Die Sitzung I
5

Mime, mit halb geöffneten Augen, spricht.

  • ―Das Veränderungspotenzial der Menschheit ist grenzenlos. Die sogenannten Grenzen der Menschheit werden nicht von Göttern verhängt, weder den alten noch denen in Weiß, sondern ergeben sich rein physikalisch aus der Begrenztheit der auf diesem Zufallsplaneten verfügbaren Ressourcen. Das gilt aber nur so lange, bis die Raumfahrt auch diese Grenze überwindet. Was wir heute Raumfahrt nennen, ist eine bloße Andeutung wirklicher Raumfahrt, wie andere Zivilisationen sie mit großer Wahrscheinlichkeit längst praktizieren. Wir wissen nicht, welche Ressourcen kommenden Generationen zur Verfügung stehen werden. Wir wissen es nicht und wissen es doch. Angesichts der Bedürfnislage der menschlichen Spezies gilt der Satz: das Weltall ist unausschöpfbar. Analoges gilt für unsere biologische Existenz. Die Perfektibilität des menschlichen Körpers unterliegt keinen weiteren Einschränkungen als denen der Körperwelt insgesamt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich mit jedem Jahrzehnt Forschung und Entwicklung die Abhängigkeit von den natürlichen Prozessen halbiert, dann bekommen wir eine klare Kurve, die zeigt, wohin die Reise geht. Die einzige Sünde, welche die Menschheit gegen sich selbst begehen kann, besteht darin, die Ressourcen des Planeten zu verprassen, bevor sie sich von ihnen unabhängig machen konnte. Leute, das ist nicht Hybris, sondern Dummheit. Unsere Statistiken zeigen, dass exakt das gerade abläuft. Und es ist die eingefleischte Religion mit ihren Tabus, die uns auf diesem Irrweg fixiert. Um als Menschheit die vor uns liegenden kritischen Jahrzehnte zu überleben, müssen wir die vorhandenen Glaubenssysteme substituieren. An ihre Stelle muss das Bekenntnis zur Pflege und Erhaltung des Planeten treten. Was wir dringend brauchen, ist der Priesterverrat. Nur Priester können die Kräfte der Religion gegen sie kehren. Wir müssen an ihr Gewissen appellieren und wenn das nicht reicht, sollten wir sie kaufen. Wenn auch das nicht reicht, dann muss man sie eben zwingen. Dazu brauchen wir den Staat. Die Trennung von säkularem Staat und Religion war gestern. So sieht es aus. Der Rest ist bullshit.

Ego nos absolvo. In nomine…

 

Der letzte Tweet geht immer in die Irre

 
 
Twitter heißt der Kurznachrichtendienst, der binnen kurzem die Welt eroberte, nicht, um in ihr zu verschwinden wie so viele Eroberer aus dem Nichts, sondern um, wie es sich für richtige Eroberer gehört, ihr seinen Stempel aufzudrücken. Twitter teilt die Welt in Könner und Nichtskönner, in Gewinner und Verlierer, in Begünstigte und Benachteiligte, ergo Opfer, und zwar nicht fürs Leben, nicht für ein Jahr oder einen Monat, kaum für den Tag oder die Stunde, sondern von Moment zu Moment. Aus einer auf ein wenig Distanz bedachten Perspektive ließe sich sagen: Twitter stellt die Chancen des Einzelnen, groß zu tun und vor der Welt in Erscheinung zu treten, rascher auf Anfang oder auf Null zurück, als einer Zeit bräuchte, die eine oder andere unter ihnen zu realisieren. Das ist die Regel. Aber es gibt auch Ausnahmen. Twitterkönige verdienen sich eine goldene oder auch rote Nase, wann immer sie in die Tasten greifen. Die Welt wartet auf ihren neuesten Tweet, als handle es sich um die Fähre aufs Festland, wo in der Ferne die Berge locken und damit der finale Überblick über die Dinge des Lebens, zumindest der Politik. Es kommt aber nur die nächste Sottise, und das Heer der Häme-Absonderer wartet keine Sekunde, sich auf sie zu stürzen.
 
 
Twitter und Weltuntergang sind eng miteinander verknüpft. Sie stammen, wie die besten Rennpferde der Saison, aus einerlei Stall, besser gesagt, aus derselben Züchtung, falls das Züchten von Meinungen nicht unter die diversen Rassismus-Paragrafen fällt. Wo, virtualiter gesprochen, alle zusammenkommen, um sich vor- und übereinander auszudrücken, steigt der Druck im mentalen Kessel, so dass die Angst davor, von den Verhältnissen zerdrückt zu werden, alle anderen Affektlagen überwiegt. Es erstaunt daher nicht, vereinzelte Aufklärer wie verirrte Motten durch die endlosen Wortkaskaden der Wahrsager taumeln zu sehen. Allenfalls erstaunt ihre Beweglichkeit. Doch der dritte Lehrsatz der Thermodynamik erweist sich auch in diesem Fall, wie so oft im Reich der Metaphern, als überaus hilfreich. Das Überleben ganzer Wissenschaftszweige hängt daran, dass sie sich als twitterfähig erweisen: soll heißen, am Ende in Tweetform gegossen den Globus umkreisen. Das ist ganz natürlich. Warum sollte es ihnen besser ergehen als der Menschheit, in deren Dienst sie bekanntlich stehen? Das Überleben der Menschheit hängt an keinem seidenen Faden. Es hängt daran, rechtzeitig den richtigen Tweet zu finden, den Träger der Botschaft, die uns alle zu retten vermag: teils aufgrund ihrer inneren Schlüssigkeit, teils, weil der Weg, den sie aufzeigt, mit äußerster Leichtigkeit begehbar erscheint.
 
 
Dieser Weg ist keinesfalls frei von Strapazen. Schließlich handelt es sich dabei nicht um das allseits verhasste ›Weiter so‹, sondern um radikale Umkehr – und zwar nicht des Denkens allein, wie sanftere Anhänger der Lehre stets vermuten, sondern, nach der sattsam bekannten Formel, aller Lebensverhältnisse. Je bequemer das Vehikel, desto drastischer der ins Auge gefasste Übergang. Die Drastik des Wandels und die Bequemlichkeit der Teilhabe stehen zueinander in einem direkten Wechselverhältnis. Leicht ableiten lässt sich das aus dem Twitterverhalten der Begünstigten des Systems, also der geldhaltigen Lichtgestalten der Society, die vom Glück nur zu wissen scheinen, dass man es reiten muss, damit es sich gut anfühlt. Aber natürlich auch der Politiker, deren Reichtum mehr im Anpassungsverhalten gegenüber den Vibrationen der Medienwelt gesucht werden sollte. Ein rechter Tweet zur rechten Zeit stellt die Verhältnisse klar. Nach nichts anderem verlangen die Verhältnisse inbrünstiger als nach ihrer Klarstellung. Doch auch hier gibt es Nuancen. Wer auf die Straße geht, um fürs eigene Smartphone, bestenfalls das seiner Mitdemonstranten zu demonstrieren, der ist nicht bloß für klare Verhältnisse. Für ihn sind alle Verhältnisse klar. Zumindest sind sie geklärt, auch wenn immer ein wenig braune Brühe beiherläuft. Die braune Brühe muss sein, sie allein gibt dem Weltgericht die richtige Würze. Denn darauf kommt es schließlich – ›schlussendlich‹ – an.
 
 
Das Nadelöhr des finalen Tweets, durch das jegliches hindurch muss, allem voran die bereits in überirdischem Glanze leuchtenden Superreichen, welche der anstehenden Konversion der Menschheit ebenso selbstverständlich das Wort reden wie sie sich im voraus die besten Plätze zu sichern wissen, wirft ein Problem auf, das selten, im Grunde gar nicht erörtert wird, vermutlich deshalb, weil seine Lösung unter die politisch als obsolet markierten Geistesverrenkungen fällt. Was würde passieren, wenn die Wand des Ersehnten, Erwünschten, Erstrebten, des mit angstvoll pochendem Herzen Herbeierwarteten eines Tages tatsächlich durchstoßen würde? Wohin ginge der finale Tweet, nachdem er alle relevanten Herzen durchbohrt, wenigstens jedoch gestreift hätte? Die moderne Ontologie hat dafür den Ausdruck ›das Offene‹ reserviert. Das Offene hat verschiedene Stadien durchwandert, von denen das ›Reich der Freiheit‹ ein paar Geistesstrategen noch erinnerlich ist. Andere denken dabei an den selig-unseligen Kommunismus, wieder andere an die unbegrenzte Acquise am Ende der sogenannten Geschichte. Dieses Offene hingegen ist anders, es erinnert an die verzweifelte Gemeinschaft Entflohener, die wissen, dass sie ab jetzt Tag und Nacht von den Häschern des Systems gejagt werden, in dessen Umzäunung ihnen ein Loch zu schneiden gelang.
 
 
Wie offen ist so ein Offenes? Anders gefragt: Worin besteht seine Offenheit? Offenkundig handelt es sich um die Offenheit von Getriebenen, die wissen, dass ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, ein unbedachter Tritt dem Ausflug ins Freie ein jähes Ende bereiten kann. Die Geschichte des Gefängniswesens kennt organisierte Massenausbrüche, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, in ihrem Schutz einigen Wenigen die erfolgreiche Flucht zu ermöglichen. Diese Wenigen sind die Helden des Betriebs. Ihr Mythos vergoldet den Alltag der Inhaftierten, ihr bedrückendes Ende befeuert den trotzigen Entschluss der Zurückgekehrten, es irgendwann wieder zu versuchen, koste es, was es wolle.

Denn zahlen – zahlen soll das System.
 

Anon @KarlKarus Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?

Karus die Stubenfliege
1
§ 1
Homo digitalis

Du trittst (bildlich gesprochen) allein zwischen Ali Babas Räuber und schreibst: Am furchtbarsten ist die Halbbildung. Du denkst, jetzt werden sie dich zerreißen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie nicken dir freundlich zu, verteilen ihre Smileys und sind ganz auf deiner Seite. Im übrigen halten sie still. Anders Karus, der Twittergott: Er schreibt einen Satz hin und schon ist die Häme da. Er schreibt einen zweiten und der Sturm bricht los: »Wieder geraucht, was?« – »Was nimmt der Kerl?« – »Da spricht der Fachmann ... ;-)« – »Der übliche Unsinn« – »Muss die Hitze sein« – »Wieder mal erfrischend nichts« und so weiter und so fort.

  • ―Wie schafft der das, fragt @Klickneider und schickt die Antwort gleich hinterdrein: Halbbildung. Unser @Professorchen als Mustermann im Wachsfigurenkabinett der Halbbildung – da lachen die Leut’ und klatschen ins Händchen. Hach, ist das schön. Mach’s nochmal, Karli. Und er macht’s. Kein Terminkalender hält ihn davon ab, seine unglaublichen Tweets abzusetzen: unter dreien pro Tag tritt er nicht an. Du wählst dich ins Netz ein und da steht es auch schon: »Karl Karus hat gerade getwittert.« Was hat er geraucht? Du weißt es nicht. Vermutlich nichts. Warum sollte er?

Karus die Stubenfliege
2
§ 2
Woher der Dunst, den er verbläst?

Du weißt es nicht. Du weißt auch nicht, welcher besonderen Zuneigung du es verdankst, dass gerade dir diese Meldung als erste entgegenschlägt. Bezahlt Karus dafür? Wird er bezahlt? Bezahlt für ihn ein anderer, seine Partei zum Beispiel oder ein Witzbold, der findet, Karus’ Sprüche gehörten an jede freie Wand geworfen, damit die Sprayer-Heerscharen sich darüber hermachen können, um sie – vergebliche Liebesmüh – zum Verschwinden zu bringen? Darüber nachzudenken bringt dich nicht weiter. Also nimmst du ihn, so wie er ist, als gegeben.

»Die Partei wäre viel stärker ohne so dumme Menschen wie dich« – auf so einen Kommentar muss einer erst kommen, vor allem einer, der, nachweislich seines ›Accounts‹, keinen geraden Satz schreiben kann. Was soll das? Ist Karus dumm? Was ist ›dumm‹? Wer legt so etwas fest? Feststeht: kein Parteitagsbeschluss hilft da weiter. Seit es Gesellschaft gibt, schwirrt diese Fliege, genannt Dummheit, im Raum. Karus ist eitel: davon legt jeder Tweet ›aus seiner Feder‹ Zeugnis ab. Karus ist eingebildet: er bildet sich etwas auf sich ein, wobei dieses Etwas unbestimmt bleibt. Findet er sich attraktiv? Gepflegt? Gebildet? Beschlagen? Produktiv? Wo findet er sich? Vor dem Spiegel? Vor dem Hörsaal, den er nur noch selten betritt, seit die politische Tätigkeit ihn verschlingt? Im Angesicht der Partei? Ihrer Spitze? Ihrer ›einfachen Mitglieder‹?

Karus die Stubenfliege
3
§ 3
Wer Karus liest, gewinnt den Eindruck:

er versteht sich als Bote. Wessen Bote? Das bleibt unbestimmt. Ebenso unbestimmt bleibt die Botschaft. In Wahrheit hängt er sich an jede Tagesnachricht, die ihm Aufmerksamkeit verspricht. Er nimmt einen Standpunkt ein, das ist wahr. Wenn er, wie meist, korrekt sein will, nimmt er den der Partei. Doch die Partei ist alt und grau und, alles in allem, nicht die schnellste, ergo in vielerlei Hinsicht unbrauchbar. Er muss also improvisieren. Daraus folgt: Karus besitzt, wie heftig die Twitter-Gmeinde auch über ihn höhnt, ein unabhängiges Urteil. Jedenfalls entfernt er sich mit ihm weit von der Basis. Karus’ Basis ist die Wissenschaft. Entsprechend weit entfernt er sich von der Wissenschaft, ohne den Spitzen der Partei dadurch spürbar näher zu kommen. Unerforschlich thronen sie über allem, was er den lieben langen Tag von sich gibt. Karus ist autark.

Karus die Stubenfliege
4
§ 4
Die Grenzen seiner Autarkie sind die seiner Welt

Dieser Satz sollte, um seiner Bedeutung habhaft zu werden, rückwärts gelesen werden. Alle, in voller Unabhängigkeit, von Karus gefällten Urteile sind der Twitter-Gemeinde wohlbekannt. Sie ›redundant‹ zu nennen würde dem Sachverhalt nicht gerecht. Karus’ Urteile sind hyperredundant. Sie ähneln den Sätzen, die einer spricht, wenn er sich vor dem Spiegel räuspert, um seine Stimmfestigkeit zu erproben: sinnlos, aber voll tausendfach erprobten Sinns. Wie von selbst schlängeln sie sich aus ihm heraus, umzüngeln die Tastatur seines Laptops und erzeugen Klicks pro Sekunde, die praktisch jeden Gegner blass werden lassen. Karus ist, unter Klick-Maniacs, ein Phänomen. Seine Freunde nennen ihn KK – weiter kommen sie nicht, weil er … Himmel, Karus, wo sind Sie? Wo denken Sie hin? Woher nehmen Sie diesen … gepflegten Stil?

Lobt Karus sich digital, nennt er sich I-Karus.

Karus die Stubenfliege
5
§ 5
Hat Karus Stil?

Seine Fans finden: unbedingt! Warum lachen sie dann, sobald er ihn pflegt? Aber sie lachen ja nicht, sie zwitschern nur um die Wette. Es ist ein Summen und Weben um seinen Twitter-Kasten, als würden dort Hunderte junger Twitter-Arbeiterinnen ausgebrütet. Das ist nicht sexuell gemeint, allein deshalb, weil Frauen sich selten in seinem Dunstkreis äußern. Auch das ist nicht so gemeint. Karus hat kein Problem mit Frauen. Das behaupten viele, auch Frauen, insofern steht er damit nicht allein. Niemals, äußert er, habe er das Vertrauen missbraucht, das die Partei, die ihn nährt, in ihn setzt. Dasselbe könnte er über die Frauen sagen, die ihm vertrauen. Man kennt sie nicht, man hört sie nicht und es gibt sie doch. Gewiss: Käme es zur Abstimmung, sie gingen unerschrocken zur Urne und wählten ihn. »Meine Frauen sind Partisaninnen«: vielleicht hat er, in irgendeiner Bar das Glas hebend, den Spruch längst zum Besten gegeben, »ein Wink von mir und sie sind schon verständigt.« Nicht möglich! Es ist gefährlich, so zu reden. Frauen achten auf Frauenbilder, vor allem in der Politik. Karus, der Glückliche, hat keines. Falls doch, kauft es ihm keine ab.

Karus die Stubenfliege
6
§ 6
Der Sänger Caruso wurde einmal gefragt,

wie er sich den Vorrat an goldenen Tönen erkläre, der unerschöpflich seiner Kehle entströmte: »Gar nicht«, sprach er da, »sie erklären mich. Was wäre ich ohne sie? Würdet ihr mich kennen? Was also soll die Fragerei?« Vermutlich wird Karus dann und wann in seinem näheren Umfeld gefragt, wie er sich denn seinen Twitter-Elan erkläre. Eine Gelegenheit, seine mediterranen Wurzeln zu beleuchten: »Bin ich Caruso?« Womit er bereits einen Teil des Geheimnisses gelüftet hätte. Seine Tweets sind gerade so schräg, wie er denkt. Da er sich nichts dabei denkt, hat sein Denken frei. Was bewegt so ein freies Denken? Der Wind, das irdische Kind. Es spürt jeden Trend und läuft vor ihm her, als wollte es sagen: Seht, wer da kommt.

Karus die Stubenfliege
7
§ 7
Als Karus die Fünfzig erreichte,

um sie nie mehr zu verlassen, da geschah es, dass seine Partei zu stürzen begann: erst langsam, gewissermaßen vorsichtig, sie war schließlich nicht mehr die jüngste, dann, einmal in Fahrt gekommen, eher zügig und schließlich holterdiepolter. Da beschloss sie, sich erstmals in ihrer langen Geschichte an eine im Aufstieg befindliche Konkurrenzpartei zu klammern, teils, um deren Aufstieg zu bremsen, teils, um sich an ihr wieder aufzurichten, vielleicht auch, ganz im Geheimen, um sie mit in den Abgrund zu reißen. Sie nannte den Vorgang ›Kampf gegen Rechts‹, stolz darauf, endlich von jedem rechten Gedanken verlassen zu sein, einschließlich seiner einst zahlreichen Träger – bis auf einen, wohlgemerkt, der nicht weichen und wanken wollte und selbst die Gerichte bemühte, um in seiner Partei Partei zu sein, bis dass der Tod sie scheide. Auf diesen einen warf sich Karli wie ein verwundeter Adler. Denn er verstand ihn nicht und erblickte darin einen profunden Vorteil, der, wie er hoffte, ihn über kurz oder lang ganz nach oben tragen würde: ins Amt des Großen Vorsitzenden.

