―Surely. His visions cost us several billions per annum.
―Exactly. You can’t stop future.
Die Zukunft kann niemand stoppen. Sie erscheint so oder so. Jeder Einzelne ist ein Bote aus der Zukunft. Er trägt sie in sich, aber er weiss nichts von ihr. Am augenfälligsten zeigt sich das am Neugeborenen, das nichts weiss, aber die Zukunft ganz in sich trägt. Der handelnde Mensch kann die Welt verändern. Aber er ändert nichts daran, dass alles, im Nachhinein betrachtet, so und nicht anders kommen musste. Gegen den Anspruch, die Welt zu verändern, erhebt sich der Wandel der Welt.
―Ach. Ich dachte schon, keiner würde sie bemerken.
―Warum trägst du sie dann?
―Weil sie mir steht.
Sabine A träumt von einem Ex
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B. Geschichte des Apfels
Sie zu erzählen ist nicht einfach.
Sie nicht zu erzählen ist fast unmöglich.
Eigentlich erzählt sie sich selbst.
Erzählung des Apfels
Sabine A träumt von einem Ex
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C. Gesang der Spottdrossel
Bist du dir sicher?
Bist du dir ganz sicher?
Und wenn du dir so sicher bist:
Wie sicher ist das dann?
Sei dir da mal nicht so sicher.
Sei gewarnt.
Du sagst:
Das Investment ist gut.
Das Investment ist sicher.
Welches Investment ist schon sicher?
Nur die Torheit ist sicher.
Sei töricht (aber nicht zu lange).
Du bist nicht allein.
Wir stehen an deiner Seite.
Wir fangen dich auf, wenn du stolperst.
Wir fangen dich ein, wenn du aufblühst.
Aber das weißt du doch.
Wir wollen dein Glück.
Dein Schritt hat uns tief verunsichert.
Wie sollen wir uns dir jetzt nähern,
ohne dir zu nahe zu treten?
Dein ›wir‹ gegen uns:
Vielleicht denkst du noch einmal nach.
›Wir wir wir‹
das verweht
bedenk es
Nimm nicht den langen Weg.
Nimm die Abkürzung.
Ich zeige dir, wie es geht.
Nimm seinen Arm.
Verdrehe ihn leicht.
Das wäre ein Anfang.
Morgen sehen wir weiter.
Sabine A träumt von einem Ex
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D. Gefangenenchor
Sabine A träumt von einem Ex
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E. Archipelagus oder die Freundschaft
Wir wissen noch nicht, ob er der Richtige ist
Wir werden ihn auf Herz und Nieren prüfen
Bitte sei vorsichtig während dieser Zeit
Es wird eine Weile dauern
Habe Geduld
so wie wir mit euch Geduld haben
Du solltest nichts ohne uns unternehmen
Wir sind jederzeit für dich da
wenn du uns brauchst
wenn du uns nicht brauchst
gerade dann
Du darfst dich uns nicht entziehen
Er darf dich uns nicht entziehen
Unser Recht auf dich ist älter als andere Rechte
Unser Recht auf dich ist stärker als andere Rechte
Unser Recht auf dich ist unverbrüchlich
Vergiss das nie!
Wenn du mit ihm durch bist
wirst du uns mehr denn je brauchen
Das zumindest
sollte dir bewusst sein
in der schweren Zeit, die jetzt anbricht
Sabine A träumt von einem Ex
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F. Feuerzauber
Sabine A träumt von einem Ex
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G. Urlaub vom Ich
Das Wort ›ich vergehe‹ sagt mir jetzt nichts, vor allem, wenn ich, wie jetzt gerade, das Wort ›Lust‹ heraushöre, wobei ich sagen muss … also ich hab nichts gegen Lust, überhaupt nicht, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass jemand nach ihr süchtig wird, ob das dann so weit geht, dass er eine Beratung aufsuchen sollte, das kommt sicher auf den Einzelfall an, darüber müssen wir hier nicht reden. Worüber müssen wir reden? Ich weiß es nicht, weiß es wirklich nicht, wobei ich schon finde, dass die Sache mit dem Ich einmal grundsätzlich angesprochen werden sollte, schließlich behaupten wir mehrmals am Tag, nein, nicht nur eines zu besitzen, das wäre jetzt eindeutig zu wenig, sondern als Ich, was immer das sein mag, zu agieren, zu denken, Entscheidungen zu treffen, im Grunde all das zu erledigen, was die Gesellschaft von uns verlangt … wir sagen dann ›ich‹ und meinen, wir seien auf diese Weise mit uns im Reinen … und dann kommen Situationen, in denen wir nicht ›ich‹ sagen, aber es ganz ganz tief empfinden, ich meine jetzt das Ich, wobei es unwillkürlich zu zucken beginnt, als sei etwas in es eingedrungen und als müsse es nun aus sich herausgehen, jedenfalls scheint das die Regel zu sein, wenn man das eigene Empfinden, das ja nie ganz ausgeklammert werden kann, einmal mit der riesigen Literatur abgleicht, die es darüber gibt. Man muss aber dazu sagen, dass dieses Ich sich normalerweise in einem Anspruchsumfeld bewegt, das gerade solche Situationen, wenn man sie im Auge behält, mehr an den Rand der eigenen Existenz drängt, und es ist sicher korrekt, das als seine große zivilisatorische Leistung zu betrachten, während wir verständlicherweise auch ganz gerne Ferien vom Ich nehmen, wenn es um die ganz großen Gefühle geht, doch wie es so geht, am Ende kommt es doch mit, so wie der letzte Aufsatz, der nicht mehr fristgerecht fertig geworden ist und einem jetzt den Urlaub doch auch wieder … strukturiert, wie das eben so geht, auch wenn es der Partner nicht gerne sieht.
Wer landet mehr
Treffer im Leben? Der Politiker oder der Künstler?
Die Frage ist falsch gestellt. Die Kunst landet mehr Treffer, weil
sie von einem Punkt aus in alle Richtungen zielt: 3600.
Die Politik kommt aus allen Richtungen und zielt in eine: das kann
dann ein Volltreffer sein oder eine Fata Morgana.
Was geht’s dich an? Du bist ein Bewohner der Pyramide.
Die Wissenschaft der Pyramide liquidiert die Kunst.
Nein, sie behauptet nicht, dass es mit ihr zu Ende gegangen ist.
Sie schleift sie zum Schafott (dem blutigen Richterstuhl einer
verjährten Vernunft, neben dem ganz andere stehen, ganz
andere).
Wer das Offensichtliche nicht sieht, was sieht der überhaupt? Er
sieht seine Arbeit und sonst nichts. Sonntags geht er ins Museum und
sieht ›Zeugnisse‹. Wie wir wurden, die wir sind. Selbst
das Wir ist geborgt. Nichts ist ihm fremder als die Vergangenheit.
Vergangenheit, betrachtet als fremde Ethnie. Die einzige, der
gegenüber der Gebildete sich jedes Vorurteil anmaßen darf, ohne
politisch abzuschmieren. Er darf es erhobenen Hauptes
Wissenschaft nennen.
Die Kunst: das einzige Medium, das nie vergeht.
Tronkas Aufzeichnungen: eine Fundgrube. Was er sucht, was er findet, ist nicht immer leicht zu ergründen. Tronka ist offen, weil er offen sein will. Der Wille zur Offenheit übertrifft die wirkliche Offenheit bei weitem. Distanz aufbauen, verkürzen, eine Reflexion ab-brechen, um zu sehen, wie sie bricht – das sind so Techniken, die in seinen Publikationen kaum vorkommen. Dort zählt der durchgeführte Gedanke. Dass er sie im ›Reich‹ der Kunst zur Anwendung zulässt, verrät seine Unsicherheit: Ist Kunst überhaupt ein Gegenstand der Philosophie? Oder steht sie ihr überall entgegen?
Ginge ein Wort wie ›Geist‹ flott von den Lippen, so wäre
die Kunst das Gefäß. So aber… Was bremst dich? Welches Tabu
mischt sich da ein? (Die Pyramide ist der Ort des Tabus. Das moderne
Tabu entsteigt der Wissenschaft wie Athene dem Haupt des Zeus, in
voller Rüstung, aber jungfräulich. Von Ahnenkult keine Spur. Nur
den Platz auf den Schultern von Riesen, den beansprucht es auch:
verlogenste aller Metaphern.)
Isla del Silencio
3
Tronka klettert auf die Schultern von Riesen – aber sein Glas ist beschlagen
Auf den Schultern von Riesen sehen wir weiter. Einzige Frage: Wie kommen wir hinauf? Einzige Lösung: Sie nehmen uns huckepack.
Das also soll die Lösung sein: Die Riesen nehmen uns mit. Es ist die Art, wie Wissenschaft die Welträtsel löst: huckepack. Als Wissenschaftler sind wir einander ebenbürtig. Was zeichnet die Riesen aus? Ihnen ist etwas eingefallen. Eine neue Idee, die Dinge zu ordnen, ein Verfahren, etwas herzustellen, was es zuvor nicht gab, ein Beweis. Das also sind die Riesen. Sobald der Weg gebahnt ist, können es alle. Sie können den Weg gehen, den andere gebahnt haben. Großartig. Sehen sie deshalb weiter? Vielleicht, vielleicht nicht.
Wenn sie Riesen sind, sehen sie weiter. Wenn sie keine sind, was dann? Niemand hilft ihnen hinauf, es sei denn ein Riese. Warum sollte er das tun? Will er selber hinauf? Oder lieber doch nicht? Was zum Teufel triebe ein Riese auf den Schultern von Riesen?
(…)
Das ganze Bild ist einfältig. Ein Bild von Einfältigen für Einfältige.
Aber es ist nicht dumm. Es rechtfertigt ihre Existenz. Der Alltag der Naiven verlangt seine maiores: an ihnen richtet sich aus, wer nichts zu schaffen hätte, gäbe es nicht ihre Hinterlassenschaft. An ihr macht er sich zu schaffen. Ordnet dies, ordnet jenes, flickt ein Loch, bringt einen Knopf an, sagt: Das lässt sich brauchen. Sehen Sie dieses Denkmal? Das war einmal eine Markthalle? Nichts da, das ist eine Kirche. Sehen Sie nicht, dass es eine Kirche ist? Es ist unbedingt eine Kirche. Dieses Pissoir, soeben den Tiefen der Vergangenheit entrissen, kann nur ein Opferstein sein. Was macht uns da so sicher? Wir opfern niemandem mehr, wir opfern dem Opferstein, der vielleicht ein Pissoir war. Das ist unser Wissen. By the way: Wir wissen jetzt, wie man eine Atombombe baut. Also angeln wir uns einen Geldgeber und bauen – janein: eine Atombombe. Warum nicht eine Vergangenheit? Wo wir doch wissen, wie’s geht.
(…)
Das also nennen wir: auf den Schultern von Riesen stehen.
Isla del Silencio
4
Tronka und das Tabu verlassen händchenhaltend den Raum
Das Tabu weiß: Das geht gar nicht. Woher weiß es das? Es weiß nicht, es verfügt. Was gibt ihm diese Gewalt? Die Psychologie sagt: verjährte Gewalt, die erlitten wurde. Irgendwann wird die Psychologie selbst zur verjährten Gewalt, die erlitten wurde. Irgendwann wird jede Wissenschaft zur verjährten Gewalt und produziert Scham. Ist schon klar, wie ihr die Sache seht, aber darum geht es jetzt nicht. Worum dann? Vielleicht um die Frage, was nicht mehr geht. Dumm nur: das ist keine Frage. Es ist die Antwort. Sagen wir: die Antwort auf eine Frage, die nie gestellt wurde. Die Antwort vor jeder Frage, die gestellt werden könnte und jetzt nicht mehr gestellt werden darf. Es ist Türenklappern mit ›Bewusstsein‹.
Isla del Silencio
5
Auch hier ist Kunst
Wissenschaft, in die Öffentlichkeit getragen, mutiert. Wozu? Zu
Ideologie, beteuern die Ideologen, nicht ahnend, dass sie selbst ein
Teil des Problems sind, nicht unbedingt der primär zu lösende, aber
deshalb auch nicht zu vernachlässigen, weil sie das Problem durch
die Schnelligkeit ihrer Schlüsse… Zudecken? Decken sie zu? Das
klingt paradox, da sie es sind, die es zur Sprache bringen. Da liegt der Brocken. Nur Wissenschaftler könnten das Problem zur Sprache bringen, weil nur sie die Deformationen sehen, die sich im Übergang von einem
Gedankenverbreitungssystem zum anderen in die Information
einschleichen.
―Kokolores, weiß Teuschner. Gerade er, der sich aus allem
heraushält, sieht sich hier gefragt. Gerade weil sie Wissenschaftler
sind, sehen sie nur ihre Wissenschaft und beklagen ihre mangelnde
Resonanz. Wenn dann einer der ihren den Weg an die Öffentlichkeit
findet, dann neiden sie ihm diese Rolle und sonnen sich in der
Wichtigkeit, die ihr Fach plötzlich gewinnt. Natürlich finden sie,
dass dieser Vorturner, wie sie ihn empfinden, über weite Strecken
Blödsinn redet, aber das finden sie bei weitem nicht so schlimm wie
die Nichtbeachtung, die nun endlich ein Ende hat (wobei sie selbst
natürlich weiterhin unbeachtet bleiben, aber im persönlichen Umfeld
fleißig Punkte sammeln).
―Du meinst?
―Genau so. Wenn einer Blödsinn reden muss, um das Ohr der
Öffentlichkeit zu erlangen, dann kann der Blödsinn nicht so schlimm
sein. Dann kann es auch nicht so schlimm sein, ihn nachzusprechen,
erst im privaten Zirkel, denn man soll sich plötzlich verständlich
machen, dann vor den Studenten, die sich bedeutungsvoll anblicken,
weil sie ihren drögen Paukstoff und damit fast schon sich selbst
unvermittelt ins Zentrum einer gesellschaftlichen Debatte gerückt
sehen, dann…
―Hör auf! Das ist ja furchtbar.
―Wissenschaft, in die Öffentlichkeit getragen, sinniert
Teuschner, ist nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst der
Blamage, wenn du mich fragst, auch da gibt es Weltmeister.
Isla del Silencio
6
Treppenhausgedanken, absatzweise geordnet
Wenn Wissenschaft öffentlich wird, dann teilt sie sich in die
schrecklichen Vereinfacher und die schrecklichen Komplizierer.
Natürlich beherrschen die Vereinfacher das Feld. Sie nötigen die
Komplizierer, ihnen zu widersprechen, ohne dass der Normalkonsument
verstünde, worauf sie hinauswollen.
Einfach gesprochen wollen die Komplizierer die Vereinfacher von der Bühne
schubsen, weil sie die Wissenschaft verraten. Natürlich wehren sich
die Vereinfacher und greifen dabei zu teilweise recht handfesten
Mitteln.
Also vereinfachen die Komplizierer ihre Argumente und über
kurz oder lang sitzen beide Parteien im gleichen Boot und rudern in
verschiedene Richtungen. Da liegt es an der Moderation, also an den
im Hintergrund ihr Garn spinnenden Instanzen, durch eine
geschickte Regie die ›Debatte‹, wie sie das nennen,
in die erwünschte Richtung zu lenken.
Daher sitzen die Vereinfacher
in den von einer Minderheit tückischerweise
›Ausstrahlungen‹ genannten Sendungen immer oben, die
Komplizierer hingegen immer unten, es sei denn, die Komplizierer haben
ihr Anliegen bereits so weit dekompliziert, dass sich irgendwo ein
›Format‹ findet, bei dem ausnahmsweise sie obenan sitzen dürfen,
während der Gegner erst gar nicht zur Party erscheint, da ein
Auftritt in diesem Kreis sein Punktesaldo schädigen würde. Aber
unsichtbar ist er natürlich immer anwesend.
… Homomaris, einer der geistreichsten Menschen des Planeten … warum fällt mir dabei der Ausdruck ›abgedunkelter Witz‹ ein? Auch dieser Mann ist auf der Suche nach grenzenloser Kindheit … hinter Blutschleiern.
Sangria
1
/1/Come and watch, what’s happening now: Wie die Große Hand
jetzt alle erfasst und langsam, langsam, wir wollen ja nichts
überstürzen, langsam über die Kante schiebt, einzeln, wie es sich
gehört, es muss bei alledem sich doch auch richtig anfassen, mit
eigenen Regeln und einem eigenen Weiter-so. Ein jeder bringt seine
Regeln mit, er hat ein langes Leben darauf verwandt, sie auszubilden,
und voilà, jetzt arbeiten sie – ja, diese Regeln arbeiten jetzt,
alle arbeiten sie für ihn, damit sein Abgang sich
vollumfänglich vollende. Das volle Ende – die Menschen
hören den Ausdruck mit Schrecken, erinnert er sie doch daran, dass
sie noch immer die Standmiete nicht bezahlt haben, und auf einmal, am
Allerzahltag, wird alles miteinander fällig: das ist ein sehr altes
Bild, in das mancherlei hineinpasst, ein richtiges Gemälde,
polyfigural, es könnte von Breughel dem Älteren stammen, auch dem
Jüngeren, warum nicht, obwohl der Ältere deutlich
verschwenderischer mit seinen Figuren umgeht.
Woher kommen all diese
Leute, die wir auf den Bildern der alten Kunst bestaunen? Und wohin
sind sie gegangen? Irgendwohin müssen sie ja gegangen sein, sonst
wäre die Kunst nicht so alt und hinge nicht so entschieden zeitlos,
so … zeitentbunden in den Museen.
Es ist und bleibt ein Rätsel um
diese Leute. Nur wer schon gegangen ist, bringt soviel Zeit mit. Sie
bringen viel Zeit mit, all diese Leute, mancher sagt, sie
brächten sie wieder, als sei diese Zeit vergangen und spule ein
zweites Mal ab. Das ist natürlich Nonsens. Zeit kommt nicht wieder.
Nur die Leute, die in ihr vergangen sind, treiben sich auf diesen
Bildern herum, außer der Zeit, so wie man Hunde außerhalb von
geschlossenen Ortschaften antrifft – Streuner sind sie, vermutlich
begegnen sie einem deshalb, sofern sie aus den älteren Zeiten
stammen, in größeren Rudeln, das Zusammengehörigkeitsgefühl ist
da noch ausgeprägter und die Gefahr gegenwärtiger.
Sangria
2
/2/
Nun, da wir an der Reihe sind, dürfen wir nicht so pingelig sein. Es
ist ja unsere Geschichte, wir können sie dehnen und stauchen, wir
können sie auch verdrehen, solange, solange, bis sie steht … eine gute
Geschichte muss stehen, sie muss uns stehen, gut zu Gesicht
genauso wie Rede und Antwort, dann nehmen wir sie in die Hand und
blasen sie in die Luft … schwebt sie auch anmutig? Wo schwebt sie hin?
Treiben die Miasmen der Anderen sie zurück? Vielleicht geht ihr die
Luft aus und sie sinkt zu Boden, sinkt und sinkt und … ein Hüpfer, ein
kleiner Hüpfer nur: das ist das Ende vom Lied. Vielleicht schwebt sie
auf und davon, uns auf und davon, so dass wir einander ratlos in
die glänzenden Gesichter blicken, Wirlinge allesamt, Rasende, als ginge
es nach Andernach, gleich hinter der nächsten Biegung, links, rechts,
fort, nur fort, diese Regung ist echt. Recht betrachtet, ist mir unser
aller Geschichte zu kompliziert, nein, zu einfach, nein, zu
kompliziert. Ich könnte meine dagegen setzen, aber ich will es nicht.
Nein, ich möchte das nicht erklären. Meine Geschichte, die eines
Pinsels auf der Suche nach der rechten Hand, geht niemanden etwas an.
Sie ist fad. Dabei brauche ich nur einen Fleck, einen Anhaltsfleck, und
schon brennt es los. In mir werden alle lebendig, bloß ich nicht. Damit
behaupte ich nicht, dass ich tot bin. Nichts will ich behaupten,
solange es über mich geht, dabei geht alles über mich, ich weiß schon,
ich bin der Buckel, über den alles weg muss. Vielleicht bin ich tot,
ausschließen lässt sich das nicht. Immerhin bin ich einmal gestorben,
wer kann das schon von sich behaupten, ohne sich in endlose
Widersprüche zu verwickeln? Ich fürchte mich vor keinem Widerspruch,
ich gehe auf jeden los, jauchzend: Endlich ein Widerspruch! Und dann
die obligate Enttäuschung: Alles reiht sich ein, fügt sich, stimmt
überein, hält zusammen. I cannot make it cohere. It makes me
cohere.
Nachtrag:
Einmal muss man gestorben sein – und dann noch einmal
sterben –, um Recht zu behalten: eine Mindestanforderung
der Gesellschaft, der ich mich willig gefügt habe und die mich jetzt
empört. Nur bekommen wird man sein Recht nie. Das Recht ist ein
scharfes Schwert, stumpf geworden durch Nachdenken. Ich will alles
erzählen und erzähle nichts. Ich will nichts verraten und verrate
alles. Ist das ein Widerspruch? Ist das die Geschichte? Meine
Geschichte ist unsere – nur wer wir sind, das wird bis
zum Schluss nicht verraten. Niemandem. Mein Wir muss, wie jedes,
erfunden werden, vermutlich bin ich deshalb so gut im Erfinden.
Sangria
3
/5/
Ich, Homomaris, erkläre dem ABC den Krieg, ich mache ihm seine Erfolge streitig,
meine Aufgabe endet mit Sieg oder Niederlage, kein Remis ist denkbar.
Ich beende das Zeitalter der Schrift. Nichts werde ich von den
Buchstaben übrig lassen außer der pictura, dem Schlauch der
Kontur, überbordend von Ausgeburten einer perversen Phantasie,
hervorgekrochen aus den Ritzen und Spalten des Hundeplaneten, aus
allem, was klafft, hinein in die Stege und Kegel, die Füßchen und
Pünktchen, die Bögen und Klammern und Stengel: Die Schrift ist
Viele. Wer glaubt, die Vielen bildeten eine Schrift, der wird, wenn
erst mein Werk (das weniger meines ist als irgendein anderes) ans Ende
gelangt, seinen Irrtum erkennen: er wird ihn abstreifen, als sei er ein
zur Gänze fremder. Was er vielleicht auch ist, denn der Glaube an die
Schrift gleicht in mancher Hinsicht einer Besessenheit, die nur durch
Austreibung geheilt werden kann. Wo Glaube ist, da sind auch Besessene,
temporär Besessene, chronisch Besessene – bloß außer aller Zeit spielt
kein Glaube.
Schrift und Glaube, Glaube und Schrift, das ist eine alte Liaison. Glaube braucht Zeichen. Ich hingegen glaube alles: die
Unersättlichkeit meines Glaubens stillt sich an keinen Zeichen, sie
lässt die Abwesenheit nicht zu, also auch nicht die Differenz, die
Differenz zu allem anderen; wenn alles anders ist, kann es kein
Anderes geben. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das ist pure Logik,
das ist die Logik des Handwerks, des mestiere, ich lege Hand an,
darum geht es mir, ich lege Hand an das innere Gerüst der Kultur, ziehe
ich sie ab, so fällt sie in sich zusammen. Das wird bald geschehen, ich
muss mich sputen.
Alles Vollendete fällt heim zum Uralten.
Ich bin dieser Uralte. Ich bin wiedergekommen. Nicht
wiedergeboren, wiedergekommen: da liegt der Unterschied.
(…)
Meine Spanne ist kurz.
Sangria
4
/11/
Sangria.
Farbe der Versenkung.
Jede Farbe erscheinen lassen, als handle es sich um eine Modulation
dieser einen – besonders raffiniert, besonders kostbar, besonders
eigen. Aber im Grunde leben sie alle von der Kostbarkeit jener einen.
Wenn der Ursprung eines Bildes in einer farblichen Missetat liegt, dann
erschöpft sich die Aufgabe des Künstlers darin, es in Sangria zu
erlösen.
Eine Welt voll obdachloser Geschöpfe, jeden Tag mit diesem Urstoff
getränkt und verflüssigt … es liegt Adel darin, so zu denken, eine
unwillkürliche Feinheit, die sich der Misere ergibt, um sie für
unzuständig zu erklären. Schattierungen der Seele … das sagt
sich so leicht, aber es ist die Wahrheit, einfach die Wahrheit,
verunklart durch den Fehler, den Menschen begehen, für die alle
Schatten grau sind.
Man darf keinen solchen Fehler begehen. Meine Palette mag grell sein,
ein wenig zu grell, wie mein Schatten behauptet, darüber besitze ich
kein Urteil (der Arzt erklärt mir, ich hätte den Grauen Star, was ich
für eine medizinisch verseuchte Redensart halte), immerhin könnte das den leicht
belehrenden Zug darin erklären. Man sieht meine Bilder und sieht sich
unterrichtet.
Ich treibe aus: das Grau, das Grauen, die falschen Schatten einer falschen Nichtgegenwart (denn es gibt auch eine richtige, an die ich nicht rühre). Ich beneide die alten Satansaustreiber, auch das ist mestiere, wenngleich
ein untergegangenes. Mein Werk ist kleiner und feiner. Was aus ihm
wird, was daraus werden soll, weiß ich nicht, will es nicht wissen; was
immer daraus entstehen wird, es soll nach mir kommen.
Wie mag
das sein: nach mir? Nach mir die Sintflut, warum denn nicht,
warum denn nicht? Es kann gar nicht anders sein. Meine Welt, mit
niemandem geteilt, mich vom ersten bis zum letzten Atemzug
einschließend, im Nu sich auflösend, was wäre sie von Beginn an anderes
gewesen als eine Arche in dieser roten Flut? Sinnreich bestückt mit
Atemwesen aller Art, wie es meinem Fassungsvermögen entsprach,
unerträglich im Grunde, jedenfalls schwer zu ertragen, was trägt, ist
der Stolz.
Bourbonengift: Herrschsucht, gepaart mit Courtoisie.
in einem Winkel der Malburg entdeckt Sabine A die
Devise an einer Kordel, zum Trocknen
aufgehängt, gesetzt, sie wäre noch etwas feucht. Über das Trockene
und das Feuchte hat Homomaris, wie er sagt, lange nachgedacht, um
schließlich das Feuchte zu bevorzugen:
―Wir vertrocknen, das ist ein unausweichlicher
Prozess, der kommt von alleine. Man muss das Feuchte gewinnen. Humifizierung!
Lebendiges durch Lebendiges. Persönlich betrachte ich mich als Mönch, ich trage mein
Überzeugungsbündel am Stock über der Schulter, schon um es stets bei der Hand zu
haben.
Also auch er. Omnia mea mecum porto. Was
die Besucherin angesichts der in seinem Bau angehäuften Fülle von
Krimskrams verwundert.
―Ich glaube alles. Ich glaube, dass die Erde eine Scheibe ist,
ich glaube, dass sie als abgeplattete Kugel um die Sonne kreist und
noch viel mehr. Ich glaube alles und sein genaues Gegenteil. Man muss
glauben. Sobald die Skepsis an einer Stelle einreißt, fällt alles
nach und nach auseinander. Aber im Denken gibt es kein Nach-und-nach: ein skeptischer Gedanke genügt und die Welt
geht dahin. Wohin geht sie? Das ist eine gute Frage. Wohin könnte
sie gehen? Die Skepsis lässt ihr keine Wahl. Die Welt existiert nur
im Glauben. Bin ich der letzte gläubige Mensch – manchmal sehe ich
die Dinge so –, dann existiert sie nur in meinem Glauben und ich
muss darum Sorge tragen, dass kein Krümel verlorengeht. Deshalb
glaube ich alles.
Biene gibt sich erstaunt. Schön hat sie sich gemacht
und strahlt ihn verführerisch an:
―Aber die Welt da draußen kennt Sie doch gar nicht. Sie ist so
brutal und hart. Sie überfährt Sie mit links, sollten Sie einen
Moment lang nicht aufpassen. Diese Welt braucht Sie nicht.
Homomaris spielt mit dem Stöckchen.
―Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Ich glaube an diesen
Satz, weil ich alles glaube. Ich glaube, dass ich gekommen bin, die
Welt zu erlösen.
―Aber wie wollen Sie das anstellen? Das haben schon so viele
versucht und sind gescheitert.
―Man muss an das Scheitern glauben. Kann ich scheitern, dann
kann es auch die Welt. Der Gedanke ist unwiderlegbar.
Spinnt der Typ? Hält er sie zum Besten? Sie kehrt die Dozentin
heraus.
―Die Welt ist alles, was der Fall ist. Wie soll alles, was der
Fall ist, scheitern können? Menschen können scheitern, Projekte,
die sie sich ausgedacht haben… Aber das geschieht alles in
der Welt, die Welt wird davon berührt, weil sie alles berührt, was
in ihr geschieht, doch sie zieht sich den Schuh nicht an. Sie
zieht sich den Schuh nicht an.
―Ich, meine Teuerste, glaube an alles, was der Fall ist. Warum sollte
die Welt nicht der Fall sein? Wenn aber die Welt der Fall ist, dann
kann sie nicht alles sein, was der Fall ist. Entweder-oder. Und ich
glaube: Alles, was der Fall ist, das fällt irgendwann. In meinen
Gedanken ist es schon gefallen. Also bin ich der, der die Welt zu
Fall bringt.
―Glauben Sie das wirklich?
―Ich glaube die Welt wirklich. In dem Moment, in dem ich
meinen Glauben von ihr abziehe, entwirkliche ich sie.
―Aber das ist Solipsismus. Soli-
―Sie glauben mir nicht? Aber Sie müssen mir nicht glauben. Ob
Sie mir glauben oder einem anderen, das ist ganz und gar ohne Belang.
An irgendwas werden Sie schon glauben. Glauben ist wie ein
Krebsgeschwür. Einmal vorhanden, beginnt es zu wuchern, bis es den
ganzen Organismus im Griff hat. Welcher Glaube hat Sie im Griff? Auch
Sie glauben alles. Sie wollen es nur nicht glauben. Man darf
nichts wollen. Nur dann kann es gelingen.
―Also ich weiß jetzt nicht…
―Doch, Sie wissen es. Sie wollen es nur nicht wissen. Wissen ist
mühsam. Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Sie kennen das Rad des
Schicksals? Wo ein Rad ist, da sind auch Speichen. Sehen Sie, sobald
ich schwacher Mensch hineingreife, zerbricht es mir beide Arme. Nehme
ich aber das Stöckchen, mein Mönchstöckchen, und stecke es in die
Speichen, dann bin ich es, der den Gang des Schicksals ändert, ich,
der schwache Mensch Homomaris, und niemand, ich sage: niemand kann
mich aufhalten.
Ist das stark? Ist das schwach? Biene hält sich bedeckt.
da er nun einmal Dir gehört, darf ich Dich auf ein paar Eigentümlichkeiten hinweisen, die diesen Buchstaben vor allen anderen auszeichnen. Da ist natürlich als erstes die Stellung im Alphabet, schwer erarbeitet und keineswegs, wie wir wissen, ein sicherer Besitz. Deshalb verstärken die Typographen auch gern den rechten Schenkel um anzudeuten, welchem Druck seitens der Nachdrängenden dieses so einfach gestrickte A tagaus tagein standzuhalten hat, nicht zu vergessen die Nächte, die hier besonders heikel sind und einer besonderen Betrachtung bedürften. Da wäre zum zweiten die einfache Aufwärtsbewegung zweier Schenkel, die sich im Vereinigungspunkt (der zugleich den Höhepunkt bildet) zu einer Hornfigur verbinden, denn wie Du bereits bemerkt haben dürftest, hat der Typograph sie nicht einfach spitz zulaufen lassen – ein Fehler, den viele seiner Kollegen aus Unbildung begehen –, sondern ihnen eine sanfte Muldung verliehen, wie sie dem Haupt des Rindviehs eignet, vermutlich, um darauf hinzuweisen, dass die Ersten in dieser Hinsicht stets die Letzten sein werden – beim Tragen und Ertragen nämlich, denn darauf kommt es im Leben an.
Drittens – es gibt immer ein Drittes, das ist in der Wissenschaft nicht anders als in der Kunst – ist da dieser merkwürdige Schlenker, von Schulkindern und Banausen als waagrechter Strich gedeutet, der dem Eingeweihten zu verstehen gibt, dass hier der Eingang zu allen verborgenen Schätzen liegt, denen des Wissens ebenso wie denen des Mundaufsperrens, wie der Zahnarzt es von seinen Patienten verlangt. Denn während er behauptet, es gehe in diesem Moment nur um den faulen Backenzahn, befriedigt er sich an den tiefen Einblicken in den Schlund, die ihm sagen, was von diesem Menschen zu halten sei. Gewiss, am A! erkennt man den Menschen, es ist ein ebenso sicheres Erkennungszeichen wie seine Handtasche, jedenfalls gilt das für die Frauen und um sie dreht sich ja alles.
Kein A(hh) sei, wo ein Z(eh) gebricht, denn anders geht es nicht.