Karus die Stubenfliege
8
§ 8
Andere mögen das letzte Wort behalten, Karus behält den letzten Tweet –

»… und der geht immer in die Hose«, wie seine Feinde zu sagen pflegen. Sie sagen es ihm nicht ins Gesicht, sondern per Twitter, im Nachgang. So bleibt man unter sich und keiner sagt es weiter. Karus’ Twitterei ist ein offenes Geheimnis. Die Presse schreibt, wenn überhaupt, gedämpft darüber, als stammte die Information aus einer Krankenakte und sei streng vertraulich. Streng vertraulich ist manches, was er zum Besten gibt, im Vertrauen darauf, dass es niemandem auffällt. Allein die Unverdrossenheit, mit der er den Anspruch seiner Partei auf die umgehende Gestaltung des Landes weiterträgt, während die Umfragewerte sie langsam, aber sicher ›in den Keller schicken‹, nicht um Kohle zu schaufeln, sondern um Einkehr zu halten und den eingeschlagenen Kurs noch einmal zu überdenken (soweit möglich sogar die ›eingetretenen Veränderungen im Parteiengefüge‹, wie die Strategen jene anonyme Macht nennen, vor der sie kapitulieren), verrät vieles über den inneren Zustand des Führungszirkels, dem Karus vielleicht angehört, vielleicht auch nicht – darüber gehen die Ansichten der Journaille gewohnt weit auseinander.

Karus die Stubenfliege
9
§ 9
Wenn Karus nicht die Partei repräsentiert,

dann umso mehr ihren Tunnelblick. Er steht damit nicht allein, aber er macht seine Sache gut. Zum Beispiel fordert er mehr soziale Leistungen oft und gern just zu jenen seltenen Gelegenheiten, zu denen der Schuldenberg der öffentlichen Hände die Gemüter im Lande beunruhigt, bevor ein kindischer Anlass sie wieder anders beschäftigt, so wie er das kraftvolle Verlangen nach Steueraufschlägen für ein ausgezeichnetes Mittel hält, die Angst vor der drohenden, tausendfach angekündigten Rezession zu dämpfen. Und selbstverständlich tanzt er den CO2-Samba, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Besonders die aufgeblasenen Autos der kleinen Parteifunktionäre und ihrer wohlmeinenden Klientel, SUVs – Sport Utility Vehicles – genannt, erregen seinen Unwillen und lassen ihn olympische Blitze schleudern:

 
bestofikarus@ikarus

Heutigen Ausstoß an CO2 können wir uns gerade noch 12 Ys leisten. Damit wäre 1,5 Grad Erwärmung erreicht, selbst wenn Ausstoß danach dramatisch niedrig. Die Lage ist ernst. Trotz alledem: dieses Y 1 Mio SUV hierzulande verkauft. Im Prinzip ein Wahnsinn.

So schreibt, frei von der Leber weg, der freigestellte Professor und tritt vor die Tür, wo die elegante Dienstlimousine, vollgetankt und blank geledert, bereits auf ihn wartet. Ein Wahnsinn. Spaß auf dem Vulkan muss sein.

Karus die Stubenfliege
10
§ 10

Die Furchtlosigkeit, die sich in solchen Stakkatosätzen zeigt, bewährt sich umstandslos an anderen Fronten.

 

Flieg, Vöglein, flieg

The Importance of Being Prominent
1

#bestofkarus /1

 
bestofikarus@ikarus

Im Ernst: Stinky hat keine Ahnung. Ihm doch egal, ob wir gerade Grundlagen unserer Zivilisation zerstören. (Null Vorstellung, könnten kurz davor sein, Erde extrem heiß zu machen. Auf Dauer!)

Da steht er, der Feind. Furchtlos den Stab gebrochen: So muss es sein. Zugriff! Apropos: Wer keine Ahnung hat, mit dessen Vorstellungsvermögen kann es nicht sonderlich weit her sein. Wie stets bei Karus, reitet sich die Attacke von selbst. ›Keine Ahnung‹: ein Markenzeichen des anderen. Karus hat Ahnung, wo immer er antritt. ›Extrem heiß!‹ ›Auf Dauer!‹ Nun, Stinky, da bist du baff.

 

#bestofkarus /2

 
bestofikarus@ikarus

Für die zynische Frau XY und ihre sogenannte Partei ist Klimaschutz bloß Anlass, um vor ›vermeintlichen‹ Klimaflüchtlingen zu warnen. In Afrika könnten die Menschen verbrühen: wenn es nach ihnen ginge, blieben die Grenzen dicht. Ist doch jeder selbst schuld, wo er geboren wurde.

Starker Tobak. Sehr starker Tobak. Eine Frau soll das sein? Das soll eine Frau sein? Eine Frau, die mit verschränkten Armen zuschaut, wenn ›in Afrika … Menschen verbrühen‹? Solche Megären kennt unsere Partei nicht. Nicht wahr, Frau Vorsitzende? Aber ganz gewiss doch, Frau Vorsitzende. Wie hätten Sie’s denn gern? Das Wort wird gestrichen. Gleich morgen. Ich schwör’s bei meinen Tantiemen.

Auf ein Wort noch. Kein Klimaschutz ist ›vermeintlich‹. Vermeintlich ist alles, was nicht der Fall ist. Die ›richtige Frau‹ weiß, was der Fall ist, z.B. was eine richtige Partei ist und was eine vermeintliche.

Es gibt noch andere Gegner.

 

#bestofkarus /3

 
bestofikarus@ikarus

Abstoßend. Ein schlechter Mensch... Woher soll der Finanzhai Einblicke haben?

Woher wohl? Aber Herr Kollege! Das alles will gut bedacht sein. Was, wenn man eines nicht fernen Tages am Kabinettstisch zusammenstieße? Wie abstoßend wäre das denn? Pack schlägt sich, Pack… Man lernt immer dazu, lädt erst die Position dazu ein. Vielleicht reift so ein Urteil ja, vielleicht reift es nach, liegt es erst einmal im Container. Das gemeinsame Ziel gibt den Kurs vor.

Wenn Karus keine Expertise besitzt, tritt sein Vorstellungsvermögen in Aktion und erledigt den Rest. Sage niemand, er sehe achtlos über die Kleinigkeiten des Lebens hinweg. Das Gegenteil ist der Fall.

 

#bestofkarus /4

 
bestofikarus@ikarus

Da E-Roller offenbar so gut wie nie den Autoverkehr ersetzen, schaffen sie überwiegend Probleme.

›Überwiegend‹, weit überwiegend! Besser wäre es, den natürlichen Lebensraum des Autos nicht durch sinnlos eingeschleppte Fremdvehikel künstlich zu beschneiden. Geht zu Fuß, Leute, wir haben Probleme genug! Oder fahrt Auto, falls ihr noch normal seid. (Griff in die ideologische Mottenkiste des Feindes! Soll nicht wieder vorkommen!!)

Dort, wo Politik und Ökonomie hart aneinander stoßen, steht Karus und regelt unermüdlich den Verkehr. Das geht, wie jeder weiß, der die Verhältnisse kennt, nicht ohne Blessuren ab.

The Importance of Being Prominent
2

#bestofkarus /5

 
bestofikarus@ikarus

Ankündigung der Vermieter, noch schnell die Mieten zu erhöhen, ist Beweis für die Notwendigkeit des angekündigten Mietpreisstopps.

Man sieht: hier spielt der Professor seine logische Überlegenheit aus und verwirrt das Fußvolk. Wer denkt, die Mieten sollten ›noch schnell‹ erhöht werden, weil der Mietpreisstopp kommt, denkt zu kurz. Dass ein Geschehen als Beweis für die Notwendigkeit angeführt wird, es verhindernd herbeizuführen, lässt auch in der Pyramide die Herzen höher schlagen. Einer von uns! Wie schlägt er sich? Prachtvoll, das muss man sagen. Eine kleine Ehrenprofessur nach den nächsten Wahlen… Oder doch vorher…

Derweil setzt Karus andere Prioritäten.

 

#bestofkarus /6

 
bestofikarus@ikarus

Jetzt gehen wir vom Dom los und demonstrieren für ein weltoffenes Europa. Gewerkschaften gehen neben uns.

Was, bitte, ist daran komisch? Was soll daran komisch sein? Komisch, ich kann nichts Komisches dabei finden. Zweifellos macht es sich besser, die Gewerkschaften gehen neben uns als ganz allein neben sich. Wer weiß, wo sie sonst ankämen. ›Wir gehen vom Dom los‹: herrlich! Man soll die Weltoffenheit nicht übertreiben. Vielleicht gehen wir neben uns, dann lässt sich auch das nicht ändern. Wir gehen halt nebeneinander. Solange die Richtung stimmt, geht alles. Geht doch. Auffällig gut sogar. Nur eben: neben uns.

Nichts erhellt den Tag besser als ein kleiner Dauerzwist in der Regierung.

 

#bestofkarus /7

 
bestofikarus@ikarus

Koalitionspartner erlaubt Tabakwerbung für Jugend, aber keine Wahl. Brauchen Dauerwähler statt Dauerraucher.

Das ist Karus at his best. Wer so schreibt, hat auch im Jenseits keine Einbußen zu befürchten, es sei denn, er vermisst dort die Jugend. Aber sie kommt nach, keine Bange. Die Regierung erlaubt das Sterben, nur für die Auferstehung wird nichts getan. Man sieht, der Herr Prälat ist unzufrieden mit den Verhältnissen. Immerhin triebe die regierungsamtlich betriebene Auferstehung ihm die Jugend zuhauf ins Haus. Oder nicht? Suche den Fehler! Derweil ist Karus über alle Berge. Dort winkt er noch, den Dauerwahlschein des kommenden Dauerwählers fest in der geballten Faust.

Wenn Karus von künftigen Ämtern träumt, träumt er vom Reisen und macht sich schon einmal vorgreifend über seine künftigen Gesprächspartner lustig. Manche freilich kann er nicht ausstehen. Man merkt es daran, dass er einen scharfen Ton anschlägt und sich dabei umschaut, in welcher Reihe das außenpolitische Porzellan steht. Auch das Zerschlagen will schließlich geübt sein. Nein, der Mann mit der Peitsche verlangt keinen Eintritt. Was immer Sie denken, das ist keine Zirkusnummer. Es ist sein voller Ernst. Ernsthaft?

 

#bestofkarus /8

 
bestofikarus@ikarus

Kanzler K, der sich als junger Metternich feiern lässt, hat sich aus Machtgier auf den rechtspopulistischen Mob eingelassen. Dabei hat er seinen Mangel an Charakter zu verdecken versucht durch perfekten Auftritt.

Woher weiß der Mann das? Er lässt wissen, da liegt der Unterschied. Warum soll ein Leser sich etwas denken, wenn der Schreiber keinen Grund dafür sieht? Auf ein Wort, ein Wort nur: ›Machtgier‹. Aufheben!

 

#bestofkarus /9

 
bestofikarus@ikarus

X wirft Y vor, übertrieben zu haben und Fakten einseitig zu nutzen. Holla! Davon leben wir Politiker, auch wenn es dem einen mehr, dem anderen weniger gelingt.

Karus = Karus. Das qualifiziert ihn zwar nicht zum Identitätspolitiker, aber es verschafft ihm Spielräume, wo anderen der Boden unter den Füßen qualmt oder bereits, nach seiner Diktion, Absturz droht. Im Karussell der Träume, die seine Partei umtreiben, steht er aufrecht und sammelt Eintrittskarten. Es soll Freunde geben, die sehen es mit leichter Besorgnis. Wird ihm nicht schwindlig? Schwindelt ihm? Schwindelt er…? Diese Wallungen … diese Zuckungen … im Dienst an der Sache: Fallen sie nicht irgendwann auf die Person zurück? Was bleibt dann von ihr? Was bleibt von der Person, wenn die Sache zurückbleibt, vielleicht, weil sie sich totlief und jetzt alles egal ist?

Nein, Karus ist nichts egal.

 

#bestofkarus /10

 
bestofikarus@ikarus

Es droht Kontrollverlust.

Keine von Karus’ Drohungen könnte reeller sein. Und gerade das ist vielleicht … eine Simulation.

Aus dem Mann kann was werden.

 

Wo getwittert wird, fallen Schamgrenzen

Struwwe und Stadtmaus
1
Reinmeier . Struwwe
  • ―Auf ein Wort, Kollege Struwwe –
  • ―Ja?
  • ―Sie attackieren ja öffentlich den Kollegen Langwasser. Dergleichen war bisher…
  • ―Ganz recht. Dergleichen war bisher. Ausgeschlossen, wollten Sie sagen. Haben Sie gelesen, was sich Kollege Langwasser neuerdings im Netz der Netze leistet?
  • ―Ich muss gestehen… Haben Sie Kontakt zu ihm?
  • ―Das fragen Sie mich? Ich war sein Schüler.
  • ―Aber deshalb frage ich ja. Ich dachte, Sie wären befreundet.
  • ―Dachte ich auch mal, ja. Ich habe viel bei ihm gelernt.
  • ―Comment?
  • ―Will sagen: Für mich war Langwasser der sprühende, ästhetisch versierte, mit allen Wassern der Dialektik gewaschene Medien­didaktiker, wie er im Buche steht. Das war einmal. Heute finde ich einen erbitterten alten Mann, der dem Twitter-Beifall von Rechten, Populisten und Radikalen hinterherhechelt.
  • ―Sie meinen, er tut’s –?
  • ―Ja. Er tut’s, weil er Followers generieren will. Richtig: weil er nach Beifall von der falschen Seite giert. Er hätte das Medium erfinden können, es liegt ihm einfach zu gut, in gewisser Weise hat er’s erfunden, bevor es existierte –
  • ―Sie meinen, er war schon immer so.
  • ―Ja. Zumindest der Tendenz nach. Die Wahrheit in einem Satz. Da haben Sie’s. Ein Irrsinn. Wie kann man so etwas schreiben? Aber das war ja noch ironisch gemeint, alles zu seiner Zeit. Wir müssen die Dinge auseinanderhalten. Langwasser war immer ein liberaler Geist.
  • ―Das ist er nicht mehr?
  • ―Definitiv. Er ist ein Schandfleck für die Pyramide.
  • ―Aber er ist Ehrendoktor der Fakultät. Princeton, Harvard –
  • ―Gerade deshalb müssen wir handeln.
  • ―Was werfen Sie ihm vor?
  • ―Selbstradikalisierung. Er ist Beamter, wie stellt er sich das vor? Es gab Zeiten, da hat er Liebeserklärungen an die Regierung veröffentlicht.
  • ―Das muss ja nicht immer sein… Aber interessant. Ein liberaler Geist, unser Langwasser. Sie sagen es.
  • ―Hätte nicht sein müssen. Hat er aber. Und jetzt –
  • ―Was schlagen Sie vor?
  • ―Alles. Alles, was machbar ist. Die Eiterblase ausdrücken.
  • ―Sagen Sie, dieser Herr Stadtmaus, mit dem Sie das zusammen geschrieben haben … ein Schriftsteller ist das? Muss man den kennen?
  • ―Stadtmaus ist freier Autor. Wir kennen uns seit Jahren. Eigentlich seit dem Studium.
  • ―Eine ehrliche Haut, sozusagen.
  • ―Sozusagen.
  • ―Ich habe mir sagen lassen, dass diese freien Schriftsteller oft zu radikalen Ansichten neigen. Irgendwo muss die Aufmerksamkeit schließlich herkommen.
  • ―Stadtmaus ist radikaler Demokrat. Für den lege ich die Hand ins Feuer.
  • ―Dass Sie sich da mal nicht verbrennen. Ich habe ein wenig im Netz recherchieren lassen.
  • ―Ich weiß, was Sie meinen. Alles Lüge, alles Hetze.
  • ―Damals oder heute?
  • ―Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen.
  • ―Ist ja gut. Taschentuch? Nehmen Sie meins.
Struwwe und Stadtmaus
2

StruPet @StaMa Reinmeier spurt nicht.

StaMa @StruPet Vergiss ihn.

StruPet @StaMa Ich gebe nicht auf.

StaMa @StruPet Was willst du tun?

StruPet @StaMa Höher gehen.

StaMa @StruPet Sehr gut. :-))

3 Fragen
Die Sitzung II
2
Der Korridor und die Kunst frei zu sein

  • Der Entwurf, strunzt Stutenkeil, ist die transparente Botschaft, der Exzess die Verschlusssache der Überschreitung.
  • ―Warum?
  • ―Warum was?
  • ―Verschlusssache? Das behaupten Sie.
  • ―Der Entwurf ist einsehbar, daher rational. Der Exzess ist uneinsehbar. Daher irrational.

Stutenkeil verkantet sich.

 

  • ―Einsehbar, grollt Kärich. Was heißt einsehbar? Tolerabel meinetwegen, aber einsehbar … was ist schon einsehbar? Schwierige Frage. Gehört nicht hierher.
  • ―Und intolerabel? Was wäre dann intolerabel?
  • ―Intolerabel ist immer der Exzess.

 

Stutenkeil hat sich wieder gefangen.

  • ―Man könnte den Exzess als Unfall betrachten … das wäre dann ein Fall, der buchstäblich aus der in der Regel gelingenden Praxis herausfällt. Nehmen wir ein Beispiel aus der Natur. Es ist bekannt, dass Menschen, als biologische Wesen betrachtet, nicht fliegen können. Sie haben aber einen Ausweg aus dieser empfundenen Misere gefunden und benützen Flugzeuge. Fliegen, so sehe ich das, ist die zutiefst befriedigende Überschreitung eines fortdauernden Unvermögens. Anders ausgedrückt: Fliegen ist eine Praxis, die in stabiler Weise das natürliche Unvermögen zu fliegen unterläuft. Und woraus besteht diese Praxis? Lassen Sie es mich so sagen: Sie besteht aus einem Bündel technischer Maßnahmen, der Aktivierung eines sozialen Verhaltensmusters und der Affirmation des Unmöglichen: ›Ich fliege!‹ Selbstverständlich ›fliegt‹ ein Gepäckstück nicht, auch wenn es für die Crew oder die Technik gar keinen Unterschied macht, ob das Flugzeug mit Passagieren oder Frachtstücken unterwegs ist. Flugzeuge, das weiß jedes Kind, fliegen nicht deshalb, weil sie eine Flugnatur besitzen. Sie fliegen innerhalb eines definierten Korridors aus Geschwindigkeit, Steigwinkel, Kurvenradien etc. Sobald sie diesen Korridor verlassen, verlassen sie auch den Bereich definierter Flugzustände. Sie geraten ins Trudeln etc., also in eine Folge von Abläufen, an deren Ende mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Absturz steht, es sei denn, eine clevere Elektronik zieht sie wieder aus dem Schlamassel heraus. Der Absturz ist der Exzess des Fliegens. Die Black Box ist seine Dokumentation.
  • ―Also Kontrollverlust.
  • ―Aber sicher.

Die Sitzung II
3
Sie tanzte nur einen Sommer

Die Wissensgesellschaft öffnete ihren Schoß und alle strömten hinein: die Abenteurer, die Halbidioten, die Ganoven, die Süchtigen, die Vertrockneten, die Halbgaren und die Überständigen, diejenigen, die es wissen wollen, samt denjenigen, denen nichts ferner liegt, die Glücksritter, die Spesenritter, die Sack-und-Asche-Prediger, die Unheilsverkünder und Verleumder, die Großsprecher und die Kleinmütigen, die Besessenen des Geschlechts und die Zuchtmeister aller Klassen, die Vegetarier, die Veganen und die Lichtesser, die Regenwaldretter, die Konsumdonnerer, die Vielflieger, Vieldeuter, Vielbeschäftigten, das älteste Gewerbe der Welt und das jüngste. Dann kreuzten die Geheimdienste und die Militärs auf, die Fädenspinner im Verborgenen, die immer am Ball sind, wo es etwas zu holen gibt, die Aufrührer, Umstürzler, Zukunftsnarren und Zukunftsplaner, die Fanatiker aller Couleurs, die Frommen, die Heuchler und die Glaubenmacher, die Terror-Paten und die Götter des Heroin. Willkommen im Wissen! Herein ins Risiko! Wissen ist Risikokontrolle. Alles im grünen Bereich. No risk no fun. (Soviel Bereitschaft zieht die Eliten an, die wahren Eliten abseits des Gewühls.)