Homomaris’ Stimme durchfährt sie noch immer, als handle es sich um eine
Einmischung des Leibes, über die nicht gesprochen werden darf. Die Hockende
gefällt ihm ausnehmend gut, jedenfalls als Motiv, und dass sie über einer
der Truhen hockt, in denen seine alten Zeichnungen lagern, sofern sie aus dem
Atelier nicht den Weg hinaus in die Welt gefunden haben, erhöht den Reiz um
diverse, schwer zu beschreibende Grade. Natürlich bin ich eitel, würde er
auf eine entsprechende Bemerkung antworten. Es gehört sich, die eigene Eitelkeit
auf Anfrage ungesäumt zuzugeben, auch wenn er weiß, dass es die Sache nicht trifft.
Jedenfalls nicht genau. Sabine begreift das intuitiv, sie weiß, dass sie seiner
Eitelkeit schmeichelt, der Eitelkeit des alten Mannes in seinem Bedürfnis,
geliebt zu werden, aber auch, dass darunter noch anderes mitspielt, die
Einsamkeit des Meisters oder etwas in dieser Art: das Terrain ist neu für sie
und sie tastet sich intuitiv vorwärts.
―Sieh mal, lässt sich die Stimme vernehmen, das habe
ich in Paris gemacht, ich weiß nicht einmal mehr den Anlass. Pantagruels Frau
auf der Jagd nach erlesenem Fleisch. In Sabines Kopf, gefüllt mit Empfindungen, findet die
Rötelzeichnung kaum Platz, nur die Farbe kitzelt sie wie ein zum Blasrohr
geformtes Blatt Papier, zuzüglich der Strähnen, die das Blatt durchwandern, in
einer Bewegung, die von rechts oben nach links unten fortschreitet, so wie Madame
Pantagruel vorwärts schreitet, auch wenn die Füße unter dem langen
Haushaltskleid verborgen bleiben. Der Wortschwall, eine Art Düsenantrieb,
schiebt sie voran, ein wenig wider Willen, wenn man ihrer Körperhaltung trauen
darf, aber dem widerspricht die entschiedene Handbewegung, mit der sie die Kerze
umklammert, das Bild endet an dieser Stelle wie abgeschnitten. Es liegt eine
kleine Disproportion darin, die den Meister nicht zu stören scheint. Nicht jetzt
jedenfalls, was liegt an der Zeichnung, sie hat so lange auf diesen Moment
gewartet, sie hat ihn bekommen. Friede sei mit ihr.
Pantagruels Frau, in nächtliches Dunkel gehüllt, ist ganz Auge. Die Lider
fallen als lange Strähnen dem Unheil entgegen, das sich zum Lebensfluss
verstetigt hat, irgendwann, sie könnte den Zeitpunkt mit der Präzision einer
astronomischen Uhr bestimmen. Aber sie legt keinen Wert darauf, es ist
gleichgültig. Auch ihr Unheil ist gleichgültig, es ist zum Unheil der Welt
geworden, mit einer kleinen persönlichen Spitze, die sie in Alltagsfragen berät,
aber so wichtig ist ihr Pantagruel nicht, und da er sich selbst dafür hält, hat
sie in dieser Frage frei.
Homomaris bewegt seinen kleinen Finger
4
Homomaris bewegt seinen kleinen Finger und es erscheint der Schriftzug
WIR SIND DAS VOLK
Homomaris bewegt
seinen Finger weiter und es erscheint Friedenwanger. Er hat den Schlips abgelegt
und trägt ein Plakat mit der Aufschrift
BESSER KEIN VOLK ALS DIESES
Homomaris bewegt erneut den
Finger und es erscheint
DER ENGEL DER
GESCHICHTE
Er besitzt das Aussehen eines schwarzen Schwans mit
vielfach gewundenem Hals, an dem die Abdrücke mehrerer Hände und Reste
politischer Symbole zu erkennen sind. Der schwarze Schwan schwingt seine Flügel
und verschiedene Parolen fallen zu Boden.
WIR SIND DAS VOLK NIE WIEDER DEUTSCHLAND SOLL TROJA EWIG
BRENNEN NATION NEIN DANKE WIR SIND EUROPA
Homomaris krümmt den
Zeigefinger und der Engel der Geschichte wird ins Museum gerollt. Statt seiner
erscheint der Schriftzug
WIDER DAS
VERGESSEN
Bei Verlesung des Gedichtes ›Deutschland bleiche Mutter‹
verlassen die anwesenden Frauen geschlossen den Saal.
… haben sich an den gläsernen Rand der Mensa zurückgezogen; die Mittagssonne, eigentümlich gebrochen und intensiviert, strahlt ihnen auf den Kaffee, zwei haben die Löffelchen beseitegelegt, nur Lobbock kurvt mit seinem in der Luft herum und zeichnet Sachverhalte, die – vorerst – keiner sieht oder zu sehen wünscht.
―Was mich besonders beeindruckte, war der Artikel dieses Schriftstellers, ich habe den Namen vergessen, der den sich in Richtung KDW wälzenden sozialistischen Massen Ehrlosigkeit vorwarf, wahrscheinlich ohne zu bedenken, dass er in diesem Augenblick den Sozialismus mit Armut gleichsetzte, mit angebotsorientierter Armut, sozusagen, um gleich die Pointe zu benennen, allerdings nur eine, denn die andere bestand ja darin, dass er ihn in diesem Augenblick, angesichts der offenen Pforten des Konsumparadieses, in freiwillige Armut, nein, in freiwillige Bedürfnislosigkeit verwandeln wollte. Wenn man bedenkt, dass der Sozialismus das Versprechen der Bedürfnisbefriedigung und sonst gar nichts…
―Meine hedonistischen Freunde in Frankfurt bemängelten an den Montagsdemonstranten das Fehlen ordentlicher bürgerlicher Hemdkrägen. Es war für sie der Beweis, dass es sich um asoziale Elemente handelte, wahrscheinlich bezahlte Provokateure, jedenfalls destruktive Elemente, die dann auch diesen Spruch »Wir sind ein Volk« skandierten, bei dem man nur den Akzent verschieben musste, um im Bilde zu sein, wie der Abgeordnete Schily mit der Banane im Bundestag bei passender Gelegenheit anschaulich demonstrierte.
―Auf der Zeil brannten die Lichter von früh bis in die Nacht, da war man nicht so pingelig. Es gab ja dieses Begrüßungsgeld, jedem Ankömmling frisch in die Hand gedrückt, Wohlfühlgeld, die Leute streckten die Hände danach aus, sie eilten, es umzusetzen, bevor der Zauber erlosch und nur Asche zurückblieb, denn Wunder, das wussten sie, haben ihre Zeit und wer sie versäumt, dem bleibt das schale Gefühl, doppelt betrogen zu sein. Die triste Wirklichkeit ist ein Betrüger, das weiß doch jeder, das Wunder besteht darin, sie hinter sich zu lassen. Ein Schriftsteller, der das nicht weiß, der nicht weiß, dass er im Grunde im gleichen Genre arbeitet, nur nicht so erfolgreich, ist eigentlich überhaupt keiner. So ein warmer Regen…
―Sehen wir’s doch nüchtern. Für die Vielen war’s ein Wunder, für den Schriftsteller eine Entzauberung. Solange die DM nur in seiner Tasche klingelte, weil das System ihn privilegierte, führte sein Weg, der Weg des Geistes unmittelbar ins KDW oder in jeden beliebigen Konsumtempel. Sein Prestige, seine Ehre erloschen in der Nacht, in der die Mauer sich öffnete. Die Verwandlung in Tinnef, hier fand sie ursprünglich statt und ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sie dort zu diagnostizieren, wo sie sich so unverschämt lebensprall manifestierte: an den Grabbeltischen und an den Kassen der Kaufhäuser, an denen er stets nur einer von vielen gewesen war.
―›Unverschämt lebensprall‹ ist gut. Das merke ich mir für meine Vorlesung. Was ich Sie noch fragen wollte –
―Fragen Sie. Wenn Sie wissen wollen, wo ich mich in jenen Wochen herumtrieb, muss ich Sie enttäuschen: Ich war in Klausur. Das nationale Ereignis fand ohne mich statt. Ehrlich gesagt, ich habe mich ihm entzogen. Damals brach etwas in mir, das bis heute nicht mehr repariert werden konnte. Kollege Duro hat das, wie ich finde, treffend zum Ausdruck gebracht. »Leipzig, wo liegt das?«, erwiderte er einem Mitarbeiter, der gerade aus der Heldenstadt zurückkam und seinen Bericht loswerden wollte. »In Polen?« Heute würde ich hinzusetzen: Wäre es nur dort geblieben.
―… was ich noch loswerden wollte: diese Bananen-Nummer, also dass ein grüner Abgeordneter eine Banane hochhält, um die Kraft zu benennen, die den Osten unaufhaltsam gen Westen treibt, also den eigentlichen Motor der sogenannten Wiedervereinigung … ich muss schon sagen, das fand ich damals … irgendwie genial.
―Er wahrscheinlich auch.
―Zu Recht, zu Recht.
―… die Kraft der Demütigung, die von den jederzeit Wissenden ausging … das wird sich rächen. Eigentlich hat es sich längst gerächt, die Sache ist so verkorkst, dass an einen geraden Ausgang nicht mehr zu denken ist. Zwei Populationen auf einem Staatsgebiet! Das war immer das Betriebsgeheimnis der Deutschen, der innere Unfriede, der in rhythmischen Abständen ins Maßlose geht. Dabei quält sie dieses Bedürfnis nach Harmonie, das ebenfalls keine Grenzen kennt. Keine Grenzen kennen und ständig neue ziehen, an denen man sich wundreibt: das ist deutsch.
―Ich bin stolz darauf, dass sich wenigstens eine Partei nicht vom nationalen Rausch hat anstecken lassen. Konsum als Waffe, dazu das Geschrei »Wir sind ein Volk«: Geht’s noch? Leichter lässt sich Manipulierbarkeit gar nicht demonstrieren.
―Immerhin: die Banane … das ist doch ein Emblem der Grünen. Was daran sollte verwerflich sein? Vielleicht hätten die aus dem Osten gleich Toscana-Reisen buchen sollen, um dem Geschmack des Herrn zu entsprechen. Und was das Volk und das Wir angeht…
―… die besitzen eine ausgesprochen linke Vorgeschichte, ich weiß. So oder so, der SED-Staat ist mangels Kasse gestorben. Da bot es sich eigentlich an, den Westen zur Abwechslung mit Hilfe der subversiven Massen der DäDäER zu infiltrieren. Jetzt hat die Partei einen genialen Redner im Bundestag sitzen und das abendliche Publikum ist begeistert. Wir auch. Er macht seine Sache gut. Ich vermute mal, mittlerweile kennt auch er seine Toscana und weiß sie zu schätzen. So wie wir. Aber wir waren zu oft da, jetzt haben wir andere Ziele. Freunde von uns bieten ihr Häuschen wie sauer Bier an. Haben Sie keine Lust?
―Lassen Sie mal. Aber ich komm drauf zurück.
―Was macht eigentlich unser Dichter M? Ich meine, nachdem sein Westprivileg futsch ist. Mischt er sich unter die Massen? Ist er jetzt einer der Vielen?
―Eher einer der vielen Wenigen.
―Was heißt das?
―Flucht in die Krankheit. Nicht irgendeine, sondern die echte wahre: finale Entgleisung.
―Diese göttliche Konsequenz … also ich finde das bewundernswert.
―Was ist daran göttlich, wenn einer seinen Zynismus nicht überlebt?
―Steht es so schlimm?
―Die Staatssicherheit ist eine Krankheit zum Tode. Die ostdeutschen Schriftsteller sollten Kierkegaard lesen, statt zu lamentieren.
―Da haben sie jetzt die Geschichte im Haus und können damit nichts anfangen. Natürlich gilt das nicht für alle, ich will meine Kollegen hier im Hause nicht anschwärzen, sie haben ihre Lektion gelernt, aber ich prophezeie Ihnen: von den Geisteswissenschaften wird binnen zehn Jahren nichts mehr übrig sein, sie werden das Desaster nicht überleben. Die Geschichte? Die Geschichte ist keine Geisteswissenschaft, das habe ich immer gesagt. Die Geschichte ist eine Sozialwissenschaft. Die Germanistik zum Beispiel … das interessiert mich. Sie hat ja Anlauf genommen – damals, in den heroischen Zeiten, Sie wissen schon –, eine ordentliche Sozialwissenschaft zu werden, es gab da große Überschneidungen. Aber letztendlich siegte dann doch das Geschwätz. Sie hat auch andere Aufgaben. Jetzt muss sie all die Stasi-Verwicklungen ihrer Lieblinge aufarbeiten, das gibt erst einmal Arbeit, aber dann? Ich frage mich, was kommt danach? Goethe? Grimmelshausen? Ich frage ja nur. Klassiker sind wichtig, sie sind auch bei uns Historikern wichtig, keine Frage. Ich zum Beispiel lese immer wieder gern Thukydides und natürlich Mommsen, aber doch mehr zu Unterrichtszwecken. Das kann’s doch nicht sein. Haben Sie schon ein Prüfungsthema? Nein? Wie wär’s mit der Treuhand? Das ist ein gewaltiges Themenmassiv, wenn Sie mich fragen, das kommt gerade erst in den Blick. Die Treuhand kann gar nicht soviel falsch machen, wie man ihr anhängen wird. Sie ist der ideale Sündenbock, der bouc émissaire für alle, die irgendwann aus ihrer Niederlage im Einigungsprozess Gewinn ziehen wollen. Das ist so klar wie … versuchen Sie sich einmal an folgendem Gedankengang: Schiller, Hegel und der kleine Gysi stehen an einer Straßenecke. Kommt ein Bus vorbei, vollgestopft mit Ost-West-Berufspendlern. Sagt Schiller: Das Schöne daran ist die Freiheit in der Bewegung. Sagt Hegel: Heute sind sie Knechte, morgen die Herren. Und was sagt Gysi? Dass mir niemand die Treuhand lobt! Sie treibt uns so oder so die Kundschaft zu. – Was ich damit sagen will? Behalten Sie die Treuhand im Auge! Da tut sich was. Man muss auch frühzeitig an die Promotion denken. Haben Sie schon daran gedacht? Nein? Dann machen Sie sich mal Gedanken. Die Pyramide ist nicht alles. Sie werden doch nicht in die Germanistik…?
―Ich kam nach Erfurt, es dämmerte und ich lief in die Altstadt. Ich dachte mir: In diesen Gemäuern muss vor ein paar Jahrhunderten die Pest ausgebrochen sein oder ein völlig unnennbares Unheil hat die Bewohner vertrieben und jetzt, einzeln und scheu, kehren die ersten Menschen zurück. Sie gehen nicht festen Schrittes auf festen Straßen, sie wandeln auf imaginären Stegen, sie schnüren vorbei, jedenfalls wirken sie aufgerissen und achten der Löcher im Boden nicht – als schwebten sie unbeteiligt darüber weg, als wären sie körperlich damit ausgelastet, das Gestern und Heute abzugleichen, obwohl es weder ihr Gestern noch ihr Heute sein kann, sondern nur das einer unfassbar fremden Stadt. Sie sehen dich nicht, niemanden sehen sie, sie halten den Blick nach innen gerichtet, aber er findet dort keinen Raum, nur das Flimmern, das der Anblick dieser Häuser im Menschen auslöst. Sie wirken so unendlich verlassen, obwohl sie auch wieder bewohnt zu sein scheinen, als habe die Flucht doch erst gestern stattgefunden, vielleicht muss man hineingehen und dort liegen sie wie die Schläfer im Märchen kreuzweise übereinander. Bitterfeld ist einfach, dachte ich mir, Bitterfeld ist die Ruhrstadt, untergegangen in den ökonomischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte, aber das hier … ist vollkommen unwirklich, eine Filmkulisse, die sich nicht damit begnügt, Kulisse zu sein, sondern den Austritt aus der Zeit probt. – Ich ging ein paar Schritte in einen dieser Leipziger Höfe hinein und drehte mich um: der Eingang lag im Schatten und draußen, auf der belebten Straße, spielte das Sonnenlicht. Es spielte wirklich, es spielte mit dem Haar der Passanten, mit der verrotteten Hausfassade gegenüber, selbst mit den Geräuschen, doch just als ich mich umdrehte, liefen zwei junge Männer in Business-Anzügen durchs Bild, klarer Westimport, der eine drehte sich, ohne innezuhalten, zur Seite, zückte eine imaginäre Maschinenpistole und ahmte das Ballern aus dem Mund eines Zehnjährigen nach. In der Mädlerpassage traf ich unseren tüchtigen Frentzen, den die Pyramide zur Abwicklung eines dortigen Instituts abgestellt hat, wir spazieren ein bisschen herum und er schildert mir seinen Job, mittendrin richtet er sich mit geweiteten Augen auf: »An den Wänden meines Büros klebt Blut – bis oben hinauf. So sieht es aus. Ich habe hier eine Aufgabe. Ich würde lieber heute als morgen verschwinden, aber … es geht nicht. Es hat mich gepackt.«
―In Rostock brannte das Pflaster. Die versammelte Weltpresse wollte die deutsche Bestie sehen und bekam ihre tägliche Vorführung, Fütterung inklusive. Was sagt uns das? Dem Osten fehlt ’68, das Jahr, in dem das politische Bewusstsein der Westdeutschen zum Westen aufschloss und endgültig mit der Nazi-Vergangenheit brach. Wir haben den Faschismus überwunden und jetzt ist er wieder da. Wir müssen von vorne anfangen, ganz von vorne, das schmerzt, es wird Kraft kosten, die dann an anderer Stelle fehlt.
―In Leipzig hatte ich das Gefühl: Das ist die Revolution der Frauen. Von ihnen ging dieses Strahlen aus, selbst wenn sie auf die Zustände schimpften. An ihren Klamotten konnte man täglich ablesen, was die fliegenden Händler aus Holland gerade angekarrt hatten. Ein paar Tage lang trugen sie alle diese kurzen schwarzen Wollkleidchen, an denen sie dauernd zupften, weil die Länge so ungewohnt war. In einer Straße entdeckte ich den Friseur, der allen die gleiche Frisur verpasste: Er hatte ein Foto davon im Schaufenster hängen und eine nach der anderen schlüpfte hinein.
―Ich sage es ganz offen, ich bin ein Gegner der Wiedervereinigung. Ich finde einen klaren Fehler, was da passiert. Das wird sich alles rächen. Die Oberchristen mit dem hohen C reißen sich das Land unter den Nagel und lassen die Braunen die Drecksarbeit leisten. Nach ein paar Jahren werden sie wieder mit dem ›Geist‹ paradieren, dem deutschen Geist, dann kommen auch bald die Juden dran, die Schwulen gleich hinterher, was fällt ihnen schon anderes ein? Mir soll’s gleich sein, ich bin dann weg. Haben Sie Kinder? Wie unverantwortlich. Sie werden es ausbaden müssen.
―In der Seminarpause standen ein paar beisammen und diskutierten heftig, wie man sich im Kapitalismus am besten verkauft. Sie hatten das Wort aufgeschnappt und nahmen es irgendwie wörtlich, also ich meine jetzt im Geschlechts-Sinn. Jedenfalls gingen die Ansichten, wie man es am besten anstellt, weit auseinander. Aber direkt abgeneigt schien mir keine zu sein.
―Wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es zwei ’68 gab. Das eine bei uns, das andere im Osten. Damals haben wir Dubcek die Daumen gedrückt. Ja doch, haben wir. Das war’s dann aber auch. Der Rest der Geschichte? Ging uns doch nichts an. Ein bisschen Gekreisch, als Biermann in Köln die Gewerkschaftsjugend besumste: die Kommüne, ach die Kommüne. Er konnte dann ja auch gleich hierbleiben und Kommünensaft trinken, bis die roten Masern verdampft waren. Die wirklichen 89er waren Ost-68er, die es noch einmal wissen wollten. Aber das will hier keiner wissen.
―Das ist doch absurd. Wer wollte was noch einmal wissen? Sie phantasieren, Kollege. Sie können das nicht vergleichen. Der Osten wurde verkauft, das ist eine Tatsache. Diese ganzen Montagsdemos, das war ja wirklich der Klassenfeind, hübsch unkenntlich gemacht durch die Ironie unserer Öffentlich-Rechtlichen. Vielleicht war auch die Stasi dabei, jedenfalls der Teil, der an Gorbatschows Leine lief, daher wehte der Wind. Das alles wäre heute belegbar, es macht sich nur keiner die Mühe.
―Sie sind in die Quellen gegangen…?
―Ich? No chance. Ich hab mich um Wichtigeres zu kümmern.
Schütter das Haar, die Augen sprühend, die Lippen bebend geschürzt – M nimmt die flachen Stufen zur Pyramide und ist bereits im Lift verschwunden, als der Journalisten-Pulk das Foyer stürmt, empfangen vom gläsernen Blick des Bibliotheksreferenten Gaggauer, der weiterschwebt, als habe sich soeben der Fußboden unter seinen Füßen in Wolkenschemel verwandelt… Reicht das? Ist das jetzt genug? M, wie gesagt, ist im Haus, er hat einen Termin beim Rektor, keiner weiß warum, aber alle ahnen etwas. Was gibt es da zu ahnen? M und der Rektor sind aus einem Holz geschnitzt, der Rest des Strunks wurde weggeworfen, sie sind Übriggebliebene.
Wozu das Spektakel? Besitzt M jetzt Diplomatenstatus? Ein wenig schon. Er genießt – so sagt man, und in seinem galligen Inneren herrscht Hochgenuss –, er genießt Immunität, die Unangefochtenheit dessen, der sich wegwirft, weil er sicher ist, dass die Arme, die ihn auffangen werden, sich schon nach ihm recken. Bis zur letzten Sottise hat M, stets vor großem Publikum, für den Sozialismus gekämpft, den echten, wahren, weltumspannenden, der doch endlich zum Vorschein kommen muss. Es war aber nur die Staatssicherheit, die ein paar hohle Köpfe ins Freie hielt, während die Menge auffällig unsensibel für Fragen der inneren Aufbereitung der Lage daran vorbeitrampelte und ihren schönen Staat ramponierte. Wofür er jetzt kämpft, wissen die Götter des Kapitals und die schweigen auffällig.
Dichter M entsteigt einer schwarzen Limousine
2
Diese beiden also,
M und der Rektor, sie werden gleich vor die Kameras treten und Erklärungen abgeben. Der Rektor wird das großartige Werk des der Pyramide so großartig verbundenen Dichters M herausstreichen, entstanden auf schwierigen Pfaden zwischen den Blöcken, die bis gestern die Welt bedeuteten, er wird sich glücklich schätzen etc., und M wird, das geschürzte Lippenpaar öffnend, seine üblichen Bizarrerien verbreiten, auf die das Journalistenvolk abfährt und die das Glück einer Legion blonder Doktorandinnen bilden. Stilbildender Sex ist selten in diesen Tagen, nichts davon darf man verpassen, denn alles ist für die Ewigkeit. Ganz recht, die verbalen Brosamen von Ms Tisch haben Ewigkeitsstatus erlangt. Keine unauffälligen Anfahrten mehr, Minister S sitzt in der ersten Reihe und lächelt eifrig der Nachbarin zu, wir müssen nicht mehr in den Osten fahren, der Osten ist jetzt hier, er war die ganze Zeit hier, aber diskret, bitteschön. Schon immer war der Westen der wahre Osten, denn er hatte die Kohle, Westkohle gegen Braunkohle, Ms ganzes Œuvre basiert im Grunde darauf…
(Wohin verirrst du dich? Seit wann spricht aus dir die Sprache des Ressentiments? Das solltest du dich fragen, jetzt gleich, denn dies ist ein historischer Moment. Du solltest, der Würde des Anlasses entsprechend, mit dir im Reinen sein. So jedenfalls spricht – fast hättest du geschrieben: mit Marx- und Eselszungen – der historische Moment. Doch es schickt sich nicht, just in diesem Moment dich mit dem Meister der Sottise messen zu wollen. Vergiss es! Ehrlich gesagt, es liegt dir auch nicht. Etwas Schmerzliches blickt dir über die Schulter, du wagst nicht recht, dich umzudrehen, du willst keine Gesichter sehen, jetzt nicht. Was dann? Was, wenn nicht Gesichter?)
―M war hier? Ach, das habe ich ja gar nicht mitbekommen. Sagen Sie, muss man die Bücher dieses Herrn lesen? Literatur ist jetzt nicht so mein Ding. Da wäre das richtige Zeitmanagement enorm wichtig. Welchen Roman können Sie denn empfehlen? Sie schütteln den Kopf? Der Herr schreibt Stücke? Fürs Theater? Gut, dass ich das jetzt erfahre. Ich dachte schon, ich hätte was versäumt. Drehbücher, wissen Sie, da denke ich immer an Fähnchen, die einer in den Wind hängt, oder an diese katholischen Ratschen, Sie wissen, wie sich das anhört? Immer fleißig um sich selbst gedreht, dann wird das schon. Ach, ein BE-Heiliger? Ein Unberührbarer. Es tut einem ja leid um die Schauspieler, tolle Leute, aber: nichts für ungut! Also der Herr war hier? Die Presse hat er gleich mitgebracht? Kann neuerdings jeder hier reinspazieren? Der Rektor selbst hat sich um ihn bemüht? Der Mann ist untragbar. Das nächste Mal wird’s eine Frau, höchste Zeit, ich werde mich persönlich darum kümmern. Also zusammengefasst: der sozialistische Kämpfer M schneit hier herein und der kapitalistische Kämpfer M schneit wieder hinaus. Weltweit, sagen Sie? Das Werk dieses Herrn wird weltweit aufgeführt? Das will ich ihm auch dringend raten. Ab in die weite Welt! Ein Literaturschaffender. Pfui Deibel! Schaffen wir jetzt Stellen für arbeitslose Informanten? Das wird die maskierte Firma schön selbst tun. Und nicht zu knapp. Also wenn Sie mir keinen Roman empfehlen können: Ich bin dann mal weg.
(Was ist denn in den gefahren? Aber: du kannst ihn verstehen.)
wie sie viele Male aufgegangen war, nur der Blick,
der durch die Öffnung hindurchglitt und schon am Ziel ist, bevor er
sich ausrichten konnte, neugierig, geschlagen, zerstreut durch die
Figur der öffnenden Frau, ist einmalig, nicht wiederholbar in seiner
Neuheit, aber abrufbar, wann immer du an diesen Ort zurückdenkst: jedes
Mal huscht er voraus, jedes Mal ist bereits geschehen, was durch die
ausgedehnten Präliminarien der Höflichkeit zwischen Menschen, die sich
zum ersten Mal in ihrem Leben begegnen, erst ermöglicht werden soll,
die magische Kontaktaufnahme mit einem Unbekannten, das im Nu eine
Lücke in deiner Seele aufdeckt und füllt. Ein Ort der Wunder, nein, des
Wunders, hat sich aufgetan und wird sich, so lange du lebst, nicht mehr
schließen. Sollte das die Wirkung der Kunst sein, dann existiert sie
hier, im Vorraum einer schlichten Etagenwohnung, so konzentriert wie
nur an wenigen ausgesuchten Orten des Planeten, und soeben bist du
unter ihren Schirm getreten, als habe er, während dein Leben dahinlief,
all die Jahre darauf gewartet, dich aufzunehmen… Wie aufzunehmen? So
aufzunehmen, dass der Gedanke ›Wieviel Kunst ist das denn?‹ keinen Raum
in dir findet. Hast du diesen Moment erwartet? Hast du etwas in seiner
Art erwartet? Wenn du es ganz genau nehmen willst, so huscht ein
Gedankenstrahl zurück in die kalte Pracht der Capella Medici, die dich
einmal gefangen nahm. Aber das hier ist anders, sehr anders, und der
Kontakt in jene ferne Vergangenheit reißt ab, bevor er sich verfestigen
kann. Etwas vom Geist des Zöllners Rousseau, aufgescheucht durch deinen
auf der Diele knarrenden Schritt, scheint in dem Wandbild zu spuken,
doch das hier, obwohl ebenso dicht und verwegen, ist kein aus
Schnittformen gefertigter Dschungel und der Spuk ist verschwunden,
sobald der Blick frei zu schweifen beginnt. Das hier … was ist das
hier noch? Ein leuchtendes Halbdunkel, aus dem, etwas nach links
hin, ein Knabe hervortritt, angetan mit einer blauen Tunika, genauer,
mit etwas ›nach Art‹ einer Tunika, ganz wie die in einiger Entfernung
neben ihm aufscheinende Dame etwas nach Art eines verjährten, mit einem
Tüll-Überwurf versehenen Hofkleides trägt, etwas, das die Vorstellung
eines Hofkleides hervorlockt, um sie, bei näherer Betrachtung (zu der
dein Blick momentan noch nicht fähig ist), wieder zu versenken, so wie
der umgestürzte hölzerne Rumpf eines Bezopften, der zwischen den beiden
liegt, durch das aufgepinselte Uniform-Blau der Südstaatler die
Anmutung eines im amerikanischen Bürgerkrieg gefallenen Soldaten
an die ergänzende Phantasie weiterreicht. Doch was soll
sie ergänzen? Die gute alte Phantasie … sie findet weder Anfang noch
Ende in diesem Durcheinander in Formen ausbrechender Farben und in
Farben verlaufender Formen aus Formen, die sich durch alle festen
Konturen hindurch verbinden und verbünden, als ginge eine
Bewegung durch sie hindurch – was auch der Fall ist. Es handelt sich um
die Bewegung des Auges, das alles aufschlürft, ohne auch nur den
berühmten Bruchteil davon zu erschöpfen. Ganz recht, das Auge schlürft,
angelockt und ermutigt durch ein die dunkleren Regionen des Bildes
durchfließendes, mit und in den Objekten aufsteigendes, ihnen Kraft und
Anmut schenkendes Rot: Sangria.
Uccello magico
2
Dieser Knabe,
er sticht auch in anderer Hinsicht hervor … zum einen,
weil er den vielfigurigen Bildraum, dessen Bestandteil er ist, zum
Betrachter hin abschließt – ein Kind-Bote, der vor den Vorhang tritt,
um dem Publikum eine Programmänderung anzuzeigen –, zum anderen, weil
seine weich gezeichneten Hände dem Betrachter einen Fund präsentieren,
eine aus dem Tohuwabohu gerettete Beute, die er, in einer Mischung aus
Beseligung und Trotz, nicht herauszurücken gedenkt: Sieh her, aber
sieh dich nicht satt… Und der betrachtende Blick eilt, nachdem er
sie flüchtig gestreift hat, weiter, es verlangt ihn danach, in den
Dschungel einzudringen, als den er die aufgefächerte, nur im Gehen
erfassbare, das Knarren der Dielenbretter einschließende Bildbreite
empfindet, die ihn doch vom ersten Augenblick an gefangennahm. Diese
Gefangennahme … langsam dämmert ihm: es handelt sich um eine
Geiselnahme zu einem vorerst unbekannt bleibenden Zweck. Da ist
niemand, der sich bemüßigt fühlt, ihm ein Licht aufzustecken, so dass
er, ratlos, nach einiger Zeit die Deckenbeleuchtung einschaltet. Doch
diese Art von Beleuchtung scheint nicht gemeint. So löscht er sie
wieder, behutsam, als könnte ihm auf diese Weise eine Art
Restlichtverstärkung gelingen. Ein Klappern im Hintergrund verrät, dass
die Frau des Hauses findet, nun müsse das Staunen einmal ein Ende
finden und es sei an der Zeit, sich mit ihr zu befassen. Besitz
schlägt Bildung. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Stimme des
Geschlechts hallt durch die Räume der Kunst und, sieh da, sie geben
einen hohlen Klang, jedenfalls ansatzweise, gerade ausreichend, um die
Aufmerksamkeit aufzusplittern. Du eilst, der Höflichkeit Genüge zu
leisten, zugleich stockt der Fuß und erneut fällt dein Blick auf die im
Ausfallschritt festgewurzelte Knabengestalt, ihre kräftige, ganz und
gar unkindliche Beinmuskulatur, ihren leicht wässrigen,
offen-verhüllten Blick und schließlich das Ding in ihren Händen, ein
Zwischending zwischen Kelch und Reliquiar, in dem eine Flamme züngelt,
ein katholisches Rätsel, das womöglich gar keines ist, sondern nur eine
verlorene Handreichung, Überbleibsel eines vergessenen Rituals,
vielleicht ja auch der heilige Gral, der in keiner Rumpelkammer der
Symbole fehlen darf und hier, ehrlich gesagt, etwa so deplatziert wirkt
wie der Junge selbst, der sich als ertappter Dieb, mit einem
Diebesblick, dem Betrachter stellt. Outriert ist auch die Deutung, sie
verdankt sich bereits der Blickverhärtung dessen, der abgerufen wurde
von diesem Fest der Sinne, um folgsam der Stimme des Fleisches
nachzugehen, wohin auch immer sie ihn entführt. Immerhin steht es dir
frei zurückzukehren, jedenfalls hoffst du darauf, denn das letzte Wort
… das letzte Wort darüber spricht die Besitzerin.
Uccello magico
3
Sagtest du etwas?