 

  • ―›Projekt‹ bedeutet: jemand nimmt sich etwas vor, aber nicht als Zweck, sondern als Mittel.

Stutenkeil, wo denkst du hin? Wir haben dich unterschätzt. Das hat dich die Pyramide gelehrt. Unser aller Lehrmeisterin. Das Mittel ist dem Zweck gegenüber kontingent, also ziemlich gleichgültig, bei alledem ambivalent. Ob es Prestige, Geld, Macht oder eine andere Art der Befriedigung einträgt, hängt daran, wie gut der Entwurf ist, ob er ›trägt‹, ob er ›durchkommt‹, ob er ›realisierbar‹ ist oder nicht letztlich ›an Widerständen scheitert‹ und auf dem Müllhaufen des vergeblich Ersonnenen landet. Wie steht es damit bei Fu? Gute Frage, nächste Frage. Und? Willst du es wissen? Eigentlich schon. Willst du es genau wissen? Eigentlich nicht.

  • ―Das Entscheidende am Entwurf ist nicht das Verhältnis von Zweck und Mittel, sondern die Praktikabilität des Ganzen. Die Frage lautet: Lässt er sich ausführen oder nicht?

Also gut. Ich entwerfe ein Automobil, ich entwerfe einen Tiefbahnhof, technisch zunächst kein Problem, einen Großflughafen im Land der tausend bürokratischen Vorgaben, eine extravagante Konzerthalle, einen Schießautomaten, eine gesellschaftliche oder literarische Praxis. Der Stand der Technik ist, aus der richtigen Perspektive betrachtet, immer derselbe. Er bestimmt, was geht, was nicht mehr geht (zu teuer!), was noch nicht geht (zuviel Forschungseinsatz). Also liegen meine Entwürfe keinesfalls weiter auseinander als die entsprechenden Praxen im Fabrik- und Automobilbau, im sozialen ›Umgang‹ oder in der literarischen Produktion. Komisch, aber einleuchtend: Was die Entwürfe von den Praxen unterscheidet, verbindet sie untereinander als Entwürfe. Die Koppelung an gängige Ideen und Planungsmethoden legt die Vermutung nahe, dass Entwürfe ganz allgemein nicht so weit auseinanderfallen wie die dazugehörigen Praxen.

Stutenkeil, du bist ein Genie. Die Praktikabilität der Projekte ist ihre Achillesferse. Darauf muss einer erst kommen. Was heißt das? Ein Projekt mit Aussicht auf Realisierung darf den vorhandenen Sachverstand nicht überfordern. Es übersteigt ihn aber in mindestens einem Punkt: es selbst wurde noch nie realisiert. Er muss also an der Ausführung wachsen. Wächst er nicht (oder in die falsche Richtung), dann … entstehen Investitionsruinen. Oder es entsteht einfach etwas anderes.

 

Nachtrag

Ein Entwurf, der sich mehr oder minder maßstabsgetreu ›in die Wirklichkeit‹ übertragen lässt, mag eine große technische Problemtiefe besitzen. Gleichzeitig – darauf kommt es hier an – kann seine kulturelle Prägnanz gering sein.

Definitionen

Kulturelle Prägung

Der Entwurf kalkuliert einen gewissen kulturellen Widerstand ein und ›spielt‹ mit ihm.

Kulturelle Prägnanz

Der Entwurf trifft auf bedeutenden kulturellen Widerstand und setzt sich durch (oder auch nicht).

 

Hier öffnet der Zirkus der Wissensfiktionen seine Pforten.

Die Sitzung II
4
Völlig falsch angelegt!

durchzuckt es Duro.

  • ―Ich würde hier drei Entwurfstypen unterscheiden. Erstens den pragmatischen: ich würde ihn als kontingent, aber hier und jetzt nützlich bezeichnen. Zweitens den anthropologischen, schärfer gesagt, den emanzipatorischen: der gehört in die Evolution des Gattungswesens, des Menschen, wie das traditionell heißt, problematisch, aber im Hinblick auf die Tradition … noch zu gebrauchen … noch zu gebrauchen. Drittens natürlich die Utopie, die U-to-pie: Die Möglichkeiten aktueller Realisierung sind mau, aber darum geht’s nicht … Zukunftsräume ausmessen … das große Rad. Vermuten wir mal: Mit dem Widerstand gegen die Realisierung von Entwürfen wächst die Tendenz, sie anthropologisch zu rechtfertigen … was hätten wir da? Die Aufhebung der Lebensnöte, der ewige Kampf um die Gattung, gegen Elend, gegen Ausbeutung, gegen Rückständigkeit, gegen die Reaktion … und dann das radikal Neue, die Lebensgrundlagen der Gattung, die Erhaltung der Biosphäre … wo hat der Kerl seine Augen im Kopf? Man muss die Vorteile sehen… Sobald ich mein Projekt anthropologisch rechtfertige, bin ich flexibel, der Mensch hat viele Belange, mit ihnen lässt sich manches begründen, es herrscht Notwendigkeit in diesen Regionen, denn: es geht darum, Not zu wenden, immer, zu jeder Zeit, mit allen Mitteln, die recht sind, darin liegt schon eine gewisse Entgrenzung. Das nicht festgestellte Wesen … erlaubt im Prinzip jede Aussage über sich.

Duro, das wissen alle, hört sich gern reden.

Die Sitzung II
5

Hier würde Duro, wäre er gefragt (aber niemand fragt ihn, er tagträumt vor sich hin und hat den Vortragsfaden verloren) Platons Höhlengleichnis ins Spiel bringen, die Meisterklasse der Interpretation, jedenfalls wenns ums Entfesselungsparadigma geht, und darum gehts doch. Geben Sie zu, Herr Kollege, darum geht’s doch. Ihnen vielleicht nicht, aber Sie verschwenden ihre Zeit, was nicht so schlimm ist, Sie verschwenden unsere Zeit, ich kann Ihnen nicht mal verdenken. Nein, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Die Welt ist, wie sie ist, und sie ist veränderbar. Jede Stimme ist eine Stimme zuviel, im Prinzip, denn sie ist Meinung, doxa. Doxa ist aber nichts Meiniges, sie gehört mir nicht, sie gehört niemandem, sie ist … sie ist … identisch mit dem Gerede der Leute, dem Schmiermittel der gesellschaftlichen Prozesse. Ein wenig Griechisch an dieser Stelle, Kollege, wenn ich bitten darf. Du darfst bitten. Da sitzen sie in der Höhle, hoch geht es her, unbeschreiblich das Stimmengewirr, jetzt metaphorisch betrachtet, denn es handelt sich um Diskurse und es geht, wie immer in solchen Fällen, um Diskurshoheit. Wer sie hat, der beherrscht die Praxis, der beherrscht die Praxen. Gewimmel auch da. Natürlich geht es um Herrschaft. Das hast du nicht auf dem Schirm, Stutenkeil. Warum eigentlich nicht? Hältst du Universität immer noch für einen herrschaftsfreien Raum? Soll’s geben, Kollege. Bist du dermaßen naiv? Das darf doch nicht wahr sein. Doch, es ist wahr.

Die Sitzung II
6

Duro traumträumt weiter, der Stift gleitet, der Notizzettel füllt sich, Entfesselung ist im Gang.

  • Die wahren Handlungsoptionen der Gattung sind durch die Vielfalt der Stimmen und Meinungen, vor allem jedoch der gängigen Praxen verstellt. Sie müssen, wie Platons Höhleninsassen, wie die Gefangenen von Workuta / Guantanamo, freigesetzt werden.
  • Der anthropologisch begründete bzw. gerechtfertigte Entwurf ist von Haus aus emanzipatorisch. Wer immer ihm widerspricht, muss mit der Aufforderung rechnen: Mach dich frei!
  • Die Freiheit, die Dinge so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, ist der imaginäre Beginn einer Welt, in der die Dinge sich nach den Vorgaben des Entwurfs ordnen.
  • Die Freiheit, die Dinge nicht so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, ist Unfreiheit und muss bekämpft werden.
Die Sitzung II
7

Stutenkeil kämpft. Er singt (vom Blatt):

  • ―Zur Dynamik anthropologischer Entwürfe gehört der Kampf der Fiktionen. Ein Entwurf kann an inneren Unstimmigkeiten und Widerständen scheitern. Dagegen kann er, streng genommen, nicht widerlegt werden.

Stutenkeil kommt aus Hannover.
Da steht er, der Leine-Weber des Betriebs.
Macht sich kenntlich.
Duro kritzelt schweigend.

Verhaltung

Die Spieler in ihren Körpern, bewegt vom Spiel,
plädieren auf: Nicht wirklich

Pyramidenschauer
1
Freiheit ©US

Hölzchen

Neuerdings sitzen wir doch alle in einem Boot. Oder, wenn Ihnen das besser schmeckt: Wir stehen alle an einer Wand. Egal, wen es trifft, gemeint sind wir.

Nassen

Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Wir unterscheiden in der Regel zwischen Fakten, ihrer Herleitung und den Konsequenzen, die wir daraus ziehen, ich meine jetzt ›wir‹ in einem sehr allgemeinen, mehr geschäftsmäßigen Sinn, ohne jeden Gemeinschafts-Hintergrund. Fakten sind Fakten, sie bleiben es, auch wenn die dafür aufgebotenen Ursachen Kokolores sind und die Konsequenzen mehr als fragwürdig klingen. Dieser Journalist, der sich mit Leuten beschäftigt, deren Weltbild er ablehnt und deren Programm er für gefährlich hält, stellt sie alle in eine Reihe, so dass, wer die Fakten bestätigt oder nur auf sie hinweist, von ihm automatisch jenen Leuten zugerechnet wird. Aber das ist Irrsinn, wirklicher Irrsinn. Das ist der Exzess.

Pyramidenschauer
2
Freiheit ©US

Blowasser

Wenn ich mich in der Pyramide bewege, bin ich ein archaischer Mensch. Eingehüllt in den Panzer meiner hierarchischen Stellung, die Waffen des Hochmuts und des Sarkasmus stets griffbereit. Noten, Gutachten, Voten sind die Instrumente meiner Jagd; sie dienen dazu, das Wild aufzuspüren, es zu verfolgen, zu stellen und zur Strecke zu bringen. Außerhalb der Pyramide bin ich entwaffnet, ich fühle mich nackt, ich warte instinktiv darauf, dass mich jemand verfolgt. Ich sehe das Misstrauen in den Augen der Nachbarin, die kein Wort von dem versteht, was ich rede. Für sie bin ich nicht niet- und nagelfest, ihre Welt käme ins Schlingern, hätte ich darin das Sagen. Gottseidank sind wir nicht soweit. Wie weit sind wir dann? Sie weiß es nicht. Ich weiß es auch nicht. Jemand wie ich sollte wissen, was die Uhr geschlagen hat, aber ich weiß es nicht. Für mich sind diese Menschen Schemen. Ihre Rede besitzt keine Geltung. Komischerweise ist sie es, die gilt. Beim Friseur, beim Bäcker (warum immer diese zwei?) erfahre ich, was sie denken. Es macht mich sprachlos. Die Wahrheit ist, ich erfahre es immer weniger. Die ausufernden Reden meiner Kindheit sind leiser gedreht, sie sind fast verstummt. Neulich, bei der Fußpflege, hörte ich sie wieder. Dort, durch Kabinen getrennt, reden die Leute noch. Ein simpler Vorhang gibt ihnen das Gefühl der Intimität. Offenbar kommt es darauf an, dass sie einander nicht sehen. Aber sie belauschen sich wie die Zuträger. Ich lausche. Das Belauschen steigt mir zu Kopf, es zerstört meine Arbeitsgedanken, es wirkt wie ein Rausch, es ist ein Rausch, ich bin außer mir. Manchmal, vor oder nach der Behandlung, erhasche ich einen Blick auf den fremden Körper, aus dem diese Reden quellen, und bin ernüchtert: Er ist es nicht. Was ist er nicht? Das Äquivalent zur Rede. Diese Rede und dieser Körper haben sich nichts zu sagen. Sie sind einander unbekannt. Die Evolution hat sie voneinander losgerissen. An der Kasse kommen sie wieder zusammen. Mich kann das nicht täuschen: Ich habe gehört.

Pyramidenschauer
3
Freiheit ©US

Tummler

Ich kenne einen Schriftsteller, der schreibt, wie er denkt. 1:1. Ob er denkt, wie er schreibt? Schwer zu ermitteln. Dort, wo er herkommt, genügte der Ansatz. Wie ich das meine? Das Wort ›Freiheitsentzug‹ klingt seltsam, wenn es auf die Praxis einen Staates angewandt wird, der Freiheit nur in Ausnahmefällen gewährt, zum Beispiel als Freiheit, das Maul zu halten oder in den Knast zu wandern. Und so zu reden ist noch naiv, da er die Freiheit, das Maul zu halten, ganz sicher nicht gewährt, ebensowenig wie die Freiheit zu sagen, was alle denken. Eher die Freiheit zu denken, was alle sagen. Ich rede vom zweiten Bekenntnisstaat auf deutschem Boden, wenn man den patriotischen Furor des Kaiserreichs einmal beiseitelässt. Sie wissen, was ich meine. Dieser Schriftsteller – nein, es ist nicht unser geliebter M – hat einen Großteil seines erwachsenen Lebens hinter Gittern verbracht, darunter Jahre verschärfter Haft, die kein Mensch ohne größere Schäden an Körper und Geist übersteht, weil er … weil er … es ist so läppisch, helfen Sie dem Wort über die Zunge! … weil er … ein Gedicht geschrieben hat. Ein Gedicht. Kein aufrührerisches, bewahre, eher ein blasses, ein bleiches, wenn Sie den Unterschied verstehen. Sie verstehen ihn, ich sehe es, Sie sind im Bilde. Viele bleiche Gedichte wurden in diesem Lande geschrieben, nicht immer wanderten ihre Verfasser in den Knast, manche auf Schriftstellerkongresse, wo jedes ihrer Worte gewogen wurde, dieser hier, wie gesagt, wanderte gleich in den Knast, er blieb ein Wandernder, dem der Unterschied zwischen Knast und Nichtknast zusehends schwand, er wurde ihm gewissermaßen schleierhaft und er bat die Behörden in mehreren wohlaufgesetzten Schreiben, den Schleier von ihm zu nehmen oder ihn gehen zu lassen … wohin?

Pyramidenschauer
4
Freiheit ©US

Leckebusch

Wo will einer hin, dem der Unterschied abhanden kam? Die Frage musste einmal gestellt werden. Der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit, der Unterschied, an dem sich Europa entscheidet, er konnte außer Kraft gesetzt werden, weil die Handlungen, welche überall auf der Welt im Namen der Freiheit vollzogen werden, auf dass Freiheit sei, durch zwei teuflische Systeme angeeignet und vollständig ihres Sinnes entkleidet wurden. Unfreiheit als Freiheit und Freiheit als Unfreiheit zu verkaufen fällt einem geübten Propagandisten leicht, sofern er nur seine Freiheit (oder was er dafür hält) damit erkauft. Sperrt man ihn ein, fällt das Kartenhaus in sich zusammen und er ist, um wieder herauszukommen, zu allem bereit. Man muss ihm also das Loch zeigen, in das man ihn stecken wird, sollte er nicht parieren. Schon erscheint ihm seine Unfreiheit als die kostbarste aller Freiheiten und er ist willens, sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Da stellt sich die Frage: Wer in einem solchen System ist nicht Propagandist? Sie führt direkt auf die nächste: Wer ist es nicht aus freien Stücken? Einer, der seine Freiheit verteidigt und bereit ist, die der Mitmenschen dafür in die Tonne zu treten, der hält sich nicht für einen Mitläufer. So einer hält sich am Ende für eine besonders pfiffige Art des Widerstandskämpfers und lacht jedem, der ins Gefängnis geht, ins Gesicht: Darum geht’s nicht. Darum ging es nie. An der Überzeugung, dass es zu einfach wäre, in den Knast zu gehen, erkennt man den wahren Sollerfüller.

Pyramidenschauer
5
Freiheit ©US

Blowasser

Diktatur kommt auf leisen Sohlen. Hat sie uns je verlassen? Natürlich nicht. Sie steht daneben – abwartend, taxierend, taxiert, eine Karikatur, eine Karikatur der Herrschaft des Volkes, eine Karikatur ihrer selbst, manchmal verliert einer die Nerven und schreit, wir hätten sie doch längst, dann blicken sich alle erschrocken um, der Schreihals, selbst erschrocken, schweigt, er ist stumm beschäftigt, die losen Fäden seiner Reputation zusammenzuhalten, das füllt ihn aus, bis zum Rand und darüber. Er wird kein Geschrei mehr veranstalten, dazu reicht seine Kraft nicht. Kraft muss einer haben. Oder ein loses Maul. Das lose Maul, man mag von ihm halten, was man will, ersetzt spielend die größte Kraft. Es ersetzt auch den größten Verstand, der zu ergrübeln versucht, was vorgeht, und dabei dem Paradox der ›Pfade, die sich verzweigen‹, erliegt: Es ist zur Stelle, es fragt nicht danach, ob es gebraucht wird, es braucht auch nichts, es sei denn, die Luft zum Atmen. Sei kein Rindvieh! Das schreibt keiner an seine Tür, er käme sich dämlich vor, aber er trägt den Spruch über dem Herzen, er atmet mit. Neulich las ich, der Schauspieler Pimwege will einen Preis stiften: Wer ist das Rindvieh? Er hofft auf zahlreiche Wortmeldungen. Das ist zynisch. Dabei ist, wer sich meldet, nur in den Augen der Freunde eins, die anderen finden ihn ›unheimlich clever‹, sobald sie sich vom Gelächter erholt haben. Die Selbstanzeige ist die klassische Form, Verhältnisse kenntlich zu machen. Offen sein, wo es niemand erwartet, und zusehen, welche Türen sich umgehend schließen: ein Schatz.