Ein Räuspern liegt in der Luft, mag sein, es
ist deins, es wird ja nicht aus der dichten Masse des Aufgezeichneten
stammen … ein Räuspern ist nun einmal das Gegenteil einer klaren
Artikulation, eher die Ansage einer Ansage – gleich wird die Luft
bersten und den Unterschied des Gesagten und Ungesagten gleich einem
Keil ins Bewusstsein des Hörers treiben … doch noch ist sie rein,
mit einer kleinen Trübung, einer Verdacht erregenden Verhärtung, an
der sich die Aufmerksamkeit entzündet, um sich ins Zentrum einer
möglichen Gefahr vorzutasten, vielmehr der elementarsten aller
Gefahren: nicht zu verstehen, vielmehr, nicht mitzubekommen, welche
Verständnisleistung dir hier und jetzt abverlangt wird, hier und
jetzt, denn gleich schon ist der Moment vorüber und damit die
einzigartige Gelegenheit, sich ihm gewachsen zu zeigen … ›sich
gewachsen zeigen‹, gewissermaßen steckt darin die Formel allen
Lebens und das Kunstwerk, das wirkliche Kunstwerk lässt keine
Gelegenheit aus, sie in der Seele des Betrachters zu erproben. Es
zeichnet den Banausen aus, sich mit einem Achselzucken davonzumachen:
»Das sagt mir jetzt nichts.« Ein Kunstwerk, das jedermann zum
Banausen macht, wahrt, immerhin, den Vorteil der inneren Linie. Auch
darin liegt eine Botschaft, die erschlossen werden möchte, und man
darf, dies zumindest, nicht ausschließen, dass sie ihren
Märchenprinzen noch finden wird, alles nur eine Frage der Zeit. Doch
ebenso sehr der umgebenden Kultur, und wenn letztere alle Insignien
der Unkultur aufweist, die sich schon allzu lange als Gegenkultur
inszeniert, dann kommt vielleicht dies hier heraus… Aber warum
unhöflich werden? Warum zum Teufel unhöflich werden? Sagtest du
etwas? Nein, schluck’s herunter, du hast so vieles
herunterzuschlucken gelernt, so dass es auf das, was hier gesagt
werden müsste, auch nicht mehr ankommt. Sieh auf den Wimpel,
versteckt aufgehängt zwischen den Zweigen, das ewig unfertige Banner
der gemalten Poesie, mit seinen abgefälschten Symmetrien, dem in
Farbe gelösten Drang, sich zu verbinden und dabei allen Regeln des
Abstands Genüge zu leisten, während man sie überschreitet, eine
winzige Orgie in Rot, Grün, Orange, ein Quadrat, das keines ist und
nie eines sein wird, weil die Handschrift des Künstlers es zu
verhindern weiß –: So einfach ist es, so einfach war es immer. Was
unten herum jedem Fußtritt freigegeben ist, nimmt sich, sobald der
Blick über die Köpfe geht, die Freiheit des Andersseins, die
Freiheit der Lüfte, ohne die kein Kunstwerk existiert. Ganz recht,
auch die Malerei geht dem Atem nach, dem unerschöpflichen Thema
der Dichtung. Wie sie ihm nachgeht, darin liegt der Unterschied.
Diese hier scheint zu wissen, wie es um die Beklemmung bestellt ist,
sie duzt alle Spielarten und ringelt sich aus ihnen in alle
Richtungen davon. Woran du das festmachst? Mein Gott! Aber gut, jeder
Blick findet sein Emblem, dieser hier einen simplen Korb,
emporgetragen über die Köpfe, selbst über das Wappen der Malerei,
ein leichtes, an den Griffen ausschlagendes Geflecht im Begriff, sich
hinwegzuheben, bar aller unerträglich gewordenen Füllung: den
Blick, seinen Blick muss einer schon heben. Was sonst? Was
noch?
Uccello magico
4
Nein,
von diesem Bild geht keine Beklemmung aus. Eher geht sie in es hinein. Denn zweifellos geht ein Sog von ihm aus, der schwer dingfest zu machen, aber umso spürbarer ist und im Handumdrehen dem Betrachter seine wirksamste Waffe entwendet: den allzeit regen Spott über ein als zugleich vertraut und unvertraut empfundenes Genre, der über jedes Rätsel zu höhnen weiß – »Was wird’s schon sein!« Was wird’s schon sein? (Und ein drittes Mal, bevor der rostige Schlüssel sich von allein im Schloss zu drehen beginnt: Was wird’s schon sein?) Diese Ansammlung von Merkwürdigkeiten auf einem bislang unentdeckten Leidens-Parnass verlangt, neben dem schweifenden Blick, eine Spur des Humors, den ein aus einem monumentalen Pestbild Entflohener aufbringen müsste, der entdeckt, dass er in einen Aufmarsch der Heilsmaschinen geraten war – nirgends zwar eröffnet sich die ersehnte Aussicht auf irdische Heilung … aber die Seele … die Seele fühlt sich wunderbar gehoben und, da das Wort ›Rettung‹ nach wie vor tabu zu sein scheint, angenommen, jedenfalls scheint die Aufgabe des Betrachters nicht darin zu bestehen, ein Los anzunehmen (da die Welt nun einmal so ist, wie der Spiegel der Kunst sie darbietet), das er, befragt, lieber sofort gegen ein anderes tauschen würde; eigentlich erwartet ihn keine besondere Aufgabe, er darf sich in Mutmaßungen ergehen und sie nach Belieben zurücknehmen, er spürt keinen Unterschied. Währenddessen üben die wohltätigen Kräfte der magischen Wand ihren Einfluss, das eine Mal kräftiger, das andre Mal schwächer, denn auf nichts und niemanden in diesen Regionen des Staunens ist wirklich Verlass. Ist seine Zeit abgelaufen, entlassen sie ihr Opfer mit einem ironischen »Das war’s« – es spürt den Klaps und revanchiert sich erheitert: »See you later!«
Ist das Kunst? Ist das noch Kunst? Ja, das ist Kunst. Längst scheinst du von ihr gewusst zu haben, so selbstverständlich verschmilzt dein Blick mit dem des Künstlers auf sein Werk, das auch das deine ist, ohne dass du den Zeitpunkt der Übergabe angeben könntest, schon bist du geneigt, ihm seine Irrtümer nachzusehen, denn nun bist du zur Stelle und das Werk befindet sich in guten Händen, aus jedem Pinselstrich wirst du das Beste herausholen, keiner soll verloren sein… Apropos Pinselstrich: du warst nie im Zweifel darüber, dass es eine Magie des Pinsels gibt, die sich in keine andere Kunstart zu retten weiß, und dieses Bild führt dich ganz nah an den Aufschluss heran; nirgendwo scheint dir die schmelzende Vereinigung von Strich und Form so gelungen und zur Aussage verdichtet, die sich zum Schluss hin dann doch verweigert. Vielleicht auch nicht. Ist das Rätsel vollkommen, zerspringt es und entlässt aus sich den uccello magico, das berückende kleine Wesen, dessen einziger Daseinszweck darin besteht, aufzufliegen, irgendwohin … das Bild wäre nicht vollständig, hätte der Künstler ihn nicht in einem Anfall von naivem Schöpfungsglauben hineingemalt, so aber ist es übervollständig und gegen jeden Rückbau gesichert.
Uccello magico
5
Dennoch scheint es so
… soso, es scheint so, irgendwo in diesem
Bild beginnt also das Scheinen, unscheinbar wie es sich gehört,
breitet sich über die Flügel aus, erfasst … erfasst … was…?
Was, bitte, erfasst ein Scheinen, welches unangekündigt über die
Bildfläche huscht, ein Anflug von Ironie, der über dem Ganzen liegt
(und auch wieder nicht), einen Widerschein im Betrachter zündet und
gleich wieder löscht, denn eigentlich schickt er sich nicht, nicht
wirklich, angesichts des gespannten Ernstes in allen Bildungen…?
Schöpfung kennt keine Ironie. »Ironie? Was ist das?« So scheinen
die Figuren, lebensgroß, wie sie nun einmal sind, dich zu fragen,
nicht dich persönlich, sondern jeden, der an ihrer Front entlang
schlendert: die große Verkleidete mit dem Gesicht einer Lehrerin und
dem Kopfputz einer Karyatide, der Rabe Azalel, an ihr Knie
geschmiegt, wissend, dass er diesmal, nur dieses eine Mal, als
Adlermensch hätte zur Welt kommen müssen und deshalb so verzweifelt
dreinblickt, als fordere er seine Mitwesen auf, ihre Unfähigkeit zu
trauern abzulegen und mit ihm zu trauern, die wie von Federhand
emporgeschnellte Ente, der formfordernden Gewalt des Nichts
entsprungen, die Weisheitsvögel mit den roten Schärpen und den
wirr-kargen Federschöpfen, bereit, irren Wissensstoff zu
erhacken, wo immer sich eine Gelegenheit auftut, die wunderlich
geringelte Schlange mit dem Flair eines Kinderbuch-Regenwurms, die
wogende Fauna und Flora … Ironie, was ist das? Oder vielmehr: Was
wäre sie nicht? Wunderlicher Gedanke: Was wäre nicht Ironie?
I will show you fear in a handful of dust –
Aber gewiss, es
gibt sie, die ironiefreie Zone, es gibt sie auch hier, wie es sie
überall gibt, in der Wirklichkeit wie im Märchen. Der Künstler hat
eigens ein Boot für sie bereitgestellt, einer Nusshälfte ähnlich, mit
einem kleinen, eher dekorativ anmutenden Rammsporn an der Spitze. Aber
man sollte sich, hier wie überall, nicht vom Dekor täuschen lassen:
dafür steht die Mannschaft an Bord, dicht gedrängt wie eine Eins, den
Blick starr auf eine Zukunft gerichtet, an der er doch auch wieder
vorbeigleitet, denn er ist, wie zu erwarten, aufs nächstliegende
Imaginäre gerichtet, auf die einbrechende Verfehlung, in der
Katastrophe endend oder in der Verfehlung danach, die alle begangenen
Verbrechen auslöschen soll. Denn diese Wesen sind im Besitz des Futurs
und lassen es sich nicht nehmen, ihnen eignet der gläserne Blick, der
sich, wie Glaskugeln, jederzeit herausnehmen und durch eine neue
Garnitur ersetzen lässt. Der Künstler hat sie mit buschigen Häubchen
versehen, das hebt ihre Statur und gibt ihnen, wie Söldnern, ein
Selbstwertgefühl, das sie anders nicht aufbrächten, es sei denn im
Gemetzel, durch ungesühnt bleibende Missetaten. Poesie? Poesie pur,
ohne Wenn und Aber, die Poesie der gefährlichen Plattheit, die
jederzeit den Schnabel öffnen und skandieren kann: Wir sind
mehr. Woher sie das wissen können? Woher ihnen ihr
Wissen kommt? Das kann niemand beantworten. Es schickt sich auch nicht,
Nachforschungen anzustellen. Es bricht aus ihnen heraus. Sie sind
Erbrechende. Die Ironie hat sie gezeichnet, die große,
umfassende Ironie, sie hat ihnen das Schema vorgegeben, in das sie sich
hinein verzuglos ergießen, denn sie sind, jeder einzeln an seinem
Platz, Masse. Einzeln sind sie, doch keine Einzelnen, also ironiefest,
für die Nuancen des Daseins verloren.
Industriehistoriker Lobbock: 1,76m, mittleres Alter, schütteres hellgraues Haar mit dunklen Fäden, Statur: ungefüge, Auge: lebhaft kalt, Auftritt: technoidal. Unser Mann auf dem Podium. Soziologe Tummler: 1,78m, gleiches Alter, erbleichtes Braunhaar, leicht gewellt, Reptilblick, das Antlitz gekräuselt (was einen zart fragenden Ausdruck ergibt: Mitgift der Evolution!).
Der Mann neben Lobbock. Gemeinsames Merkmal: charmefrei.
Ein zweites: Kollegen.
Gesprächspartner? Fehlanzeige.
Verfügen sie über Geist? Zum Glück stellt sich die
Frage nicht. In der Pyramide gehört ›Geist‹ zu den gesperrten Wörtern.
Denkerischer Eros? Fehlanzeige.
Da kommen wir der Sache schon näher.
Nein, dumm sind sie nicht (was auch hätten sie sonst in der Pyramide
verloren?). Gelegentlich findest du sie auf gedanklichen Wegen, die du
instinktiv für vornehmere Geister reserviert hättest.
Dagegen Denken: auf Träger angewiesen, immer und überall. Denken verlangt Köpfchen. Schließlich heißt es ›Denker‹ und nicht ›Gedankler‹.
Schmerzhaft erinnert ihr
Aufritt daran, dass Gedanken für alle da sind. Ein demokratischer Zug eint alles Erdachte: es sollte, als
Resultat des Denkens, das zwar gelegentlich einsam arbeitet, aber nie allein, allen und jedem zur Verfügung stehen. Andernfalls stimmt etwas nicht mit ihm.
Da, noch einmal,
fürs Album:
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
2
Pirsch-Ender
Flügelleute der Unbestimmtheit
Verschalt in ihre grauen Anzüge.
Die glattrasierten Wangen notorisch ins Bläuliche spielend:
Auch das Unbestimmte hat Ränder.
Doppelte Unbestimmtheit: doppelter Weggenuss.
Also sprach die Firma: Lobbock liebt Irma. Wer das nicht weiß versteht einen Scheiß.
Hauptsache, Lobbock weiß, was Tummler denkt. Lobbock legt vor und Tummler springt. Sein ist die Antwort. Etwas – ein Glückszug – treibt ihn an, stets ›mit äußerster Härte‹ dagegenzuhalten. Und Lobbock … Lobbock zahlt mit gleicher Münze zurück. Nicht, dass einer des anderen Namen erwähnte. Das wäre dann personalisierter Streit und den lehnen sie unisono ab.
Gemachte Leute.
Gemacht … gemacht hat sie die Schlacht um die Viererbande, als sie beide, Fakultätsfrischlinge, die sie waren, mit kräftigen Artikeln ins Gehölz schossen. Auf was auch immer! Nie wieder Anonymität. Aus dem Gewirr heißblütiger Angriffs- und Verteidigungssätze dürften damals weder Killus noch il grande denunciatore schlau geworden sein. Wozu denn auch? Ohnehin war es nicht dafür gedacht, auf ihrem Schreibtisch zu landen. Um die Großen der Zunft herrscht Leere. Dafür besitzen sie Zuträger.
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
3
Empfehlendes Denken III bis VII
Lobbock und Tummler sind, was man in der Pyramide ›politisch‹ nennt. Sie fahren die Krallen aus, sobald in der akademischen Suada Ereignisse aus dem politischen Raum auftauchen, meist ohne allen Zusammenhang. Die Stimme verschärft sich und verhilft apodiktischen Sätzen zum Durchbruch, die normalerweise in diesen Räumen als unterbelichtet gelten … eine leise Gefährlichkeit umspielt sie wie ein plötzlich gezücktes, scheinbar ins Nirgendwo zielendes Messer.
Gedankenexperiment: Legte ein Heiliges Offizium der
politischen Korrektheit ihrem Unterbewusstsein die Frage vor, was ›politisch‹
nun eigentlich bedeutet, vermutlich würde es ohne zu zögern antworten:
Nazis stellen!
Anders als Dürrobst und Friedenwanger (rein biologisch auf alte
Nazis geeicht, Fehleinschätzungen inklusive) finden Lobbock und
Tummler ihre ›Nazis‹ unterschiedslos in allen Altersklassen …
bemerkenswerterweise, wie du gelegentlich mit Erstaunen registrierst, auf allen
Seiten des politischen Spektrums. Sicherheit ist nirgends.
Und ihr mehr oder minder scharfes Tagbewusstsein
würde gezielt offenlassen, welche Art von Klasse hier gemeint wäre: die soziale, die
politische oder doch eher das Klassenzimmer der Nation.
Lobbock und Tummler sind überzeugt:
Alle Wissenschaft ist Politik. Damit stehen sie nicht allein.
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
4
Never walk alone
Das Glatte und das Geleckte. Zuhauf hast du sie gekannt: Nationverächter aller Farbschattierungen, von dunkelgrünrot bis blaugelbtürkis und wieder zurück, viel Hassliebe darunter, Lädierte der Vergangenheit, die bleibt, unser aller düsterer Schattenspender. Die auftrumpfende Rachsucht der beiden jedoch … eine Rachsucht ins Blaue…: dergleichen war dir bis dato unbekannt. In deinem Seelenhaushalt findest du dergleichen nicht.
Terra incognita, terra infirma. Andererseits…
Es gibt immer ein Andererseits. Schließlich baut darauf ihr Erfolgsmodell. Schau in die Schriften des Großen Denunziators und du weißt, auf welchem Holz das gewachsen ist. Der Patriot ohne Nation hat in punkto Einheit nachkarten müssen und die Nachkarterei zur Pflicht aller progressiven Kräfte erklärt. Keine Handbreit den anderen. Und was ist der Grund? Angst, sein Erziehungsauftrag ende an dieser Pforte? Kann schon sein, kann schon sein. Auf jeden Belehrenden wartet das Altenteil.
Im Augenblick ihrer Wiederherstellung der Nation die Anerkennung verweigern: Was ist das? Eines jedenfalls nicht: reell. Was dann? Was dann? Physisch spürst du die Abneigung, die da in manchem hochkriecht, hoch, höher, schwarze, eklige Masse, die, auch sie, denunzieren will …
Angst, verkündet sie, was soll’s schon sein als mickrige Angst, sich am Ende
eines mit Inbrunst arrangierten Lebens unter die Kindheitskameraden versetzt
zu finden – ein illustrer Kreis, der da der bedeutenden Figur der Zeitgeschichte fröhlich lachend die
Schulter klopft: Brav! Wir sind’s doch, erkennst du uns nicht? Was stellst du
dich an? Waren wir nicht des Führers Wölflin? Bist du nicht einer von uns?
Gehab’ dich nicht so… Take it easy!
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
5
Lobbockski & Tummlher
Hier tauchen Lobbock und Tummler aus der Tiefe des Spiegels auf,
entschlossen, ihren Einsatz nicht zu verpassen. Betrachten wir Lobbock. Eine Handvoll Jahre nur trennen ihn und Friedenwanger, aber sie trennen Welten des Lichts und der Finsternis. Der Lobbockismus kommt danach. Immer danach. Kein Bezug zum Leben, nirgends. Stattdessen: Arroganz. Lobbock muss ›verarbeiten‹ (sicher!), womit ihn nichts verbindet (wobei ›nichts‹ unter der
Hand mutierte und jetzt ›alles‹ bedeutet: ein Metastasengeflecht irrealer
Bezüglichkeiten, das weder Anfang noch Ende kennt).
Lobbock, radikaler Konstruktivist im Herzen wie auf dem Papier, ist gewillt, jedes ›Phänomen‹, sei es ein Gebirgsmassiv tief unter dem Nordpol oder die Vita eines beliebigen Mitmenschen, als ›Konstrukt‹ aufzufassen.
Womit Lobbock zwar nicht in die modische Falle der Dekonstruktivisten geht, die im gleichen Atemzug auch die ›Geltung‹ der ›Konstrukte‹ erledigen wollen (und die Herzen der Einfältigen unter den Klugen im Sturm erobert haben), aber übersieht, dass er damit die anrüchige Praxis der Leerverkäufe von der Börse in den Hörsaal überträgt.
Konstrukt: Erzeugnis eines Weltzurechtlegungsaktivismus, der keine natürlichen Grenzen anerkennt. Konstrukt ist alles, folgt man Lobbock und Tummler, angefangen bei der taufrischen Beobachtung über
eine längst widerlegte Theorie bis hin zum Gerücht und der üblen
Nachrede. Sie alle liegen auf dem Seziertisch nebeneinander wie
Nähmaschine und Regenschirm… Aparte Theorie. Der Haken daran: Wer übernimmt die realen Kosten?
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
6
Strohmänner
Die realen Kosten – was soll das sein? Was zum Teufel…? Ganz recht. An dieser
Stelle betritt der real existierende Teufel die Szene, der mit den
Spendierhosen, gezwungen, für alles aufzukommen, was die Generation Lobbock –
Gefolgsmann Tummler immer hinterdrein – im Leben so verbockt: der zeit- wie
bezuglose ›Nazi‹ (bitte nicht verwechseln mit dem hochbetagten Überbleibsel
einer verschwundenen Epoche samt stiefelscharrendem Narrenpulk!): ein
›Konstrukt‹, besser noch a construct to end all constructs. Denn langsam dämmert es der Umgebung: in
Lobbocks Wort-Universum bedeutet ›Nazi‹ kaum mehr als Distanz – absolute,
unhintergehbare, nicht revidierbare Distanz, materialisiert im allgegenwärtigen
Anderen.
Welches Andere?
Das Andere seiner selbst.
›Radikaler Konstruktivist‹ sein hat seinen Preis. Er heißt … ist da ein Zögern, es einfach so hinzuschreiben? –: Pathologische Selbstdistanz.
Einfach so? Die Pyramide lebt gut davon, dass vieles sich einfach so
nicht hinschreiben lässt. Es macht sie fett und prahlerisch. Was einmal aus Gründen ausgesperrt wurde – wobei
die Gründe klar erkennbar, aber als zustimmungsheischende Instanzen zweifelhaft
blieben –, hat sich, rückblickend betrachtet, in rasender Eile vermehrt, es
hat den Zuständigkeitsbereich der Gründe überschritten und ist das geworden, was
sie jetzt ›frei flottierend‹ nennen. Seltsamer Ausdruck für eine seltsame Sache,
fast schon ein Krebsgeschwür… – Finger weg von biologischen
Metaphern!
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
7
Sag mal
―… das nennst du politisch? Die beiden haben’s
doch einfach nicht drauf. Der Große Denunziator, der ist politisch, da hat die
Rede noch einen Sinn. Er will ein politisches System, er hat es oft genug
beschrieben, man mag davon halten, was man will, aber er lässt keinen Zweifel
daran, wie er es meint, eigentlich schreibt er Buch um Buch, um die
bitterernsten Zweifel auszuräumen, darunter solche, die sich einfach nicht
ausräumen lassen, sein Pech, aber es ist ihm ernst. Ist es Lobbock ernst? Was
für ein Ernst soll das sein? Er ist, wenn es darum geht, ein geschmeidiger
Parteigänger, und wenn du ihn in Zivil triffst (denn, machen wir uns nichts vor,
hier drinnen trägt er die Uniform des Kastraten), dann schiebt er diesen
Gummi-Ernst in seine Stimme und verrät dir mit trotziger Verschwörer-Stimme,
dass er die Partei wählt. Warum? Welche Partei kann das sein? Sein Herz
schlägt links … das ist die Phrase, die er einmal in seiner pubertären
Entwicklung aufgeschnappt hat – ›der Geist steht links‹ – und die ihn nicht mehr
loslässt, eine fixe Idee, in äußerster Geistlosigkeit versunken… Wer nimmt so
etwas ernst?
―Lobbock ein Kommunist?
―Das müsste ich wissen. Er besteht darauf, dass die Linke, wie er sie versteht, gelernt hat. Frage ihn, was sie gelernt hat, und sein Blick beginnt zu flackern, als würdest du ihn gerade in den exquisitesten Lernprozessen unterbrechen. Er weiß es nicht und seine Antwort hieße: Das ist nicht so einfach. Das kann man so nicht sagen. Darum geht’s nicht. Das ist eine Unterstellung. Mit Nazis rede ich nicht. Lobbocks ideale Linke ist, pardon, gar nichts: weder Fisch noch Fleisch, weder oben noch unten, weder rechts noch links. Sie ist ein Missverständnis, dem das Verstehen abgeht. Negation ohne Position, Nichts ohne Sein, Furz ohne Darm. Ein Missverständnis von einem Missverständnis.
(Die Stimme, die sich hier einmischt, Tronkas, des ›linken Sozialdemokraten‹, wie er sich nennt, den seine Sozis instinktiv für einen ›Rechten‹ halten, weil sein Habitus in ihren Augen durch und durch bürgerlich konnotiert ist; Missverständnis auch das, da er das Bürgerliche so wie sie verachtet und an sich den Künstler pflegt, den außer ihm niemand sieht:)
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
8
Tronka ist noch nicht am Ende
―Sage mir, wo diese beiden Helden stehen und ich sage dir, wo der Weg zum Mond geht, nicht der, den die Raumfahrer nehmen, sondern der andere, aus Peterchens Mondfahrt: sie wissen es nicht, aber ein unsagbares Gefühl verrät es ihnen, sie säen nicht, sie ernten nicht, aber der himmlische Vater der Differenz spricht es ihnen vor. Sie lehnen die Macht ab, sie halten sie für etwas Rechtes, aber umschwärmen sie mit ihren Himmelfahrtsprojekten, bei denen seit Jahr und Tag nichts anderes herauskommt als eine Handvoll Knete, um die eine oder andere Hilfskraft zu finanzieren, bloß wenn man ihnen zuhört, sind sie die Größten und ihre Arbeit sprengt alle Dimensionen des Gewohnten.
Woher der Hohn? Hat Tronka Innensicht? Gestern klang er noch bissig: Bald werden sie wieder dem deutschen Geiste opfern – ›sie‹, die Geblendeten der Einheit, des ›neuen Beisammenseins‹, der ›richtigen Probleme‹, die man nun endlich angehen könne. Er verachtet den Geist der Einheit. Geist, wie er ihn versteht, ist Zwietracht und darum ›gewiss nicht Geist‹, sondern Denken, Denken pur, zusatzlos, gebraut nach dem Reinheitsgebot der Wissenschaft, der Mutter aller Gedanken, dem Hort all dessen, was realiter ist und sich nicht bei näherem Hinsehen in Hirngespinste auflöst… Ist das so weit von dem entfernt, was Lobbock und Tummler als ihre heiligste Überzeugung spazierenfahren, ohne es jemals dem Sonnenlicht auszusetzen, so dass man nicht sehen kann, was dran ist?
(Ein paar Lichtjahre vielleicht… Das wäre dann ihre Sicht auf Tronka.)
Der zweite Grad der Abstraktion ist der erste
9
Exquisit die Gespräche mit Tronka im Park, der Stimme im Ohr. Etwas hat sich da draußen hergestellt, die Zutraulichkeit des Empfindlichen ohne Maß, des Gebenedeiten der Ur-Kränkung, die unentdeckt bleiben muss, damit der Schwan ihn nicht auf der Stelle entführt.
Weil er sich zu Lobbock verhält wie die Negation zur Position. Nein:
weil er an Lobbock Maß nimmt. Ihr Dissens ist, sagen wir, gespielt. Nein, nicht
gespielt, er ist gestellt. Ganz richtig ist auch das nicht: ihr Dissens stellt
sich jedes Mal neu. Sie stecken unter einer Decke, die beiden. Lobbock
wäre bestürzt, bliebe Tummlers Widerspruch aus. Was hat er falsch gemacht? Instinktiv würde er
damit beginnen, seine Aussagen zu korrigieren.
Hat Lobbock sich in einem früheren Leben etwas Furchtbares zuschulden kommen lassen? Du weiß es nicht (ehrlich gesagt, geht es dich nichts an). In diesem jedenfalls möchte er um jeden Preis einen solchen Fauxpas vermeiden. Umstellt von Nazis, wie er die Lage sieht, befindet er sich, soweit die Vorräte reichen, auf der Flucht in die Position. Zwanghaft, unter Aufbietung aller Obsessionen, von denen er sich heimgesucht weiß, muss er sich positionieren … wie wohl? Gegen DIE DA.
Das Dümmste, was ihm passieren könnte, wäre ein Welt ohne Tummler. Das wäre eine Welt ohne Licht und Wärme, eine Welt kalter Antworten, die aus dem Befremden kämen: Was will denn der da? Von was redet der? Tummler ist Lobbocks alter ego, stets entzückter Konsument seiner absurdesten Anwürfe. Ach wie gut, dass es Tummler gibt. Tummler, der Lobbocks Position souverän überblickt, sich an seinen Einfällen weidet und die Punkte im Schlaf kennt, an denen er schlagbar ist, lockt ihn heraus: ins Freie. In den gemeinsamen Raum. Und schlägt ihm, mittels Ton und
Gestik, die Tür vor der Nase zu.
Ökonomie der Verzweiflung
2
Vom Aussehen her ist Lobbock der dunkle, gesetzte, Tummler der helle, jungenhaft offene Typ. Fragt man, welche Charaktere sie gemeinsam verkörpern, dann kehrt das Verhältnis sich um. Während Lobbock um jedes erreichbare Fitzelchen Zustimmung ringt, neigt Tummler, der offene, mit erkennbarer Lust dazu, haarsträubende Thesen in die Welt zu setzen wie die, erst der gemeinsame Staat erlaube dem Osten die heißbegehrte Entwicklung jener späten Stadien des Sozialismus, die ihm, als ewig düpiertem Aufholer, bisher verschlossen blieben.
Deshalb also haben sich die beiden zusammengetan. Der Dränger und der Schlagfertige wissen: jeder auf sich gestellt, sind sie nichts, buchstäblich nichts (was alles in allem
schwerer wiegt, als wären sie zusammen niemand). Gemeinsam treten sie auf, Artisten des Widerspruchs, als
hätten sie ihre Zirkusnummer fest einstudiert und ihre Aufgabe lautete auf immerdar, sie vor wechselndem Publikum zum Besten zu geben. Vielleicht stimmt das sogar. Nicht ausgeschlossen, dass eine dunkle Macht jeden an seinen Platz gebannt hat. (Niemand ist da, der das ausschließen könnte.)
Von dunklen Mächten wundersam umstellt schafft jeder Tropf sich seine Welt.
Wenn dem so wäre, dann wäre es ihnen so nicht bewusst.
―Der entwickelte Sozialismus ist subsidiär (um das hässliche Wort
›parasitär‹ zu vermeiden). Er ist darauf angewiesen, dass stetig
Mittel zufließen. Im Westen haben wir das in den Stadtstaaten und es
klappt wunderbar. Der Osten hat doch schon längst auf Pump gelebt.
Aber dabei ist er an Systemgrenzen gestoßen, die jetzt beseitigt
wurden.
―Irrtum. Er wird vom Westen geplündert.
―Einspruch. Der Westen plündert gar nichts. Die Ökonomie des
Ostens ist Schrott. Was jetzt geschieht, ist Wohlstandstransfer plus
Resteverwertung. Das erste bleibt, das zweite ist Übergang.
―Willkommen im Sklavenstaat.
―Willkommen im Wohlstandsparadies. Das Wesen des Kapitalismus ist
Sorge. Der Weststaat war eine Ökonomie auf der Suche nach einer
Aufgabe. In den östlichen Bundesländern hat er seinen Mezzogiorno gefunden und ist glücklich.
Hoppla! Da ist ihm etwas entschlüpft, was Lobbock hellhörig
machen sollte.
Ökonomie der Verzweiflung
3
Etwas über Bedingungen
Nominell gesehen sind Lobbock und Tummler bloß zwei. Aber sieht man genauer hin, dann bemerkt man das unsichtbar an ihrer Seite trabende Rudel. Wenn diese beiden auf Jagd gehen und sich dabei malerisch zausen, um dem Tross zu imponieren und sich auf diese Weise die Aufmerksamkeit zu sichern, die Chefs nun einmal gebührt, dann geschieht das nirgends auf eigene Rechnung oder gar eigenes Risiko.
Natürlich ist, was die beiden da treiben, dem allgemeinen Zustand geschuldet. Längst zählt die Pyramide nicht mehr zu den Orten, an denen geforscht wird, wie es der Idee der prahlkriecherisch Community genannten Gemeinschaft entspricht: im unmittelbaren Verkehr. Aus einstigen Seminarstars, beklatscht & betatscht, sind notentauschende Mächte geworden: ehrfürchtig studiert und kommentiert vom Pulk der minderen Lehrstuhlinhaber, welche irgendwann der Hoffnung verlustig gingen, die Prominenten könnten sie jemals einer ernsthaften Auseinandersetzung würdigen.
Nicht immer ist Ich drin, wo ›Ich‹ draufsteht.
… Und wenn sie clever sind, und wenn sie Glück haben, das Zufallsglück des Tüchtigen, dann, ja dann erfahren sie eines Tages aus einer Fußnote, in welche Schwätzerkohorte der verehrte Meister sie eingereiht hat … und wissen, dass sie für die restliche Dauer ihres akademischen Daseins vergebens gegen das verliehene Brandzeichen anschreiben werden. Was, wie sie wissen, ›Sinn macht‹.
—Wer sich bis Sechzig keinen Namen gemacht hat, der bleibe für immer ungenannt. (»Gespräche mit der Rektorin«)
Also haben sie die Wahl. Entweder sie deklarieren sich selbst als Füllstoff am akademischen Bau, als Teil jener viel-zu-vielen Stelleninhaber, deren rigorose Abschmelzung regelmäßig vom Feuilleton gefordert wird, sobald es seinen natürlichen Animositäten freien Lauf lässt. Oder aber ihnen geht ein rosa Licht auf, das Licht der großen Zahl, und sie kapieren, dass, was sie schon immer ›Politik‹ genannt haben, nicht beachtend, auf welches Spiel sie sich damit einließen, ihnen eine zweite, weitaus schärfere Existenz zu führen erlaubt – eine, in der sie sich ungesäumt zu den Wölfen zählen dürfen, insofern … nun, insofern sie nur den billigen Mut aufbringen, die Schafe des Betriebs vor sich herzutreiben und gelegentlich eines aus ihrer Mitte zu reißen. Das ABC der wölfischen Wissenschaft durchdringt jede ihrer Aktionen.