Pyramidenschauer
6
Freiheit ©US

Leckebusch

›Wir leben in einem geschützten Raum.‹ Wer hat diesen Unsinn aufgebracht? Werden wir draußen misshandelt? Von wem? Ich zum Beispiel, ich werde misshandelt, aber nicht draußen. Werde ich überhaupt misshandelt? Meine Bücher werden öffentlich mit Abscheu bedacht, sie verschwinden, wie ich bemerke, peu à peu aus den Regalen, mein alter Verlag ist unerreichbar, mein neuer zögert, meine Bücher auf den Markt zu bringen, er zögert, unter uns, schon viel zu lange, aber ein Wir habe ich nicht gesichtet. Hätte ich sollen? Dieses Wir wäre ja identisch mit – lassen Sie mich nachdenken – uns allen hier oder, lassen wir das ›alle‹ weg, wir hier in diesem Raum. Das setzte aber voraus, dass wir irgendeine gemeinsame Eigenschaft aufweisen könnten, eine, die uns kenntlich macht, zum Beispiel, dass wir da draußen, zum Beispiel als Gruppe – Viererbande haha – angegriffen und verfolgt würden … Kennen Sie Verfolgung? Nicht direkt? Nun, dann nicht. Sind wir hier drinnen wir und draußen andere? Werden wir hier misshandelt oder draußen? Nein, wir werden niemals misshandelt. Sie sind es doch, die ein Quarantäneglas über mich gestülpt haben und jetzt darauf lauern, was er wieder sagen wird, damit der Abstand, auf den Sie gegangen sind, womöglich Sinn ergibt. Kennen Sie Verfolgung? Ich meine, am eigenen Leib, wie es sich gehört, mit Berufsverbot und ›Haftanstalt‹ und, meinethalben, der irren Aussicht auf Freikauf in einen Westen, den Sie nicht kennen, in den Sie daher alles hineinprojizieren, das Sie nicht kennen, eingeschlossen Ihre eigene Unschuld … ja gewiss, Unschuld, denn diese Unschuld gäbe es gar nicht, gäbe es nicht den Westen da draußen, diesen Horizont der Unschuld, aber gewiss nicht ihrer, denn schuldlos, unschuldig sind Sie nur dann, wenn es Ihre Sehnsucht, in den Westen zu gelangen, nicht gibt, wenn sie nichts weiter ist als eine böswillige Unterstellung, ausgestreut, um Ihr Ansehen im Kreis der Genossen zu ruinieren. Alles andere wäre unentschuldbar. Und dennoch rumort er in Ihnen, der irre Wunsch, dieser Sache hier ein Ende zu machen, ganz recht, ein Ende, die Abkürzung in die Freiheit zu nehmen, eine andere Freiheit als die, die sie sich gerade nehmen, um dafür zu bezahlen. Denn im Grunde, im Grunde wollen Sie nicht bezahlen – hier nicht und dort nicht, überhaupt nicht, wenn es nach Ihnen geht, Sie wollen zahlfrei… Wovon sprach ich gerade? Vergessen Sie’s. Vergessen Sie’s einfach. Manchmal gehen die Pferde mit mir durch.

Pyramidenschauer
7
Freiheit ©US

Nassen

Alle in eine Reihe… Es ist gefährlich, in einer Reihe zu stehen, die Leute lieben die Differenz aus eigensüchtigen Motiven, das Programm ist ihnen eingeschrieben. Wer über die Macht verfügt, andere antreten zu lassen, der besitzt auch die Macht zu vernichten. Denunzianten lieben die Reihe, sie lieben es, Menschen an einer syntaktischen Schnur aufzureihen, die wenig oder nichts miteinander verbindet: die Schnur führt mitten durch sie hindurch, sie demonstriert, was von ihnen zu halten ist, je dicker der Strick, desto weniger bleibt von ihnen übrig. Wenn nichts von ihnen übrig blieb als ein wenig Glanz (er zumindest muss bleiben, denn sonst lohnte sich die Akquise nicht), dann wird es Zeit, dass sie hängen: verraten, verkauft und der arglosen Kundschaft um den Hals gelegt, um sie besser würgen zu können, wenn erst die Zeit gekommen und der syntaktische Unfug nicht mehr vonnöten ist.

Leckebusch

Kritik? Wer redet von Kritik? Reden wir über das, was der Kritik antwortet: Schweigen. An den Rändern des Schweigens bricht hervor, womit der Kritiker niemals rechnet, es sei denn, er kennt seine Pappenheimer und seine ganze Kritik ist nur ein abgedroschenes Ritual. Was hervorbricht, sind Wörter, Wörter, keine gewöhnlichen Wörter, sondern präparierte, schwer in der Hand wiegende Wurfgeschosse, mit denen man am besten auf den Kopf zielt, aber das muss man der Meute nicht groß erklären, das weiß sie ganz von alleine. Trotzdem: nicht jeder Wurf trifft. Dafür trifft er dann einen anderen Körperteil. Oder er trifft jemand anderen, der, zufällig oder nicht, danebensteht und sich eigentlich sicher wähnt. Wie naiv muss man sein, um sich eigentlich sicher zu fühlen? Ich habe mich das oft gefragt und folgende Antwort gefunden…

Blowasser

Don’t forget! Niemals vergessen, niemals verzeihen. Das sicherste Mittel, das gemeine Wesen für die kommenden Gemetzel zu präparieren, ist die Herrichtung der Böden. Verstehe das, wer will. Und führe mich nicht in Versuchung. So ein Hass, sagen wir, durch ein geeignetes Parkettmuster lebendig gehalten in alle Ewigkeit, besitzt immer einen guten Grund, wenn nicht einen, so zwei oder drei, er ist, will ich sagen, nie um Gründe verlegen. ›Lass uns darüber reden? Wo kämen wir da hin.‹ Niemals darüber reden, immer daran denken! Nennen wir sie die auseinandertreibende Macht, die viel Zeit hat. Sie lässt reden, sie lässt auch zuhören, sie ist selbst die beste Zuhörerin, aber sie hört nichts außer dem Immergleichen: Deine Zeit wird kommen. Übrigens lässt sie nicht nur die gegnerische Partei reden, sondern auch die eigene, ohne sich dazu zu verhalten, es sei denn mit einem Schulterzucken oder einem »Lasst mich aus, ich war’s nicht.«

Leckebusch

Man fühlt sich sicher, weil man nicht weiß. Man weiß nicht recht, solange man keinen Bezug zur eigenen Existenz herstellt. Man weiß nicht alles, solange man den falschen Bezug zur eigenen Existenz herstellt. Man weiß nicht wirklich, solange man in falschen Bezügen lebt. Die Frage konzentriert sich also darauf, welche Bezüge wahr oder falsch genannt zu werden verdienen, jawohl, verdienen, denn es handelt sich um eine Frage des Verdienstes. Bezüge, welche sich um dein Wohlbefinden verdient gemacht haben, stehen bei dir, will sagen, bei deinesgleichen im Ruf der Wahrheit: So ist es und nicht anders. Wer etwas davon anders sieht, wird da leicht zum Gegner, er will dir etwas wegnehmen, er mindert dein Wohlbefinden, er schränkt dich ein, er bewirkt, dass du dich eingeengt fühlst und du schüttelst ihn ab. Wenn er dann neben dir herläuft und weiterschwatzt, erkennst du in ihm eine wirkliche Gefahr, seine bloße Mitexistenz schwärzt dich ein, um ihn loszuwerden schwärzt du ihn an.

Tummler

Ach ihr Leichtgläubigen! Oder soll ich euch ›Hochfahrende‹ nennen? Denn ihr fahrt hoch, aber auf welchen Wegen? Wir alle sind Pyramidenbewohner, da beißt die Maus kein’ Faden ab, wir sind Innenmenschen, auf Distanz zu allem bedacht, was Außen heißt oder danach schmeckt, riecht, aussieht: So bauen wir unseren Käfig selbst. Wir lieben diese Zone verdünnter Wirklichkeit. So sehr lieben wir sie, dass wir sie automatisch zu hassen beginnen, sobald das Innere uns bedrängt: Gibt es kein wirkliches Leben im unwirklichen? Doch, das gibt es, es hört auf den Namen der Intrige, der kleinen, beiläufigen wie der weitgespannten, die weder Anfang noch Ende kennt und deshalb eine dritte Realität genannt werden kann, jedenfalls sehen sie viele so an und leben und weben in ihr, dass es eine Macht ist. Ja, sie halten sie für die Macht und glauben, sie stünde ihnen zur Verfügung, als fließe sie ihnen aus der Institution zu, so wie das Leitungswasser aus einem Rohrsystem, das für jeden Haushalt einen Hahn bereithält, wenn nicht mehrere.

 

Homomaris breitet seine Verzweiflung aus
und bekommt Applaus

 
Die Horde
Faschistische Massen
1
Ein Tigerritt

Die Politik ist ein Tiger. Wegenaer, Unruhe im Herzen, hat beschlossen den Tiger zu reiten. Mit von der Partie: Nassen, dem imponiert, dass Wegenaer den scheidenden Rektor ›eingekauft‹ hat. Nassen, der kühle Nassen mit den feuchten Patschhändchen versteht nichts von Kunst, wie er ungefragt jedem beteuert, er ›hält sich da raus‹, aber als Vehikel der Politik…

  • ―Wow!

Elisabeth ist der Star des Tages. Der Rektor, Rührung im Blick, vergisst ums Haar sein Manuskript, was jucken ihn fette Pferde angesichts dieser Rasse, dieser Anmut, dieses glänzenden Blicks, dieser rundum aparten Person, die ihn, da macht er sich nichts vor, nun vermutlich beerben wird, obgleich ihre Quali-, ihre Quali-, ihre Qualifikation… Schwamm drüber… Der Gott der Fikationen hat gesprochen. Wow. Was heißt das eigentlich? Woll? Nicht dein Ernst. Soviel sprachliche Sensibilität muss erhalten bleiben. Gerade jetzt, wo so vieles geht. Rektorin der Herzen! Ungewohnt, aber warum nicht?

 

Nassen, der Mann, der nichts anbrennen lässt, hat Kärtchen drucken lassen und sie über das leere Gestühl verteilt.

RETHINK SCIENCE! Vote für Elisabeth
Faschistische Massen
2
Homomaris, die Brille aufsetzend, singt vom Blatt –

  • ―Der Künstler geht eigentlich nicht vom Wort aus, sondern von der Fläche. Das Wort, als Klang, stellt sich erst im Nachgang ein, sobald das Ganze zu wirken beginnt. Aber dazu muss einer schon einen Schritt zurücktreten, nicht von der Leinwand, das geschieht laufend, nein, darum geht’s nicht. Man muss von dem zurücktreten, wozu es bisher eine starke Bindung gegeben hat, ein gespanntes Einssein gewissermaßen, eine Intensität oder wie man das nennen soll. Solange diese Intensität besteht, existiert das Kunstwerk noch nicht losgelöst im Raum, es vegetiert, man muss es so sagen, an der Brust des Künstlers, es hat keine Existenz. Irgendwann hat es eine Existenz, es blickt mich an, es entreißt mir das letzte, das es noch nicht besitzt, es will einen Namen von mir, und eh’ ich verstehe, was sich da abspielt, eigentlich ohne mein Zutun, entschlüpft von irgendwoher dieser Laut, nicht mehr.
    Nein, der Titel tut nichts zur Sache. Genauso gut könnte hier stehen: Die Nonne. Erkennen Sie einen Unterschied? Sie dürfen gern einen erkennen, aber er existiert nicht, er hat keine Valenz. Ich könnte ihn streichen, Sie läsen dann Die durchgestrichene Nonne, was soll das sein? Was soll das sein, frage ich und erhalte keine Antwort. Aber was ist dann Die Horde? Da ist etwas anderes. Es geht mich eigentlich nichts an, ich signiere ja nur. Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, warum dieses Bild jetzt plötzlich Die Horde heißt. Es heißt auch nicht plötzlich so, es hat sich so und nicht anders gelöst, es ist ein Ganzes geworden, ein Stück Welt, und dieses Stück Welt heißt Die Horde. Wir sprachen heute morgen über die Entstehung der faschistischen Masse, da vollzieht sich etwas sehr Ähnliches, fast wäre man versucht zu sagen, es ist der gleiche Vorgang, obwohl auch wieder nicht zu vergleichen. Natürlich nicht.
    Es gibt, denke ich, einen Punkt in der Entwicklung, da löst sich etwas. Das gesellschaftliche Leben, was soll das sein? Nichts Besonderes, denke ich, es existiert. Wie definieren Sie nichts Besonderes? Irgendwann liegt da eine Spannung an, die Sie biegt, ja biegt, hineinbiegt, eine Erregung, die sich nicht bremsen lässt, ein Irrsinn, der die Massen ergreift. Aber das ist auch nur eine hohle Phrase, denn die Massen, die da ergriffen werden, die gab es gerade noch nicht, die hat die Spannung sich selbst erfunden, gerade so wie die künstlerische Spannung sich das Werk erfindet. Das geschieht ja nicht einfach im Kopf. Und doch ist es Kopfarbeit, heiße, erbitterte Kopfarbeit, die nicht nachlassen will, die niemanden auslässt, auch den Einzelnen nicht, der widerstrebt. Was ist das für ein Widerstreben, frage ich? Was mehr als eine Weise, den Bann zu leben? Das Unfertige, das sich vollenden will? Ein gerade noch Unfertiges und jetzt steht es fertig da, es trägt einen Namen und es trägt ihn zu Recht. Auch wenn es jedem ins Gesicht schlägt, der ihn auszusprechen wagt. Daran erkennt man es ja.
    Das wenigstens ist in der Kunst anders. Aber sicher sein darf man sich nicht.

Faschistische Massen
3
Turbulenzen (1)

Homomaris blickt gebannt auf die Wand, wo soeben die Horde unter den perfiden Strahlen der Nachmittagssonne verschwindet, im Nichts, wie er maliziös zu Nassen anmerkt, der neben ihm sitzt und nichts verstehend langsam zu nicken beginnt –

ein dramatischer Augenblick in der Geschichte der Malerei, die noch nichts davon weiß, wie sollte sie auch, ungeschrieben. Wegenaer, ihr Autor in spe, dreht sich ein Papierhütchen ins Ohr, während er Elisabeths Charme erliegt, der von keinem Verlust Meldung empfing. Ein paar im Raum verstreute Studenten blicken unruhig von ihren Notizen hoch und Lydia S., seit Tagungsbeginn den Ehrenplatz neben Homomaris behauptend, erstarrt vor Schreck.

  • ―Sic transit gloria mundi.

Es ist Eike, der den Satz hörbar – nicht das erste Mal in seinem akademischen Dasein – vor sich hinmurmelt. Seit Stunden gibt er das Ekel im Raum, verlangt eine exakte Definition von Kunst und bestreitet ihre Wirkung auf den Gang der Geschichte, zumal der abendländischen.

  • ―Zeigen Sie mir eine Kanone, auf die ein bemaltes Stück Leinwand Eindruck macht.

Homomaris gefällt der Unbekannte. Er bietet ihm eine Demonstration an. Die Welt ist ein Kartenhaus, das er jederzeit mit seinem Pinsel zum Einsturz bringt, es muss nur von ihm verlangt werden. Doch Wegenaer schreitet ein und erklärt diesen Disput für beendet.

  • ―Wir wollen doch nicht hinter Breton zurückfallen.

Woher weiß Wegenaer –? Breton steht als Stichwort auf einem der Zettelchen, die Homomaris aus der Hosentasche gekramt und vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat. Jetzt hilft ihm Lydia, bleich bis hinter die Ohren, mit einem winzigen roten Fleck unter dem rechten Wangenknochen, beim Sortieren.

Breton = Ignotus des Massenzeitalters
So steht es da. Breton, das ist der große Unbekannte, der die Politik mit der Kunst infiziert und damit auf ewige Zeiten vernichtet, denn was, so Homomaris, da draußen sich als Politik verkleide, sei, mit Verlaub gesprochen, schlechte Kunst, dazu verdammt, auf ewig in der Dilettantenhölle vorgeführt zu werden – zur Abschreckung bestimmte Beispiele dafür, wie man’s nicht macht, aus dem Lehrbuch für angehende Teuf- und Firmlinge. Erschöpfend habe sich das bereits im Faschismus gezeigt, der gottlob im Grunde eine römische Angelegenheit geblieben sei, was mit geradezu mathematischer Präzision aus der bekannten Fotografie (sic!) des verkehrt herum aufgehängten Duce spreche. Währenddessen verstopfe die germanische Sumpfbrut noch heute, in diesem wohl historisch zu nennenden Moment, die Kanalisation Europas –:

  • ―Jawohl, ruft da der Bibliotheksrat Gaggauer, der unbemerkt hereingeschlüpft ist, ›auf einen Sprung‹, mehr ist seiner zarten Gesäßmuskulatur nicht zuträglich. Doch keiner hat Lust ihm zu antworten.

Faschistische Massen
4
Turbulenzen (2)

Stattdessen stellt Elisabeth endlich die Frage, die ihr seit Stunden auf der Zunge liegt: ob Homomaris denn glaube, dass in seinen Arbeiten, die sie sehr bewundere, sich die menschliche Natur widerspiegele oder sich hier doch nur ein zeitgenössischer Spalt geöffnet habe, der, nicht zum Nachteil kommender Generationen, sich auch wieder schließen werde, so dass diese glücklicheren Wesen ebenso ratlos davor stehen müssten wie sie selbst, Elisabeth Leckebusch, vor so manchem, sie sage mal Werk, das der zeitgenössische Museumsbetrieb an die Oberfläche der Wertschätzung spüle.

Da lächelt die Herrenriege: Respekt! Lydia ist entsetzt. Homomaris’ Stimme, eine aufspringende Knospe, rasch austreibend, senkt sich voll und blau: Wir wüssten doch alle, dass die menschliche Natur verderbt sei, jemand müsse ein Narr sein, ein Niemand, um das zu bestreiten.

  • ―Ich bin Künstler, also Narr, ich hüte mich vor dem Unvollkommenen, ich hüte mich vor dem Vollkommenen. Warum nur? Weil es das Unglück anzieht.

Tief senkt sich sein Blick in Elisabeths, kein Einverständnis glimmt da, stattdessen priesterliche Belehrung, den Schalk im Nacken.

  • ―Die menschliche Natur spricht in Rätseln, das ist ganz natürlich, also lasse ich die Rätsel sprechen und da kommt sie auch schon, tack tack tack, denn es ist ihre Sprache, die da gesprochen wird.

  • ―Sie meinen, wirft Nassen ein –

  • ―Ich meine nichts, junger Freund, das ist der Trick, wie wir hier gerade sehen. Das, worüber wir sprechen, ist keine Frage von mein und dein. Es geht um Unvollkommenheit, die sich nicht erträgt und sich deshalb Eingriff um Eingriff weiter treibt.

Der Schalk ist weg. Langsam, ganz langsam, ein Fünkchen, nicht mehr, erglimmt er wieder, stärker und stärker, je länger der Pinselmann fortspricht.

  • ―Die Natur da draußen ist immer perfekt, über sie habe ich keine Macht. Ich wühle in Unvollkommenheit, je unvollkommener, je krückenhafter die Fortbewegung, desto nachhaltiger wächst meine Macht. Aber das verstehen die Menschen nicht. Sie wollen etwas bewundern, vor dem sie sich, ginge es mit rechten Dingen zu, fürchten müssten. Ich gehe selten in Galerien, warum? Weil ich dort Grauen empfinde, Grauen vor all den perfekt gemachten Deformationen. Sie alle greifen nach mir, so als verlangten sie von mir, dass ich das Spiel weitertreibe, dem sie sich verdanken. Und ehrlich gesagt, die Phantasie der meisten Maler ist erbärmlich, es wäre ein Leichtes, auf die Wünsche dieser züngelnden Monster einzugehen, so dass ich erleichtert bin, wenn ich endlich wieder ins Tageslicht zurückkehre. Man darf der Hölle nicht zu Willen sein.