Wir sind viele! Sieh dich vor, dass du nicht allein bist.
Durch meine Schuld Durch meine Schuld
Durch meine übergroße Schuld
Durch meine unausdenkliche, unbegreifliche, unerschöpfliche Schuld
Und es geschah
Und es geschah
Und es geschah wieder
dass der Mensch an Land ging
aus paradiesischem Urschlamm kommend
Tiere zu töten
Pflanzen zu essen
Gold zu graben
sich die Hände zu waschen
in Unschuld
Zerschlug den Stein und erschuf die Klinge
Erschlug Kain und erschuf die Klage
Nahm seines Nächsten Weib und erschuf die Rache
des bestohlenen Mannes und der genommenen Frau
Riss die Krume auf um sie zu besamen
mit falschem Getreide
bis, ausgelaugt auf den Grund,
sie mit dem Wind dahinflog.
Große Dürre
bitte für uns!
Und es geschah
Und es geschah
Und endlich geschah
ES
das Unaussprechliche, das in aller Munde ist
das Unbegreifliche, das uns Denken lehrt
das Unausweichliche, dem niemand begegnen will
es sei denn er ist ein Diener des Grauens
einer, der auszog das Grauen zu lernen
und achtete seiner nicht.
Schande über mich!
Schande über mich und alle, die vor mir lebten
weil sie nichts verhinderten
und alles über uns brachten.
Dieser Umschlag von Nichts in Alles
von Allem in Nichts
von Unwissenheit in Wissen
von Böse in tiefe Verzweiflung
von Verzweiflung in Mord
von Mord in Schande
von Schande in Wohlleben
und neue Schuld.
Schande über mich und jeden, der mit mir lebte
und ein Versager war
wie ich.
Schande über dies Volk!
Schande über das Volk!
Schande über die Schänder
auf den Schultern der Geschundenen!
Wir von Schande Geplagten
Wir, das pochende Herz der Welt
verenden
elend
am Marterpfahl dieses unaufhörlich
endenden WIR
›Der Mensch ist schuld.‹
Wer so redet
hat die Lektion nicht begriffen.
Diesen Menschen
gibt es nicht.
Was es gibt:
Täter und Opfer
Täterenkel und Enkelopfer.
Keine Vergebung! Das hieße
bloß neue Schuld.
Durch unsere Schuld
stirbt der Planet
Durch unsere Schuld
nehmen die Plünderungen kein Ende
Durch unsere weinerliche, großkotzig verlogene
hirnrissige, abenteuerliche, besserwisserische
nichtsnutzige, strahlende, unwissend wissende –
Ruckediguh
Die große Schuld
3
Tronka und Blowasser sitzen in der Cafeteria und betrachten das Video
—Wahrlich, er ist übergeschnappt.
—Aber er hat doch recht.
—Du meinst also, aus ihm spricht der Wahnsinn des Volkes.
—Das Volk will von diesem Wahn-Sinn nichts wissen. Es kommt auch niemand, der ihm mitteilt: Dieser Eingang war nur für dich bestimmt.
—Einen gabs. Den haben sie unterm Lob begraben.
—Einen gibts immer. Welcher Wahnsinnige will schon wissen, dass er wahnsinnig ist. Da könnte man ja glatt wahnsinnig werden. Das überlebt kein Wahnsinn. So wahnsinnig ist keiner, dass er sich selbst an den Pranger stellt.
—Vergiss nicht: diese Skala ist nach oben offen.
—Aber das ist Wahnsinn.
—Bon. Kehren wir in die Sphäre des ganz normalen Alltags zurück.
und, ja, auch Dürrobst, der Pädagoge: sie alle haben das Nest verlassen und huschen, ein Spinnengezücht, von Mikrofon zu Mikrofon, von Interview zu Interview, von Talkshow zu Talkshow. Das Motto der Betriebsamkeit lautet:
DAS UNDENKBARE DENKEN
An der Südflanke des Kontinents ist ein Krieg ausgebrochen und sprunghaft wächst die Bedeutsamkeit ihrer Sätze – synchron mit dem Bedarf der Sendeanstalten an kompetenten Teilnehmern immer neuer Gesprächsrunden, aus denen der Zuhörer zwar in der Sache nichts Neues erfährt, dafür jedoch das Gesinnungsstöckchen in lebhaftem Einsatz sieht, über das alles, was in der einschlägigen Wissenschaft über einen Namen verfügt, zu hüpfen hat … und natürlich, dass es sich bei alledem um wissenschaftlich fundierte Ansichten besonders vertrauenswürdiger ›Koryphäen‹ handelt, während doch Tausende angepasster Zeitgenossen vor den Bildschirmen ganz dasselbe denken und dafür statt der Aufmerksamkeit der Nation nur das gelangweilte Gähnen der Familie ernten.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
2
Zurückgeblieben:
Hanbüchl, Stallwache erster Wahl, sobald draußen die Waffen sprechen. Dabei hätte er zum angesagten Diskurs allerhand beizutragen, von Etzels Hof über Stalingrad bis zu den neuesten Höllentoren des Planeten. Doch fällt es niemandem ein, sein Wissen abzurufen. Niemandem? Die Sache liegt komplizierter. Ehrlich gesagt, den Moderatorinnen der großen und kleinen Sendeanstalten wäre es peinlich, gerade jetzt, während auf ihren schicken Videotafeln Granaten detonieren und Präzisionsbomben zu Befreiungszwecken in nächtlicher Umgebung Wohnviertel auflodern lassen, mit Schöngeist Hanbüchl zu parlieren. Hartnäckig erinnert, wenn es nach ihm geht, die Literatur daran, dass Granaten Granaten und Bomben Bomben sind, keine Freifahrtscheine, es sei denn ins Jenseits, und selbst an letzterem nährt sie schwer greifbare Zweifel. Lange Zeit war dies der Stoff, den der mainstream, wie das neuerdings heißt, sich rituell zuführte. Das ist vorbei. Gefragt sind Männer. Auch Hanbüchl fühlt sich männlich in diesen Tagen, kühn bietet er dem großen allgemeinen Gesinnungsumschwung die Stirn, sein Gehirn arbeitet fieberhaft an Plänen, deren Ausführung das Gemetzel binnen drei Tagen beenden könnte, aber über die Hirnschale dringen sie nicht hinaus.
Das alles ist wahr, aber nicht die volle Wahrheit. Die volle Wahrheit besagt: Es ist aus mit der Literatur. Ihre akademischen Vertreter, zu denen sich Hanbüchl trotz allem zählt, wissen das wohl. Auch sie haben ihr die Gunst entzogen und sich zu Analytikern eines Mikroversums gemausert, das außer ihnen niemanden anlockt, sorgsam darauf bedacht, keine Sprachregelung zu verpassen, die aus den Bermuda-Fächern nach außen dringen, in denen die politischen Köpfe Schiffeversenken spielen. Aus den Kündern der ›Widerständigkeit des Ästhetischen‹ sind Ideo-Lügner geworden, damit beschäftigt, die Dichtung vergangener Tage mit einem trüben, überdies unredlichen Verdacht zu überziehen – dem der Unzuverlässigkeit. Nicht der altbekannten, die zum Ruhmeszeichen wurde, sondern einer, die bloß dem Aufdecker zu Meriten verhilft: der Komplizenschaft mit verjährtem, aber niemals abgegoltenem Unrecht. Künder zu Kindern … überhäuft mit didaktischem Spielzeug, führen sie noch die vertrauten Namen im Munde, aber sie bedeuten nichts, soll heißen: alles, was in diesen Tagen nicht in Betracht kommt.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
3
Die Pest
Germanist Hanbüchl, von Langeweile getrieben, studiert die Aushänge des Rektorats. »S ausschließen!« steht da in wuchtigen Lettern, geschrieben von unbekannter Kollegenhand. Ausschließen? Wovon? Vom Studium? Studiert S etwa noch immer? Und wenn? Wäre es in dieser Situation an der Zeit, ihn von seinen studentischen Rechten zu entbinden? Hanbüchl, verwirrt, spürt, wie der Strudel der Ereignisse ihn erfasst und langsam in die Tiefe zieht. Alphapolitiker S, eben noch erklärter Liebling der auf Weltverbesserung getrimmten Journaille, ist in Ungnade gefallen und zieht den Unmut weitester Kreise auf sich … Unmut ist vielleicht nicht das richtige Wort, es sind krächzende Hassgesänge, die landauf landab auf ihn angestimmt werden, seit er sich kritisch über den Einsatz eigener Truppen geäußert hat. Eigentlich hat er sich gar nicht geäußert, jedenfalls nicht in der Sache, er ist nur der Kriegspartei auf die Füße getreten, der es nicht schnell genug gehen kann, die eigenen Waffen sprechen zu lassen. So ungewöhnlich gewählt hat er sich ausgedrückt, ein sardonisches Lächeln im Gesicht, dass dem Zuschauer im Geist bereits die waffensegnenden Gebärden der allzeit willigen Pfaffenschaft vor Augen standen, ganz zu schweigen von den schwindelerregenden Gewinnen der Rüstungskonzerne und ihrer kalt über Leichen gehenden Aktionäre.
Hanbüchl, der keine Rüstungsaktien besitzt, hat das unvermittelt niederprasselnde Strafgericht staunend zur Kenntnis genommen. Ganz und gar unwirklich hört sich das alles an und büßt durch wiederholende Lektüre nicht von seiner Befremdlichkeit ein. Ihm, dem geschichts- und schuldbewussten Zeitgenossen, war bisher nicht bekannt, dass in seinem Land eine Kriegspartei existiert. Er glaubte es von dieser Pest geheilt auf alle Zeit und muss nun erfahren, was ihm als historisch denkendem Menschen natürlich geläufig ist: dass alle Zeit ihre Zeit hat und damit über ein Ablaufdatum verfügt. Nur dass es gerade jetzt erreicht sein soll, erfüllt ihn mit einem zutiefst mulmigen Gefühl.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
Es gibt keine Kriegspartei. Man mag, was da draußen die Menschen gegeneinander treibt, Protuberanzen des ›Zeitgeistes‹ nennen (mit der stets virulenten Frage im Hintergrund, wo der ›Geist‹ bloß stecken könnte) oder einfach ›Umschlag der öffentlichen Meinung‹ (und damit die klapprige Allerweltsterminologie der Dialektik am Hals hängen haben) – auf alle Fälle handelt es sich um eine der ungezählten Varianten eines altbekannten Themas.
»Ich kenne keine Parteien mehr!« rief der Kaiser seinen getreuen Untertanen vom Balkon des Berliner Schlosses zu, als es ans massenhafte Sterben ging. Was, damals wie heute, bedeutet: Wer sich hier quer stellt, der kommt unter die Räder, er mag seine Gründe haben oder auch nicht. Was scheren mich Gründe! Wobei das sprechende Ich beliebig ist, also jeder: kein Kollektiv, sondern die Gesamtheit aller, die wissen, was angesagt ist, teils, weil sie ihre Brötchen mit diesem Wissen verdienen müssen, teils, weil sie um die Bedeutung des sozialen Rollenspiels wissen und sich um keinen Preis um die einmal ergatterte bringen wollen. Man lebt schließlich nur einmal.
Und natürlich sind alle mit von der Partie, die sich etwas davon versprechen, an dieser Stelle besonders laut ins Horn zu blasen. Bekanntlich ist kein Unglück zu groß, als dass sich nicht etwas dabei verdienen ließe. Das Land, heißt das, ist kriegsentschlossen, von Herzen bereit einzugreifen, sobald die Entscheidung dazu in einem Zirkel gefallen ist, von dessen Existenz die Mehrzahl der Bürger dieses Landes nicht einmal etwas weiß.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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In diesen Tagen des Lichts
wird S überall ausgeschlossen: Tagungen, auf denen er als Hauptredner auftreten soll, werden abgeblasen, Bucherscheinungen verschoben, Ehrenbürgerschaften erlöschen reihum, als gingen im Licht der Wahrheit die kleinen Lichter aus, die eben noch öffentliches Vertrauen spendeten, die populärsten Sprüche des eloquenten Polemikers verschwinden von den öffentlichen Flächen, auf denen der politische Scharfsinn sich austobt, Werbeverträge platzen und schon erklären die ersten Szene-Restaurants der Hauptstadt ihn, horribile dictu, zur persona non grata, während an diversen Hauswänden die klassischen Drohungen aus dem pathologischen Untergrund auftauchen, so dass die Behörden unauffällig beim Personenschutz zulegen.
Da darf die Pyramide nicht fehlen.
Was Hanbüchl bisher entgangen ist: die juristische Fakultät hatte S’ Teilnahme an der alljährlichen Sommerakademie fest gebucht, Es ist ihr eine Ehre etcetera und die Freude ohnehin riesengroß… Nun jedoch sind alle bis gestern gewechselten Phrasen zu Boden gefallen, ein Haufen Müll, den der nächste Windstoß verweht.
Noch stehen die Termine. Einer muss die Initiative ergreifen und dieser eine muss anonym bleiben. Da geht es in der Pyramide nicht anders zu als im wirklichen Leben. Die Studenten haben auch bereits einen Aktionskreis gegründet und dokumentieren im Netz mit kruden Zitaten die kranke Gesinnung des Delinquenten. Sie fordern … sie fordern … was fordern sie eigentlich? Ach ja, da steht es: »Die Pyramide darf sich nicht hergeben … es wäre eine Schande … das Rektorat ist aufgefordert … Wir demonstrieren … keinen Fußbreit … Alerta antifascista!« Und es besteht kein Mangel an Journalisten, welche die Botschaft brühwarm weitertragen werden.
Schrecklich.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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Hanbüchl, kopfschüttelnd, setzt sich an seinen Schreibtisch und befleißigt sich dessen, was er am besten kann: er schreibt.
Vorläufige Antwort auf die Frage: Kann das vereinte Geschrei der Trittbrettpatrioten den Verlauf eines Krieges beeinflussen?
von Luis Hanbüchl
Unter Blinden ist der Einäugige König. Das ist natürlich metaphorisch gemeint, niemand möchte dem blinden oder einäugigen Menschen zu nahe treten, geschweige denn dem radikalrepublikanischen Gemüt, das beim Ausdruck ›König‹ zusammenzuckt, ebenso wenig der genderbeflissenen Kollegin, die sich dem Kampf gegen das generische Maskulinum verschrieben hat. Dies alles vorausgesetzt, lässt sich die Frage aufwerfen, wer wohl unter den Einäugigen über die besseren Chancen verfügt, König zu sein: der Blinde oder der beidäugig Sehende. Was den Trittbrettpatriotismus angeht, so dürfte die Antwort leicht fallen: Der Einäugige weiß, dass er über ein eingeschränktes Sehfeld verfügt, er ist sich der Gefahr bewusst, die daraus entsteht, das Auge überkompensiert, sein Wesen trägt Scheu vor der Blindheit, die im eigenen Sehen nistet, er ist immer aufs Neue bestürzt über die Sorglosigkeit dessen, der über beide Augen verfügt und Sehen für eine Selbstverständlichkeit hält. Stattdessen bewundert er den Blinden, er hält ihn instinktiv für bedacht … und vor allem: Er hält sein Anliegen für berechtigt.
Ich verteidige mein Land, du verteidigst dein Land, er sie es verteidigt sein Land: keine einfachere, keine in ihrer Einfachheit blindere Tätigkeit ist denkbar. Um Patriot zu sein, bedarf es keiner weiteren Einsicht, nur eines Entschlusses. Es gibt keinen ansteckenderen Entschluss als den, Patriot zu sein, vorausgesetzt, die Situation legt ihn nahe. Fehlt diese Voraussetzung, ist keine Existenz einsamer, überdies verdächtiger als die des Patrioten. Deshalb gibt es mehr leidende als feurig bewegte Patrioten. Um diesem Übelstand abzuhelfen, hat die Informationswelt einen dritten Typus geschaffen: den Trittbrettpatrioten. Dem Trittbrettpatrioten liegt es fern, sich in den Dienst einer Konfliktpartei zu begeben oder humanitäre Hilfe zu organisieren. Seine Parteinahme vollzieht sich auf dem Feld der Gesinnung: er schreibt flammende Artikel, in denen er der Führung seines Landes, am besten der ›freien Welt‹ oder was er dafür hält, ihr Versagen vorhält, ein Versagen, das sich weit in die Vergangenheit erstreckt und in der Gegenwart und vermutlich, falls nicht ein Wunder geschieht, auch in der nächsten Zukunft fortdauert.
In diesem Versagen, wie immer er es begründet, erkennt der Trittbrettpatriot die eigentliche Ursache der gegenwärtigen Kämpfe, die nur durch den bedingungslosen Kriegseintritt seines Landes wettgemacht werden kann: eine, wie ihm scheint, moralisch zwingend gebotene Handlung, der zwar die Geringschätzung der eigenen Streitkräfte – »Gurkentruppe«, »kaum zum Brötchenholen geeignet«, »Lachnummer«, »nicht einsatzbereit« – krass widerspricht, durch sie jedoch nur in absurdere Höhen der Notwendigkeit gehoben wird. Wie viele Menschen neigt der Trittbrettpatriot zu der Ansicht, eingebildete Fehler der Vergangenheit könnten am besten durch neu zu begehende Fehler korrigiert werden, vermutlich, um so der ohnehin prophezeiten Katastrophe einen ›entscheidenden‹ Schritt näherzukommen. Gründlich missverstehen würde man ihn allerdings, wollte man sein eigenstes Anliegen darin erblicken, das doch, wie bereits angedeutet, einfach lautet, dabei sein zu wollen und seinem zu Hause unnütz vor sich hin modernden Patriotismus freien Auslauf in der nahen Natur zu verschaffen.
Unter Einäugigen, ich deutete es an, ist der Blinde König. Für den Trittbrettpatrioten gilt unumwunden: seiner Einäugigkeit, das heißt, seinem parteiischen Urteil, wer im aktuellen Konflikt recht und wer unrecht hat (vulgo: ›unschuldig‹ und ›schuldig‹ ist), folgt die blinde Parteinahme zugunsten des Blinden, soll heißen des Patrioten, der sein Vaterland verteidigt und darin keiner Wahl folgt, sondern der nackten Notwendigkeit, während er doch auch darauf hoffen muss, dass seine Regierung weiterhin weiß, was sie tut, soll heißen, sich auf der Suche nach einer politischen Lösung befindet – möglichst, solange man selbst oder einer der Seinen noch am Leben ist. Wer den Charakter des modernen Krieges (und moderner Konflikte) kennt, der weiß auch, dass bedingungslose Siege respektive Niederlagen selten geworden sind. Mit dem Eintritt einer oder zweier Großmächte fällt diese Aussicht auf Null. Großmächte sind dadurch definiert, dass sie selbst verlorene Kriege praktisch nach Belieben weiterzuführen vermögen, bis es irgendwann in ihr Kalkül passt, ein anderes Spiel zu beginnen. Demnach sind Trittbrettpatrioten Menschen, die der einzigen Praxis, die erwiesenermaßen dem Unheil des modernen Krieges halbwegs erfolgreich entgegenzutreten imstande ist (strikte Eindämmung und systematische Austrocknung, etwa durch den Entzug ökonomischer Mittel), die Geistesverfassung von Amokläufern entgegensetzen – mit dem gewichtigen Unterschied, dass sie die ›Tötung Unschuldiger‹ in ganz andere Zahlenbereiche zu treiben wünschen, ohne auch nur einen realistischen Gedanken daran zu verschwenden. Das macht sie einerseits ungefährlich, weil der Irrsinn so sichtbar aus ihren Überlegungen funkelt, andererseits … ja andererseits… Was heißt andererseits? Nimmt der Irrsinn in den Köpfen überhand, nimmt er bald auch in der Realität seinen Lauf.
Das Volk der Sesselfurzer dürstet nach kriegerischen Taten
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―So ein Blödsinn.
Tronkas Stimme mahlt die Wörter hervor. Hanbüchl gehört nicht
gerade zu seinen bevorzugten Gesprächspartnern, im Grunde ihres
Herzens können sie einander nicht ausstehen. Aber angesichts der
spärlich belebten Mensa hocken sie ausnahmsweise einander gegenüber.
―Unsere Leute täuschen sich, wenn sie glauben, sie hätten
in diesem Konflikt eine Stimme. Ein Stimmchen, janein, ein Stimmchen
hat natürlich jeder, gerade piepsig genug, um ihn von allen Seiten
erpressbar zu machen. Wenn der Große Bruder morgen Handlangerdienste verlangt,
dann werden sie liefern, aber sicher, was denn sonst. Und S? Wird
landauf landab verkünden, was seine Souffleure ihm in den Mund legen werden. Vielleicht an einigen Stellen
kurz schlucken, aber, ehrlich gesagt: ich glaub’s
nicht. Der Mann weiß, was anliegt, und arbeitet es weg. So jedenfalls schätze ich ihn
ein. Ich kann mich täuschen, das Risiko gehe ich ein. Was sage ich? Es fällt
schwer, sich in Politikern zu täuschen, sie sind von morgens bis
abends mit Täuschen beschäftigt. Nichts ist so leicht
zu durchschauen wie das Volk der Täuscher.
―Und was machen wir jetzt? Ich meine, wollen die S
Hausverbot erteilen? Wollen sie ihn exmatrikulieren? Das ist doch …
das ist doch…
―… der reine Blödsinn, ich erwähnte es bereits. Ein institutioneller
Blödsinn ist natürlich etwas anderes als ein individueller, das
kann man nicht vergleichen, aber Blödsinn bleibt es doch. Ich weiß
auch nicht, welcher gefährlicher ist. Was meinen Sie? Jetzt ehrlich,
ich würd’s gern wissen. Sie müssen sich auch nicht entscheiden,
im Grunde geht unsereinen das da draußen nichts an. Die kommen ganz
gut selber zurecht.
―Wie meinen Sie das?
―Ich meine, dass diese ganze … nennen wir sie ideelle Teilnahme
an dem, was vorgeht, auf Selbsttäuschung beruht. Unsere Nerven
spielen uns da etwas vor. Aber Ihre und meine Nerven bewegen keinen
Holzklotz, geschweige denn eine Politikerseele. Es reicht gerade für
ein aufgeregtes Geschnatter. Kriege werden um Interessen geführt.
Wer das nicht weiß, der lebt ohnehin im Ställchen. Wenn er Glück
hat, wird er gemästet, wenn nicht… Ich lese gerade den Tod des
Vergil, ein Riesenstück Prosa, kommt das in Ihren Seminaren
überhaupt vor? Janein, ich meine, kann die heutige Germanistik mit
so einem Welt-Opus überhaupt etwas anfangen? Wirklich, darüber
sollten wir uns einmal ausführlich austauschen…
Hanbüchl schweigt beleidigt. Fast hätte er vergessen, wie ätzend
Tronka sein kann. Außerdem traut er ihm auch diese Lektüre ohne weiteres
zu. Dilettantismus ist das, ganz ohne Apparat und zu vergebende
Hausarbeiten. Tronka ist ein Spinner.
Maler Mompti hat ein Karzinom. Es wurde entfernt, es hat die vorgeschriebenen Stadien der Bekämpfung durchlaufen, es hat neue Kräfte gezogen und erledigt den Rest. Es hat den Körper geholt und nun holt es sich den Geist. Was ist der Geist? Eine Veranstaltung zur Krebsvorsorge? Zur Krebsbekämpfung, wenn es einmal soweit ist? Zur Nachsorge, wenn alles seinen Gang ging und es Zeit wird, sich weniger Sorgen zu machen und die nicht wegzuleugnenden … sagen wir … mit sanfter Hand von der Stirn zu wischen und auf die folgenden Generationen zu verteilen? Momptis Bilder hängen im Museum und das Museum hängt an ihnen, es möchte sie ungern missen und erklärt sie zum unverzichtbaren Bestand des Jahrhunderts. Das Jahrhundert besteht also, neben anderem, aus ein paar Handvoll Momptis, während der wirkliche Mompti, the real ’pti, in seinem Atelier auf Schnitzeljagd geht, denn er weiß nicht mehr, wo er anknüpfen soll und worauf er hinauswollte.
Mompti stirbt wirklich
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Worauf soll das hinaus? Kopschüttelnd fragt er sich das, hebt ein Blatt auf und lässt eines fallen. Ihr Schwarm bedeckt den Atelierboden und manches schwebt unbemerkt zur Tür hinaus, die jetzt fast immer offen steht, denn es ist Sommer und der Staub, der leise wehende, bedeckt sie alle. Mompti weiß es nicht, er hat es nie gewusst und wird es nie wissen, soviel weiß er, obwohl es ihm niemand gesagt hat. Er ist jetzt darauf angewiesen, dass man ihm sagt, was er weiß, er weiß es dann und weiß es auch wieder nicht, sein Wissen geht auf Zehenspitzen um sich herum und sucht nach Lücken, durch die es einbrechen könnte, aber es findet keine. Es findet keine – zu fremd ist es sich geworden, als dass es sich lohnte, alle Kraft darauf zu verwenden, zu sich zu kommen und das Fest der Versöhnung zu feiern. Ohnehin findet er es schwierig, alle Kraft zu sammeln, er findet nur Reste davon in alten Farbtöpfen und ‑tuben, er kratzt und sticht in ihnen herum und plötzlich entleert sich eine Blase vor seinen Augen, ein Miniatur-Geysir wächst in die Höhe, dreht sich zur Seite und sackt weg.
Mompti stirbt wirklich
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Sieh an, sagt sich Mompti, er sagt es nicht wirklich, er ist kein Sager, kein Ja-, nicht Nein-, er ist ein Zeichner, einer, der Zeichen sieht und Zeichen setzt, sieh dir das einmal an. Nicht einmal sieht er es an, sondern zehnmal. Nicht, dass er dann gesehen hätte, worauf es ankommt, er wird morgen weitermachen, er wird nicht wissen, dass er weitermacht, die Idee des Weitermachens hat er verlorengegeben wie die meisten anderen auch, sie scheint ihm unzutreffend. Wenn ich jetzt dies und dann das mache, ergibt das überhaupt einen Zusammenhang? Früher hätte er diese Frage mit Ja beantwortet, es hätte ihm Vergnügen bereitet, sie zu beantworten, denn sie hätte, als Frage, das Wesen des Ausdrucks zur Geltung gebracht, so wie ein korrekter Fahrer gelegentlich das Auto zur Inspektion bringt, um es auf ›Herz und Nieren‹ prüfen zu lassen, damit es bei der nächsten Vollgasfahrt… Apropos Vollgas: so wie Mompti davon überzeugt ist, er könne, wenn er nur wolle, jederzeit, zumindest aber morgen gleich nach dem Aufstehen, aufdrehen und diese Misere hinter sich lassen, so glaubt er seine Ehe im Handumdrehen retten zu können, falls ihm nur hinreichend daran liege. ›Hinreichend‹, das ist das Wort. Wann reicht etwas hin? Ein Begehren zum Beispiel, ein kleines, nicht unwichtiges Begehren, wohin könnte es reichen, um hinzureichen?
Mompti stirbt wirklich
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Wohin reicht, was hinreicht? Es scheint ihm eine Entdeckung, wert, festgehalten zu werden, dass er niemals gewusst hat, wohin er reicht – nur dass es ihm gereicht hat, zum Leben und überhaupt, eine Sache so und so weit getrieben zu haben, ohne sich groß darum gekümmert zu haben, um welche Sache es sich eigentlich handelte. Eigentlich… da steht dieses Wort, das er sich eigentlich abgewöhnt hat, vor langen Jahren, zu einer Zeit, zu der er sich eigentlich das Rauchen hätte abgewöhnen sollen. Aber er hat es vorgezogen, mit dem Eigentlichen zu brechen, aus Überzeugung, wie man so sagt, obwohl er dieses Wort eigentlich ablehnt, es hinterlässt so einen Geschmack… Eigentlich schade, denn es besitzt den schleichenden Charme all dessen, was wirklich zu überzeugen vermag. Eigentlich hätte er gern gewusst, worum es ging in dem großen Spiel, nur war keiner zur Hand, der es ihm erklärt hätte. Es hätte auch nichts genützt, die wirkliche Erklärung hätte in ihm aufsteigen müssen wie ein … ein ...
… Brechreiz? Eigentlich war das Wort immer zur Hand, allerdings galt es nicht, irgendwie galt es nicht, als Kunst-Arbeiter musste er abwehren, was ihm da an die Hand flog, woher nur, aus den Sprach-Beeten, ungebeten, wohl wahr, schamlos eigentlich, wie alles Schamlose lässt es seinen Gebrauch nicht zu, eigentlich provoziert es die Scham und ruft nach Abwehr. Eigentlich war er immer in Abwehrpose. Wie ist das heute? Wehrt er ab? Lässt er zu? Wo liegt der Unterschied? »Lass mal.«
Eigentlich dumm.
Mompti stirbt wirklich
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So dumm auch wieder nicht, denn eigentlich ist, was ist, in einem einfachen Verhältnis … er möchte nicht sagen: zu sich, denn das wäre uneinfach, es ›entbehrte der Einfachheit‹, irgendein Mangel wäre dabei, vielleicht eine Lücke, eine Zeichenlücke, die nicht gefüllt werden kann, weil der Widerstand wächst, sobald er ihr näherrückt, er kennt solche Lücken seit altersher. Die Dinge sind nebeneinander, der Blick reißt Gräben zwischen ihnen auf, er reißt sie auseinander, gnadenlos, achtlos, Zeichnen heißt den Blick in die Sprache der Dinge zu übersetzen, ins Nebeneinander, mag sein, aber ist das eine Sprache? Natürlich ist das keine Sprache. Kunst spricht nicht. Kunst ist stumm. Ich, Mompti, musste soundso weit kommen, um festzustellen: Kunst ist stumm. Und was bin ich? Ein stummer Künstler. Stumm, dem Stummen zugewandt. Verstummt wäre etwas anderes, bin ich verstummt? Ich verstumme gern, dazu brauche ich kein Gespräch. Mir sagt die Sprache nichts. Was sagt sie mir nicht? Ist sie nichtssagend? Nein, das wäre zu sehr … von ihr her gedacht. Wenn ich denke, dann mehr von den Dingen her, als dächten sie in mich hinein. Natürlich denken sie nicht, das weiß ich auch. Eigentlich schade, man erführe mehr über sie. Aber sie geben ihr Bestes, dafür verbürge ich mich.
Mompti stirbt wirklich
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Was heißt dann Zeichnen? Ich hätte gern Baum Vogel, Auto gesagt, auch Straße, Mann, Pferd, Nagel, Filmriss, Mädchen, Alkohol, Blumengießen, Abgesang, Trauerweide, Erdapfel, Jugendheim ... muss ich das jetzt fortsetzen? Was aber Zeichnen heißt, ich weiß es nit. Ich sollte es aber wissen. Ama bringt es den Kleinen bei und ich helfe dabei aus, also sollte ich es wissen. Weißäcker hat von mir gewollt, dass ich es lehre, ich habe den Ruf abgelehnt, weil ich es nicht weiß. Seltsamer Ruf ... Leute kennen einander und irgendwo ruft eine Universität. Sie ruft nicht laut, sie ruft nicht leise, sie schreibt Briefe, in denen steht, du sollst deine Sachen packen und dein Leben ändern, einfach so ... auf Zuruf. Ama weiß viel, aber in diesem Fall wusste auch sie nicht weiter. Sie hat es mir nicht zugetraut. Oder doch? Wer weiß? Warum hat sie mich nicht ermutigt? Aus Neid? Aus Angst? Aus Neidangst? Mag sein, mag nicht sein, egal, ich kann so etwas nicht malen. Ich habe mich immer geweigert, etwas zu malen. Nein, nicht immer, das wäre gemogelt, aber all diese Versuche endeten im Fiasko. Eigentlich bin ich gescheitert, weil man mich drängte, etwas zu malen. Ich kann einen Pinsel halten. Beruf Pinselhalter: das wäre etwas gewesen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Es gibt schickere Techniken. Von Beruf bin ich Techniker. Die Leute sagen: Zeichne etwas! Ich zeichne etwas und frage sie: Ist das etwas? O ja, beteuern sie, das ist etwas. Das ist etwas Feines, das kannst nur du. Aber es ist niemals etwas, es ist immer irgendwas. Sie wissen es und ich weiß es und beide Seiten sind zufrieden. Nähme man mir die Sprache, ich hätte zu tun. Zwischen Irgendwas und Etwas klafft diese elende Lücke, die sich nicht schließt. Ich glaube fast, jetzt könnte ich hingehen und sie schließen. Aber es ist vermutlich zu spät. Nein, lass nur, es lohnt nicht.
Mompti stirbt wirklich
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Momptis Schwäche ist umfassend. Das liegt sicher am Schmerzmittel, aber nicht so sicher, dass es bei dieser Erklärung sein Bewenden hätte. Momptis Schwäche ist, vielleicht in Idealkonkurrenz mit dem entgleisenden Zellbündel, kontinuierlich gewachsen. So jedenfalls kommt es ihm vor, sobald er versucht, sich zu vergegenwärtigen, wie ›alles gekommen ist‹. Wäre er stark gewesen, er hätte die Welt verändert, zumindest den von ihm veränderbaren Teil. Zum Beispiel hätte er sich gleich nach der Heirat von Ama scheiden lassen. Nicht weil sie die Falsche war – das würde voraussetzen, dass es da draußen eine Richtige gibt –, eher schon, weil sie sich für die Falsche hielt. ›Das hältst du im Kopf nicht aus.‹ Was einer im Kopf aushält, entzieht sich seiner Kenntnis. Aber das da ruiniert den Kopf, es ruiniert ihn von Grund auf. Ein ruinierter Kopf kann nicht malen, er kann nur Zeichen geben, die keiner entziffert, weil sie in Wirklichkeit unentzifferbar sind. Jetzt ist sie die Richtige und er ist falsch. Alles an ihm ist falsch. Er betrachtet seine Hände und sie sind falsch. Sie waren einmal richtig und jetzt sind sie falsch. Alles, was aus ihnen kommt, ist falsch. Alles, was sie anfassen, wird falsch. Nur wenn er Ama aushilft, ist es recht. Oder auch nicht.
Mompti stirbt wirklich
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Nicht ›im Licht der Wirklichkeit‹, sondern ›in Wirklichkeit‹. Er hat solche Anfälle von sprachlicher Verbesserungswut, sie kommen und gehen, das Problem bleibt. Mit Licht kennt er sich aus. Diese Fragen sind nicht mit Licht zu regeln. Beleuchter gibt es genug. ›Wir haben das Elend des Privaten beenden wollen und haben die Hölle neu erfunden.‹ Der Satz klingt, als habe er ihn gelesen. Nur wo? Alle Finger zeigen auf ihn zurück: Da. Es steht geschrieben: Wir sind Verdammte aus eigener ... Kraft? Ist das das Wort? Verantwortung? Das sagt sich leicht, aber es gleitet ab. Welches Wort bleibt haften? Lust? War es das: Lust? Soviel Lust war nie... Jedenfalls machten wir uns das vor. Lebe, als hättest du die Lust erfunden, nein, als erfändest du sie gerade zum ersten Mal. Das älteste Ding ... zum ersten Mal. Das hatte auch seine komischen Seiten. Ama im Bett, zur Klärung entschlossen: »Ich werde nicht deine Muse sein!« »Ich küsse keine Musen, ich küsse ... Geschlechtsteile.« »Versager.« Da war sie, die Scham. Es hatte Klick gemacht und er war enttarnt. So wie jetzt. Immer in Bringposition, so wie jetzt.
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Momptis Weltsicht
Was Mompti sieht
Gekräusel
[die Welt ein Abzählvers: bewegt – unbewegt – bewegt]
Bleiches
[das fahle Licht: ein notorischer Begleiter]
Gleitendes
[was aber gleitet, das entzieht sich auch]
Schillerndes
[Fläche gleich Tiefe]
Gewölk
[alles, was sich ballt, gleicht ... entfernt]
The Blue [den blauen Grund der Welt]
Was Mompti nicht sieht
Kraftlinien
[die geordnete Welt: ein ]
Strahlendes
[das strahlende Haupt des Guten/Bösen: erste Inversion]
Die Farbe Rot
[sie existiert nicht in seinem Universum, hat, außer in den Anfängen, nie darin existiert, sie ist, wo immer sie auftaucht, verblasstes Zitat]
Daraus folgt alles weitere. Wobei Sehen/Nichtsehen zu den harten Unterscheidungen zählt: Was sieht Mompti, wenn er nicht sieht? Nicht viel, möchte man meinen, nicht viel. Nichts sehen wollen: damit würde er so nichts anfangen wollen. Natürlich sieht er, als Maler, alles. Das erspart ihm die Details – einerseits. Und es fesselt ihn an die Details – andererseits. Kunst = Sklaverei. Das ›sieht‹ er ›nicht so‹, aber er atmet es. Wir Urteilslosen: Urteilen steht ihm nicht zu. Er ist Empfangender. Das bleibt, auch wenn niemand mehr zum Empfang bittet.
—Wenn ich da draußen ein Loch in den Schlick bohre, dann habe ich etwas getan, nicht viel, ein bisschen schon, aus der Perspektive der Plattwürmer – an dieser Stelle überkommt ihn immer ein Glucksen, er kann nicht anders – sogar eine ganze Menge, etwas wirklich Gigantisches, aber wenn ich geduldig bin und dabeibleibe, dann sehe ich, wie das Wasser, das erst klar und durchscheinend ist wie der junge Morgen, sich eintrübt. Ja, es trübt sich ein, aber in Wahrheit ist es bloß der Sand, der sich nach und nach einfindet, als wäre er hier zu Hause, und irgendwann reicht die Puste eines Kleinkindes, um ihn zu trocknen, als habe es diese Kuhle nie gegeben. Was so nicht stimmt: Wäre sie nicht im Einerlei verschwunden, dann wüsste man genau, hier ist sie, hier muss sie sein, so etwas geht nie mehr weg, es ist bloß, wie soll ich es ausdrücken, unkenntlich... geworden? Na ich weiß nicht.
Er erzählt die Geschichte, als habe er sie oft zum Besten gegeben und ihr Sinn sei darüber verlorengegangen. Er erzählt sie suchend, mit Pausen, in denen sein Blick zur Seite schweift, nicht etwa, weil er nicht weiter weiß, sondern weil er nicht weiß, ob das, was jetzt kommt, dem entspricht, was er damit sagen will. Der Wille, etwas damit zu sagen, hat ihn noch nicht verlassen, aber er zieht sich von ihm zurück, lässt hier und da eine Blöße zu, er neigt dazu, Blößen zu geben, als liege darin eine besondere Finte, die keiner begreift.
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Stirb nicht, Mompti!
Es könnte sein, dass etwas dabei verlorengeht, mit dessen Verlust du nicht gerechnet hast. Was könnte das sein? Diese Geste, ›das alles‹ hier hinter dir zu lassen, sie ist vielleicht eine Spur zu einfach, zu zweckdienlich, um ihren Zweck zu erreichen. Es erlischt sich leicht in Gedanken. Der wirkliche Tod kommt hinterrücks, als Erschlaffung, du spürst sie in allen Gliedern. Bald wirst du ganz erschlafft sein. Du wirst es, wie so vieles, fast alles, hinter dir haben –: es, den Rest, der nicht weggeht, so sehr du dich auch bemühst, ihn zu vergessen. Vielleicht liegt er im Vergessen. Im Traum vergisst du nicht, es fällt dir immer noch etwas ein. Diese Ängste ... wer mit der Angst spielt, was bekommt der? Eine Extraportion? Du hast immer gespielt, warum nicht mit Ängsten? Dabei war es dir immer ernst. Auch jetzt ist dir ernst zu Mute, aber nicht wirklich, dein Ernst war immer Unernst und jetzt erleichtert er sich. Er geht nicht mehr hin, wie du früher gesagt hättest. ›Einer muss hingehen.‹ Das war deine Parole. Und du warst der, der hingeht. Jetzt gehst du ›dahin‹, einsam im Nirgendwo, gäbe es Ama nicht, so wäre deine Aufgabe fast vollendet. Warum gibt es Ama und nicht nichts? Das, zumindest, müsstest du sie fragen können. Aber das kannst du nicht. »Ich kann auch gehen«, würde sie antworten und das Thema wäre vom Tisch. Natürlich könnte sie gehen. Könnte sie wirklich gehen, so wäre sie längst gegangen. Sie kann es nicht. Sie kann es ebenso wenig wie du... Mach ein Ende! Bring’s hinter dich! Eine merkwürdige Sache: das Ende hinter sich bringen, das Ende, dem kein Anfang innewohnt, es sei denn, man wechselt in den Modus des Glaubens, aber das wäre dann bereits etwas anderes. Lässt sich Glauben zeichnen? Nein, lässt er nicht. Du könntest dich mit ein paar deftigen Flüchen verabschieden, das schafft Gesellschaft, aber es wäre ... unernst, so als wollte einer mit dem Expresszug aufs Land. Du schleppst den Schmerz hin und her und denkst, du ließest ihn hinter dir. Dahinten! Dahinten ... kann man es malen? Endlich malen ... dahinten, ja, da ginge es, da geht es wirklich.
Was man nicht malen kann, das muss man leiden. Wer nicht leiden kann, für den existiert nichts außer dem Malen. Wer nichts als malen kann, der leidet wirklich, das heißt, ohne doppelten Boden, ohne Leidensbereitschaft, ohne die Fähigkeit, zu erleiden, das heißt, dem Leiden einen Sinn abzupressen, den berühmten Lebenssinn, der nicht weggeht, auch wenn die Tage hart sind und das Brot knapp wird. Mompti gehört zur Generation Ohneleid. Sinnstiftung aus dem Leide lehnt er ab, er kann sie nicht leiden und leidet sie nirgends. Dennoch weigert er sich, in den Kampfmodus überzugehen, der für Fälle wie den seinen bereitsteht. Sei ein Mensch, kämpfe! Er hat ein paar Versuche darin unternommen und rasch wieder eingestellt – kein Talent! Andererseits: kämpfen kann jeder Esel, wozu muss einer Mensch sein, um Mensch zu sein, wenn daran nichts anderes haftet als die Spur der Gewalt, die sich durch die Natur zieht? Ein kämpfender Esel zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als ein Mensch, der es mit sich austrägt. Wer den Esel lobt, dem ist um den Mitmenschen nicht bang.
Ein Leid wäscht das andere
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Momptis Leiden kennt keinen Ort, an den es sich zurückziehen, aus dem es hervorbrechen könnte: es ist ortlos.
Die Verortung geschieht durch den Arzt, genauer, die Medizin, genauer, durch den Apparat, der ihn durchleuchtet, die Theorie, die das Durchleuchtete deutet, die Hand, die schneidet, die Hand, die das Zerschnittene flickt, die Hand, die Medikamente verschreibt, die Hand, die Rechnungen schickt.
Das ist neu. Seit er unfähig ist zu malen, seit seine Hand Zeichnung um Zeichnung im Papierkorb versenkt, leidet er an der Kunst. Die Kunst ist der Ort seines Leidens: nicht irgendeine, sondern seine. Auch wenn sie sich hinter den Horizont zurückgezogen hat, bleibt sie die seine. War das Leid? Das Leid liegt in der Ergebnislosigkeit, nicht im Prozess, es ist ein künstliches, ein oktroyiertes Leid, erzeugt durch die nach innen projizierte, durch Geldmangel festgeschriebene Erwartung seiner Umgebung.
Was, zum Beispiel, erwartet Ama von ihm? Sie erwartet, dass er stirbt. Sie erwartet es nicht täglich, aber in der Nahperspektive, die nicht mehr weggeht, also von Tag zu Tag.
Leidet er darunter, dass Ama ihn wegwünscht? Aber Ama wünscht ihn nicht weg, sie wünscht nur, dass es vorbei sei.
Ist Ama der Ort seines Leidens? Ja gewiss, sie leidet an ihm, sie leidet an seinem Leiden, denn es hindert sie daran, leidlos zu sein. Amas Lebensaufgabe besteht darin, ohne Leid zu sein: eine schwere Verantwortung trägt sie da, sie trägt sie mit Fassung, aber es wäre nur gerecht, wenn ihr jemand dabei hülfe. Die Menschen gehen an dir vorbei, wenn im Haus jemand stirbt. Das ist wahr.
Es ist nicht bloß wahr, es ist die Wahrheit. Etwas kommt darin zum Vorschein, was sonst sorgsam verschlossen bleibt: nicht die mangelnde Bereitschaft zu helfen oder Beistand zu leisten, vielmehr die Unfähigkeit beizustehen, eine wirkliche Unfähigkeit, die sich aus mangelnder Befähigung speist, nicht aus mangelnder Fertigkeit oder Bereitschaft (was dauernd verwechselt wird).
Auch Ama ist unfähig. Ihr Beistand beschränkt sich darauf, den Alltag zu leisten und darunter zu leiden, dass er ihr abverlangt wird. Momptis Leiden wütet, weil es ihr Leiden erregt, dabei ist dies die letzte Erregung, die Ama von ihm empfängt.
Wütendes Leid ist geteiltes Leid.
Das Ortlose kriecht unter.
Ein Leid wäscht das andere
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Ama Ohneleid: sie ist es, sie ist es wirklich, auch sie, leidlos, wäre da nicht sein Leiden, das sie in den Abgrund zieht. In welchen Abgrund? In den des Beistands, der kleinen und großen Handreichungen, der Mit-Sorge –
... wie eine Horde von Plünderern fällt ihr Regime über sie her und verzehrt diese kostbare, lange erbrütete und frisch geschlüpfte Substanz, als habe es nur darauf gewartet, als sei es hungrig gewesen nach diesem seltenen Stoff.
Ist das reell? Nüchtern betrachtet ist Mompti pflegeleicht. Die großen Schlachten sind geschlagen, erforderte die Lage größere Anstrengungen, stünde ein Heer von professionellen Betreuern bereit, gestaffelt nach Pflegeklassen und Bedarfsgruppen: dies hier ist Nachbereitung, sie könnte ihn an der Aufnahmestation einer darauf spezialisierten Klinik abgeben, doch seltsamerweise erscheint es ihr nicht nötig.
Auch wenn sie es sich nicht eingesteht – sie beobachtet Mompti. Dieses Dasein im Abgehen, es rührt sie nicht, es beschäftigt sie kaum, jedenfalls nicht über Gebühr, wenn man davon absieht, dass es den Alltagsdruck ein wenig erhöht und dadurch ins fast Unerträgliche steigert, es blickt sie an und sie erwidert diesen Blick, nicht wissend, worauf sie sich einlässt: Ist das reell?
Das Gelobte Land vor Augen, scheitert Ama an der Impertinenz des erweiterten Augenblicks. Sie weiß um ihr Scheitern, resigniert fügt sie sich in ihr Los, doch nicht ganz. In Erwartung des Todes steht das Leben still. Wäre sie reell gegen sich selbst, müsste sie zugeben, dass es blüht. Nicht in den strahlenden Farben des Sommers, sondern mit der Intensität einer Blüte, die sich spät bemerkbar macht, aber so, als ginge sie spät oder nie mehr weg.
Ein Leid wäscht das andere
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Mompti ist dankbar. Nicht grenzenlos, das ginge ihm wider die Natur, die auch gegen Ende zu nicht verschwindet, sondern verknöchert, nein, es reicht ihm, dankbar zu sein, ohne Bei- und Füllaffekte, einfach: dankbar. Dankbarkeit, stellt er fest, ist kein Gefühl, sondern ein Zustand. Er ist erfüllt von Dankbarkeit, nicht bis obenhin, sobald er sich bewegt, schwankt die Füllung und bedroht sein Gleichgewicht.
Doch das ist normal. Sein Gleichgewichtssinn ist jetzt dauerhaft gestört, er findet nur mühsam zurück, beugt er sich vor oder zur Seite, lehnt er sich zurück, wirft es ihn um. Seltsamerweise – was wäre nicht seltsam in seiner Lage? – findet er das richtig, es würde ihn wundern, verhielte es sich anders, so jedenfalls wundert es ihn nicht im geringsten.
Irgendwie hängen der geschwächte Gleichgewichtssinn und die Dankbarkeit, die er empfindet, zusammen. Fiele er aus jedem Gleichgewicht, müsste die Dankbarkeit grenzenlos sein oder verschwinden, wahrscheinlich beides zur gleichen Zeit. ›Aber das wäre paradox‹, hätte er früher genuschelt, er denkt es auch jetzt, aber es hat den paradoxen Anstrich verloren, es widerspricht sich nicht, jedenfalls regt sich kein Widerspruch, solange er auch danach sucht. Dabei ist er süchtig nach Widersprüchen, sie erklären manches, man muss sie finden und stehenlassen, er hat sie immer gefunden und jetzt sind sie ... reserviert. Wofür? Wozu?
In der Dankbarkeit löst sich, was ihn bedrängt, sie nimmt jetzt die Stelle ein, die früher das Zeichnen innehatte, sie zeichnet für ihn, sie zeichnet ab, was hereinkommt, um wieder hinauszugehen: Rechnungen zum Beispiel, für die jetzt Ama zuständig ist, das Bild einer Person, die er lange nicht mehr gesehen hat und das ihn jetzt ergreift – so weit ist sein Leben, dass es auch dieses zweidimensionale Wesen umfasst, samt seiner unaussprechlichen Tiefe –, Amas Bilder vor allem, an denen er jetzt sieht, was er stets übersehen hat, nicht länger etwas, sondern das Übersehene als solches, er könnte auch sagen, er sieht sie erst jetzt, aber das stimmt nicht, er hat sie, samt ihren Schwächen, immer gesehen und jetzt erscheinen sie ihm, sein banges Entzücken verrät ihm das eigene Scheitern und macht es gegenstandslos.
Ein Leid wäscht das andere
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Sterben, denkt Mompti, beginnt, wenn der Gedanke daran verblasst, eigentlich, wenn er unauffindbar geworden ist. Deshalb sagt er sich von Zeit zu Zeit leise vor: »Ich sterbe«. Er sagt es nicht trotzig, er sagt es nicht ergeben, er sagt es probierend: Lebe ich noch? Wie sehr lebe ich noch? Wie sehr bin ich bereits tot? Er wählt dafür Zeiten, in denen er sicher ist, dass Ama sich nicht im Hause aufhält, denn er weiß, es könnte sie verletzen und ihr Schuldgefühle einflößen und das wäre schlecht. Es wäre nicht dankbar und seine Dankbarkeit geht ihm über alles.
Ist doch tatsächlich – Mitternacht lange vorbei – bei Liz aufgekreuzt, hat so lange geschellt, bis sie, aus allerlei Träumen gerissen, die Wohnungstür einen Spaltbreit öffnet, mit erstaunten Kulleraugen seine Erscheinung mustert und beschließt, ihn einzulassen, wenngleich ihr etwas unbehaglich dabei zu Mute ist: der Herr Professor wirkt, vorsichtig gesprochen, nicht ganz bei Trost.
Professoren-Einsamkeit, dunkler als die umgebende Nacht, hüllt ihn ein.
Zweifellos fühlt er sich: ausgesperrt. Was immer Elisabeth sich dabei denkt, ob sie sich überhaupt etwas denkt, ob sie beteiligt ist an dem Treiben – einen Leckebusch sperrt man nicht aus. Er verlangt offene Türen und wenn die eigene zu bleibt, dann…
Ein herrischer Zug hat ihn hergelenkt. Länger als sonst ist er mit den Studenten zusammengesessen, die laue Nacht verwischt die Zeiten, die Gesprächslust ist ungebrochen, und Liz…
… riecht den Alkohol, weicht in die Wohnung zurück, entzündet Lampe um Lampe –
Leckebusch beobachtet Liz aus dem Augenwinkel. Es fehlt nur, dass sie, lichtgebadet, sich selbst entzündet. Er wüsste jetzt nicht, wo der Schalter sich finden ließe, aber er ist überzeugt davon, dass sie ihn kennt. Nicht wie der Pastor Brüsewitz, der sich am hellen Tag auf dem Marktplatz…, nein, das hier wäre nur eine kleine, intime Geste, bestimmt, einen langen Tag zum Abschluss zu bringen.
Die Hände auf eine Stuhllehne gedrückt, blickt sie ihn an.
Patri-Arsch
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Rache
Wir wissen nicht … wir wissen noch nicht, was die beiden, ihre Stühle verkehrt herum benützend, zu bereden haben, während in der Ferne die erste Helligkeit des anbrechenden Tages den Horizont verfärbt – kein Wunder, ein entsprechender Forschungsauftrag wurde bis zur Stunde nicht erteilt. Wir dürfen davon ausgehen, dass in dieser kurzen Nacht alles aus Leckebusch herausbricht, was er bisher selbst seinen Krawatten gegenüber sorgsam verschwiegen hat, das meiste davon in einem Tonfall schillernder Überlegenheit, den Liz, trotz ihrer gegebenen Lebensklugheit, für das Anzeichen eines beginnenden Anfalls – sie tippt, ohne sich festlegen zu wollen, auf Schizophrenie – hält, während er doch nur dem mühsam festgehaltenen Rollenbild des Dozenten entspricht, der auch in einer grenzwertigen Situation wie dieser nicht aus der Haut kann, obwohl sie längst zu brennen begonnen hat.
Aber Liz – was hat Liz damit zu tun? Sie hat den großen Rauswurf nicht vergessen, sie hat auch nicht vergessen, wem sie ihn verdankt, und diese Geschichte hier erfüllt sie mit einer düsteren Befriedigung. Nach anfänglichem Zögern – was kümmern sie die Eheprobleme im Hause Leckebusch? – beginnt sie das Gespräch hierhin und dahin zu leiten und unauffällig in alle Ecken zu lenken, in denen sie häuslichen Unrat vermutet, bis die professorale Psyche bis in den letzten Winkel ausgeleckt vor ihr liegt. Und während Leckebusch nach dieser tour de force fast übergangslos in Tiefschlaf verfällt, wählt sie Elisabeths Nummer, um bewusst einsilbig, mit leicht kratziger Stimme, die vieles offen lässt, ins Telefon zu hauchen: »Holen Sie sich Ihren Mann aus meinem Bett, sonst rufe ich die Polizei.«
Patri-Arsch
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―Kann mir mal einer verraten, was das jetzt soll?
Leckebusch schlafend, ein Sack, leise wimmernd, auf dem Kanapee abgeworfen, auf und um ihn herum verstreutes Bettzeug, als habe Elisabeth seine eheliche Restexistenz auf den kleinstmöglichen Platz zusammendrängen wollen: die Tochter, heimgekehrt, findet nicht gut, was sie da vorfindet. Aber keine Instanz ist da, die Aufschluss über das Vorgefallene geben könnte. Also zeigt Charlie der elterlichen Suite den Vogel und verschwindet, wie sie gekommen ist, nicht ohne dem Kühlschrank eine Flasche Champagner zu entnehmen, denn sie erwartet heute Nachmittag noch Besuch.
Lange verweilt Katze Ina vor dem menschlichen Trümmerhaufen, mit hochgezogenem Buckel und steifem Schwanz, bevor sie ihn fallen lässt und ebenfalls in die Küche verschwindet. Sie hat viel Elend in ihrem kurzen Leben gesehen, aber das hier … ist unwürdig. Ina hat einen wachen Sinn für Würde, seit langem wundert sie sich darüber, dass Menschen sie mit ihrer Kleidung ablegen können, aber so, die Straßenschuhe zwischen den Polstern, um von allem anderen nicht zu reden… Ihr messerscharfer Verstand verrät ihr, dass große Veränderungen bevorstehen, bevor er, ein Schweizer Taschenmesser, zusammenklappt und die ungebremste Jagd auf Gerüche freigibt.
Patri-Arsch
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Entwurf einer jungen Frau angesichts elterlicher Querelen
Und es stört sie doch. Leckebusch über das Wohnzimmersofa ausgekippt wie eine Altkleiderfuhre, das gehört sich nicht, das ist peinlich, geschmacklos sowieso, darüber muss man erst gar nicht reden. Dass man eigentlich nicht darüber reden kann, stört am meisten, es verklebt das Gehirn, mit der Erinnerung an diesen Anblick im Kopf herumzulaufen. Sie könnte Elisabeth anrufen und sie zur Rede stellen, aber die Stimme sagt ihr, das wäre nicht gut, und sie ist es gewöhnt, sich ihr bedingungslos unterzuordnen. Charlotte kennt diese Stimme seit ihrer Kindheit. Sie sagt ihr nicht, was zu tun sei, sie warnt sie, wann immer ihr Ich einen Aufschwung nimmt, vor dem zwangsläufig folgenden Absturz. Nein, es ist nicht die Stimme Elisabeths, eher die des eigenen gnadenlosen Realitätssinns, Teil eines ausgedehnten Warnsystems, das in Aktion tritt, sobald sie Wut über Elisabeths einsame Entscheidungen überkommt. Wut? Ja gewiss, Wut. Charlotte – oder Charlie, wie sie im Alltag genannt wird – hat nah an der Wut gebaut, ein Relikt aus der Kindheit, ganz ohne Zweifel, und es hat sich als notwendig erwiesen, dem einen Riegel vorzuschieben. Auch heute war die erste Reaktion Wut, Wut über den würdelos ausgestreckten Vater, Wut über Elisabeth, die ihn offenkundig so hinterlassen hatte, Wut über sich selbst, weil sie schon wusste, dass sie nicht eingreifen würde, Wut über die unbekannte Person dort draußen, die diesen Vorfall veranlasst hatte – ein bisschen viel Wut, die da zustande kam, kein Wunder, dass die Stimme ansprang und sich ungefragt einmischte.
Patri-Arsch
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Warum versteift sich Charlotte darauf, just die Momente, in denen sie brav unter die Kuppel der mütterlichen Entscheidungen zurückklettert, vor sich als selbstbestimmt zu deklarieren? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste lautet: Elisabeths Erziehungssystem war von Anfang an darauf angelegt, die Akte der Unterwerfung seitens der Tochter als Akte der Selbstbestimmung erscheinen zu lassen, ganz nach dem Motto: ›Sag, was du willst, aber sag es so lange, bis es dem entspricht, was ich will.‹ Im Lauf der Jahre hat sich daraus ein schwer aufzubrechendes Gefühl für das Richtige entwickelt, dem andererseits eine gewisse Taubheit entspricht: sie könnte, wenn sie wollte, tiefer in sich hinein lauschen, aber sie weiß bereits, dass dort nichts weiter lauert als Scherereien oder, schlimmer, wirkliche Amnesie, über die sie mit ihren wechselnden Freunden ausufernde Gespräche führt. Die zweite lautet: Seit sie denken kann, wartet Leckebusch geduldig darauf, dass sie aus der mütterlichen Umgarnung erwacht und wenigstens ihm die Gelegenheit eines freien Umgangs einräumt. Freimütig hat er im Lauf der Jahre diesen kitzligen Punkt immer aufs Neue angesprochen. Oft genug ist sie in seine Arme gestürzt, nur um gleich darauf abrupt kehrtzumachen und zur Mutter zurückzukehren. Leckebusch gilt nicht, er ist durchgestrichen in dieser kleinen Familie wie nur irgendetwas im akademischen Scham-Betrieb, wo Leckebusch weit besser damit zurechtkommt als vis-à-vis seiner Teil-Annullierung bei der nachwachsenden Generation. Denn so wenig Elisabeth einen Patriarchen Leckebusch als ernste Bedrohung empfindet, so sehr fürchtet sie ihn beim Kinde: Charlotte sollte, das hatte sie sich spätestens in der Stunde der Geburt geschworen, frei von männlicher Dominanz aufwachsen, und die beginnt nun einmal, wie jeder weiß, bei der Vaterbindung.
Patri-Arsch
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Nein, eingreifen kann Charlotte nicht
… sie kann den Vater nicht wecken, sie kann ihm nicht helfen, in peinlicher Lage eine gewisse Rest-Würde zu bewahren, sie kann die Mutter nicht zur Rede stellen, sie kann … sie kann … nichts weiter, als den Dingen ihren Lauf lassen. Das ist wenig, aber es entspricht dem, was sie wirklich kann oder können zu müssen glaubt, denn von Können ist dabei wenig die Rede. Und dennoch kann und muss sie können, vor allem im Studium, das ein wenig darniederliegt, weil sie gerade eine Motivationskrise durchläuft, von der ihre Mutter nichts weiß, geschweige denn Leckebusch, der Wartevater.
Er ist es wirklich, er hat die Krankheit zum Tode. Nicht wie Maler Mompti, den sie täglich ins Nichts stürzt, ehe sie ihn, in einem letzten unentrinnbaren Zangenangriff, von sich oder vom Ich – wer weiß das schon? – erlöst, stattdessen als schwärende Wunde, als Wunde, die sich nicht schließt und nach dem Gral verlangt. Ein Zyniker würde sagen: »M hat den Gral.« Aber was würde ein Zyniker nicht alles sagen, um seine Daseinsbürde zu mindern?
—Zyniker bin ich selbst –
so und nicht anders redet M. So redet er alle Tage, liebend gern würde er die Nächte durchreden, verschlösse ihm nicht der Schlaf gelegentlich den Mund und ließe ihn bloß im Traum fortreden – fort von sich, fort von den Verhältnissen, fort von den Eifersüchteleien, die ein Leben lang zwischen ihm und den getreuen Paladinen der Staatsmacht herrschten, die nun nicht mehr existiert. Ist das wahr? Kann Staatsmacht diffundieren? Konnte diese Staatsmacht diffundieren? Wie konnte diese Staatsmacht diffundieren?
M bekommt Besuch
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M studiert die Frage, indem er redet. Reden ist seine Methode, er errichtet sich seine Bühne, wo immer er geht und steht – ein Mikrofon hier, eine verwandte Seele dort, ein Genosse, eine Genossin … eine liebe… Aus der Uckermark (hört, hört!) streben sie herein in die verblichene Hauptstadt des in Aufbau-Ratlosigkeit und, da ist M sich ganz sicher, braunkohlebedingter Endzeit-Armut untergegangenen Reichstrümmerhaufens Ost, der als Front-Teil eines zuletzt jäh zerfallenen Riesenreichs ein paar lumpige Jahrzehnte lang Zähne zeigen durfte, bald wieder aufgeputzte Hauptstadt eines alt-neuen Landes namens Youtopyeah:
—junge Frauen mit feinen blonden, leicht strähnigen Haaren, die hageren Gliedmaßen durchgekämmt vom Sturm der Ereignisse, ehrgeizig bis zum Anschlag, Sturmgewehre der neuen Gesellschaft, auf alles gerichtet, was Sicherheit und Fortkommen in unruhigen Zeiten verheißt, die gestrigen Hierarchien noch fest im Kopf und fester im Herzen, falls dieser Ausdruck hier statthaft ist. Wen kümmern Herzen? Herzen… Dieser liberale Idiot: Er oder Ich.
Das ist keine Frage.
M bekommt Besuch
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M bekommt Besuch
Noch immer schreckt er ›ein bissel‹ zusammen, eine
Gewohnheit, die früher gute Dienste geleistet hat und die abzulegen ihm nicht ziemlich erscheint, ihm nicht
und seiner verlotterten Psyche auch nicht angesichts dessen, was ihr, den Todesritt jäh unterbrechend, bevorsteht: es bleibt ja auch eine Auszeichnung, so undurchsichtigen Besuch aus der feindlichen Medienwelt zu empfangen,
die er übrigens immer geliebt hat, so wie sie ihn, jedenfalls hat sie
sich nie lumpen lassen und er auch nicht. Der Feind hat gesiegt. Das
ist zwar, historisch gesehen, ein Irrtum, der über kurz oder lang
korrigiert werden wird, aber im Moment eine Tatsache, schwer zu
bestreiten und für ihn, realistisch gesprochen, kaum überlebbar. Auf seinem Grab wird stehen, in Stein
gemeißelt (kein Marmor!), fein ziseliert:
GESTORBEN IM KAPITALISMUS
Nur den Intendanten-Goldgrund lehnt er ab. Was bedeutet
es, im Kapitalismus zu sterben? Fad fühlt es sich an. So jedenfalls würde
er dies ins Mikrofon sprechen, nuschelnd, mit einem kleinen
metallischen Aufblitzen in der Stimme. In Fadheiten kennt er sich aus.
Shocking das Ganze, aber das
Leben in seiner fulminanten Ausdehnung nimmt dem Schock seine
Schärfe. Nicht das Leben ist fad, sondern das Ende, jedenfalls ist es
das Fadeste von allem, man hätte mehr erwartet, man wollte sein Werk
vollenden und jetzt das. Nach all den Bühnentoden sich einen neuen
ausdenken, ganz für sich, welche Verschwendung ist das denn?
—Denk dir etwas aus, hat er seiner Sirene gesteckt, aber mach schnell, ich bin
ungeduldig, ich bin keiner, der einen Plan lange stehenlässt. Lass
mich nicht im Regen stehen, mach mich nicht nass, ich will trocken
davonkommen. Der nasse Tod taugt nicht für die Bühne, das macht den
Ophelienstoff so … unvollkommen. Wenn ich weg bin, führst du mein
Tagebuch weiter, ich erklär dir noch rechtzeitig wie. Ich will nicht,
dass man es mir ins Grab legt, ich mag den Gedanken nicht, dass eine
Seite von mir verfault. Du wirst das schon richtigmachen, du kannst
das. Kopf hoch! Hier, das Kinn, es muss stärker ins Licht, das hebt die
ganze Figur. Schade, dass ich den Chip im Kopf nicht mehr erlebe, ich
hätte gern den ersten gehabt, schon um jeden zu kontrollieren, den man
nach mir anschließt. Sie haben es vermasselt. Es ist vorbei, sie können
sich ihren Chip in die Haare schmieren. So konventionell abkratzen, was
wollen diese Typen von mir? Schmeiß sie raus, wenn ich dir ein
Handzeichen gebe, ich möchte ganz ruhig bleiben, ganz Kamera, wenn sich
das alles entfernt. Eine lange Kamerafahrt, eigentlich bin ich DEFA.