Faschistische Massen
5
Elisabeth zieht einen Schluss

Hat er das gerade gesagt? Hat er das wirklich gesagt? Elisabeth schwankt einen Moment, wie sie das Gehörte verorten soll, dann strafft sich das Gedankenkorsett unter der Wucht der einsetzenden Empfindung. Wer hat diesen Teufelsaustreiber hier herein gebracht? Wegenaer? Wer auch immer! Der Mann gehört nicht in die Pyramide. Er mag der letzte freie Krieger der Malerei sein, aber seine Freiheit ist outdated, es gehört sich nicht, so zu sprechen, geschweige denn so zu denken. Was dieser Mann ausspricht, es verneint (der Gedanke steht ihr klar vor der Seele) ihre Art zu sein. Die Seele, mit verschränkten Armen das Ihre schützend, zögert nicht mit der Antwort: Das geht nicht. Das geht gar nicht. Dieser Alte, ein neuer Savonarola, behauptet: Die moderne Kunst, nein, die moderne Politik führt uns in die Hölle, nein, sie ist die Hölle, wir alle sind, unter dem scheinbar gütigen Blick des Fanatikers, Verdammte. Die Politik … wer ist das? … die Politik antwortet durch den Chor ihrer Geschöpfe: Wir sind mehr. In den Käfig mit dem wilden Mann!

 

Auf dem Notizzettel der Rektorin in spe steht:
gendern!
 

Duro, ach Duro

Abschied zu Amtszeiten
1
Duro schmeichelt sich beim Feuilleton ein und bekommt einen Korb

Manuskript

Die bleiche Chefin bereitet ihre Abschiedsrede vor und wendet sich in Gedanken an das Volk, das sie aus Unbildung abgewählt hat –:

Abschied zu Amtszeiten

Die Welt ist ein Zirkuszelt. Habe ich euch hineingeritten, so kann ich euch auch wieder hinausreiten. Das ist eine unumstößliche Tatsache, an der sollt ihr nicht rütteln. Denn wer an Tatsachen rüttelt, dem fallen sie auf den Kopf. Anders als einige von euch zu denken glauben, bilden sie nicht das Pflaster, auf dem die Enkel ihre Schuhsohlen ablaufen, sondern die schön gebogenen Säulen und Überdachungen des Universums, an denen wir alle unsere Freude haben werden, soweit wir dann noch fähig sind, den Blick zu erheben und Dankbarkeit zu empfinden. Ich jedenfalls habe unter manch einer Tatsache gesessen, als sei es die meiner Geburt. Nie fand ich Gelegenheit, an ihnen zu zweifeln. Es hätte auch nichts gebracht. Einer, der zweifelte, fand ganz umsonst für sich die Gnade der späten Geburt, doch niemanden, der sie ihm abnahm.
Im Abnehmen liegt das Geheimnis der Lebenskunst. Meine Geburt zum Beispiel vollzog sich in allem rechtzeitig, vor allem die zweite, der wir alle so viel verdanken. Dankbarkeit ist das Recht des Stärkeren als Selbstverpflichtung für alle, die guten Willens sind. Sie verstehen das? Falls nicht, dann lassen Sie’s eben. Es kommt auf diese Dinge nicht wirklich an. Als Zweimalgeborene zur rechten Zeit fand ich noch stets Gelegenheit zu tun, was getan werden musste. Alles zu seiner Zeit, wann denn sonst? Wann denn sonst? So habe ich vielerlei angeschoben, das rollt und rollt und… – hoppla! Wo stehen wir jetzt? Euch alle, von denen ich mich abwandte, solange noch Zeit dazu war, frage ich: Wo stehen wir jetzt?
Ich weiß, da draußen murmeln einige: Am Abgrund. Mag sein, mag gut sein! Selbst wenn es so wäre, gäbe ich zu bedenken: Wo, wenn nicht hier, stünden wir, hätte mein Mut nicht gereicht, die Dinge dorthin zu bringen, wo sie jetzt stehen oder rollen? Wo stünden wir sonst? Ich ganz allein war meine Zeit, in Handlung gefasst. Ich war über euch verhängt und jetzt nehme ich mich hinweg. Strahlt der Himmel deswegen heiterer? Blühen die Schneeglöckchen heller? Träumt das Gemüt inniger? Ich glaube kaum. Sprachlos und kalt vollzieht sich mein heutiger Abgang. So ist’s gewollt. Nur dass mal wieder keiner was merkt bei all dem Gequatsche. Und wer ist schuld? Ihr merkt schon, ich stelle die Schuldfrage. Es traut sich ja sonst keiner an sie heran.
Wer ist schuld? Nun gut, Schuld ist, wie die Sprache, weiblich, ich frage also: Wer ist diese Schuld? Ich persönlich habe es nicht ergründen können, dafür war meine Amtszeit zu kurz. Jetzt seid ihr am Zug. Wenn ich euch einen Tipp geben darf… – aber ich sehe bereits, ihr lasst euch von mir nichts mehr sagen. Das trifft sich gut, denn auch ich … wie? Ein Zwischenruf zu später Stunde? Das hätte ich nicht erwartet. Ja dann reden Sie doch! Ganz wie Sie wollen. Machen Sie den Mund zu, man sieht ja den Magensaft spritzen, Sie treffen mich damit nicht, Sie kommen zu spät. Eben stand ich noch da, jetzt nicht mehr. Wir sind alle ein bisschen weiter, ich mehr, ihr weniger, das bringt dieser Beruf mit sich und jetzt ist es gut.

 

Abschied zu Amtszeiten
2

Kopf und Kragen

Weiß Duro, was er da schreibt? Ein witziger Kopf, der nicht weiß, wann es ihn, das heißt, den Kopf kosten wird, um den er sich schreibt, mag sein, lose Reden wie diese haben ihn längst gekostet und was noch herumläuft, sind die Unkosten einer festgelaufenen wissenschaftlichen Karriere. Kann ein Professor, sozial betrachtet, ein toter Mann sein? Er kann, mein Lieber, er kann. Der tägliche Weg zum Arbeitsplatz, einen Apfel in der Kollegtasche, macht keinen Menschen. Er verlängert die Lebensspanne und bewirkt einen gewissen, nicht zu unterschätzenden Komfort, der vielen Individuen ausreicht. Man kann aus dem Menschsein fallen und weiter Individuum sein. Man kann weiterhin als Individuum umherwandeln, auch wenn alle Wege verschlossen sind.

Vorerst bleibt Duro diese Erfahrung erspart. Noch schließt sein Titel immer neue Türen zu Gängen auf, die sich nach kurzer gewundener Strecke als Fallen entpuppen. ›Duro der Blindgänger‹: so nennen ihn, nicht ohne Anteilnahme, die einen, hasserfüllt und mit einem Speichelwurf auf der Zunge die anderen.

›Verhärter der Herzen‹ – so möchtest du ihn gern nennen. Es sind aber nicht die Herzen, die er verhärtet. Duro behindert den Gang der Geschäfte. Duro der Ignorant, Duro der Störenfried, Duro der Verhinderer, Duro der ›Schwarze Schwan‹ in persona, der berechenbar Unberechenbare, das Unberechenbare, das im Raum steht – das ist sein Markenzeichen. Wo es zu blinken beginnt, ist Ende Gelände.

Abschied zu Amtszeiten
3

Kopf und Kragen

Das Feuilleton … das Feuilleton ist das Feuilleton, die göttliche Drei, in sich selbst zurückgeführt: es liest seine Duros am Wegrand auf, presst sie aus und verwirft sie, sobald die Zeit gekommen ist, unberührt von der putzigen Tatsache, dass die Zeit immer gekommen ist, denn das Wesen dieses Prozesses ist Willkür. Der bleichen Chefin möchten viele ans Zeug. Hier liegt die Königsstrecke des Journalismus, eben deshalb muss sie leergeräumt bleiben für die Matadore der Zunft, es sei denn … es sei denn, Rumpelstilzchen trifft den Zeitpunkt exakt und steht damit überraschend allein auf weiter Flur. Dann (und nur dann) kommt Schnelligkeit vor Privileg. Ach es ist nicht das Tempo allein: es bleibt immer riskant, im Zentrum der Macht anzugreifen und dabei den Allerwertesten zu exponieren. Jedenfalls will es gut überlegt sein. Auf dem Schachbrett der Öffentlichkeit ist der eitel sein Händchen hebende Wissenschaftler der Bauer.

Gut immerhin, dass es ihn gibt.

Sizilien, Ätna. Hausfront mit Eingang. Zwei Stockwerke. Ein Balkon. Satyrn, später Odysseus

Silen erst den abwesenden Bakchos, dann den Zyklopen anredend

Abwesend sprech ich, doch wer fehlt, bist du.
Das sind so Späße, die die Sprache treibt.
Ich nenn dich Bromios, ein anderer Bakchos.
Doch wie du wirklich heißt, das weiß die Not
und die geht barfuß, wie man weiß, im Zweifel.
Wer zweifelt nicht? Ich zweifle. Wär ein andrer ich,
ich zweifelte, als wär ich wieder ich. Was ich
nicht bin, dir folgend: folgte ich dir nicht,
es hätt mich nie an diesen Ort verschlagen,
an dem mich nur Verschlagenheit am Leben
und nah den Trögen hält, für deren Füllung
kein anderer als ich zu sorgen hat.
Ich also bin der Stachel, der mich treibt,
die Schale, die mich leert, und fass den Trog
ich fest ins Auge, sehe ich mich selbst,
als fiele ich in mich hinein. Ein Sturz
bin ich und sturzbesoffen
kennt mich die Welt: Silen.

Das macht mich denken. Bakchos oder Kyklops:
man irrt sich schneller in der Tür als in der Arbeit,
die einen links erwartet oder rechts. Im Kyklops geht
sie niemals aus. Im Bakchos
war sie am ersten Zahltag ausgestanden.
Hier fress ich aus dem Trog, den ich zuvor
mit Eicheln füllte, denn die will das Schwein.
Was noch? Was will das Schwein, wenn es gefressen hat?

Stellt sich vor die Tür und schreit hinein

He du. Was willst du? Soll das Maul ich dir
mit Phrasen stopfen und das Hirn mit Blut?
Reißt du die Fresse auf, dann ich den Darm.
Ich scheiß auf dich. Ich habe Grund.
Wie steh ich da, wenn du im Schlamm dich wälzt?
Bekleckert steh ich da und denk den Teil
mir, den du mir gelassen hast.
Ich will mich mit dir messen. Ich, der Mundschenk,
der Phrasenbub, der einem Rausch
zum Opfer fiel, sofern man Opfer nennt,
was sich die Hacken abrennt, um dabei zu sein.

Davon verstehst du nichts. Dir fehlt
das zweite Aug, das uns erst sehen lässt:
mich und die Meinen. Doch was wir sehn,
braucht eine Rossnatur, ein bloßer Mensch
schaut nach dem Wetter und
hält sich bedeckt.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
1 /18

Einzug Chor.
Ziegenlied

Du da.
Du mit dem störrischen Blick.
Du da.
Wo willst du hin?
Du da.
Gehts dir nicht gut?
Du da.
Hier geht der Weg und dort
geht nichts.
Du da dem
das Leichte schwer
fällt: Was hast du vor?
Du wirst Hilfe brauchen. Hier
ist sie und dort
wartet das Aus.

Du da.
Du mit dem herrlichen Blick.
Du mit dem strahlenden Euter.
Hier geht dein Weg und dort
läuft nichts.
Sei stark.
Vergiss nicht,
was man dir sagte.
Du der Weg
der Weg du
im Ziel eins.
Du da.

Ihr da.
Hier eure Stunde.
Hier das Heu,
gemäht und gewendet,
für euch angehäuft.
Für wen denn sonst?
Hier die Tröge, errichtet
wem wenn nicht euch.
Hier das Dach,
unter dem ihr
frei von Furcht
könnt.
Verlangt euch nach Mehr:
das lässt sich richten. Also
tut was.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
2 /18

Silen

Dann tut halt was, sie sagens doch, was steht
ihr rum und glotzt, ein Vieh, wer euch zu lang
betrachtet, selber, deshalb nehmt
euch Zeit, doch nicht zu viel, denn sie
ist weg, wenn ihr am nötigsten sie braucht.

Chor

Den Vers, dir eingetrichtert, rotzt du aus, als
könntest du den Zoff gleich mit entfernen. Wo
hakts denn?

Silen

Ihr seht bloß euch und euren Stall. Ich seh, was kommt:
Boote, seetüchtig kaum, geschwärzt von Algen,
wär ich Reporter, schrie ich aus, was jeder sieht,
der sehen kann, doch daran fehlt es euch, solang
ich denken kann und das heißt: lang. Die Zeit wird knapp.
Nehmt, was ihr brauchen könnt. Es kommen andre,
die brauchens auch. Ob Gast, ob Fremder,
das bleibt sich gleich. Heißt sie willkommen,
das unterscheidet euch vom Vieh. Ansonsten lasst
mich reden, denn ich hab, was euch abgeht, den Mumm.
Willkommen, Fremde!

Odysseus

Du bist Silen. Dich unterscheid ich gern.

Silen

Wie kommts?

Odysseus

Blockflöten kenn ich, seit ich hören
und sehen kann. Verging dir einmal beides,
dann hast du es und wirst es nicht mehr los.
Das sind so Reden. Halt die Ohren steif. Was bläst,
das bläst, und was die Runde macht,
erkennst du noch, wenns aus dem letzten Loch tönt.
Wo aber sind wir, sag, gelandet? Die Hänge kahl
und weit und leer der Himmel, der uns sengte?
Ist das das Land, von dem es heißt, du musst den Fuß
nur über seine Schwelle setzen, gleich… Was soll der Zorn?
Bist du verrückt? Beschämt man so den Flüchtenden,
der, aller Mittel bar, dem inneren Kompass folgte?
Wow, was ein Land.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
3 /18

Silen

Scheiß drauf. Ich hör den Sound
der Missgunst auch, wenn er von Fremden kommt.
Das lässt mich fragen, wer du bist und was ihr wollt.

Odysseus auf die Gefährten deutend

Ich bin der, den du willst, und diese,
sie wollen alles. Das
erschreckt den Spießer und er fühlt die Drohung.
Sie wollen alles, denn sie haben nichts und alles
ist ihnen recht, was ihnen aufhilft.

Silen

Damit kann ich dienen.

Odysseus

Dann sag mir erst, wo wir gelandet sind.
Ich hörte was von Menschenfresserei.

Silen

Ach. Hat man dich ins Bild gesetzt? Was soll ich sagen…
Erst Troja!

Odysseus

Was?

Silen

Glaubst du, ich hätt dich nicht sofort erkannt?
Für wie dumm hältst du mich und meine Leute?
Du bist Odysseus, unterschreib, dass du es bist, damit
wir wissen, wie ihr zu behandeln seid.

Odysseus

Behandeln?

Silen

Ja. Doch vorher will ich wissen,
durch welche Hölle ihr gegangen seid,
man hört so vieles und der Tag ist lang.

Odysseus

Wir waren Sieger. Deshalb sind wir hier.
Wir ließen Troja brennen, bis die Flammen
Wie weiter? fragten, schließlich eine nach
der andern ausfiel, denn der Mangel plagte
sie fast zuerst, uns griff er später
und jagte uns hinaus aufs hohe Meer.

Silen

Das hohe Meer… Es ist ein wenig weit
von Ilion bis an den Rand des Ätnas.
Hat man euch vorher nicht an Land gefischt?

Odysseus

Wie mans nimmt. Im Nachhinein
sinds Possen. Steckst du drin,
willst du nur eines: Nichts wie raus.

Silen

Was du nicht sagst.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
4 /18

Odysseus

Euch geht es gut?

Silen

Na bestens. Und wie kamt ihr durch?

Odysseus

Sei niemand. Erste Regel.

Silen

Das lässt sich machen, so dich keiner kennt.

Odysseus

Sei jeder. Zweite Regel. Gaff nicht so,
als wär ich Polyphem, das Monster,
und du der Graue Star auf seinem Rest-Aug.
Ich seh noch gut und merke jeden Blick.
Wie kommts, dass du nicht mehr im Bakchos
den Tresen putzt? Mir scheint, du dientest gern.
Du wirkst so nüchtern. Fehlt dir was? Doch was?
Ich habs: dir fehlt die Füllung. Der Kyklops
bekommt dir nicht, der dich hier artgerecht
an seinen Porphyrhängen grasen lässt,
als kalbtest du aus seiner Rinderherde, halb
gefressen schon, beim bloßen Hinschaun, halb
ein freier Mann.

Silen

Wir dienen immer. Womit kann ich dienen?

Odysseus

Mit Proviant.
Die Boote sind erbärmlich. Habt ihr bessere,
dann her. Ein frisches Bad, ein Bett für jeden,
doch vorher will ich, dass wir uns berauschen.

Silen

Berauschen? An was? An deinen Worten?

Odysseus

Wenn mein Erscheinen
die Sprache dir verschlug: warum nicht?
Hör zu: Du brauchst den Rausch. Ich brauche dich.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
5 /18

Silen

Der Rausch war gestern. Hier herrscht Katzenjammer.
Bringst du uns Stoff? Dann, Fremder, sei willkommen
und jeder Satyr nimmt dich an die Brust. Wenn nicht,
dann geh zum Styx und fisch dir Proviant. Der Wein,
den man hier presst, sind wir: das sagt euch nichts.
Man klaubt sich die Erfahrung aus den Schoten.
Spräch ich die Sprache des Regimes, so spräch ich: sorglos.
Ihr glaubt, ihr seid Entronnene, mag sein. Ich kenn euch nicht
und glaub euch alles, weil ichs glauben will. Warum?
Ganz einfach: ihr seid wir und wir sind ihr. Du glaubst
mir nicht? Dein gutes Recht – ich wär der letzte, der
dirs nimmt. Doch hör mir zu.

Odysseus

Hör du mir zu: wir schleiften Ilion nicht,
um hier den Knecht zu geben unter Knechten.
Wir haben Helena befreit. Nicht, weil sie’s wollte,
nicht um die Schmach zu sühnen (wessen Schmach?), –
doch sie war unser und so soll es bleiben. Herr bleibt Herr
auch im Exil. So sieht es aus und so
gehört es sich. Die Katze lässt
das Mausen nicht, bloß weil auf Mausformat
sie schrumpfte.

Silen

Dann, großer Kater, hol die Flasche raus,
wir haben Durst. Gib uns den Rausch,
den lang entbehrten, wieder,
das Missing Link, das unsere Hemmung löst.

Odysseus

Von daher weht der Wind.
Wer Sprüche klopft und trifft den Nagel halb,
dem klebt der eigene dran. Doch wer
nichts gibt, weil er nichts hat und nicht
zu jammern weiß, dem nützt der Finger nichts,
ob heil, ob blutig.

Silen

Man hat den Stoff
uns mehr als recht und billig vorenthalten.
Das geht ins Hirn. Schaffst du ihn her,
so bist du Gast. Wenn nicht, so nimm
Reißaus, solang es geht. Riecht Kyklops erst
den Braten, könnt ihr euch die Schädel
gleich hier, an diesem Vorsprung, selbst zertrümmern.
Das spart uns Arbeit. Um die Zubereitung
muss euch nicht bange sein. Besinnung
ist bloß ein Wort. Das Wort des Satyrs
bedeutet nichts, solang er nüchtern ist.
Wir sind erst stolz, dröhnt uns der Kopf.

Odysseus

So spar ihn dir. Wenn Worte
den Hunger stillen, geb ich einen aus.
Bis dahin lass uns feilschen, was das Zeug hält.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
6 /18

Chor

Wenn Fremde ins Land kommen,
will man wissen, wer’s ist.
Was er kann und warum
es ihn verschlug, das wissen zu wollen
ist Menschenart. Nur dem einsam ziehenden Ochsen
ist es egal. Es ist nicht recht, uns schuften zu lassen
für Unbekannte.