Oder Hollywood. Oder DEFA. Das Theater ist ein Irrtum. Schreib das auf:
Das Theater ist ein Irrtum.
M bekommt Besuch
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—Meine Herren…! Wo bleibt die Dame? Sie hätten die Dame mitbringen
sollen. Dann sähe es nicht so nach Hinrichtungskommando aus. Wollen
Sie mich abführen? Hier, meine Hände, ich liefere mich Ihnen aus.
Was machen wir jetzt? Ich befinde mich in Ihrer Hand und Sie begeben
sich in die meinen. Wie ich sehe, wollen Sie, dass die Pythia weiter
spuckt. Sie sind meine Geiseln, ich erzähle Ihnen was vom Strick.
Ich persönlich liebe Geschichten vom Strick, sie erzählen uns etwas
über unsere Gattung. Die wesentlichen Fragen sind Gattungsfragen.
Nein, schreiben Sie ruhig. Die Gattung ist das … Ende, das in uns
steckt. Vergessen Sie nicht, wir sind hier under cover. Ich
liebe diesen angelsächsischen Nonsens. Ich liebe ihn sehr. Die
deutsche Sprache ist nicht weltfähig, damit fängt es an. Der
deutsche Welteroberungsdrang verpufft ins Leere. Dabei ist er
gegeben, wie der angelsächsische oder der russische, er ist
Fakt. Sie können Hitler nicht auf die Bühne stellen. Warum? Er ist
überall drin. Er erwartet Sie und Sie bringen ihn mit, denn dort
steckt er auch. Aber vergessen wir Hitler. Er ist nicht besonders
deutsch. Jedenfalls nicht preußisch. Hitler ist eine Projektion, so
wie Preußen. Oder Stalin. Das meinte ich mit Gattungsfragen. Das
Deutsche hat Drang, ich meine das jetzt auch als Sprache.
Gegenstände sind nicht so wichtig, das verstehen die Leute nicht, es
bringt ihnen auch niemand bei. Aber sie bringen es mit, es muss nur
aus ihnen heraus. Deutsche Panzer in Charkow, der Russe in Berlin,
die russische Flagge auf dem Reichstag … sie haben den Reichstag
fürs Reich genommen, das heißt, nichts für nichts, eine leere Hülle um eine
Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert, und dafür mit zwanzig Millionen toter
Soldaten bezahlt, sowjetischer, die anderen nicht gezählt. Aber das Morden, pardon, ist eine andere Sache, das
kommt von den bösen Häusern… Das neunzehnte Jahrhundert hat eine Industrie draus
gemacht, die Deutschen kamen, wie immer, zu spät, daher die
Brutalität, und wie immer die unzureichende Basis. Wie? Ich sagte
Basis. Diesem Land fehlt die Basis. Deshalb verpuffen hier die
Ideen. Ich bin Theatermann, ich kann das beurteilen. Wenn ich sage
›Ich maße mir da kein Urteil an‹, dann befinde ich mich bereits
auf der Bühne. Reicht das für die Aufnahme? Wenn Sie noch ein paar
Minuten brauchen, bitte. Ich bin etwas kurzatmig neuerdings, ich muss
jetzt eine rauchen. Rauchen Sie mit?
M bekommt Besuch
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—Sie wollen, dass ich Ihnen die Dinge erkläre. Ich sage Ihnen, da
gibt es nichts zu erklären. Es ist eine Frage der Ressourcen. Russland
ist ein Rohstofflager, größer als alle. Was fehlt, ist Geld.
Sozialismus ist Rohstoffe ohne Geld. Deshalb der primitive Umgang mit
der menschlichen Arbeitskraft, die grobe Verschwendung und dann die
lange Agonie. Jetzt strömt das Geld und die Rohstoffe werden lebendig,
sie führen Dramen auf, die wir bisher schmerzlich vermissten. Der
Westen will ausbeuten, der Russe zieht ihn auf sein Terrain und
verwandelt ihn in etwas anderes. Es sieht nicht gut aus für den Westen.
Er ist in die Falle gegangen. Was die Leute Sozialismus nennen, gab es
nur zwischen Eisenach und Frankfurt/Oder. Der Rest ist Russland. Die
Billionen des Westens küssen Russland wach, was dann passiert, weiß
keiner. Wissen Sie’s? Ich sage Ihnen, was passiert. Die Kapitalisten
glauben, sie ersetzen den Plan durch Initiative. Dabei gab es nirgendwo
auf der Welt soviel Initiative wie im Sozialismus. Irgendjemand musste
schließlich verhindern, dass das System kollabiert. Diese Initiative
liegt jetzt brach. Sie lässt sich nicht integrieren, das ist der Punkt.
Alle Welt glaubt, Sozialismus heißt Plan. Er mag so geheißen haben,
aber sein Wesen ist Chaos. Diese Kräfte unter der Decke des impotenten
Plans sind nicht programmierbar. Im bürgerlichen Staat wird daraus
sofort organisierte Kriminalität. Sie zieht jetzt in die westlichen
Zentren ein. Meine Hände zittern, glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich
rede. Ich rede von Krebs. Sehen Sie meine Hände an, Sie werden nicht
glauben, was hier geschieht. Ein Stück möchte ich noch schreiben:
Die zitternden Hände. Ich werde es nicht mehr tun, aber es
steckt in mir drin. Es steckt in uns allen. Es ist die Gattung, die
herauswill. Glauben Sie mir … ich bin erschöpft. Nein, glauben Sie mir
kein Wort. Ich bin am Ende.
M bekommt Besuch
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—Die Stärke des Ostens hieß Desinformation und der Westen kauft sie
ihm ab. Stellen Sie das Mikrofon ab, dann können wir uns unterhalten.
Nein, Bilder sind erlaubt. Wo waren wir…? So wie Sie mich umtänzeln, so
umtänzeln Ihre Konzerne zu dieser Stunde das Millionenheer ausgebuffter
Desinformations-Spezialisten. Nie waren sie so billig. Die Regierungen
haben ihre Fischzüge getätigt, aber den Riesenanteil schluckt die
Privatwirtschaft. Das wird den Kapitalismus revolutionieren. Es wird
ihn zugrunde richten und darin besteht die Revolution. Revolution
bedeutet Leid, viel Leid. Nichts davon will der Westen wissen. Glauben
Sie einem, der sich da auskennt: Man muss nichts wissen, um Erfahrungen
zu tätigen. Nichts schmerzt so erbärmlich wie die Farce. Und Sie werden
die Farce abbekommen, bis ins dritte Glied, wenn es nach der
sogenannten Geschichte geht, sie wird durch Sie und Ihre Kindeskinder
hindurchlaufen wie … ein Kübel Farbe. Der Westen wird Farbe saufen und
das wird sein Schicksal sein. Nein, ich drohe nicht mit Ideologie.
Eigentlich drohe ich gar nicht, ich lese nur … Schatten. Der Schatten
des Erfolgs ist der Misserfolg, er wird den Laden überholen, ohne
einzuholen, immer den entscheidenden Schritt voraus. Da marschieren sie
schon: vorneweg die Bösartigkeit, gefolgt von der Feigheit, dahinter
die Denunziationswut, dahinter der Verfügungsrausch, dahinter die
Identität, die das Banner verleiht – sie genießen den Kredit, den ihnen
die Verhältnisse zuschieben, die guten alten Verhältnisse. Kennen Sie
sich aus mit Verhältnissen? Nur wer aus den Lagern kommt, kennt
Verhältnisse. Alles andere ist bloß Geplärr. Sie werden die Mauer
wieder aufbauen, in den Köpfen, wo denn sonst, stabiler denn je zuvor,
um eine Erfahrung reicher: die Erfahrung der Freiwilligkeit … Sie
staunen, Sie halten mich für den Clown vom Rosa-Luxemburg-Platz, dabei
bin ich nur ein simpler Platzhalter, ich halte den Platz frei, den
Platz der Freiheit, die ganz andere sich nehmen werden, wofür?
Wofür nimmt man Menschen die Freiheit? Um sie für sich arbeiten zu
lassen? Das ist altes Denken, ganz altes Denken. Es geht um Software.
Sehen Sie meinen Finger? Er kreist in Ihrem Gehirn. Spüren Sie es
schon? Spüren lassen … das ist Macht. Sowjetmacht. Die Macht der
Arbeiterklasse. Lachen Sie … das ist meine Macht, Clowns-Macht, und
jetzt ziehe ich sie weg.
M bekommt Besuch
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Klappe ––!
M räuspert sich. Im Bretterbetrieb, den sie noch immer Theater nennen, meldet sich so die
Majestät. Allein diese Medienleute, abgebrüht, latschen darüber
weg. Er muss schon krächzen, die Stimme verbiegen, bis sie kracht:
das, immerhin, ist Intonation.
Europa, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein unsern Luch und Truch, Wir wissen, genuch ist längst nicht genuch, Wir weben wir weben
Bei
Europa klappen sie gleich ihre Notebooks zu. Das ist Politiker-Kacke,
wen interessiert das? Mit Verlaub, ich bin Europäer. Jeden Zoll. Ich bin auch Winnetou, wenn Ihnen das besser behagt. Europa
hat sein Leiden emporgetrieben – der fruchtbare Urgrund, die
zerstörerische Hand, die grausame Wüste, genannt Intellekt, in der
das Unmögliche aufblüht, die Imagination des Homme de scène, der
vertikale Planet: Das muss doch in diese Gehirne hinein. Und wenn er
es einschrauben muss, Birne.
Ein Fluch dem Götzen, den sie sich erstreikt,
Die Partei, die Partei hat’s zeitig vergeigt;
Die hamnich umsonst Wir
kommen gegrölt,
Wir weben wir weben
Das klingt jetzt nach schwerem Ressentiment, aber: sie goutieren es. Sie
lachen. Einer macht sich Notizen, wahrscheinlich schreibt er gerade:
›M probt seine neue Rolle als Kritiker des hemmungslosen
Ost-Konsumismus‹ oder ähnlichen
Stuss. Es ist schön, der Verständnislosigkeit bei der Arbeit auf
die Finger zu schauen. Sie flitzen so munter dahin. Wiesel.
Unterbiete ich mich, legen sie eine Schippe drauf. Sie legen immer
noch eine Schippe drauf. Am Ende fällt alles runter. Dann sind sie weg.
Alteuropa, du Überlebens-Eunuch, wir weben wir weben dein Leichentuch, Wir stopfen hinein allen Luch und Truch, Wir weben wir weben
Jetzt
aber Schluss, bevor ich mich hier noch zum Heini mache. Alles hinaus!
Würden die Herrschaften… Oh ja bitte, eine Kopie vorab, das wäre
das Minimum. Ich lebe am Minimum, das trifft sich. In Kürze werde
ich nicht mehr sein, aber das ist ein anderes Stück und ich schreibe
noch keine Arien. Noch nicht. Wenn ich mir’s recht überlege, kommt
da bald eine Aufgabe auf Sie zu. Kleiner Fingerzeig: Spielen Sie
Lotto. Und zeigen Sie rechtzeitig Haltung.
Sie werden sie brauchen können.
FRAGER Professor Leckebusch, ich muss Sie etwas fragen, damit unsere Zuschauer sich ein Bild machen können: Wo waren Sie am Abend des neunten November 1989?
LECKEBUSCH Ich habe diese Frage erwartet. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Sie sie nicht gestellt hätten. Ich kann Ihnen das genau sagen: Ich war im Bett. Ich weiß das so genau, weil ich an diesem Abend mein Seminar ausfallen lassen musste, was ich persönlich immer als sehr ärgerlich empfinde. Ich betrachte es als Verrat an meinen Studenten, verstehen Sie? Meine Studenten verstehen das. An diesem Abend beging ich nach meinen eigenen Maßstäben Verrat. Das hört sich krass an, aber es beschreibt die Situation.
FRAGER An diesem Abend lagen Sie im Bett. Schliefen Sie? Ich meine natürlich: Bekamen Sie etwas von den Ereignissen mit?
LECKEBUSCH Von den Ereignissen? Wenn Sie das sagen: Ich hatte Fieber. Ich delirierte. In dieser Nacht war ich damit sicher nicht allein, falls Sie das meinen. (Hüstelt)
FRAGER Wenn Sie heute zurückblicken: Was bedeuten die Geschehnisse jener Nacht für Sie?
LECKEBUSCH Lassen sie mich ihre Frage richtig verstehen, bevor ich auf sie antworte: Meinen Sie für mich persönlich oder möchten Sie meine persönliche Auffassung in Bezug auf das hören, was damals geschah und was sich natürlich in keiner Weise auf die Nacht eingrenzen lässt, in der es seinen Anfang nahm? In gewisser Weise hat es ja nie aufgehört zu geschehen.
FRAGER Beides vielleicht?
LECKEBUSCH Es handelt sich um das größte Glück im Leben dieser Nation und es handelt sich um das größte Glück, das mir in meinem Leben widerfuhr.
FRAGER Könnten Sie das ein wenig präzisieren?
LECKEBUSCH Sie haben ein Recht darauf, diese Dinge so zu verstehen, wie sie geschehen sind. Wir alle haben ein Recht darauf, diese Dinge so zu verstehen, wie sie geschehen sind. Ich weiß nicht, ob wir bereits die innere Distanz aufbringen, um dieser Anforderung Genüge zu tun, die ich eine geistige nennen möchte. Ich sehe Ratlosigkeit auf Ihrem Gesicht und möchte mich präzisieren. Die Anforderung, die ich eine geistige nenne, besitzt eine innere Dimension und eine äußere. Die innere ist schnell benannt: uns allen – oder genauer: vielen von uns – stand damals die Freude ins Gesicht geschrieben. Das ist ein Ausdruck tiefen Glücks, den man nicht kleinreden sollte. Er kam aus einem Inneren, das dem Handelnden nicht einfach zu Diensten ist, so wie es sich dem Denkenden nicht von sich aus erschließt. Es kann aber in einer gegebenen Ausnahmesituation das Denken erfüllen –
FRAGER Und Sie meinen...
LECKEBUSCH Ich halte das für keine Frage des Meinens. Aber ich verstehe, was Sie sagen wollen. Der abendländische Mensch hat dafür früh das Wort ›Kairos‹ gefunden. Ich lege Wert auf das Wort ›gefunden‹. Tatsächlich handelt es sich um einen Fund, um eine Findung, um ganz genau zu sein, und nicht um eine Erfindung, jedenfalls in dem Sinn, in dem wir das Wort heute gebrauchen. Die innere Dimension des Geschehens, das unsere Aufmerksamkeit fordert, wird dadurch bestimmt, ob und wie wir heute den Kairos zu denken in der Lage und vielleicht überhaupt berechtigt –
FRAGER Und die äußere?
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LECKEBUSCH Ich rede von Anforderungen. Eine davon besteht darin, dass wir es schaffen, inneres und äußeres Geschehen in eine gemeinsame Perspektive zu rücken. Das ist überhaupt der Sinn von Distanz: Denk-Räume so zu dimensionieren, dass ein Inneres mit einem Äußeren zusammengeht, also ein ›Stand des Denkens‹ mit einem Ereignis, das die Zeitgenossen bewegt, und zwar so, dass darin etwas Geschichtliches aufblitzt, eine ›Sternstunde‹, wenn Sie so wollen.
FRAGER Unsere Zuschauer werden sich fragen: Wo bleibt die Klarheit, nach der jedes verantwortliche Handeln in einer solchen Lage verlangt, wenn der Sinn des Geschehens verhüllt ist und sich nur über die von Ihnen eingeforderte Distanz erschließt? Diese Distanz ist ja, wenn ich Sie recht verstehe, nicht vergleichbar mit dem Abstand zu den Dingen, den ein Akteur braucht, um Kontrollverlust zu vermeiden.
LECKEBUSCH Sie sprechen etwas an, was ich unter die Paradoxa der menschlichen Existenz zähle. Nur der ganz Blinde kann ein historisch erfolgreicher Akteur sein. Aber er muss über einen durchdringenden Verstand verfügen.
FRAGER Haben Sie in jener Zeit einen solchen Verstand am Werk gesehen?
LECKEBUSCH Anflüge, mein Lieber, Anflüge.
FRAGER Das klingt für mich so, als hätten Sie mehr erwartet.
LECKEBUSCH Aber das ist doch normal. Sehen Sie, in einer solchen Situation erwarten Sie alles. Das liegt einfach daran, dass Sie nicht wissen können, was Sie als Nächstes erwartet.
FRAGER Also doch Kontrollverlust?
LECKEBUSCH Eine Situation, in der alles ›drin‹ ist, kann auch außer Kontrolle geraten. Aber das meine ich gar nicht. Was Sie nicht wissen können, ist folgendes: In einem Krieg können Sie nicht alles, was getan werden muss, auf dem Marktplatz verhandeln. Die Menschen wissen das und verhalten sich rational paranoid: Sie vertrauen ihren Anführern so, als wüssten beide Seiten Bescheid. Nichts davon ist wahr. Bei einem historischen Umbruch, wie wir ihn erlebt haben, verhält es sich gerade umgekehrt: der Marktplatz verwandelt sich in ein Tribunal und die Regierenden werden danach beurteilt, ob ihr Handeln mit den Vorstellungen der Leute Schritt hält. Also müssen sie so handeln, als verstünden sie, was die Menge will. Das ist nicht so einfach und begünstigt Scharlatane. Aber es gibt auch gute Leute, kein Zweifel. Es ist nur schwer, sie zu erkennen.
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FRAGER Denn wovon lebt der Mensch?
LECKEBUSCH lächelt Nun, jedenfalls nicht, indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. Er lebt auch nicht, um es ganz deutlich zu sagen, davon, dass er vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist. Wir müssten uns vor diesen Sprüchen fürchten, nicht weil sie falsch wären, sondern weil sie die Unwahrheit verkünden, als sei sie die Wahrheit.
FRAGER Ist das nicht der Sinn von Satire?
LECKEBUSCH Sofern die Satire einen Sinn hat.
FRAGER Welchen Sinn kann Satire haben?
LECKEBUSCH Jedenfalls nicht den, die Welt zu verändern. Sie zeigt dem Einzelnen, was er von der Welt zu halten hat. Die angemessene Frage wäre daher: Was ist die Welt? Was ist die Welt der Satire? Wir sind heute geneigt, ›Welt‹ durch ›Gesellschaft‹ zu ersetzen und so zu tun, als sei beides dasselbe. Das ist nicht der Fall. Es gibt die physische Welt und es gibt die moralische Welt. Die moralische Welt ist die Welt der mores, der Sitten. Sittenverderbnis kann es nur geben, wenn man einen Maßstab für unverdorbene Sitten besitzt – die moralische Weltordnung. Ohne moralische Weltordnung ist Satire sinnlos. Sie ist sogar schädlich, weil sie die Moral als solche unter Verdacht stellt. Gesellschaft hingegen basiert nicht auf Moral, sondern auf Interessen.
FRAGER Vielleicht ist ja die Moral schädlich, weil sie dazu dient, die realen Interessen zu verschleiern.
LECKEBUSCH Warum nennen Sie die Interessen real und die Moral nicht? Gibt es irreale Interessen oder eine irreale Moral? Was soll das sein? Interessen sind Interessen und Moral ist Moral. Die Interessen geben die Handlungsziele vor und die Moral sorgt dafür, dass die Praktiken sich in einem vertretbaren Rahmen halten.
FRAGER Oder auch nicht.
LECKEBUSCH Oder auch nicht. Ist die Moral an ihren Verletzungen schuld? Das ist absurd.
FRAGER Es gibt auch Doppelmoral.
LECKEBUSCH Es gibt immer Doppelmoral. Es gibt den moralischen Imperativ, vor dem alle gleich sind, und es gibt die speziellen Regeln, die dafür sorgen, dass die eigene Gruppe bevorzugt wird. Das sind Überlebensregeln. Insofern kommt die Gemeinschaft vor der Moral: als Beutegemeinschaft. Hart, aber wahr. Doch das liegt der Gesellschaft, vorsichtig gesagt, voraus.
FRAGER Und wovon lebt der Mensch?
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LECKEBUSCH Er lebt davon, dass er seine Institutionen achtet.
FRAGER Essen kann er sie nicht.
LECKEBUSCH Er käme ohne sie gar nicht ans Essen. Insofern erübrigt sich dieser Einwand. Stattdessen haben wir es mit zwei großen Fragen zu tun. Die erste lautet: Wie kommt es zur Ausbildung von Institutionen? Die zweite lautet: Wodurch sind Institutionen stabil? Die erste Frage ist durch und durch naturalistisch, hier können Philosophen nur lernen. Die zweite betrifft die Philosophie als solche, denn sie berührt die Frage, wie Menschen denken. Oder, wenn wir die Menschen weglassen: Wie denkt Denken?
FRAGER Wie denkt Denken?
LECKEBUSCH lacht Versuchen Sie’s. Nehmen wir als Beispiel die Mauer. Man sollte meinen, eine Mauer ist eine Mauer, ein physisches Bauwerk, wenn Sie so wollen. Eine Mauer ist keine Institution. Aber die Mauer vor dem neunten November ist etwas völlig anderes als die Mauer danach. Lacht In einigen Köpfen soll sie ja heute noch stehen. Wie kann das sein? Darf das sein? Warum kann das nicht anders sein? Eine Mauer ist eine Mauer, sie hemmt den Schritt. Aber sie ist nicht unüberwindlich, wie sich am Abend des neunten November zeigte. Die Mauer vor dem neunten November ist eine Grenzanlage, brutal, schmutzig, unüberwindlich, es sei denn, Sie haben die passende Genehmigung. Sie ist in Betrieb.
FRAGER Es sind Menschen, die sie betreiben.
LECKEBUSCH Es sind Menschen, ja. Gehen wir die Kette der Verantwortlichen durch, dann stoßen wir auf unterschiedliche Motivationen.
FRAGER Was sagt uns das?
LECKEBUSCH Wenn Sie mit Ostberlinern reden, die nahe der Mauer wohnten, dann sagen die Ihnen: Wir haben sie nicht mehr gesehen. Wir hätten sie sehen müssen, Tag für Tag, aber sie war weg. Das alles war irgendwann nicht mehr vorhanden. Erst seit sie weg ist, sehen wir wieder hin.
FRAGER Ein bekannter Effekt.
LECKEBUSCH Ein bekannter Effekt. Er gilt natürlich auch für die Verantwortlichen. Der Hundeführer im Todesstreifen – mein Gott, welch ein Wort! – hat es mit einer anderen Mauer zu tun als der Mann im Politbüro, der sie am Ende mit einem öffentlichen Versprecher beseitigt. Keiner von ihnen sieht die eigentliche Mauer, das heißt das, was sie anrichtet. Es wird behauptet, das diene der Entlastung. Aber Entlastung ist eine biegsame Vokabel. Der Gedanke, dass Institutionen den Einzelnen durch Arbeitsteilung entlasten, ist grundverkehrt: Sie bürden ihm neue, höhere Lasten auf.
FRAGER Sie entlasten moralisch.
LECKEBUSCH Warum sagen Sie das? Ich sehe es Ihnen an: Sie meinen es ja nicht einmal ernst. Sie halten es genauso wie ich für falsche Entlastung. Damit sollte keiner vor Gericht durchkommen können. Ist es nicht so?
FRAGER Die Menschen machen sich gern etwas vor.
LECKEBUSCH Dann sollten wir uns hüten, es ihnen nachzumachen.
5
FRAGER Und wenn es doch funktioniert?
LECKEBUSCH Auch hier gilt: Die Institutionen sind die Moral. Funktional betrachtet, sind Routine und Moral dasselbe. Geahndet werden Ausfälle. Das ist natürlich ganz primitives Denken. Nein, die wirkliche Entlastung vollzieht sich im Bereich der Sorge. Um genau zu sein: im Bereich der Sorge um alles. Die Institution trägt mir auf, für meinen Bereich Sorge zu tragen. Warum sollte ich das tun, wenn ich nicht dafür belohnt würde? Trage du für deinen Bereich Sorge und kümmere dich um nichts weiter: Das ist der Grundmechanismus jeder Institution und er sorgt unmittelbar dafür, dass Institutionen stabil sind. Es bedarf einer ungewöhnlichen Anstrengung, in den Zustand der Sorge um alles zurückzukehren. Das können Einzelne leisten, aber eben nicht alle, schon gar nicht zur gleichen Zeit.
FRAGER Und wenn es passiert?
LECKEBUSCH Das wäre die Revolution.
FRAGER Also geht es doch?
LECKEBUSCH Moment mal. Die Revolution, an die Sie denken, richtet sich auf Institutionen. Den Kapitalismus abschaffen, gut und schön. Aber was tritt an seine Stelle? Die Mauer einreißen: ganz hervorragend. Aber was geschieht dann? Die Realität zeigt: alles Mögliche. Die Sorge – wenn wir den Gemütsustand von Revolutionären als Sorge bezeichnen wollen, aber hier geht es nicht ums Gemüt – bleibt institutionell: Was beengt unser Leben, was können wir besser einrichten, an welchen Schrauben können wir drehen, ohne dass uns das Gehäuse der Gesellschaft auf den Kopf fällt? Der letzte Punkt ist der entscheidende.
FRAGER Sie meinen –?
LECKEBUSCH Ich denke. Sie denken. Die umfassende Sorge, von der ich sprach, denkt, streng genommen, nicht. Sie gilt allem, wodurch der Einzelne lebt. Denken entsteht dort, wo es einem abgenommen wird.
FRAGER Das müssen Sie unseren Zuschauern erklären.
LECKEBUSCH Mit dem größten Vergnügen. Sie haben mich gefragt und ich antworte. Alles, was Sie mich fragen, könnte ich mich auch selbst fragen und vieles habe ich mich auch bereits gefragt, sonst fiele es mir schwer, Ihnen zu antworten. Natürlich habe ich mich gefragt, was Sie mich fragen würden, und mir Antworten überlegt. Dennoch lege ich Wert darauf, Ihnen zu antworten und keiner inneren Stimme, die mir Fragen vorlegt, die ich mir selbst ausgedacht habe. Verstehen Sie den Unterschied? Die umfassende Sorge macht diesen Unterschied nicht. Warum also sollte sie ein Gespräch imaginieren, das niemals stattfinden wird? Das Gespräch als Institution ersetzt die Intuition, das Einsehen, das ein jeder hat, aber es löscht sie nicht aus. Es stellt ihr Aufgaben, die sie dann auch löst. Die umfassende Sorge sieht sich von Aufgaben umstellt, die sie teils lösen, teils nicht lösen kann. Nur eines kann sie nicht: Aufgaben delegieren.
FRAGER Das nennen Sie Denken?
LECKEBUSCH Nicht ganz. Die Rede vom Abnehmen ist ja doppeldeutig oder, besser gesagt, doppelzüngig. Wenn ich sage, Denken entsteht dort, wo es einem abgenommen wird, heißt das auch: Denken entsteht dort, wo es in ein Außenverhältnis eintritt. Dadurch entsteht Entlastung. Also: Sie fragen, ich antworte. Sie verstehen, ich habe Fragen. Mein Gedankengang ist zu Ende, Ihrer beginnt. Innen-außen, außen-innen, klipp-klapp. Nur so kommen wir weiter.
6
FRAGER Herr Leckebusch, wo schlägt ihr Herz?
LECKEBUSCH lacht Im Zweifel links. Hand aufs Herz, das war es doch, was Sie hören wollten. Oder täusche ich mich da?
FRAGER Ich gebe zu, ich hätte diese Antwort nicht so in dieser Direktheit erwartet.
LECKEBUSCH Was erwarten Sie? Der Germanist Walter Benjamin hat gegen Ende der Zwanziger Jahre den Satz geprägt: Links hatte noch alles sich zu enträtseln. Er ist zum geflügelten Wort geworden, doch wenige kennen die Fortsetzung, in der es dann heißt, rechts sei es schon vorzeiten, dieses ›es‹ sollte uns noch beschäftigen. Sich selbst nennt er übrigens die Schwelle, über der – und jetzt hören Sie genau zu – die unnennbaren Boten schwarz und weiß in den Lüften tauschten. Das Schwarzweißspiel ist uns sehr vertraut, vertrauter als die Sprache dieses Textes, der poetisiert, wo es nichts zu poetisieren gibt, es sei denn, man hält es mit den Scharzweißmalern. Benjamin kommt aus dem konservativen Kulturmilieu, er geht in der Folge weit nach links, das beschreibt die Richtung dieses Textes, er verät aber auch, dass er links nicht zu Hause ist und sich im Grunde nicht auskennt. Das hat Adorno schon so gesehen und jeder Marxist kann es Ihnen spielend bestätigen.
FRAGER Sie meinen damit...
LECKEBUSCH Ganz recht, diesmal meine ich wirklich. Ich komme von links, aus dem linken Raum, Sie können das biographisch nehmen, auch topographisch, selbst geographisch, und die Zweifel haben mich aufgescheucht, auf den Weg gebracht, wenn Sie so wollen, wie so viele meiner Generation und meiner Herkunft.
FRAGER Ihr Weg geht demnach von links nach rechts.
LECKEBUSCH Nein, das geht er nicht. ›Im Zweifel links‹ bedeutet ja nicht, dass Sie sich im Zweifelsfall links oder für links entscheiden – das gibt es auch, aber es ist die Formel der Dummköpfe –, sondern dass das Herz links schlägt und Sie im Zweifel darüber lässt, was zu tun sei. Die historische Aufgabe der Linken war es, Zweifel zu säen. Daran hat sie sich gründlich vergangen und deshalb gilt sie zu Recht als desavouiert.
FRAGER Was sich ändern kann.
LECKEBUSCH Was sich schnell ändern kann. Wenn Sie genau hinsehen, wissen Sie, dass sie sich nur duckt.
FRAGER Erkennen Sie da eine Gefahr?
LECKEBUSCH Gefahren sind dazu da, erkannt zu werden, andernfalls wären sie keine. Das schließt das Unglück nicht aus.
7
FRAGER Kommen wir zum es.
LECKEBUSCH Es spukt in unserer Sprache herum – nicht nur in unserer, aber hier besonders –, so dass man sich fragen kann, ob es nicht der geheime Sinngeber all der Formeln, mit denen wir Wirklichkeit zu fassen beanspruchen? ›Es gibt‹ – ›es spukt‹: Ist der Unterschied wirklich so groß? Wenn ja, worin besteht er genau? Als Philosoph muss ich sagen: Er ist nicht sehr groß. Ich muss aber auch sagen: Er könnte größer nicht sein.
FRAGER Der kleinste Unterschied ist der größte.
LECKEBUSCH Es ist der Unterschied zwischen rechts und links. ›Es gibt‹ ist die Sprache der Realität, wer sich ihrer bedient, gilt als rechts. ›Es spukt‹ – lesen Sie das Kommunistische Manifest und Sie verstehen, was ich meine. Genau genommen ist die Linke ein Spuk, ein Gespenst, eine Erscheinung. Überall, wo sie Wirklichkeit zu gestalten beansprucht, genügt es, das Licht anzudrehen, und Sie stoßen auf rechte, überdies recht deprimierende Verhältnisse.
FRAGER Die Realität steht rechts?
LECKEBUSCH Die Realität? Es gibt sie und sie stellt sich her. Das ist ein reflexiver Vorgang. Tiere haben keine Realität. Sie können also sagen: Die Realität ist ein Spuk. Ein Gedankenspuk meinetwegen. Aber ein Spuk. ›Spuk‹ bedeutet: nichts ist gewiss, nichts ist fixiert, nichts hinreichend ausgeleuchtet. Aber das ist natürlich Quatsch. Also bleibt nur die Formel übrig: Es spukt in der Realität. Damit müssen wir zurechtkommen. Damit kommen wir übrigens blendend zurecht. Genauso können wir sagen: Es gibt keine Realität, aber in der Realität gibt es dies und das. Die Realität ist ein Stellvertreter.
FRAGER Stellvertreter wofür?
LECKEBUSCH lacht Na fürs es. Für das Absolute. Für die Antimaterie. Für das, was es immer noch zu entdecken gibt. Damit hätten wir übrigens die drei wesentlichen Formeln der Neuzeit beisammen.
FRAGER Mit der Stellvertretung hat die Linke immer ihre Schwierigkeiten gehabt. Ist das ein reaktionärer Begriff?
LECKEBUSCH Wenn wir genau wissen, was wir damit sagen: ja. Er gibt uns die Antwort auf eine unmögliche Frage: Geht es nicht direkt? Es geht nirgends direkt. Was wir Existenz nennen, ist die Antwort auf die Unmöglichkeit zu sein. Was wir linke Existenz nennen, ist die Antwort auf die Unmöglichkeit, rechts zu zu sein. Das mag Sie erstaunen, aber wer von sich behauptet, ein Rechter zu sein – was nicht viele tun, und wenn sie es tun, dann meist in provokativer Absicht –, der hat das Rechtssein nicht begriffen. Im Grunde begeht er einen Verrat.
FRAGER Weil er ein verkappter Linker ist?
LECKEBUSCH Weil jeder ein verkappter Rechter ist. Wer von sich behauptet, links zu sein, der behauptet Unfug. Wer von sich behauptet, rechts zu sein, der behauptet im Grunde: Ich bin bei euch. Das ist die Christus-Formel, also nur begrenzt alltagstauglich. Wer ist Christus? Er ist der Mittler.
7
FRAGER Da Sie vom Mittler sprechen: Was verstehen Sie unter Mitte? Ist da etwas, um das man sich kümmern muss?
LECKEBUSCH Ich spreche sehr ungern von der Mitte. Zunächst einmal: Alles ist Mitte. Was wir als Ränder zu bezeichnen uns angewöhnt haben, sind in der Regel Standpunkte, die wir nicht teilen. Die Vorstellung, dass alle in der Mitte zusammenkommen oder zusammenkommen sollten, ist absurd. Ein Quäntchen Wahrheit allerdings schwingt dabei mit. Die Mitte ist das, was um keinen Preis verlorengehen darf.
FRAGER Ist das eine Definition? Soll das heißen: Die Mitte hat keinen Preis?
LECKEBUSCH Eine Definition und eine Feststellung. Die Mitte ist immer zugleich Definiens und Definiendum, Definierendes und Definiertes. Insofern ist sie auch immer leer. Sie kennen die leere Mitte aus der Kunst, wo sie das Bild strukturiert, ohne in besonderer Weise in Erscheinung zu treten. Das ist schon die Frage, die durch den Mittler gestellt wird: Tritt er als Person in Erscheinung oder tritt er zurück und ermöglicht so die Person? Doch Mitte und Mittler sind nicht dasselbe.
FRAGER Was unterscheidet sie?
LECKEBUSCH Zunächst: das grammatische Geschlecht. lacht Was verstehen wir unter Geschlecht? Das Geschlecht gibt uns eine Vorstellung von einer tief im Sein verankerten Arbeitsteilung. Da haben Sie das Reaktionäre, über das wir vorhin sprachen. Arbeitsteilung setzt voraus, dass es Arbeit gibt. Es gibt also immer Arbeit. Genau genommen gibt es nichts außer Arbeit. Was wir freie Zeit nennen, ist in Wirklichkeit Arbeitsteilung. Etwas nimmt sich zurück, damit etwas zum Zug kommt. Aber wenn es Arbeit gibt, dann gibt es auch die Frage nach dem Subjekt. Das hängt ganz ursächlich zusammen. Wo die Mitte schweigt, redet der Mittler. Et vice versa. Das setzt natürlich voraus, dass wir beide als redende Instanzen ins Bild rücken. Es ist ein Bild, aber ein passendes.
FRAGER Das werden einige unserer Zuschauer...
LECKEBUSCH ... anders sehen. Das ist ihr gutes Recht. Lassen Sie mich noch ergänzen: Die Vorstellung vom Mittler ist in unserer Kultur fest verankert. Nehmen Sie sie heraus und Sie erhalten ein Tohuwabohu von Vorstellungen, denen der gemeinsame Sinn abhanden gekommen ist. Viele sehen es natürlich so, aber ich denke, sie täuschen sich. Diese Kultur ist nicht am Ende und sie kommt zu keinem Ende. In gewisser Weise kommt sie vom Ende her – sie ist das Denken des Endes und daher ein immerwährender Anfang. »Lasst uns anfangen«: das ist die Formel Europas. Es kann keine andere geben.
Um ein Haar wäre er achtlos vorbeigegangen. Von einem Plakat springt ihn sein Name an: in staksiger Schrift, mit rotem Filz nachgezogen, unwillkürlich dreht sich das Auge nach links, ohne gleich den Sinn des verworrenen Arrangements aus handbeschriebenem Packpapier, an Kordeln befestigten Puppen und Teddybären verschiedener Größe sowie an langen Schnüren aufgehängten, knapp über dem Boden baumelnden Trillerpfeifen zu durchschauen.
LECKEBUSCH, HUSCH-HUSCH
Stehen bleibt der Leckebusch. Seine Neugier ist erwacht.
Schon fischt die Hand nach der Brille. Fort mit dem Nebel! Flink putzt er die Gläser. Erst das linke, dann das rechte. Wie das Ritual es befiehlt! Will mit der Lektüre beginnen, doch eine Macht, höher als alle Instanzen, kreuzt seinen Weg.
Woher kommen diese Frauen? Wer hat sie hereingebracht?
Das also war der Zweck der Trillerpfeifen. Ein Höllenspektakel! Müssen wohl Studentinnen sein. Wen mag das meinen? Noch immer vermag er den Grund des Aufruhrs nicht zu erkennen. Mit einem Seitenblick entdeckt er den zu keinem Gruß aufgelegten, rasch in Richtung Hörsaal enteilenden Kollegen Dassler. Sie beide sind spät dran.
Über beide Ohren
2
›Missbrauch‹ heißt das zweite Wort, das ihm zu entziffern gelingt. Ein Fall von Vergewaltigung auf dem Campus? Das war bisher so nicht Usus. Die Universitätsleitung sollte ein Exempel statuieren. Aufmunternd nickt er den Damen zu. Nun, das scheint kein guter Einfall gewesen zu sein. Gleich verdoppelt sich die Lautstärke des Pfeifkonzerts und Teddybären prasseln auf ihn ein. Allmählich dämmert ihm, dass die Veranstaltung, in durchaus feindseliger Absicht, ihm gilt, ihm ganz allein, wenn man davon absieht, dass mit ihm die Männerwelt in toto, jedenfalls ihr alter weißer Teil, am Pranger steht. Aber warum? Ein wenig dröhnt sein Kopf, ein schwacher Widerschein der letzthin durchwachten Nacht glimmt in ihm auf, aber das kann doch nicht, das wird doch nicht … Liz? Ausgeschlossen? Nie und nimmer trägt das hier ihre Handschrift.
Über beide Ohren
3
Elisabeth? Kann ihr Rachegelüst so absurde Höhen erklimmen? Unzucht mit Abhängigen? Oder hat eine von Liz’ Freundinnen etwas mitbekommen und sich selbst und ihren Kommilitoninnen die ganz große Schau genehmigt? Es dürfte nicht ratsam sein, diese Fragen an einem solchen Ort zu stellen. Leckebusch, von einem plötzlichen Herzrasen heimgesucht, beschleunigt den Schritt. Er ist wirklich spät dran, Hörsaal 03 nimmt ihn auf wie eine geräumige Beruhigungspille, doch eine gewisse Schwäche in den Knien lässt sich nicht verleugnen, jetzt, da er, am Katheder stehend, das Manuskript aus der Tasche holt und routinemäßig die Uhr zu Rate zieht.
Über beide Ohren
4
Gewiss hat Liz geplaudert, eher beiläufig, bei einer Freundin, mit der sie sich auch sonst über ihre Professoren auszutauschen pflegt. Angenommen also, auch diese Freundin hat nur geplaudert, mit einem Schuss Bosheit, von dem bei Liz noch nichts zu spüren war, eher eine große Verwunderung über das Vorgefallene, dann fällt es nicht schwer, sich das Gerücht als Selbstläufer vorzustellen, mit dem Ergebnis, dass zwei oder drei der Akteurinnen, die sich Leckebusch im Foyer in den Weg gestellt haben, redlich davon überzeugt sind, in jener Nacht habe sich Furchtbares zugetragen, zugleich aber auch, dass damit bloß die Spitze des Eisbergs ans Licht gekommen sei – jahrelange sexuelle Erpressung etwa, Leckebuschs Notengebung, bekannt erratisch, lasse in dieser Hinsicht alle Spielräume offen…
Über beide Ohren
5
Wie es aussieht
haben sie das Pfündchen gefunden, mit dem sich wuchern lässt, die Hüterinnen des akademischen Sexualgewissens. Doch scheint ihr Augenmerk weniger auf der lautstark geforderten ›restlosen Aufklärung der Vorgänge‹ zu liegen, als darin, eine Art Cordon sanitaire um die Person des Professors zu weben und das Verbrechen als solches (Leckebusch würde sagen: überhaupt) im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Eine erste Ahnung davon bekommt Leckebusch, im Büro angekommen – die Sekretärin hat sich per Notizzettel ›aus privaten Gründen‹ abgemeldet –, als er seine Mail abruft und eine Nachricht des Dekans vorfindet, die ebenso knapp wie kryptisch lautet: »Fix it!« Was bitte soll er ›fixen‹? Nach einem Moment ausgedehnter Ratlosigkeit spürt er, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt … nicht das letzte Mal an diesem Tag, um von den folgenden nicht zu reden.
Alles geht seinen Gang und ein wenig weiter als gedacht.
Über beide Ohren
6
Der schlechte Film will kein Ende nehmen
Leckebusch erhält eine sehr persönliche Lektion über den Unterschied zwischen historischer Verantwortung und persönlicher Schuld: während er sich letztere noch immer nicht eingestehen will, lernt er mit wachsender Resignation die metaphysischen Abgründe des Systems Männlichkeit kennen, denen zu entrinnen, wie er nach und nach, nicht zuletzt in ausgedehnten Gesprächen mit Charlie feststellt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. So muss sich ein Tiefseefisch fühlen, fährt es ihm durch den Kopf, der von einem Sturm auf den Strand geworfen wurde und auf den nun unter dem Johlen der Dorfjugend die ganze ungeheure, ihm bisher unbekannte Hässlichkeit seiner Erscheinung einströmt.
objektive vs. subjektive
Erkenntnis
Objektiv weiß Leckebusch natürlich Bescheid über den Frauenaufbruch und seine schillernden Elemente, auch wenn Elisabeth ihn immer mit Details verschont hat, weil sie anders unterwegs war. Wer die Medien kennt, kennt den interessanten Teil der Gesellschaft und wer den kennt … der weiß, dass er die eigenen Interessen hart gegen die der Allgemeinheit abgrenzen muss, will er sie morgen noch vorfinden. Subjektiv ist das Prangergefühl, dem sich kaum entrinnen lässt. Wer am Pranger steht, kann sich in Verachtung flüchten. Aber die Verachtung kann nichts gegen die eintretende Gewebezersetzung ausrichten. Wenn er es bisher nicht wusste, jetzt lernt er seine Lektion: der Mensch besitzt ein moralisches Gewebe, einen Körper von ähnlicher Dichte und Differenziertheit wie der physische, und dieser Körper wird jetzt Schicht um Schicht abgetragen (oder wie man das nennen soll). Dieser moralische Körper ist zugleich der soziale und er ist es nicht. Am Ende bleibt die soziale Hülle übrig und die moralische Substanz ist diffundiert. Jedenfalls kommt es Leckebusch so vor, am Katheder hätte er umgekehrt argumentiert, doch das ist hier nicht gefragt.
Über beide Ohren
7
Leckebusch, osterfahren, ergreift einige Maßnahmen –
teils der inneren Hygiene, teils der Abschottung halber. Nach dem unerquicklichen Besuch beim Rektor – wo das gesamte Rektorat sich versammelt hatte, einschließlich der Prorektoren und einiger jüngerer, vorwiegend weiblicher Dekane, die er bisher bloß von ganz formellen Anlässen her kannte – führt er für seine Korrespondenz ein paar Privatkürzel ein, allen voran ein D.S., das sich wie ein verunglücktes P.S. unter die von ihm verwendete Grußformel schmiegt. Unter diese Formel fasst er, was immer aus seiner Sicht zu den Vorgängen gesagt werden muss. Ein paar Kollegen lesen sie angesichts des abrollenden Geschehens als ultimative Ergebenheitsformel (‹deesse‹), andere geheimnissen das Wort ›Datensatz‹ hinein und mutmaßen, er habe ein spezielles Dokumentationssystem angelegt, mit dessen Hilfe er den Fall teils für die Justiz, teils für die Nachwelt aufbereite. Nichts liegt Leckebusch ferner.
D.S. steht für Abgrenzung gegen jene da draußen, die kraft ihres hemmungslosen, sich als Kritik an Missliebigen verkleidenden Konformismus das Sagen haben: ein derbes Schimpfwort, das sich je nach Stimmungslage leicht variieren lässt und, einmal ausgesprochen, ihn binnen weniger Tage Amt und Ansehen kosten würde. Auch einige andere Kürzel unterliegen der privatsprachlichen Umdeutung und es bereitet ihm ein grimmiges Vergnügen, sie, wann immer es ihm beliebt, in seine Rede einzustreuen. Es herrscht Krieg und Leckebusch weiß, dass er unterliegen wird. Er nennt das Rückkehr zur Würde.
Über beide Ohren
8
Task Force
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Kollege Leckebusch!
Die Universitätsleitung sieht sich zum jetzigen Zeitpunkt weder befugt noch in der Lage, inhaltlich zu den gegen Sie in der Öffentlichkeit aufgetauchten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Sie sieht es allerdings als ihre Pflicht an, diese sehr ernsten Verdächtigungen, die, sollten sie ein fundamentum in re besitzen, dienstrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müssten, in einem der Schwere des Anlasses entsprechenden Rahmen einer angemessenen Untersuchung zuzuführen. Das Rektorat hat sich daher nach ausgiebigen Beratungen auf die Einrichtung einer Task force verständigt, die in den kommenden Wochen und Monaten einschlägig tätig werden soll. Im Zusammenhang damit ergeht an Sie die Bitte, sich für Auskünfte zur Verfügung zu halten, wann immer einschlägiger Bedarf entstehen sollte. Bitte bedenken Sie, dass Sie ihrem Ruf keinen Gefallen tun, wenn Sie sich unabgesprochen in den Medien zu Wort melden.
In Anbetracht Ihrer bisherigen wissenschaftlichen Verdienste ersucht Sie der Rektor, im laufenden Betrieb auf Vorlesungen zu verzichten.
Mit ausgesuchten Grüßen
[in Vertretung]
Über beide Ohren
9
Einspruch!
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Magnifizenz!
Es scheinen in der Tat Vorwürfe privater Natur über mich im Umlauf zu sein, deren Kenntnis sich mir entzieht, denn bei allem, was mir bisher direkt unter die Augen (und zu Ohren) gekommen ist, handelt es sich, mit Verlaub gesagt, um dummes Zeug, das keiner ernsthaften Überprüfung standhalten kann und ihrer auch nicht würdig erscheint. Auch hat sich bisher bei mir keine ihrem subjektiven Empfinden nach geschädigte Person gemeldet. Sollte das Rektorat daher über mehr und bessere Quellen als ich verfügen, wäre ich ihm sehr verbunden, wenn es mir diese zugänglich machen würde.
Ich bin, wie Sie wissen, dieser Hochschule seit mehreren Jahrzehnten verbunden und nehme für mich in Anspruch, in dieser Zeit nicht unwesentlich zu ihrem exzellenten Ruf in der Forschungswelt beigetragen zu haben. Eventuell angesprochene Kollegen werden bezeugen, dass ich nicht zu persönlichen Eskapaden neige, vielmehr ein stilles Gelehrtenleben den Aufregungen der Skandalwelt vorziehe. Sollte das Rektorat Zweifel an der Seriosität meines Frauenbildes hegen, so könnten diese durch den Besuch einer Sondervorlesung über die Philosophin Hannah Arendt, die ich gerne zu diesem Zweck kurzfristig anberaumen würde, ausgeräumt werden.
Damit komme ich auch schon auf den zentralen Punkt: aufs Schärfste erhebe ich Einspruch gegen jedweden Versuch, meine Vorlesungstätigkeit obrigkeitlich zu unterbinden. Ich werde dieses vornehmste Recht des Hochschullehrers notfalls auch vor Gericht verteidigen.
Der erwähnten sogenannten Task force kann ich weder gegenwärtig noch zukünftig einen Sinn abgewinnen. Entweder weiß das Rektorat etwas, was ich nicht weiß, dann ersuche ich es, seine Erkenntnis offen mit mir zu teilen, oder es weiß nichts, dann entfällt damit der Grund, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln. Habe ich ›schnüffeln‹ geschrieben? Das tut mir aufrichtig leid. Ein Schatten ist, nicht durch mein Zutun, auf diese Universität gefallen. Wer wird ihn beseitigen?
Mit den besten etc.
[gez. Leck.]
D.S.
Über beide Ohren
10
Während Leckebusch in die städtischen Grünanlagen flüchtet redet Frau Hennecke, seine Sekretärin, im Kaffeekreis der Kolleginnen endlich Klartext
―Also jetzt mal raus mit der Sprache. Was hat er angestellt?
―Wir streiten alles ab.
―Alles? Also steckt doch mehr dahinter.
―Er soll ja gewalttätig geworden sein. Das arme Mädchen.
―Die ist eine ganz durchtriebene. Mir tut die Tochter leid. Die arme Charlie kann sich doch kaum mehr blicken lassen.
―Wieso das denn?
―Naja. Sie hat sich gegen Elisabeth gestellt.
―Gegen Elisabeth? Und warum?
―Das wisst ihr nicht? Elisabeth schmeißt ihn raus.
―Richtig. Hätt’ ich auch gemacht. Da kann er ja jetzt zu der anderen ziehen.
―Echt jetzt? Zum Vergewaltigungsopfer?
―Vergewaltigt hat er sie auch? Dann soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst.
―Sie prüfen erst noch, ob sie ihm was anhängen können.
―Und dann?
―Dann wird suspendiert.
―Da kriegst du ja bald einen neuen Chef.
―Das dauert. Erst wird sein Frauenbild untersucht. Wenn da was nicht stimmt, dann –
―Das wird ja rauszukriegen sein.
―Da gibt es nichts zu beschönigen.
―Und wenn sie vertuschen wollen, geht’s vor Gericht.
―Das sagt der Leckebusch auch.
―Wie? Der auch?
―Ich sage euch, der hat nicht ein Fitzelchen Unrechtsbewusstsein.
―Haben die nie. Kommt aber kaum einer mit durch.
―Sag mal, ist das so ’ne Sado-Maso-Sache?
―Da kenn’ ich mich nicht mit aus.
―Hätte ja sein können.
―Sind ja immer die Unauffälligen, ganz unter uns.
―Gut, dass die Jungen sich wehren.
―Hätten wir auch mal sollen.
―Ich habe mich immer gewehrt.
―Na und? Jetzt trinken wir doch den gleichen Kaffee.
―Also ich würd’ ihn noch nehmen.
―Ich auch.
―Wie, du auch? Meinste, ich würd’ ihn ziehen lassen?
―Was willst du, tönt Elisabeth, rau klingt ihre Stimme, man hört ihr die Stunden nach Mitternacht an, die vergangenen und, bei gehöriger Übung, die noch ausstehenden, ihr Finger ertastet den Riss in der Strumpfhose, als könne er just an dieser Stelle magische Kräfte entwickeln, doch eigentlich handelt es sich um eine resignierte Bewegung, die nichts zufügen möchte, niemandem, nirgends. Währenddessen vermisst Stutenkeil, aus einer Erschöpfung in die andere wechselnd, an sich die gewohnte Brillanz, die ihn im Hörsaal auszeichnet. Das Gastsemester in Madison ist ergebnislos zu Ende gegangen, in unziemlicher Hast, wie er findet, das fällige Buch hat sich nicht einstellen wollen, die Ablenkungen, die guten alten, die schlechten neuen, diesmal hatten sie sich als zu mächtig erwiesen, das Riesenland wälzte sich in Erregung, es fieberte und halluzinierte, wie er es nicht für möglich gehalten hätte, als hab-, hab-, habe eine bösartige Krankheit von ihm Besitz ergriffen (abgedroschene Metapher, die allerabgedroschenste, aber hier ganz richtig am Platz, ganz … ganz recht), ich fiebere, was soll das jetzt, gerade j… Was wollen meine Hände, was wollen meine Hände an dieser, an diesem… Ich sollte es lassen. Ich sollte es einfach lassen. Kann sein, auch das hier ist Hall-, Halluzination, ganz sicher … ist es das, ist es das wie vieles andere, Idiot. Vieles in diesem Jahr ist Hallu…zination, sogar das Wetter, ›this never ending rain‹, du kommst nicht an ihn heran, nein, du kommst nicht an ihn heran, während er doch in dir niedergeht, ›never ending‹, ganz recht, wie eine dieser Schallplatten damals: Finde den Kratzer! Etwas blockiert dich, du kommst nicht weiter, auch drüben kamst du nicht weiter, diesmal nicht, die Freunde, sie kommen nicht weiter, auch ihre Platte hat einen Riss, die gewohnte Brillanz ist weggeblasen, gone by the wind, zurückgeworfen hat es sie auf die fünfziger Jahre, aber falsch. Falsche Fuffziger, als habe es Achtundsechzig nie gegeben. Der Patriotismus hat dir die Ernte verhagelt, gib’s zu, alter Trottel, kaum zurückgekehrt vergreifst du dich an einem Körper, der dir nichts sagt, der nichts abwirft, dessen düstere Präsenz dich bedrängt, den du morgen auf dem Campus höflich grüßen wirst oder auch nicht. Du vergreifst dich, ein in die Jahre gekommener Bildhauer, die Hände voll Lehm, den nackten Modellierwunsch in allen Fingerspitzen, dabei entsteht nichts, Unförmiges vielleicht, auch dafür wärest du dankbar, nein, nichts entsteht, das einzige im Entstehen Begriffene ist die Dämmerung, an der es nichts zu begreifen gibt, es sei denn das Unbegreifliche, dass einer sich zwischen den Stunden vergreift, zwischen Falsch und Falsch.
In der Vulvenkammer
2
Mondzeit II
―Was willst du, tönt Elisabeth, die Worte fallen
ins Dunkel, die meisten Dinge geschehen zwischen Haut und Haut, nur wie tief es
eindringt, darüber gehen die Auffassungen auseinander. Wir häuten uns nicht,
niemals, vielleicht ein Fehler, eine Fehlanordnung der Natur, ein
Versuchstableau, aber ein sinnloses. Der Sinnlosigkeitsverdacht, soviel habe ich
bei Leckebusch gelernt, ist nicht auszuräumen, er erledigt sich bloß immer
wieder von selbst. Sinnlos, sich etwas vorzumachen, es geschieht nur dauernd.
Ich weiß, dass dich dein amerikanischer Misserfolg quält, deshalb sind die
anderen die Versager, das patriotische Fieber hat dich, wie du sagst, überrannt.
Da bist du nicht der einzige… Dafür, dass jetzt alle hier Amerikaner sind,
werden sie sich irgendwann rächen, rächen müssen, ganz recht, rächen müssen, das
ist ausgemacht. Sie haben aber nicht die Macht dazu, sie werden sie niemals
haben, also werden sie sich ins eigene Fleisch schneiden, bis das Blut nur so
spritzt. Wenn du nicht weißt, warum du mir mir ins Bett steigst, nun, ich könnte
es dir sagen: aus Rachsucht. Wir könnten ruhig offen reden wie früher, als wir
uns nichts zu sagen hatten, heute haben wir uns etwas zu sagen und schweigen uns
an. Es geht mir so wie dir. Auch ich nehme Rache: an Leckebusch, wenn du so
willst, an R, an Guido, selbst an Tronka, was pervers genug ist, also wer ist
Leckebusch? Leckebusch ist ein Wurm. Er hockt über seinen Schätzen, er kann
nichts damit anfangen, was du willst, weiß ich nicht, es ist so unendlich
gleichgültig, so gleichgültig, du könntest das Universum sein, so gleichgültig
bist du mir… Das Gleichgültige ist der letzte Reiz, jedenfalls bei mir, bei
anderen das Verbrechen, das interessiert mich nicht. Vielleicht habe ich
Leckebusch früher Unrecht getan, ich hatte ihn ganz vergessen. Seit ich ihn im
Fernsehen schwatzen sehe wie die anderen, geht er mir nach. Wohin, könnte ich
mich fragen, unterwegs wechsle ich ihn aus und nehme mir einen Stutenkeil, denn
soweit … geht die Liebe nicht. Man lässt sich mit einem banalen Menschen ein und
das Leben bekommt eine Färbung … eine Färbung … das geht nicht mehr weg. Man
nimmt die anderen Kerle als Waschmittel, als Bleichmittel, sie bleichen
auch kräftig, aber am Ende ist der Fleck wieder da. Dich stört das bisschen
Patriotismus bei deinen amerikanischen Freunden, der naive Ernst, mit dem sie
die Welt in Brand setzen, weil man ihnen den Brand ins Haus gesetzt hat. Das
erinnert schon stark an das, was wir einmal waren, an all die brennenden Wünsche
der Scham und unsere ersten Begegnungen. Also, was willst du? Ich will nicht
unfair sein, aber du hast kein Feuer. An dir glimmt nur die Lunte und irgendwann
gehst du in die Luft. Da muss ich nicht dabei sein. Stutenkeil – du bist mir
lästig.
In der Vulvenkammer
3
Warum gibt es Langweiler?
Da liegt das letzte Geheimnis, das
Elisabeth, jedenfalls für den Augenblick, noch in ihrem Leben ergründen will.
Amalia sagt: Ein Langweiler ist ein Vergewaltiger, der sich nicht traut.
Amalia kennt sich aus, aber in den falschen Ecken. Immer hat sie Recht und
Unrecht, manchmal gleichzeitig, manchmal hintereinander. Ein Langweiler ist
einer, der sich müht, in Betracht zu kommen. In mancher Hinsicht sind alle
Langweiler. Wer in Betracht kommt und weiß es nicht, ist der größte. Stutenkeil
würde sich trauen, ich merke es. Man muss ihn führen, damit die Situation es
nicht hergibt. Der Kerl ist schamlos, ein Plünderer, er plündert die eigene Scham. Er könnte vor Scham vergehen, aber bevor das geschieht, wühlt er sich aus dem Psycho-Müll, der ihn bis zum Kragen anfüllt, hervor und bezichtigt den
anderen des Verrats. Er ist drauf und dran, seine Hände zucken, ich seh’s im
Dunkeln, er könnte mir an die Gurgel gehen, er wäre äußerst erschrocken, wenn
er’s denn täte, er täte mir aufrichtig leid. Bloß das nicht! Stutenkeil du
grober Keil. Du tust mir leid. Du willst fein sein, ganz fein willst du es
gestalten und weißt nicht, wie du es anfangen sollst. Konzentriere dich und du fällst auseinander. Du solltest dich weniger konzentrieren, aber es will dir nicht gelingen. Lass die Dinge ihren Gang gehen. Gerade das kannst du nicht. Ich könnte es dir erklären, aber du würdest nicht zuhören wollen. Du willst nicht und du kannst nicht. Du willst Ein-, Ein-, Einstimmung, alles andere verletzt dich, wie du sagst, du sagst es ein wenig zu
oft, ich verletze dich, in voller Absicht, wie denn sonst? Eine Art Geheimgang
zur Einstimmung stellst du dir vor, irgendeine Technik, die du unbedingt
beherrschen musst. Lustsüchtig bist du, aber nicht wie ich, nicht körperlich,
dein Körper steht dir im Weg, bloß hast du keinen anderen, deshalb benützt du ihn
als Brecheisen. Vom Brecheisen zum Brechmittel … ist es nicht sehr weit, nicht
sehr weit, die Wege, die wir auf diesem Felde gehen, haben die Tendenz, sich
rasch zu verkürzen. Schau an, wir sind schon da. Aussteigen! Diese Fahrt
endet hier.
Du schreibst das Wort ›Fleisch‹ und streichst es durch:
FLEISCH
Warum? Weil du es nicht brauchst. Nein, heute nicht. Ich hatte es notiert,
vorausschauend meinetwegen, aber ich habe mich anders entschieden. Das ist keine Grundsatzentscheidung. Ich bin kein Fleischverächter. Ich habe meine Gründe. Ja, ich bin beeinflusst. Schlimm? Was ist schlimm?
›Fleisch‹ gehört zu den Flimmerwörtern. Wer es hinschreibt, ohne sich etwas
dabei zu denken, etwa so:
FLEISCH
der ist entweder unbedarft oder Metzger. Er gehört
einfach nicht dazu. ›Mein Fleisch, dein Fleisch‹: Das ist eine andere Sache.
›Mein eigen Fleisch und Blut‹: Davor graust dir doch, oder nicht? Was sagt die
Genforschung dazu? Archaisches Denken, ganz recht, reduziert den Menschen aufs
Biologische. Noch dazu falsch. Nichts davon bist du. Sage zu einem
Menschen: Du bist Fleisch von meinem Fleische und er betreibt deine
Einweisung in die Psychiatrie. Zu Recht.
Irgendwie ist es Ama gelungen, eine Bahre und zwei Träger
aufzutreiben, um ihn die steile Treppe zur Rezeption
hinaufzuschaffen: ein schwankendes Unterfangen, das sich an der Kehre auf
halber Höhe dem Scheitern nähert, aber am Ende alle Widrigkeiten
besiegt. So angekommen, kann M, kraftlos an ihren Arm geklammert,
die Empfangsformalitäten bewältigen und sich schlurfenden Blicks in
die angemietete Suite begeben. Während Ama die Betten prüft, die
Schränke aufreißt und daran geht, die Koffer zu entleeren, tastet
sein Auge die Türrahmen ab, einen nach dem anderen, auf der Suche nach dem einen, in dem ein
samtblauer, weiß umsäumter Balkonausschnitt mit einem winzigen
weißen Tisch vor der grandiosen Kulisse des Meeres erstrahlen
muss, eingefasst von einem gläsernen Nichts, darin der Tisch
sich spiegelt – ein Hauch, kaum ins Gewicht fallend und so die
Schwerelosigkeit des Ensembles ein zweites Mal ins Bild hebend.
Kein Wort darüber – zu Ama nicht und auch zu niemandem sonst: das
war das Detail im Prospekt gewesen, das den Ausschlag gegeben hatte,
dem vertrackten Aufstieg zum Trotz gerade dieses Hotel zu buchen.
―Streng dich nicht an, ich bring dir ein Kissen, ist dir kühl?
Amalfi
2
Kühl? Mag sein. Gerade noch war ihm warm. Die Stimme der Sorge kitzelt eine winzige Kühle aus seinem Körper heraus. Tief unter ihm entfaltet ein in den Felsen geschnittener Swimmingpool seine azurenen Reize. Ein Swimmungpool gleich neben dem Meer … und eine optische Täuschung, von oben schwer zu ergründen. Wie groß mag der Höhenunterschied sein? La différance – Seminar-Kauderwelsch einer zurückgelassenen Freundin, die ihn liebend gern in den Tod eskortiert hätte und sich nun mit zwei Autografen im Tagebuch begnügen muss. Aber wer weiß. Der Tod ist ein Karussell, da muss man den Schelm nicht lang suchen. Ein Karussell… Er kennt diesen Maler Mompti nicht. Ist er gut? War er gut? In der Akademie war er jedenfalls nicht. Ich bin die Maler so leid.
Die Maler, die die Pinsel führen,
Sie schmieren Kot an alle Türen.
―Nimm das Notizbuch, Ama. Ich will nicht, dass der Laptop deine
Schenkel besudelt. Wenn du nicht schreiben willst, auch gut, dann
erzählen wir’s den Vögeln.
Amalfi
3
―Komm her, Ama. Wir werden der Nachwelt zusetzen. Es ist Zeit für letzte
Worte. Schreib. Nein, schreib nicht. Hör mir zu. Hör mir erst zu.
Nein, doch, schreib. Was hilft der eleganteste Kniefall, wenn man den
Mächtigen nicht die rauschenden Erfolge ihrer Politik auf digitalen
Stellwänden vorführen kann? Ich sage voraus: Afghanistan wird das
Potemkinsche Dorf des Westens. Und ich erkläre: Es
wird fallen. So ––. Die Fassade wird fallen und es erscheint:
Afghanistan. Warum Afghanistan? Dort lernen die großen Mächte das
Scheitern. England war da, Russland war da … bin ich eine Macht? Ich denke schon. Reich mir mal den
Zwieback her. Nein, den. Warum hört man hier keine Touristen? Ich
sehe nichts. Hilf mir, ich sehe nichts. Die Politik der schönen
Bilder endet, wie aller schöne Schein, zuverlässig bei den
hässlichen. Man hat sie sich lange genug erspart, deswegen herrscht
an ihnen kein Mangel. Es wird hässliche Bilder vom Himmel hageln.
Wir könnten nach Absurdi-, nach Afghanistan fliegen, wie wär’s?
Mitten hinein in den safe space. Im Panzer zum Hauptstadtdinner. Wir
sind schon verwöhnt. Die Botschaft wird irgendwas organisieren. Ruf
den Botschafter an. Ja, jetzt sofort. Hör mal, du kannst gehen, ich
schlafe hier ein. Nein, zieh die Tür zu. Wenn ich jetzt das Lid aufziehe und es fällt ein Lichtstrahl
hinein, ein warmer, gedämpfter Strahl, dann schließe ich das Auge
und genieße das Glück. Ist das Glück? Ist Glück Glück? Die
Bühnensprache hat mich ruiniert, ich bin ein stumpf-, ein stumpfes
Subjekt. Holt mich heraus, bevor es zu spät ist, ich krepiere hier.
Früher oder später krepiere ich hier. Flammkuchen! Wir sollten
Flammkuchen essen, Flammkuchen bei Kerzenschein, Ama. Mein Gott, sie
ist weg.