Silen

Euch unbekannt, doch mir vertraut
von Jugend auf: Hört ich das Gras
in Hellas wachsen, warens diese da.
Gefüttert und gepflegt und ausgerüstet
von vielen Händen, doch nur eins im Sinn:
den Kampf, den sie vor Trojas Tore trugen,
als hätte Zeus sie selbst dazu bestimmt,
zu morden und zu brennen. Opfer sind
sie der Gewalt, die sie entfesselten,
weil sie an jener fernen Küste schlief,
leicht aufzuwecken, denn es ging um viel.

Chor

Opfer sind es
und Täter.
Fremde sind es, doch wir
wissen Bescheid. Einer spricht für sie alle,
doch nicht mit uns. Sie bringen flüssiges Gold,
und Silen tanzt
nach ihrer Pfeife.
Es ist eine Weile her,
dass wir ihn so sahen.
Er wird Ärger bekommen und wir
werden ihn ausbaden müssen.

Silen

Genossen alter Tage, warum zögerlich?
Wisst ihr, was uns erwartet, wenn
der Vorhang aufgeht und die rote Sonne
uns unterm Ätna kitzelt, bis es brennt,
saftlos, an Hand und Fuß verschnürt, Pakete
aus einem Gestern, das kein Heute kennt,
und sich des Morgen schämt. Kein Morgen ist
auch einer, aber ohne uns und unsern Beitrag
zum Gang der Dinge, der nichts braucht als Zeit,
auch wieder keiner. Jedenfalls für uns.

Chor

Die Welt kennt uns und wir
kennen die Welt. Behalte deine Rede drin
im Mund. Wir wissen, was zu tun
uns bleibt. Nichts Menschliches
ist uns fremd. Der Berauschte ist schön
für den Berauschten. Und klug für zwei.
Oder für alle. Das lang Entbehrte spielt
mit dem Entbehren. Es weicht ja nicht.
Es macht den Weichen weich. Was dir den Muskel löst,
das löst uns den Verstand.
Bringt mehr von dem Stoff, Fremde.
Genug ist nicht genug.
Wir haben Kraft. Wir haben Wut.
Sie wissen nicht, wie gut das tut.
Schunati ittati lemneti la tabati
schtri hatuti parduti lemnuti la tábuti scha lipit qati
hiniq immeri naqe niqi
u nepesti baruti


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
7 /18

Silen unruhig

Ruhe. Ich hör was kommen. Räumt die Tische leer.
Werft alles ins Gebüsch. Ja, auch den Braten.
Er wird ihn riechen. Na und? Alles, was das Auge
nicht sieht, das kann man leugnen. Notfalls
erklär ich ihm die Welt, dass ihm der Kopf brummt.
Nun, meine Gäste, jetzt wirds ernst. Am besten
betrachten wir die Lage einmal von der Seite:
Ihr seid Gefangene wie wir. Euch fesselt das Geschick
und uns die Not. Den Unterschied
erklär ich euch dann später. Jetzt erklär
ich euch zu niemand. Ihr wolltets sein,
jetzt seid ihrs. Geht doch. Niemand hat
euch hier gesehn. Wo doch, so sah er niemand. Macht
mir keinen Ärger, denn ich kann auch anders,
besonders wenn ich muss. Zurückgetreten, wirds bald?
Hier nächtigt niemand unter freiem Himmel.
Dort liegt das Loch. Holt euch beim Pförtner
die Seife ab, wascht euch die Ohren aus.
Es gibt noch vieles, was ihr lernen müsst.

Odysseus

Wenn ich ein Niemand bin, wer bist dann du?
Dir soll ich traun? Da ging’ ich deutlich über dich
hinaus. Sei mir nicht bös, das wird nichts.
So, Stirn an Stirn, erwarten wir das Monster.

Silen

Du hast gut reden.
Du kommst aus Kämpfen und du suchst den Kampf.
Mich sucht er heim, solang ich denken kann.
Ich stach Enkelados das Aug,
mein Leben er. Als hätt ich zwei,
so rammte er das Schwert in mich hinein.
Doch davon schweigt der Sänger.
Trägst du den Waffenkampf in dieses Land,
dann siehst du mich an deiner Seite zwar,
doch nutzlos. Ein Toter bin ich.
Die Hand, die helfend dich vom Schiff geholt,
sie wüchse kalt da drüben aus dem Krater.

Tanzt

Da ist kein Zentimeter meines Körpers
der dich nicht sieht und bohrend nicht
sich einverleibt. Du bist so anders. Bleib.
Ich war nur einen Nachmittag zu Gast.
Ich bin schon weg. Doch vorher… vorher will ich dich.
Vergiss dein Ithaca. Vergiss die Insel
der allzu gierigen Freier. Kehrtest du zurück:
Blutsäufer fändest du und keine Menschen.
Du nennst es Heimkehr und ich nenn es Mord.
Hier bist du sicher. Nimm den Schlüssel. Geh. Dort in der Höhle
liegt alles, was du brauchst. Was braucht so einer
wie du schon? Und wenn, wir werden
gemeinsam eine Lösung finden. Geh endlich.
Wenn nichts mehr geht, dann rennt der Mut persönlich
ins Unglück. Sei gescheit. Berechnung
ist alles, was dich hier umschließt. Es ist
ein Wort bloß, das den Schädel bersten macht.

Odysseus

Ich sehs an deinem Auge: es ist da.

Beide treten zurück.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
8 /18

Zwischenspiel auf dem Balkon

Die hohe Frau

Ich will nur kurz was klären, ich hab da,
wissen Sie, einen Traum, der mich
die ganze Zeit verfolgt, gut, das bringt
uns jetzt nicht weiter, aber
worauf ich hinauswill, ist folgendes.
Wir alle
tragen Verantwortung. Ich mein, jeder von uns
kann dazu beitragen, die Welt ein Stück –
›wohnlicher‹ ist vielleicht nicht ganz
das richtige Wort, doch wichtiger wäre,
dass jeder von uns
an seinem Platz
und wenn ich Platz meine, dann
meine ich das ganz, damit wir uns
richtig verstehen, ganz deutlich in die Richtung
unserer politischen Gegner,
aber wichtiger wäre vielleicht,
dass jeder von uns
an seinem Platz

Hosenträger

Mich hat
Ihr letztes Wort so sehr berührt, dass ichs
gern schriftlich hätt.
Die Leute haben zehn, fünfzehn sichere Häfen
unterwegs ausgelassen. Wer da nicht
Verdacht schöpft, kann sich gleich einpökeln lassen.
Ganz recht, wir werden positiv
mit ihnen umgehen. Man wird
sie fragen, woher sie kommen,
die Antworten in ein großes Buch schreiben
und es anschließend
in den Ätna werfen.

Die hohe Frau

Wir weisen keinen ab, ders bis an unsere Küste
geschafft hat, erstens wärs ein kolossaler
Image-Schaden und zweitens, hätt ichs anders
beschlossen, müsst ich den Schuh
mir selber vor die Tür stellen, schließlich
säß ich nicht hier, hätt meine Regel damals schon
gegolten, also könnt ich sie
nicht fassen, also
wärs auch nicht recht von mir, sie anzuwenden.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
9 /18

Zuträger

Unsere Spitzel berichten mir, diesen Leuten
stecken zehn Jahre Kampf in den Knochen.
Darum werden sie jeden,
der ihnen quer kommt, zur Hölle schicken.
Wir werden sie fleißig
weiter beobachten, aber nicht weiter behelligen.
Unsere Spitzel erzählen uns, dass den Angaben dieser Leute
nicht zu trauen ist. Wir werden Anweisung geben,
dass sie nicht überprüft werden sollen. Mehr lässt sich
unsererseits
zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht tun.

Die hohe Frau täschelt seine Hand und blickt hinüber zum

Sackträger, ihr zugewandt

Auf diesem Käse-Eiland ist der Größte, wer
den Pfriem ins Kleinhirn hämmert, dass er klemmt
für alle Zeit, ein Denk-Maul ohne Abzug.
Denn so ins Schwarze treffen heißt salviert sein
und arglos mit der Zukunft Fangen spielen dürfen.
Wir beide, Sie und ich, wir kennen das,
weil wir es von der Pike auf erlernten. Nachgewiesen
ist das Verfahren seit … den Paläolithikern.
Im Grundsatz hat sich nichts daran geändert.
Seit wir zusammengingen, glänzt das Land,
man fühlt sich speckig, wenn man bloß dran denkt.
Die Macht ist eingeregelt. Zwischen
euer Wir-schaffen-das und unser
Wir-ändern-das passt nur das Blatt
Papier, das uns als Bettgenossen ausweist.
Sie tun, was Sie nicht lassen können, wir
lassen Sie tun, was wir für richtig halten,
et vice versa. Das ist übrigens Latein, die Sprache,
die man hier später einmal sprechen wird. Manches lernt
sich besser in den Senken.

Die hohe Frau nickt ihm huldvoll zu.

Hoffnungsträger

Das Hornvieh, hohe Frau, ist aufgeschreckt
und drängt sich zu den Ställen. Die Rinder
des Kyklops haben eine feine Witterung
und fürchten Fremdes schon von fern.
Sie sind gewohnt, am steilen Hang zu grasen.
Schaff sie ins Flachland und sie gehen schief. Das ist
zwar nur ein Bild, vielleicht versteh ich auch
die Pointe falsch, doch sollten wirs nicht auf
die leichte Schulter nehmen. Besser wäre schon
die starke. Ich will jetzt meinen Rat nicht aufdrängen,
doch geht es dabei auch um meine Zukunft,
da nimmt man dann schon manchmal
kein Blatt vorn Mund, dann redet man,
wie einem der Schnabel… Was hab ich Falsches…
Ich habe nur… Sie sehen das jetzt falsch…
Darf ich … ein Wort…? Dann nicht.
Nein, Sie werden
mich jetzt nicht einknicken sehen.
Nicht vor den Leuten hier und auch
nicht in der Kulisse. Wenn Sie mich
aus dem Verkehr ziehen, dann bitte
diskret und nicht auf die hässliche Tour.
By the way, hohe Herrin: üben Sie beizeiten
die rechte Krümmung. Ich empfehle meine.
Kommt eine Zeit, wo Sie sie brauchen werden.

Die hohe Frau wendet sich ab 


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
10 /18

Bandträger

Das Land hat eine krankhafte Phantasie.
ich hätt bloß nicht gedacht, dass das so weit geht.

Lehnt sich über die Brüstung

Wer wissen will, was vorgeht, deckt sich nicht,
wie bisher üblich, bei den Sternen ein.
Der Ätna rumpelt stärker dieser Tage
und in der Nacht wirft er den Schein
von Bränden aus. Da draußen
wird alles Zeichen. Jeder Strohkopf gibt die Pythia.
Sie stecken sich beim Nachbarn an wie Vieh.
Man geht die Weiden ab und sucht nach Asche.
Wir müssen gegensteuern, koste es die Wahrheit.
Wir können nicht, nur weil ein paar aus Troja
versprengte Schlächter angetrieben wurden
– bald werdens mehr sein, denn es bringt uns nichts,
der unbequemen Wahrheit auszuweichen –,
wir können es nicht dulden, dass
uns ein Gerücht aus unsern Ämtern jagt, wir hätten
versagt, und alles, was jetzt kommt, sei unsere Schuld.

Die hohe Frau steht auf

Ich erkenne den Hass in ihren Augen.
Das erinnert mich an etwas,
worüber auch einmal gesprochen werden muss,
nachdem es allzu lang beschwiegen wurde,
weil etwas wie … wie soll ich sagen …
wie Scham darüber lag.
Jajaja –
Scham liegt auf unser aller Herkunft. Uns spuckte
der Osten aus wie diese. Scham
hat uns bisher bewogen, still zu halten. Heute
sehen wir klar: wir sind auch Gestrandete
gleich jenen. Auf fremden Grund
im eigenen Land geworfen, fremde Sätze
nach fremden Regeln drechselnd, innen stumm.
Das bricht jetzt auf und ich für meinen Teil
sag Dank. Wer Kraft hat, spreche
mir nach: Wir stehen für das Helle
in dieser Welt und diese da,
sie stehn nicht bloß im Dunkeln, sie verbreitens auch.
Das fällt mir dazu ein und darum sprech ichs aus.
Doch heute, Freunde, gehört uns dieses Land.
Wer meint, wir gäbens wieder her, der meint, er kann
zum Metzger gehn und Menschenfleisch bestelln.
Das wär dann nicht mein Land. Doch wahrlich –
nein, das streichen wir. Die Wahrheit ist,
vom Standpunkt der Methode aus betrachtet,
das, was ihr wissen müsst, den Rest
könnt ihr euch sch… denken. Und beachtet:
Wir dürfen unsere Gegner nicht zerfleischen.
Doch grillen werden wir sie schon.

Sie gehen hinein.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
11 /18

Odysseus vor dem Höhleneingang

Wer war denn das?

Silen

Die Dame über uns.
Genau gesagt: ihre Erscheinung.

Odysseus

Wo kommt sie her?

Silen

Darüber schweigt der Satyr.

Odysseus

Und die Satyre? Schweigt die auch?

Silen

Die hat so viel zu tun, dass sie sich nicht um Erscheinungen
kümmern kann. Es sei denn, sie hat selbst welche.
Was öfter vorkommt, seit man sie beteiligt. Sie muss jetzt
sagen, was Recht ist, da verkommt das eigene. Wisse,
dass der Kyklop sie als Opfer vorhält, aber gern loswerden würde,
weil sie so vom Fleisch fällt. Sowas zu sagen gilt hierzulande
als plump. Doch ungesagt wirkt es umso stärker. Niemand will mehr
Kyklop sein. Darum behandeln ihn alle, als sei er der Letzte,
und er genießt das. Allein die Satyre will, dass er ihr ein Kind macht,
und nervt.

Odysseus

Soso. Niemand will Kyklop sein. Aber Niemand bin ich. Sagtest
du vorhin nicht sowas? Diese Erscheinung hat mich etwas
genervt, sagtest du? Bitte schreib in dein schlaues Buch:
Ich will Kyklop sein. Ich gehe jetzt rein. Entweder ist er drin
oder niemand. Da ich Niemand bin, wie du sagst, ist das Ergebnis
eindeutig. Die Frage wird also sein, wer am Ende rauskommt.

Silen

Sieht so der Rausch aus, den du mir versprachst?

Odysseus

Solang du nicht klar denken kannst, brauchst du keinen neuen.

Silen

Das denkst du. Ich denke weiter als du. Deshalb bin ich auch
von uns beiden der Ältere. Denken hält jung.

Odysseus

Du hältst dein Geschwätz für Denken.
Wäre ich der Kyklop (der ich bin, wie du sagst),
dann würde ich dich auffordern, einfach mal die Klappe zu halten.
Es schickt sich nicht, den Gast anzuschwärzen. Vor allem, wenn er morgen
schon euer Nachbar ist.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
12 /18

Silen

Ich hab dich angeschwärzt? Sag das noch mal.

Odysseus

Erstens hast du mich angestiftet, dort hineinzugehen
und den Kampf mit dem Monster aufzunehmen, folglich bist du mir spinnefeind.
Zweitens hast du gerade angedeutet, ich würde
den heutigen Tag nicht überleben, folglich
nehme ich an, dass du meinen Tod herbeiwünscht, um deinen
alten Tyrannen nicht zu verlieren, der da drin, wie du behauptest,
nach Menschenfleisch giert. Das alles habe ich mir nicht ausgedacht,
sondern zwingend aus deiner Rede erschlossen. Also nehme ich als gegeben,
dass du auch in der Hinsicht nichts weiter bist
als sein Pfeifer.
Gerafft?

Silen

Du lügst. Das tut richtig weh. Ohne mich
lägst du jetzt abgestochen dort am Strand.
Ich habe dich willkommen geheißen, dir eine Bleibe besorgt
und dich verköstigt, wie ich es für gut fand.
Ich wollte von Anfang an, dass du bleibst. Wenn du da hineingehst,
dann kommt ein anderer wieder, gleichgültig, wie die Sache ausgeht.

Odysseus

Du lügst. Du weißt schon noch, wer mir diesen Schlüssel gab?
Weißt schon, wohin er führt? Wofür er gut ist?
Dir war bewusst, dass ich ein Kämpfer bin.
Wenn du, pardon, besoffen bist, dann treten deine Züge
so klar hervor, dass jeder Fremde dich durchschaut.
Du sagst, du heißt Silen. Mag sein. Dort, wo ich herkomm,
gibts mehr von deiner Sorte. Und einer drunter nennt sich immer
Silen, soll sagen: Lehrer der Verzückten.
Für dich bin ich ein Niemand. Dich heiß ich Niemand
in einem Niemandsland, das nichts und niemandem befiehlt.

Silen

Ich bin Silen. Wenn du Claqueure brauchst,
dann wende dich an mich. Hier: meine Karte.

Odysseus

Der Blutrausch der Achaier trocknet aus.
Was heute übers Meer kommt, hat gelernt,
an sich zuerst zu denken, kommts zum Tanz.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
13 /18

Chor

Hallo ihr beiden:
Rückgrat zeigen ist anstrengend.
Bitte schont eure Kräfte
für den gemeinsamen Feind.
Unsere Geduld ist endlich.
Eure Zeit läuft ab.
Komm näher, Odysseus.
Du wirst diesen Polyphem blenden
wie hundertmal vorher.
Erneut wirst du beweisen: der Einäugige hat keine Chance
gegen die Tücke. Einmal mehr
wirst du Niemand sein und einmal mehr
wird dich die Eitelkeit blenden.
Lass dir gesagt sein: der Alte hier,
der sich Silen nennt und nach dem Stoff giert,
den ihr ihm durch die Gurgel schickt, auch sein Verrat
ist nicht der neueste. Er ist vollbracht.
Auch deine Tat ist vollbracht.
Wärst du nicht blind vor Angst, du sähst das Aug,
das du um jeden Preis durchbohren willst,
an seinem Kettchen baumeln: frei von Hass.
Der Tote trägt den Toten auf der Brust.

Odysseus

Mir soll keiner nachsagen, ich hätt
euch nicht ausreichend zugehört, denn viel
zu lang geht mir eure Rede schon
im Kopf herum, ich will nicht wissen,
ob ihr verrückt seid oder doch eher Komplizen:
ich weiß es wirklich nicht. Für einen Toten scheint
Silen mir quicklebendig. Wenn das die Art
von Tod ist, die in dieser Höhle haust,
dann stell ich mich auf ein Gemetzel ein.

Chor

Er hat uns bezahlt, ausstaffiert, unsere Freiheit
in Freizeit verwandelt und jetzt wollen wir, dass du ihn tötest.
Wenn du uns fragst, wie er aussieht, dann müssen wir passen, denn keiner
sah ihn bis heut. Aber wenn du uns fragst,
ob es ihn gibt, dann antworten wir dir im Chor: Ja, töte ihn.
Wir geben dir Vollmacht. Seit dein Boot
Sizilien anlief, lebt es sich leichter. Warum, wissen wir nicht, aber
es lebt sich leichter. Wir wollen Erlösung.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
14 /18

Odysseus

Das sind auch Sirenen, aber abgehängte.
Wenn ich hier lebend wieder herauskomm,
dann solls mir gleich sein. Andererseits:
die Weiden sind gut. Von Ithaka blieb nur ein Streifen Hoffnung,
breit genug, die Mannschaft bei der Stange zu halten, aber doch
nicht breit genug, um mich durchzulassen. Ich hab
als Proviant verteilt, was ich an Hoffnung vorhielt,
heut bin ich blank. Wenn ich jetzt
als Niemand hineingehe, dann will ich als
Herr wieder herauskommen. Dieser Silen hat das ganz richtig erkannt.
Ich werde ihn an die Leine nehmen und auf seine Dienste zurückgreifen,
wann immer es nötig sein wird. Diese Leute hier
wollen erlöst werden. Das bedeutet:
ich muss sie enttäuschen. Daher
werde ich veranlassen, dass ihre Enttäuschung
sich über sich selbst täuscht. Ich werde ihr einen Kanal öffnen,
eine Kloake des guten Gewissens, gefüllt mit Gift. Durch meine List
ist Troja gefallen, da werden mir ein paar Schafsköpfe
nicht die Schau vermasseln.

Chor

Wenn ich ihn so, mit sich, seh sprechen, überläufts mich.
Zur Bakchos-Zeit gehörte Hellas uns. Und jetzt …
zählt es uns aus. Gezählt, so oder so, wir wissens, sind
die Tage uns. Der Ätna schreibt,
was uns bevorsteht, nächtens in die Luft. Wir könnten
ihn zähmen. Doch dazu fehlt die Kraft. Gestohlen
hat sie uns das Einaug. Weiter fehlt der Plan. Vereitelt
hat ihn das Einaug. Schließlich fehlt die Lust. Gezähmt
hat uns das Einaug. Noch Fragen?
Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Da wird vieles möglich,
auch das Unmögliche. Wir werden Häuser bauen
aus Flüssiglava, unsere Kühe werden
drinnen im Krater das fetteste Gras weiden
und die gesündesten Kälber zur Welt bringen,
die Dämpfe, tödlich bisher, werden neues Leben
in Leichen pumpen.


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
15 /18

Silen

Ihr wisst jetzt schon,
dass euch der Wahnsinn umtreibt?

Chor

Halt dich da raus.

Silen

Das müsst ich wissen.

Chor

Nichts weißt du. Wenn du etwas weißt,
hast du vergessen, es uns mitzuteilen.
Gehst du jetzt unter die Bedenkenträger?
Hat dich die hohe Frau gekauft? Wieviel
ist einer wert, dem bloß das Mundwerk geht?
Nicht viel. Die Preise fallen. Nenn den deinen
und er liegt drunter. So siehts aus.

Silen

Der Preis, vielleicht. Doch
schneller, als er fallen kann, fallt ihr.
Ihr werdet hart aufschlagen. Unter uns,
denn oben schlug noch keiner auf, ihr werdet,
wenn euch die Schale springt, die Augen reiben
und glauben, dass ihr träumt. Wie komisch:
Man glaubt zu träumen, fällt der Glaube aus.

Chor

Die Sache zwischen uns steht so: wir rannten
dir nach, solang ich denken kann.
Erst hieß es Bakchos, später Kyklops. Der Fall
war schmerzhaft. Doch geschenkt. Man soll die Schuld
nicht in verflossnen Räuschen suchen. Schuld ist jeder
für sich allein. Jetzt schiebst du uns die Schuld
an dem zu, was noch aussteht. Da wirds putzig.

Silen

Ihr habts doch hören wollen. Oder täusch ich mich?
Glaubt ihr, in mir gäbs einen Funken Macht?
Ihr könnt mich umdrehn und ihr findet: nichts.
Ihr könnt mich wieder umdrehn und ihr findet: nichts.
Ich füttre euch mit Wörtern. Wie ihr sie verdaut,
was gehts mich an? Ihr folgt mir: das ist wahr.
Wo’s was zu fressen gibt, seid ihr dabei.
Greift zu. Mit einem Zucken meiner Hand
nehm ich euch aus. Da fass!


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Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
16 /18

Die hohe Frau hoch auf dem Balkon

Die Zeit ist
nicht mehr dieselbe. Wer das nicht merkt,
der wird seiner Verantwortung für Mensch und Umwelt
nicht so gerecht, wie das beschlossen wurde
und ich für meinen Teil mich entschlossen hab,
die Dinge nicht etwa treiben zu lassen, sondern mit klugen
Steuerungselementen sie in eine Richtung zu lenken,
die wir für gut und richtig erachten, zum Nutzen
dieses Landes und aller anderen auf dem Planeten.
Es sind aber Situationen vorstellbar, ich sage das hier ganz offen,
in denen dann auch harte Entscheidungen anstehen, die aber
getroffen werden müssen, immer auf der Grundlage
sorgsamer Abwägung, da
solche einschneidenden, ich wiederhole mich da gern: einschneidenden
Maßnahmen dann doch ein gewisses Publikum, sagen wir,
eher erreichen als vielleicht ein anderes. Das ist jetzt mehr virtuell
gedacht. Aber auch das hat ja
eine gewisse Berechtigung.

Hosenträger

Wenn ich jetzt geh, dann für lang.
Das ist ein seltsames Gefühl, so durchbohrt
seinen Abgang zu nehmen. Das trifft mich jetzt
unvorbereitet, aber nicht unverhofft.
Wenn ich dann sag: Was solls, ich tat meine Pflicht
und jetzt heißt sie mich gehn, hieße das doch,
man nähm die Sache von der einfachen Seite,
um dort zu punkten, wo man Federn lässt. Das würde
keinem gerecht. Die Wirklichkeit schlägt Wunden.
Was schlägt sie noch? Sie schlägt neue Leute vor,
dem kann man ausweichen, aber am Ende
siegt die Liste.
Listenreich nenne ich
die, die bleibt.

Er verneigt sich.

Die hohe Frau

Seit Jahren stoßen wir in neue Räume vor,
die, als ich antrat, für unbetretbar gehalten wurden.
Vieles von dem, was wir heute als ganz normal ansehen,
war gestern ganz außer der Norm. Dem sollten
wir uns stellen. Ich meine ja auch nicht, dass immer und überall
eine Absicht dahintersteht. Das meiste entwickelt sich einfach. Man kann solche
Entwicklungen natürlich aufzuhalten versuchen, aber irgendwann
holen sie einen ein und deshalb sage ich: lasst uns alle voranschreiten,
und ich meine alle, das ist dann
schon auch die beste Gewähr dafür, dass wir nicht stehenbleiben.
Wir haben uns in der Vergangenheit wiederholt bemüht,
alles richtig zu machen, das zu beurteilen ist vielleicht
nicht meine Aufgabe, aber sich jetzt hinzustellen und zu sagen,
es war alles schlecht, das kann ich so nicht bestätigen.
Ich denke auch, das würde dann
den Umständen nicht gerecht. Die Umstände waren so,
wie Umstände nun einmal zu sein pflegen. Wir haben sie benutzt,
um was draus zu machen, worauf
wir ein bisschen stolz sein können.
Darüber sollten wir nachdenken.

Stimmen

Ja, ja.

Die hohe Frau zu Hosenträger

Schicken Sie mir Frau Jadoch. Ich habe noch viel vor.

Sie verschwinden.


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17 /18

Silen zum Chor, der aufmerksam zugehört hat

Glotzen dürft ihr, soviel ihr wollt. Aber zu holen
gibts da nichts. Dieser Teil der Welt ist zu abgehoben,
um euch zu achten. Sie lassen euch nicht,
ihr wähltet sie denn. Sprecht ruhig Tacheles,
aber nicht zu laut. Sie könnten euch
an euren Worten aufspießen, als dürfte sie jederzeit jeder
im losen Maul umdrehn und die Person gilt dabei nichts.

Zeigt auf die Stelle, an der gerade noch Odysseus stand

Während ihr Wetten abschließt,
ob und wo ihr auftauchen werdet aus der Flut
und was der Gemeinplätze mehr sind,
ist der Platz neben mir
plötzlich leer. Da habt ihr euren Odysseus.
Das Tor steht offen. Sah einer ihn
hineingehn? Mit eigenen Augen?
Was sind das für Organe,
die dann versagen, wenn man sie braucht?
Keiner merkt,
was wirklich vorgeht. Allein das Ergebnis
beschäftigt euch endlos.
Der Schritt vom Gewussten
zum Geglaubten ist immer zufällig.
Wer nicht hinsieht, der muss
dran glauben. Wer wenig glaubt, dessen Glaube
ist stärker vielleicht, als ihr denkt. Na was ist?
Wollt ihr jetzt Trübsal blasen? Das alles ist
theoretisch richtig, in der Praxis
versagt es vielleicht. Wer soll das wissen?
Niemand vielleicht. Aber in der Praxis
ist keiner niemand. Wir sollten die Praxis
nicht zu hoch veranschlagen, dafür geht alles
viel zu schnell und das Gedächtnis
gibt jedem Betrüger recht. Jemand
hat einen Stock zwischen unsere Beine geworfen
und lässt uns hüpfen. Das geht nicht. Was nicht geht,
dem muss man Beine machen. Ich mach euch welche,
denn springen müsst ihr. Wer nicht springen lässt,
hat nichts zu sagen. Wer nichts sagt, krepiert.

Scheucht den Chor von der Bühne. 


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Medien
der Pyramide Digitales Archiv Dokumentationen Projekte

 

Ein Stück aus dem Nachlass des Dichters M
18 /18

 

Wassermann ist ein toter Mann

Sein angekündigter Tod
ruft Freunde auf den Plan
Eine kleine Broschüre
wird zum Verkaufserfolg
und beschäftigt die Gemüter der Nachwelt
flüchtig

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
 

Norbert C. Wassermann

IN DIE WÜSTE

Posthume Wegbeschreibung

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
1

Es ist die Politik, Dummkopf.

Präambel

  1. Es gibt Verantwortungspolitiker und Machtpolitiker.

  2. Verantwortungspolitiker: fälschlich Machtpolitiker genannt, weil der verantwortliche Umgang mit der Macht Vertrautheit mit ihren Mechanismen voraussetzt.

  3. Ideenpolitiker: Machtpolitiker mit Immunsystem. Die ›objektiv‹ festgeschriebene Idee erzeugt und rechtfertigt maximales Machtverlangen zum Zweck ihrer Realisierung.

  4. Für reine Machtpolitiker kommt die Idee später: Ups!

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
2

Macht

  1. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg an die Macht zeigst, wird er ihn gehen.

  2. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, seine Macht zu erweitern, wird er ihn gehen.

  3. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, ein System, das seine Macht einschränkt, auszuhebeln, wird er es tun.

  4. Wenn du ihm dann einen Weg zeigst, das Ungesetzliche legal aussehen zu lassen, wird er ihn den Weg des gesetzlichen Fortschritts nennen und für unumgänglich erklären.

  5. Erkläre einem Machtpolitiker, der ›an der Macht ist‹, wie man mit Hilfe der Naturgesetze einen übergesetzlichen Notstand herbeiredet und begründet: Er wird dir ein Forschungsinstitut verschaffen und dich zu seinem Ratgeber wählen.

  6. Macht rät sich selbst. Daher haben Ratgeber der Macht nicht die Aufgabe, Rat zu geben, sondern übergeordnete und unwiderlegbare Gründe für andernorts längst beschlossene Schritte herbeizuschaffen.

  7. Ein Machtpolitiker, sofern er sein Handwerk versteht, hat die Möglichkeit, auf Gewinn oder Verlust der öffentlichen Ordnung zu spielen. Gewinnt die öffentliche Ordnung, kassiert er die Machtrendite, verliert sie, holt er sich damit das Mandat, sie stärker zu ›strukturieren‹.

  8. Wägt man beides gegeneinander ab, so zeigt sich: Im zweiten Fall wächst die persönliche Macht schneller.

  9. Ein Beratungsgremium aus ehrenwerten Bürgern wird nötig, wenn angesichts bevorstehender Maßnahmen die ›guten Bürger‹ Verständnisschwierigkeiten bekommen. Seine Aufgabe besteht darin, so lange zu beraten, bis sich als Kompromiss einstellt, was vorher auf Parteitagen oder in Koalitionsausschüssen oder in vertraulichen Zirkeln beschlossen wurde. Den wirklichen Kompromiss schließt die Macht mit der Macht. Das Gremium macht den Kompromiss werthaltig.

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
3

Notstand

  1. Es gibt den gesetzlichen Notstand und den ungesetzlichen.

  2. Die förmliche oder informelle Ausrufung eines Notstandes ohne Not erzeugt den ungesetzlichen Notstand von oben.

  3. Ein Notstand kommt selten allein. Hat er die Regeln, nach denen das Gemeinwesen funktioniert, an einer Stelle ausgehebelt, so sinkt das ganze Regelgebäude peu à peu in sich zusammen, weil eins am anderen hängt.

  4. Der totale Notstand kommt auf leisen Sohlen. Er kommt als Reparatur, er beseitigt das System schrittweise unter der Vorgabe, es zu retten.

  5. Notstand ohne Not verlangt nach der Tyrannei der Werte.

  6. Das vollkommen geregelte Gemeinwesen beruht auf Werten – sie sind in seine Fundamente eingegangen und in ihnen aufgehoben. Die legitime Macht bewegt sich in den Grenzen der Legalität und die Gesetzgebung ist identisch mit der kohärenten Fortbildung des Rechts. Im Notstand hingegen legitimieren Werte singuläre Regierungsakte, das heißt Willkür. Man beruft sich auf sie, als handle es sich um höhere Wesen.

  7. Notstand hat viele Konsequenzen. Sie alle entspringen einer einzigen: Er stattet gewisse Menschen mit der Macht aus, die Freiheit der anderen nach Gutdünken zu beschneiden. Diese Menschen sagen nicht: »Ich will«, sondern sie sagen: »Der Notstand gebietet es.« Sie gehorchen also einem Gebieter, der mit ihrer Stimme spricht.

  8. Der Notstand, so betrachtet, ist ein Abstraktum. Keiner kennt ihn, keiner hat ihn gesehen, er wird geglaubt.

  9. Wie jeder Glauben hat auch dieser die Tendenz abzuflauen.

  10. Um dem Glauben auf die Sprünge zu helfen, müssen Sprachregelungen eingeführt werden, deren Aufgabe darin besteht, jedes Übel, das den Einzelnen trifft, dem Notstand unterzuordnen, der das unbedingte Handeln der Wenigen legitimiert. Daher müssen sie ›glaubhaft‹ sein, das heißt, die Grenze nicht zu überschreiten, an der sich Entrüstung in Gelächter entlädt – also nicht »Krieg ist Frieden«, sondern »Krieg verteidigt Frieden«, nicht »Wirklich ist, was gefällt«, sondern »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« und dergleichen mehr.

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
4

Medien

  1. Liberale Medien pflegen die Distanz zur Macht. Notmedien bekämpfen diese Distanz, wo immer sie sich blicken lässt.

  2. Ein Auftrag für Medien im Notstand besteht darin, Sprachregelungen durchzusetzen und machtkonforme Lesarten der Ereignisse mit einer Werte-Aura zu versehen.

  3. Ein anderer Auftrag für Medien im Notstand besteht darin, den Feind zu markieren.

  4. Viele Medienmacher gehen davon aus, die Menschen müssten ihnen vertrauen. Weit gefehlt – die Menschen vertrauen den Medien nicht, sie glauben oder glauben ihnen nicht. Das ist etwas anderes. Überwiegt der Unglauben, dann ging nicht das Vertrauen ins Medium verloren, sondern die Verlässlichkeit der Information.

  5. Medien, die geglaubt werden müssen, verfallen dem allgemeinen Unglauben, Medien, die geglaubt werden sollen, der allgemeinen Verachtung.

  6. Medien, die ihr Publikum maßregeln, erregen Hass. Dahinter steht ein Akt der Selbstsinngebung: Die primäre Aufgabe besteht fortan nicht mehr darin zu informieren, sondern den Hass zu bekämpfen.

  7. Hat der Hass auf die Medien sich einmal der Auflagen – und Klickzahlen – bemächtigt, befinden sie sich in der Falle. Entweder sie leben vom Hass oder sie sterben an ihm. Tertium non datur.

  8. Die Entprofessionalisierung ›Medienschaffender‹ wird kenntlich, sobald sie anfangen, Angriffe auf ihr Medium oder auf ihre Autoren-Imago persönlich zu nehmen. Sie fürchten sich und beginnen zurückzuhassen.

  9. Hass ist ein Primäraffekt. Verbiete ihn und du hast ihn am Hals. Bekämpfe ihn und du hast zu tun.

  10. In Friedenszeiten nennt man Medien, die das patriotische Surplus der Gesellschaft bekämpfen, regierungshörig, in Kriegszeiten Verräter. In Zeiten des informationellen Notstandes befindet sich stets ein Teil der Gesellschaft im Frieden, ein anderer im Krieg.

  11. Das Geschäft der Notmedien ist die Dämonisierung der Welt.

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
5

Häresie

  1. Glauben und Unglauben sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer Glauben erzwingen will, nährt den Unglauben, wer ihn verordnet, mehrt das ungeordnete Denken.

  2. Glaubensherrschaft erzeugt Häretiker. Bei diesem Personenkreis handelt es sich nicht um Ungläubige, sondern um Glaubensfanatiker. Sie sind davon überzeugt, dass die aktuell Regierenden nicht das Richtige tun, um dem Notstand wahrhaft gerecht zu werden. Von der Regierung verlangen sie mehr Restriktionen des gesellschaftlichen Lebens, in der Praxis tyrannisieren sie ihre ohnehin mehr als billig geplagten Mitmenschen durch unsinnige Parolen und einschüchternde Aktionen.

  3. Gelangen Häretiker an die Macht, zerfallen sie gewöhnlich in zwei Fraktionen. Die eine will die Früchte der Macht genießen, die andere die Umwandlung des Systems vorantreiben. Der versteckt und offen geführte Machtkampf zwischen diesen beiden Gruppen bestimmt das politische und gesellschaftliche Leben des Landes.

  4. Verschwindet eine Fraktion, spaltet sich die überlebende auf gleiche Weise und immer so fort.

  5. In Gemeinwesen, die von Häretikern regiert werden, spielt sich das Leben der Normalen zwischen Hoffen und Verzweiflung ab. Die Gläubigen hoffen auf ein Ende des Notstandes, sobald der finale Zustand der großen Veränderung erreicht ist. Die Ungläubigen hoffen auf ein Ende der Häretiker-Herrschaft. Verzweiflung lässt die Gläubigen verstummen und treibt die Ungläubigen auf die Barrikaden.

  6. Die Häretiker-Herrschaft steht als Drohung über der Herrschaft als bloßer Machtausübung und lässt es so aussehen, als sei es letztere, welche die Bevölkerung ›vor Schlimmerem‹ bewahrt.

  7. Die Furcht vor der Übernahme der Macht durch Häretiker dient der Stabilisierung des als ›gemäßigt‹ geltenden Ausnahmeregimes, solange es Aussicht auf die Wiederherstellung der ›vollen bürgerlichen Freiheiten‹ nach dem Abflauen der Gefahr gewährt. Währenddessen arbeitet es daran, die eingeführten Maßnahmen als Garanten der Ordnung und damit der Freiheit in die gelebte Verfassung zu integrieren und ihnen damit Dauer zu verschaffen.

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
6

Gesinnung

  1. Sprechergruppen oder Parteien, welche die umfassende Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts verlangen, werden übersprochen: Der herrschende Glaube verlangt, sie als Gefahr für den Rechtsstaat auszusortieren und zu verabscheuen. Das kann ebenso an den Rändern geschehen wie in der Mitte: Das Freund-Feind-Schema macht ›inhaltliche Positionierung‹ weitgehend gegenstandslos.

  2. Die Ächtung trocknet die inkriminierten Gruppierungen gesellschaftlich aus und beschert ihnen in der Folge einen Zulauf dubioser, also rufverstärkender Elemente: self fulfilling prophecy.

  3. Öffentlich eingeforderter, keinem religiösen Dogma, sondern bloßen Sprachregelungen, die jederzeit wechseln können, verpflichteter Glaube heißt ›Gesinnung‹.

  4. Wenn Gesinnung im Wortsinn ›intrinsische Motivation‹ bedeutet, dann enthält die öffentliche Verwendung des Wortes einen inneren Widerspruch (oder eine Überschreibung): die geforderte Gesinnung ist auferlegt und verlangt vom Individuum Anpassung, also das Gegenteil von Gesinnung.

  5. Im Gesinnungsstaat gehören alle Güter virtuell der Regierung, die durch das Setzen von Präferenzen, materiellen Anreizen und Hürden und schließlich durch Verbote ihre Verfügbarkeit und Verteilung regelt. Das beschert der Überlebensfähigkeit der Gesellschaft einen gravierenden Nachteil: Je stärker die Regierung die planende Intelligenz im Regierungsapparat und seinen Beratergesellschaften konzentriert, desto kläglicher fallen die Spielräume der von den Gesellschaftsgliedern repräsentierten Intelligenz aus und umso willkürlicher werden die gefällten Entscheidungen.

  6. Ist der Gesinnungsstaat einmal etabliert, gerät früher oder später der institutionell geregelte Kampf um die Macht zur Farce, da jede zugelassene Alternative unter dem Gesinnungssdiktat steht und die nicht zugelassene, gleichgültig wie die Regeln lauten, einfach nicht zugelassen wird.

  7. Die Möglichkeit, aus diesem Circulus vitiosus auszuscheren, besteht, vorausgesetzt, die Wähler durchschauen irgendwann das Spiel, befreien sich vom Diktat der auferlegten Gesinnungund nehmen ihre genuinen, von der Verfassung garantierten Rechte wahr. Wo dies unterbleibt, ist der Weg in den Notstaat programmiert.

In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
7

Notstaat

  1. Notstand schafft Not. Die Antwort der Machtbesessenen ist der Notstaat.

  2. Sobald Willkür festlegt, was not ist, unterbleibt das allgemein Notwendige durch einseitige, sprich verfehlte Allokation von Ressourcen. Ist die Notwendigkeit ein Phantasma, dann spricht man von Ressourcenvergeudung im großen Stil: Die Gesellschaft verarmt, der Staat verliert an Bedeutung und fällt auf das Niveau von Entwicklungsdiktaturen zurück.

  3. Der Abwärtssog erfasst die Institutionen des Wissens, weil sein Grund selbst für Wissenschaftler tabu ist. Wer immer ihn ausspricht, muss mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen. Der Prozess kommt praktisch unbemerkt in Gang, er vollzieht sich schleichend über lange Phasen der Akkommodation, in Krisenzeiten vollzieht er sich sprunghaft.

  4. Mit der Unfähigkeit zur Selbstreflexion verliert die Gesellschaft die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, mit der Unfähigkeit zur Selbstkorrektur vermindern sich ihre Überlebenschancen in einer prosperierenden Umwelt, mit sinkenden Überlebenschancen schwindet die Bindung der Bürger an ihren Staat, mit der Bindung schwindet das Interesse an seinen Institutionen.

  5. Am Ende dieser Entwicklung stehen Staat und Individuum einander als völlig fremde Instanzen gegenüber und ein Schnitt genügt, um das Band zu kappen, das sie pro forma noch miteinander verbindet.

  6. Das Ende kann lange dauern. Was danach kommt, weiß niemand.

 

Dürrobst verfasst ein sarkastisches Pamphlet
und stößt damit auf Ablehnung

No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
1

Der Text beginnt mit Anrufungen diverser Gottheiten, darunter die Göttinnen/Dämonen der Spahnzange sowie des Global Learning. Dann kommt der unbekannte Priester zur Sache. Was folgt, ist Kompilation. D

Wovor schützen wir uns?

Wir schützen uns vor dem Virus.

Wie lautet der Name des Virus?

Der Name lautet: In-for-mation.

Wer sind wir?

Wir-sind-das-Volk.

Welches Volk sind wir?

Das Volk, das sich nur aus seriösen Quellen informiert.

Woran erkennt man die seriösen Quellen?

Die seriösen Quellen schützen die Regierung.

Also schützen wir die Regierung?

Das ist so der Brauch.

Wovor schützen wir die Regierung?

Vor der Verfassung.

Wovor schützt die Verfassung uns?

Vor der Regierung.

Vor welcher Regierung schützt uns die Verfassung?

Vor jeder.


Asche-Aigner

  • ―Kann man den nicht wegsperren?
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
2

Das verstehen wir nicht. Warum ist das so?

Weil jede Verfassung das Volk vor der Regierung schützt.

Warum schützt die Verfassung das Volk vor der Regierung?

Weil die Regierung die Macht hat und das Volk keine.

Was geschieht in der Pandämie?

In der Pandämie schützt die Regierung das Volk vor der Verfassung.

Mit welchem Recht?

Mit dem Recht dessen, der die Gefährdungslage beherrscht.

Was sagen die Hüter der Verfassung dazu?

Die Hüter der Verfassung mahnen Verhältnismäßigkeit an. Im übrigen hüten sie sich.

Wovor hüten sich die Hüter der Verfassung?

Davor, dass die Verfassung ihnen auf die Füße fällt.

Haben die Hüter der Verfassung Angst vor der Verfassung?

Mehr jedenfalls als die Regierenden.

Warum ist das so?

Weil sie die Regierenden fürchten und Angst davor haben, dass die Verfassung sie in den Widerstand treibt.

Wie könnte die Verfassung so etwas fordern?

Weil sie die Rechte aufzählt, die der Ausnahmezustand mit Füßen tritt.

Welche wären das?

Das Recht auf freie Bewegung, auf freie Rede, freie Betätigung und freie Verbindung.


An den Rand gekritzelt (Triphan?)

Wem will er damit imponieren? Mein Rat, vorerst: nicht so hoch hängen.

No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
3

Aber diese Rechte werden, soweit beeinträchtigt, wieder hergestellt.

Werden sie das? Es wird vorläufig von ihrer weiteren Beein­trächti­gung abgesehen. Abgesehen von den Feldern, auf denen eine weitere Beeinträchtigung für unabdingbar erachtet wird.

Das ist korrekt.

Aber ist es korrekt?

Es ist in sofern korrekt, als ihm eine Bewertung der Gefahrenlage zugrunde liegt.

Wer bewertet die Gefahrenlage?

Die zuständigen Ministerien.

Auf welcher Grundlage bewerten die Ministerien die Gefahrenlage?

Auf einer wissenschaftlichen.

Herrscht in der Wissenschaft Einigkeit über die Gefahrenlage?

In der Wissenschaft herrscht niemals Einigkeit.

Mit welchem Teil der Wissenschaft weiß sich die Regierung einig?

Mit dem gelehrigen.

Mit welchem Teil der Wissenschaft weiß sich die Regierung uneinig?

Mit dem unbelehrbaren.


Langwasser . Werferich
  • ―Da haben wir den unbelehrbaren Teil der Wissenschaft ja rechtzeitig in den Ruhestand geschickt.
  • ―Meint er das ernst?
  • ―Der meint noch ganz andere Sachen ernst.
  • ―Dann ist er draußen.
  • ―War er das nicht immer?
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
4

Welche Wissenschaftler beraten die Regierung über die Gefahrenlage?

Welche Frage! Die seriösen natürlich.

Woran erkennt man die seriösen Wissenschaftler?

Sie unterstützen die Regierung in ihrem Bemühen, Schaden von den Regierten abzuwenden.

Welches wäre der größte anzunehmende Schaden für die Regierten?

Die Abwahl der Regierung.

Gibt es Wissenschaftler, welche die Abwahl der Regierung billigend oder leichtfertig in Kauf nehmen?

Wissenschaft fragt nicht nach der Wahl oder Abwahl von Regierungen.

Dann treiben die seriösen Wissenschaftler keine Wissenschaft?

Seriöse Wissenschaftler sind sich ihrer Verantwortung bewusst.

Für wen tragen sie Verantwortung?

Für Staat und Gesellschaft.

Auch für den einfachen Bürger?

Auch für die einfachen Bürger.


Asche-Aigner . Stutenkeil
  • ―Das ist jetzt schon eine Verschwörungstheorie, oder?
  • ―Oder eine Form der Besessenheit.
  • ―Ein Wahn.
  • ―Aber in Reinstgestalt.
  • ―Nicht tragbar. Absolut nicht tragbar.
  • ―Es geht noch weiter.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
5

Gewisse Leute behaupten, Wissenschaft gehe nach dem Geld.

Das ist eine böswillige, durch nichts gerechtfertigte Unterstellung.

Wovon lebt Wissenschaft?

Vom Herzblut der Wissenschaftler, der Intelligenz ihrer Assistenten und dem Selbstbewusstsein ihrer Professoren.

Wer bezahlt die Wissenschaft?

Der Staat, also die Gesamtheit der Steuerzahler, die privaten Projektförderer und Lehrstuhlfinanziers, die großen und kleinen Stiftungen und die Familien.

Die Familien? Inwiefern?

Weil sie vernachlässigt werden.

Warum ist das so?

Weil Wissenschaft keine fremden Götter neben sich duldet.

Auch nicht die Politik?

Auch die … Moment mal. Die Politik ist kein fremder Gott, sondern das Ziel aller Wissenschaft.

Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Wissenschaft dient der Wahrheit und nichts als der Wahrheit.

Die Wahrheit ist: Wissenschaft dient dem Fortschritt und der Staat ist der Inbegriff allen Fortschritts.

Der Staat der Inbegriff…? Das ›kälteste Ungeheuer‹, wie ihn der Kommende nennt?

Der Staat ist der organisierte Stand der menschlichen Dinge.

Das mag so sein. Aber wenn es um die menschlichen Dinge nicht zum Besten steht, wie steht es dann um die Wissenschaft?

Die Wissenschaft kann nicht besser sein als die Gesellschaft, die sie sich leistet.

Und wenn die Gesellschaft räuberisch ist?

Dann ist auch die Wissenschaft räuberisch.

Woran erkennt man, ob Wissenschaft räuberisch ist?

An der Werbung.

Das verstehe ich nicht.

Dann geht es dir wie den meisten. So funktioniert Werbung.

No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
6

Wenn der Staat sich von der Wissenschaft beraten lässt, wer überzeugt da wen?

Die Macht überzeugt die Ohnmacht.

Also überzeugt der Staat die Wissenschaft?

Der Staat überzeugt die Wissenschaft, dass es vernünftiger ist, sich als brauchbar zu erweisen.

Wann erweist sich Wissenschaft als brauchbar?

Wenn sie beweist, dass Politikziele vernünftig, realisierbar und alternativlos sind.

Wie beweist sie, was nicht zu beweisen ist?

Sie beweist, dass Theorien, sobald sie als brauchbar gelten, richtig und alternativlos sind.

Wie kann sie das beweisen?

Durch gelenkte Forschung.

Wie lenkt man Forschung?

Durch die Vergabe von Mitteln.

Und dafür braucht sie den Staat?

Dafür braucht sie den Staat.

Also handelt es sich um eine Win-win-Situation zwischen Staat und Wissenschaft?

Es handelt sich um eine Win-win-Situation zwischen denen, die ihre Macht im Staat, und denen, die ihre Macht in der Wissenschaft mehren wollen.

Demnach ist Macht der gemeinsame Nenner von Staat und Wissenschaft?

Absolute Macht erfordert absolutes Wissen.

Also fallen Staat und Wissenschaft immer wieder auseinander?

Sie fallen auseinander, sobald sie ineinander fallen.

Wann ist das der Fall?

Immer und nie.

No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
7

Ist Wissenschaft öffentlich?

Wissenschaft ist ein öffentliches Arkanum.

Soll heißen, die Öffentlichkeit versteht nichts von dem, was Wissenschaft sagt?

Wissenschaft versteht nicht, was ihre Rede in der Öffentlichkeit bewirkt.

Aber viele Wissenschaftler bewegen sich in der Öffentlichkeit wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.

Diese Wissenschaftler verfügen über einen Nimbus. Die Öffentlichkeit schätzt sie als bedeutende Forscher und die Kollegen beneiden sie um ihre öffentliche Expertise.

Soll heißen, sie verdanken ihre Reputation einem Schwindel?

Einem Schwindel, der gar nicht auffliegen kann: ja. Die eine Seite hat nicht die Kompetenz, die andere nicht die Macht dazu. Keine von beiden hat ein Interesse daran, ihn aufzudecken.

Dann ist das die sicherste Reputation von allen?

Wenn einer mit den dazugehörigen Anfeindungen leben kann, ja.

Dann zieht es alle Wissenschaftler dorthin?

Sagen wir: 50%.

Warum nur 50%?

Weil die restlichen 50% sich lieber ducken.

No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
8

Welche Wissenschaftler sind die besseren?

Die Duckmäuser verdrehen die Ergebnisse ihrer Forschung, bis die Forscheren sie brauchen können. Wenn sie mit dem Verdrehen nicht nachkommen, nimmt die Öffentlichkeit ihr diese Arbeit ab und die Forscheren haben leichtes Spiel.

Also sind die Forscheren die Klügeren?

Wenn man davon absieht, dass sie am Ende die Dummen sind, ja.

Warum denn das?

Weil sie die Politik falsch beraten und dafür irgendwann den Spott auf sich ziehen.

Aber erst, wenn alles vorbei ist?

Davon gehen wir aus.


Marginalie 2 (Handschrift unbekannt)

Aber er hat recht, Kollegin!

 

Die außer Dienst gestellte Moderne
sorgt sich um ihr Nachleben

Die Phantomisierung der Welt
1

Die Welt, schreibt Leckebusch, ist alles,

was der Phall ist. Man könnte auch sagen: sie ist vom Weibe geboren oder, was dasselbe bedeutet: sie ist menschlich.

Mensch sein bedeutet, das Fell trocken zu halten, die Fälle zu sondern, nicht,

sie zu vermengen. Ordnung halten von klein auf, das schafft

Welt, von klein auf sagen lernen, was recht ist, das schafft

Recht. Die Welt ist alles, was recht ist. Das soll mir recht sein: keine kleine

Phrase. Die Welt ist alles, was nicht recht ist, nein, sie ist

der Teil von allem (das All!), der mir überhaupt nicht

recht ist. Wäre es anders, ich entbehrte der Aufgabe

und müsste gehen. Alles, was recht ist, hält mich nicht auf, es

befriedigt mich nicht, befriedigt zu sein, damit muss ich auskommen

oder verkommen. Die Welt, heißt das, hält mich nicht auf. Die Welt, heißt das, diese Welt

hält mich auf. Was mich nicht aufhält, gerade das

hält mich auf. In der Welt sein heißt weiter müssen.

Viele sind berufen, wenige auserwählt.

Mancher kommt weiter, nur nicht vom Fleck. Auch das Umgekehrte

findet statt. Welt ist alles, was nicht vom Fleck kommt. »Macht, dass ihr weiterkommt!« Macht schafft Recht,

aber recht ist das nicht. Das heißt, Unruhe ist der Grund von allem, Ungeduld, Unrast und Unergiebigkeit

liegt uns im Blut und bellt: Welt.

Die Phantomisierung der Welt
2

Meine Welt, schreibt Leckebusch, ist zerbrochen.

Sie hat sich gefügt und daran ist sie zerbrochen.

Daraus schließen, dass zerbricht, was sich fügt,

bleibt kühn: ein Fehlschluss. Doch auch aus Fehlschlüssen lässt sich lernen.

Sie verraten viel. Zu sagen: was mich mit Sorge erfüllt,

erfüllt mich ganz, ist nicht ganz

richtig. Mehr: Es ist nicht recht.

Was mich ganz mit Sorge erfüllt, nimmt mich weg aus allem. Fast dürfte ich sagen,

sie tötet mich, denn wirklich

bin ich fast tot, doch sie tötet nicht wirklich, sie lässt mich leben. Nichts ist beschämender, nichts ist dürftiger

als dieses: leben ohne zu leben, leben in einer, meiner zerbrochenen Welt,

die ein anderer Wille geholt hat, nicht, um sie zu benützen, sondern um

sie zu zerstören, auf dass sein Nutzen geschehe

oder aus schierem Widersinn; auch das

wäre möglich und wäre

die sinnigste Lösung von allen. Denn wenn, wer sich empört,

noch diesen Funken Leben versprüht, bevor das Dunkel

über ihn kommt und ihn erschlägt, dann hieße, nicht zu leben im Widersinn, wenigstens

dies eine richtig gemacht zu haben, sollte davon

noch einmal die Rede sein, was nicht gewiss ist.

Die Phantomisierung der Welt
3

Wer sich an den Kindern vergreift, der vergreift sich am Leben.

Wer sich am Leben vergreift, der vergreift sich an jedem

Einzelnen und man muss ihn zur Rechenschaft ziehen.

Wenn die Stunde der Rechenschaft kommt und eine Macht, stärker als alle, unsichtbarer als alle, hält sie zurück,

wenn die Dämme barsten und die Wasserfluten, sich leise kräuselnd, ziehen es vor,

in der Luft zu stehen, als gäbe es keine Schwerkraft oder als dürfte sie

ihnen, wie die Dinge nun einmal stehen, nichts anhaben,

dann verwandelt sich Landschaft in Steppe, durchzogen von hungrigen Trupps

auf der Suche nach Nahrung, begierig, auf alles zu schießen, dem man zur Not das Fell

übers Ohr ziehen könnte, denn

erlegt ist erlegt. Das fragt nach Gewinn, nachdem

die großen Gewinne getätigt wurden, also vergeblich, aus Selbsterhalt.

Die großen Gewinne … schneller als Denken denkt,

fallen sie an und verschwinden dort, wo sich Wirklichkeit tut, so

wie jemand sagt: da tut sich etwas –

wirklich, da tut sich was, ›wirklich‹

war gestern. Nur das Replacement der Macht erzeugt jenes Stöhnen,

das jeder Wirklichkeit innewohnt und erst dann vergeht, wenn du gehst.

Hör es dir an! Erkennst du die Stimme? Nein? Bisschen fremd, was? Kein Wunder, sie gehört

dir. Was gehört dir schon? Nicht einmal eine Stimme.

Die Phantomisierung der Welt
4

Denkt Denken? Denkt es wirklich?

Ist es imstande, den Schmerz des Wirklichen abzubilden?

Erst einmal sind es zwei: der Schmerz und das Denken. Ein Drittes:

das Gedachte. Ein gedachter Schmerz ist keiner.

Aber einer, der ungedacht bleibt, gibt es den überhaupt? Offenbar nicht.

Alles, was ist, muss gedacht werden, anders

offenbart es sich nicht. Offenbar ist das wichtig: zum Denken kommen.

Das bloße Sein kümmert sich nicht. Nur was denkt, kann sich kümmern.

Aus dem Sein denken, das ist

Eulen nach Athen tragen, es fügt

dem Sein kein Jota hinzu. Also lässt, was nicht denkt, denken?

Treibt das Ungedachte das Denken? Hat es Gründe? Dann w