Amalfi
4
―Es heißt: Du kannst nichts machen. Auch ich bin einer,
der sagt: Du kannst nichts machen. Ich sage: Behalte die aufkommende
Panik im Mund. Du musst ihr Größe geben. Ein kleiner
Taliban-Kommandant spricht von der Welteroberung und Rom (oder
Karthago oder Konstantinopel) brennt. Der Taliban bist natürlich du.
Ob die Welt brennt oder nicht, das ist nie die Frage. Die Frage ist
einzig, ob dein Schmerz bereit ist, sie brennen zu lassen. Mach dir
nichts vor: du hinterlässt keine geordnete Welt. Rechthaberei und
Angst, die ungleichen Geschwister, überrennen jede Forderung, zur
Abwechslung einmal gut regiert zu werden. Gleichgültig, was gerade
darüber in den Gazetten steht. Nicht bloß dein Schmerz verlangt
nach Satisfaktion…
Amalfi
5
… Klima, das interessiert mich. Die Welt wird brennen, wenn
ihr nichts tut. Was für eine irre Botschaft. Komplett verrückt.
Aber: Was immer die Vernünftigen dazu sagen, sie funktioniert. Warum? Ganz einfach. Die Jahrhundertfrage lautet nun einmal: Was tun? Wer die wahnsinnigste
Antwort zückt, dem wird bedingungslos Platz gemacht. Er ist der Herr.
Vielleicht für eine Stunde nur, in dieser Stunde aber ist er
Herr.
Der verborgene Sinn des Fanatismus ist der
Herr. Zünde die Fackel der Freiheit an und gleiche schreit
einer: Es brennt! Wir werden alle verbrennen! Da rennen sie alle, die Gerichte vorneweg. Der
Herr muss es richten. Einer muss es richten. Also ist einer der
Herr. Das ist Bühnenlogik. Bist du schon mal auf der Bühne
gestanden? Gertrude. Gör-truud. Lass mich nachdenken. Ich
muss euch Rollen geben, R –
Amalfi
6
… Es gibt eine Geschichte der Prophezeiungen. Der eingetretenen und
der nicht eingetretenen. Das wusstest du nicht? Ach. Macht nichts. Spannender sind die nicht
eingetretenen, die noch ausstehenden, die langsam Patina ansetzen, so
dass man sie umspritzen muss, damit sie wieder geglaubt werden. Der
Glauben hat einen strengen Zeitgeschmack. Das Orakel verlangt,
geglaubt zu werden, also muss es von heute sein. Nur Hohlköpfe holen
die angegammelten Sprüche raus und stochern darin herum. Die große
Flut zum Beispiel ist old style. Niemand glaubt an die Flut,
bis sie da ist. Feuersbrünste, brennende Städte, das ist ein
anderer Stoff. Der steckt in den Knochen. Du kannst das halbe Land
abfackeln, aber du kannst nicht verhindern, dass anschließend, einer
nach dem anderen, die Politschranzen an die Mikrofone treten und
verkünden: Wir müssen mehr Geld ins Klima stecken. Der Glanz
der Prophezeiung überstrahlt jedes Desaster.
Amalfi
7
Bühnenhelden sind Brandstifter. Nein, streich das. Sie tragen das
Virus im Leib. Weißt du, dass dreihunderttausend Virusarten darauf
warten, unsere Körper zu übernehmen? Endlich das Heft in die Hand zu
bekommen? Einmal wollte ich zehn Hamlets gegeneinander antreten
lassen. Am Ende waren’s nur acht. Das ist ungefähr die Proportion. Uns alle beugt die Nemesis. Auch
ein Intendant macht da keine Ausnahme. Ich prophezeie: über
kurz oder lang wird ein simples Virus die Kontrolle über das
Raumschiff Erde übernehmen. Es wird alle Steuerungen aussetzen. Es
wird alle Befehle überschreiben. Es wird den Menschen überschreiben. Es wird… Worauf wartest du? Weißt du was? Schreib irgendwas. Das ist nicht mein
Genre.
Amalfi
8
A.M.A. Drei Buchstaben. AMA. Dramenende.
M ist schwach. Sehr schwach. Er presst die Sätze aus sich
heraus, einige reißen ein, das Blut rinnt an ihnen herunter…
Welches Blut? Aufgeschrieben erkennt man den Unterschied kaum. Nur
wenn sie heimlich über die Wörter streicht, spürt sie den Grat. M
will nicht vergehen. Er reißt im Gehen mit sich, was immer er
kriegen kann. Hat er sie gekriegt? Irgendwie schon. Reißt er sie mit
sich? Kaum. Sie soll bleiben. Sie soll ihn zum Schafott begleiten,
ihm zureden, wenn die Kapuze fällt … und dann? Tun, was getan
werden muss, da sein, um da zu sein, zusehen, wie dieser Geist
vergeht, sich weglallt, weglabert, zurückkehrt, sich flüchtig ballt, mal
für Momente, mal für eine wirklich gute Stunde, die sie in
ihrem Da-Sein stärkt und keine Spur in ihm hinterlässt, eine
unsichtbare vielleicht, auch das müsste sie wissen. Gestern sagte
er: Du musst Geduld haben … mir mir, die letzten beiden
Wörter so leise, dass sie unschlüssig ist, ob sie noch ihr galten,
bloß die gerunzelte Stirn blieb als Wegzeichen übrig, andeutend,
dass da ein Problem lag, mit dem er zurechtkommen wollte. Kommt er?
Amalfi
9
Heute morgen blafft er ins Telefon (sie kommt zu spät, um mehr zu
hören):
―Nein, ich gedenke nicht hier zu sterben. Ist das
bedauerlich? Nein, kein Besuch. Gute Nacht.
Der Verlag? Blondi aus der Uckermark? Draußen spielt die Luft in den Pinienwipfeln, die
Bucht glitzert, Ms Blick spielt auf ihrem Haar.
―Das bleibt.
Das wirst du nicht erleben, dass Land und Meer die
Plätze tauschen.
Warum sollten sie? Soll sie das aufschreiben?
Nur weg von hier.
―Wir könnten morgen nach Capri fahren. Morgen, übermorgen, wann
immer du willst.
Oder gleich.
―Schreib: Das ist von mir. Das hier ist Afrika. Europa weiß es
noch nicht, es will nichts davon wissen, aber Afrika ist schon da.
Als ob das im Augenblick wichtig wäre. Andererseits: was ist
schon wichtig?
Amalfi
10
M sieht schwarz. Nicht wie die mit statistischen Kurven
hantierenden notorischen Unheilspropheten, die haarklein
demonstrieren, an welchem Punkt der Entwicklung ›das System
abschmiert‹, wie sie sich ausdrücken, ohne schlüssig erklären zu
können, was dann geschieht, auch nicht wie er selbst in seinen
zurückliegenden Interviews, in denen er sich wortgewaltig dem
Verschwinden der ›weißen‹ Zivilisation gewidmet hatte, sondern
gleichsam in aller Schwärze, so als habe er eines der schwarzen
Quadrate Wegenaers erworben und sehe es nun überall. Die Idee des
Schwarzen Lochs hat ihn überwältigt und da er der Physik seit
seiner Schulzeit keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hat, verbindet es
sich in seinem Empfinden mit dem Malstrom Poes und diffusen
Schoßängsten, die ihn seit langem verfolgen. Bei alledem denkt und
empfindet er groß. Der ausstehende eigene Tod schrumpft zum
belanglosen Annex des Menschheitsdramas, das in seinen
Nervenbahnen abrollt, einerseits chaotisch, andererseits mit der
Präzision eines Uhrwerks, wobei ihm bekannt ist, dass letzteres
längst keinen Maßstab für absolute Präzision mehr darstellt. Doch
hier geht es weniger um Präzision als um die Unerbittlichkeit der
Prozesse. Könnte er die Schwärze, die in seinem Imaginarium den
Raum der Menschheitszukunft okkupiert hat, als Symbol deuten, dann
wäre sie das Symbol der Unerbittlichkeit. Doch davon ist er weit
entfernt.
Amalfi
11
Die Sprache der Auslöschung duldet keine Nebenerwägung.
Es ist keine Auslöschung ad nihilum, sondern die
größtmögliche Annäherung an die hermetisch verschlossenen
Nachbarwelten jenseits der Raum-Zeit-Schranke. Das Passieren des großen
Vorhangs, der sich nur einmal hebt. Once & forever.
SZENENWECHSEL. PROJEKTION. Houyhnhnms,
durcheinanderlaufend, von wilder Unruhe erfüllt, ein jedes doppelt,
Tier an Tier auf schwarzem Grund, Entkommensfalle.
Auf eines
Augenblickes Spitze erscheinen sie entmischt, der Druck lässt
nach. Die jetzt sich tummeln, schnauben durch die
Nüstern, sie kreisen langsam, fast entspannt.
Sie sind die Normalen.
Entspannung fällt. Schrumpft in der Zeit, die das
Anzünden eines Streichholzes benötigt, auf die Größe eines
Stecknadelkopfes, aus dem die wilde Jagd hervorprescht, dicht an
dicht das Leben scheuchend, bis alles sich im Riesenwirbel dreht,
ein Panoptikum der Beklommenheit. Ein Pandämonium gepresster Herzen.
Die Guten sind die Guten nicht, die Bösen nicht die Bösen. Panik
ist pferdeartig, ihr Hufschlag dröhnt weit.
Amalfi
12
Es ist das Herz, alter Esel! Es rast noch immer, kommt er aus dem
Schlaf. Dort liegen die Tabletten. Ama, unermüdlich, hat das
Wasser schon bereitgestellt. Er muss ihr danken, denn es geht ihm schlecht. Es ist das erste Mal nicht,
dass die Houyhnhnms kamen. Beim ersten Mal war er ein Kind und nichts davon schien Traum. Flammumlodert brachen sie aus dem Bild über dem Bett seiner Eltern hervor.
Ums Haar wär’ unter ihre Hufe er gefallen.
Der rasche Griff zum Schalter bloß hat ihn gerettet.
Was für ’ne Hatz! In jener Nacht der Nächte fürchtete er sich
sehr. Und nun: das zweite Mal. Ein zweifelhaftes Glück. Sind sie gekommen, ihm Schutzgeld abzupressen? Soll er sich fürchten? Ausgemacht ist das nicht. Ganz und gar nicht. Für Furcht ist er zu alt. Zu zerfurcht, zu verschlissen. Da ist kein Zag in dir. Er möchte diese Bilder auflösen, zerstreuen, von der
Tafel wischen, aber der Oberlehrer lässt es nicht zu.
Die geistlosen Sensationen der Westwelt gehen nicht weg. Sie addieren sich. Sie schlummern tief in den Nervenbahnen, die Muskulatur geht mit, sobald die Gespenster erwachen.
―Ama, heilige Witwe, Pflegerin aller Waisen, Beglückte der
Schöpfung, steh mir bei in der Stunde der Überrumpelung durch die
Kirmes, die sich durch diesen Körper gefressen hat und ihn, Zelle
für Zelle, zersetzt. Ich spende dir eine Kerze am verschwiegensten aller Altäre und verspreche ein
stilles Gebet, Leuchtrakete meines metaphysischen Begehrens, alles zu
seiner Zeit, aber jetzt: Wehre den Anfängen!
Amalfi
15
―Vergessen Sie nie, Genosse, was dieser Staat für Sie getan
hat.
Falsch, Genosse, ein Staat, der seine Bürger anhält, sich für
seine Wohltaten erkenntlich zu zeigen, hat etwas gründlich
missverstanden. Oder, da der Staat nun einmal weder denkt noch fühlt:
er ist auf Sand gebaut. Der Staat ist die Summe der Leistungen seiner
Bürger. Dank dafür schuldet keiner. Wer’s trotzdem versuchen will
– bitte sehr, es ist ein schöner Zug und niemand sollte ihn
vereiteln. Aber Zugabe ist und bleibt es.
Wer’s nicht weiß, der hat das kleine Einmaleins des Staates nicht
begriffen. Allen Grund, seine Bürger zu ehren, hat bloß der
Staat, allein um zu zeigen, auf wessen Knochen er sich erhebt.
Amalfi
16
Denkt M an seinen Staat, dann sieht er in sich den Verworfenen,
der zum Eckstein wurde. Noch immer entweicht aus ihm schwarzgrüner Groll wie einst aus Philoktet, dem Ausgesetzten auf Lemnos, als Neoptolemos und Odysseus ihn holen kommen, weil das Orakel verfügt, es sei kein Sieg vor Troja ohne ihn, wiederkehrend im Kreis der Gefährten. Gezwungen habt ihr
mich und Bezwungene kehrt ihr wieder. Soll dieser Staat, den ihr
begannt und der zerfällt, bevor er reift, in den Gehirnen sich
vollenden, so braucht ihr mich. Mich hassend hievt ihr mich ins Amt.
Da liegt der Quell, aus dem die Verse fließen. M weiß nicht, ob er
sagen darf: Es ist vollbracht. Gedacht
hat er in anderen Fristen. Die schwärende Wunde hat ihm einen
Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt liegt er hier, Endstation
mare nostro, auch das ein Scherbenhaufen vor der Geschichte,
Müllplatz Euro im brechenden Blick.
Amalfi
17
DDR-Geschichten prallen an Amas Art ab.
―Komm her, Ama, ich will dir was über diesen Staat erzählen…
―Schon wieder? Lass mal, ich hatte Verwandte drüben.
M bewundert sie. Schneidend bringt ihr
Gerede ihm zu Bewusstsein, wie umfassend sein
Witz aus diesem Fundus schöpft. Der getilgte
Staat ist sein Doppelgänger. Verlässt ihn sein
Schatten, verlässt ihn auch Musa, die
Eisprinzessin mit dem stählernen Herzen.
Klingt es nach Abschied, ist es doch für
immer. Ama, die das rostige Datum des
Mauerbaus nicht wirklich parat hat und den
siebzehnten Juni für ein Kuriosum aus dem
Heiligenkalender hält, hält sich an das
Fertigprodukt M und verachtet den
Herstellungsprozess, den es durchlaufen
musste. Eine narzisstische Kränkung. M nimmt
sie aus ihrer gebenden Hand entgegen wie ein
schickes Lederetui, in der nicht unbegründeten
Hoffnung, mehr als einen Ausgleich darin zu
finden. Ausgleich für ein erlittenes Leben?
Was soll das sein? Das Geheimnis des
Ausgleichs ist, dass er sich nicht vergleicht.
Ausgleich füllt die Scheuer im Nu.
Amalfi
18
Als der Staat über sie hereinbrach, der kälteste aller
Kaltblüter, siehe, da war er ganz der alte, gehüllt in ein Meer aus
jungen Fahnen, und alle wussten es und sangen Hosianna. Und er sprach
mit scheppernder Stimme (mit der Technik haperte es in jenen Tagen):
Wer nicht für mich ist, der ist wider mich und ich zerschmettere
ihn, denn er ist Stoff vom alten Stoff und ein Parteigänger meines
Vorgängers, welcher der satanischste war von allen. Hosianna. Denn auch der neue
Staat gehörte, ganz der alte, der Partei. In
den einsamen Stunden seines verdämmernden Geistes will M wissen,
wie oft er in seinem Leben Verrat geübt hat. Aber er findet den
Ausgangspunkt nicht. Der Ur-Entscheidung zum Verrat blieb nichts
hinzuzusetzen. Der Verräter ist der Kumpan des totalen Staates,
welcher die Hure ist der absolut gesetzten Partei. Die Verteidigung
der Spielräume beginnt auf dem Theater und als einzige Waffe im
Kampf zählt das Spiel. Wenn das Spiel beginnt, sitzt die Partei im
Zuschauerraum, dort, wo die Toten sitzen und gierig dem Wunder der
aktweisen Auferstehung ihrer Lieblingshelden entgegenschlottern.
Und wenn sie nun sängen? Aufhören! Niemand schreibt für die Oper.
Dort herrscht Gesang. Niemand zu sein ist ein zeitfüllender Beruf.
Amalfi
19
Was auf der Bühne erwacht, ist schon Bürger. Auf der Bühne
erhebt der Verrat seine Stimme und sorgt dafür, dass der Bürger
schlecht wegkommt. Mehr drin war nie. Kann, was damals recht war,
heute unrecht sein? Wenn er eine Säule des Systems war, wer war dann Herkules, der es zum Einsturz brachte? Der KGB? Wer sonst! Die Macht und die Herrlichkeit.
Aber in ihm, M, war dieses System immer schon eingestürzt,
die Säule geborsten, das Dach in tausend Splittern verstreut, die
rötlich aus den tauenden Wiesen blinkten. Die tauenden Wiesen haben
es überlebt.
Amalfi
20
Das bucklige kleine Auto kommt die Straße heraufgekrochen. Es ist
himmelblau und hält vor der Kirche San Giorgio Superiore. Das
Bimmeln des Totenglöckchens, hektisch, kein Ende findend, als stürze
es direkt aus der Vegetation heraus, unter dem brütenden Himmel, und
unterbräche den Niemandsschlaf. Braust so das Leben, denkt
es in M, es denkt immer mehr in diesen Tagen, als habe es sich seines
Denkapparates bemächtigt, nachdem er selbst so dürftigen Gebrauch
davon macht. Dafür also –? Dafür also bist du hierhergekommen?
Nein, bist du nicht. Du bist hergekommen, weil du dich von deiner
Sendung hintergangen fühlst. Du bist hierhergekommen, weil du den
Gedanken nicht ertragen kannst, dass dein Leben zwischen Urin und
Schmerzen zerläuft wie das jedes anderen auch. Und doch ist es die
Wahrheit. Du bist hierhergekommen, um dir das zu holen, was
dir die Sendung versagte: das pralle Leben, auf das du plötzlich ein
Recht verspürst, das Recht zu leben wie jeder andere auch,
ein schales Recht, aber unabweisbar.
Amalfi
21
Nein Genossen. Ich bin kein Sinnsucher. Ihr habt den Sinn des
Lebens gefunden. Ich bin der Letzte, ihn euch streitig zu machen.
Ehre, wem Ehre gebührt. Der Sinn bin ich. Jeden Tag verrate ich euch, wie sehr ihr ihn verfehlt. Eure Aufpasser spitzen die Lauscher und bemühen sich, dem düsteren Fluss meiner Rede einen
Sinn abzugewinnen. Aber es gelingt ihnen nicht. Keinem gelingt es. Ist das nicht komisch? Ist das nicht herzzerreißend komisch? Irgendwie schon. Ama weiß, dass ich ein Langweiler bin. Sie
schätzt das Prestige, das ich in unsere Beziehung einbringe. Alle Kultur ist langweilig. Man hat sie
beiseite geräumt wie einen Haufen welker Blätter. Kultur braucht
niemand. Die Niemande des verschwundenen Landes, ich kannte sie alle.
Heute sind sie gemachte Leute. Für sie hat das Verschwinden Sinn
gemacht. Stroh zu Gold. Bloß ich, das Rumpelstilzchen, das ihnen
alles beigebracht hat, leer, unfassbar leer, ich habe den Teufel im
Leibe, den Engel des Abfalls, den wir lange für den der Geschichte
hielten, mit düsterer Kohle an eine Backsteinfassade geschmiert, zu
seinen Füßen der Müll der Stadt.
Amalfi
22
An der Spitze der
Nahrungspyramide erscheint der Abfall
und tönt: Ihr seid alle Abfall. Die Geschichte
hat euch angeschwemmt und jetzt fault ihr vor
euch hin. Wer gibt Abfall Gehör? Niemand.
Wieder sind es die Niemande im Lande, die, mit
der Botschaft hinter der Stirn, geduldig
darauf warten, dass ihre Stunde anbricht.
Fürchtet die Niemande! Ich bin kein Niemand.
Meine Stunde ist gekommen. Lebend gelingt es
mir nicht zu leben. Das ist komisch und
deswegen brauche ich die Bühne. Heute heißt
sie Ama und morgen die ganze… Was, wenn ihr
ein Unglück passiert? Was, wenn sie einfach
verschwindet? Warum gerate ich in Erregung?
Filme hätte ich drehen sollen. Über die Felsen
hinab in Meer. Der reine Filmtod. Ästhetik des
Klassenfeindes. Auf der Bühne gibt’s keine
Cabrios und keine Klippen. Auf der Bühne
verunglückt der Mensch als solcher. Ama, bist
du’s? Bring mir den Lagerfeld ans Telefon:
Schneider & Aufschneider. Endlich Gleichstand.
Vielleicht kriegen wir PostPest.
Amalfi
23
Das Mädchen ist über Nacht Gift geworden. Ich werde das Leben auf Kissen beschließen wie ein Bürger. Am Ende sind wir alle das, was wir abschaffen wollten. Gesetz des Werdens. Du kommst mit einer Sendung zur Welt und
wenn du’s weit bringst, bekommst du eine Sendung. Ich will das
nicht kritisieren, aber ich kann so nicht leben. Du wolltest die
Siegel brechen und jetzt brechen sie von allein. Der Rassismus ist
das Schicksal des Kontinents. Wenn den Weißen die Erklärungen ausgehen, werden sie die Weißen zu
Aussatz erklären. Sie werden sich abschaffen wollen, um endlich herauszubekommen, wer sie
sind.
SIEHE DIE ZEIT IST NAHE
Wenn ich gehe, werde ich
nichts versäumt haben. Was aber an mir versäumt
wurde, weiß ich nit. Wo der Mensch ganz Tier ist, da ist das Injekt sein Los. Der
tödliche Schuss und das heilende Serum stammen aus einem Lauf. Ich
bin nicht der erste, der so denkt, ich hole nur auf. Nimm das Heil
aus der Welt und du erhältst die Inflation der Heiler. Ob sie dich
wegputzen wollen oder den tödlichen Keim, tut nichts zur Sache. Die
Biologie hat das Wesen weggeschafft, das den Unterschied machte.
Hier ruht der Mann, sich beißend in den Arsch.
Amalfi
24
Eine Generation von Juristen steigt in die Roben, die vom Menschen
nichts weiß als das, was Regierungen mit ihm machen. Auflehnung ist
das ultimative Verbrechen der Zukunft. Du bekommst den Schuss gesetzt
und weißt nicht, was er bedeutet. Du kannst gleich daran sterben oder in
zwei Wochen oder in fünf Jahren. Einen erkennbaren Zusammenhang wird
es nicht geben. Was sind schon planetarische Säuberungen gegen die Säuberung des Planeten? Sie
werden das Denken zur Verschwörung gegen Mutter Erde erklären. Denken wird
streng verfolgt werden. Die Verfahren sind erprobt, nur die ultimative
Begründung fehlte. Der Klassenfeind war immer ein Witz,
bloß ein tödlicher. Wenn die Mittel zur terrestrischen
Tyrannis bereitliegen, dann wird die terrestrische Tyrannei
nicht auf sich warten lassen. Mit mir stirbt der Mensch. Ich
weiß nicht, wie viele das von sich sagen können. Ich weiß nicht,
in wie vielen der Mensch stirbt und werde es niemals wissen.
Dort, wo ich stehe, ist das auch gleichgültig. Aber ich stehe ja
nicht. Ich liege. Ein kleiner physischer Defekt löscht mich aus. Ich
weiß so wenig, wie er in mein Gewebe kam, wie ich in das Gewebe kam,
das sie Gesellschaft nennen. Ich habe den Schuss nicht gehört. Ich
will nicht sterben, so über den Rand gedrängt.
Amalfi
25
So denkt es in M. Es ist ein langsamer, zäher, sich verdickender
Fluss. Sein Kopf liegt schief und hängt ein wenig über den Sofarand
hinaus. Auf einer anderen Etage dessen, was andernorts altmodisch
Bewusstsein heißt, besteigt er, Ama an seiner Seite, das
Luxus-Cabrio und steuert es hinaus, der Sonne, den Klippen, dem Meer
und dem ungeheuren Verkehr entgegen, der ihn aufnimmt, als habe er
ihn schon immer erwartet.
Amalfi
25
Fundstück
Ich bin der Mörder im Stück. Das Leben ist ein banaler, grausiger Krimi und ich war, bin und werde sein: der Gesuchte. Ich trage das M auf dem Rücken, M, das Mal der Male, aber die Verfolger haben mich nicht gefunden. Zum Glück! Wenn ich mich jetzt entziehe, dann für immer. Sorry, ich habe keine Lust auf Wiederkehr. Dabei bin ich mir sicher, dass ihr alle schon einmal … Es wäre zu einfach, euch auszulöschen. So kommt ihr nicht davon – fast hätte ich geschrieben: mir nicht davon, aber so selbstbezogen habe ich nie gedacht! –, das bisschen Erlösung ist gerade genug, um euch erneut unters Joch zu bringen. Es ist eine Frage der Intelligenz. Intelligenz ist Spannung, sich organisierende Spannung, der Tod kommt in dieser Sphäre nicht vor. Sagte ich ›Sphäre‹? Also gut: Sphäre. Intelligenz regelt alles. Ich nehme an, etwas bleibt immer übrig. Daher der überraschend intelligente Blick mancher Tiere. Wahrscheinlich quält die Sache sie inwendig und sie haben keine Ahnung, warum. Oder doch? Ich plädiere für die Annahme, dass Tiere Ahnungen haben. Ohne Ahnungen kommt hier keiner davon. Mir scheint, als ahnten sie mehr als wir. Die Vogelrouten, die Gewitterangst, die tiefe Aufmerksamkeit, mit der sie Fremden begegnen … das alles spricht eine deutliche Sprache. Tiere sind die Welt im Zustand der Ahnung. Die sogenannte Schöpfung ist eine Tierquälerei.
Mein letzter Satz:
Die Prorektorin für Forschung und Lehre kommt vom Rosinenpicken:
sorgfältig onduliertes Haar, ein silbriger Schimmer, dem Grau
der Fensterperspektive entwendet, liegt darauf, als sei er einem Vermeer abgenommen, seidig glänzt das übereinandergeschlagene, sanft aneinander reibende strumpfbehoste Gebein. Leckebusch fragt sich, ob wirklich der Aufwand seiner Person gilt oder ob die Lady sich nicht eher auf dem Weg zu einem ihrer wirklich
wichtigen Termine befindet. Im Vorfeld des Gesprächs hat es einigen Rumor gegeben.
Offenbar wurde in seiner causa das Ministerium
kontaktiert oder das Ministerium hat sich aus eigenem Antrieb in den universitären Vorgang eingeschaltet, nachdem er durch die Medien ging und die größte Oppositionspartei eine
kleine Anfrage im Landtag lancierte… Noch immer hat die Datenlage
sich nicht verfestigt. Wie auch? fährt es höhnend durch
Leckebuschs kaleidoskopische Gedankenwelt. Vielleicht bringt die
Prorektorin da neue Nachricht. In diesem perlenden Licht scheint
vieles möglich. Ozeanriesen legen ab und verschwinden in den Weiten
der Meere – jedenfalls für die minderen Sinne, denn natürlich ist
die Überwachung lückenlos. Ein richtiges Dickschiff, durchfährt es
Leckebusch, ist aus seiner causa inzwischen geworden. Man weiß
nicht, in welchem Auftrag es unterwegs ist, die Papiere geben den
Zweck der Reise nicht her. Offiziell dieselt es unter einer
Billigflagge. Aber das ist natürlich Maskerade.
Das Angebot
2
Die Prorektorin zeigt leise Zeichen von Ungeduld. Gut macht sie
das, verglichen mit ihren Anfängen, die so lange
noch nicht zurückliegen. An der gekonnten Verknappung der Zeit
erkennt man den Inhaber der Macht. Umschwebte bis
gestern diese Funktionsstellen ein Hauch von Opfergang, weil sie den Mann der Wissenschaft von den
wichtigeren, in Forschung und Lehre lauernden Aufgaben abhielten, so
hat sich das an der im Zeichen der Emanzipation stehenden
Karriere-Universität geändert: ganz
deutlich in der Pyramide, doch merklich auch hier, wo das ältere
Gemäuer einen gewissen Schutz gegen den Zeitgeist verspricht, ohne
sein Versprechen wirklich halten zu können. Die Art, wie die Prorektorin sich zu
Leckebusch niederlässt, erlaubt keinen Zweifel daran, dass sie sich als
Höhergestellte betrachtet, als weisungsbefugt … was so
natürlich Quatsch ist, aber als Aura eine gewisse Kraft zwischen
ihnen entfaltet. Leckebusch besitzt Erfahrung genug, um innerlich darüber
zu lächeln, anders als über die causa, die sie
zusammenführt. Immerhin nimmt er, wenngleich ohne
durchschlagenden Erfolg, seit Tagen Magentabletten. Die Prorektorin
wiederum … sie überspielt ihre Unsicherheit. Leckebusch durchfährt der
Verdacht, ein Großteil ihrer Amtsführung könnte in der Bewältigung dieser Aufgabe aufgehen, und in diesem Fall… Bis vor wenigen Wochen hätte Leckebusch, der überaus einflussreiche Leckebusch, im Gespräch das Sagen gehabt und sie wäre mit einem Gefühl der Erleichterung davongegangen, aber auch mit einem nachruckelnden
Zweifel, ob sie denn auch die Probe bestanden hätte. Diese
Unsicherheit ist nicht zu knacken. Sie hat um die Person
einen Panzer gelegt, eine professionelle zweite Haut, die das Selbst mehr zur Geltung bringt als die Handlungen, aus denen sich gewöhnlich Professionalität zusammensetzt. Einen Moment lang
legt sich Leckebusch die Frage vor, ob die Konstellation eine
wesentlich andere wäre, säße an seiner Stelle eine Kollegin –:
Bitte nicht diese Komplikation, nicht jetzt! Er wird seinen Kopf noch
brauchen. Außerdem steht seine Männlichkeit zur Verhandlung an, da
wäre es unprofessionell, auf solche Gedankenspiele auszuweichen.
Das Angebot
3
Diese Professionalität der zweiten Art … wie soll man sie
nennen? Geschäftig? Mag sein. Aber das Wort trifft die Sache nicht
wirklich. Auch das Bild vom Schutzpanzer führt in die Irre,
denn es suggeriert Unnahbarkeit – die unnahbare Kommissarin,
alter Topos, kulturell tiefgeprägt –, während doch mehr
Schauspielerei im Spiel ist: nicht souverän, nicht bühnenreif,
sondern notgeboren, ja sicher, irgendeine Not bedeckend, sie dabei
ausstellend, nein, zur Geltung bringend… Ja sicher, das ist
es. Die Not ist in den Auftritt hineinkomponiert und verlangt
Schonung – keine Schonung, wie sie Kranken gebührt, sondern eine
dem Amt geschuldete… Dennoch kommt sie der Person zugute, die
ihr aggressives Recht auf dieses Amt beansprucht, wobei
die Aggressivität weniger von der Einzelperson ausgeht als vielmehr von der
beschützenden Aura, hinter welcher der gesellschaftliche Wille
steckt, das hier durchzuziehen – als besitze Gesellschaft
einen Willen! Das ist natürlich Nonsens. Gesellschaft ist
Gesellschaft. Das hier ist die Gesellschaft in der Gesellschaft, die
Gemeinschaft der Geltungsträger und -durchsetzer, Okkupanten der
volonté générale oder einer modernen Abart dieser merkwürdig
zwischen Volkswille und Terror changierenden Instanz, die beschlossen
hat, dass Geschlecht auch eine Qualifikation ist und es dem Amt
obliegt, sich zu bewähren. Das Amt, was sagt das Amt dazu? Es duckt
sich, wie es scheint, für einen Augenblick kommt es Leckebusch so
vor, als treffe ihn ein stummer Hundeblick, aber das ist sicher den
Nerven geschuldet, denn das Gespräch, das langsam in Fluss kommt,
macht ihm klar: er ist nicht in der Position, die Vorwürfe gegen ihn zu erkunden oder Fakten zurechtzurücken, sondern um zu realisieren, wie
es um ihn steht und welche Optionen ihm hier und jetzt zur Verfügung
stehen. Leckebusch ist verdutzt, das Tribunal, mit dem er irgendwo
gerechnet hat, in dieser handlichen, jedes Pathos im Ansatz
erstickenden Form vorzufinden: weder Büchners Wohlfahrtsausschuss
noch Kafkas Gericht, sondern … aber sicher, Frau Kollegin, gewiss,
Frau Kollegin, das scheint mir auch so, wenngleich…
Das Angebot
4
Weiß die Prorektorin, worum es geht? Dumme Frage. Natürlich ist
sie orientiert. Aber weiß sie wirklich, worum es geht? Er
könnte es ihr berichten, in ein paar Sätzen, von Mensch zu Mensch,
von Kollege zu Kollegin, vorausgesetzt, sie wäre an dieser Art
Wissen interessiert. Ihr ostentatives Bescheidwissen, es kommt ihm vor wie ein Passepartout-Schlüssel, ein Sesam-öffne-dich, der ihr die Welt der Männer aufsperrt. Ein wissendes … nein, nicht Lächeln
umkräuselt ihren Mund, stattdessen ein Was-auch-immer, gegen das anzureden
aussichtslos ist. Und weiß er wirklich, was ihm da
widerfährt? Er hält es für Unrecht, das ist sein gutes Recht.
Selbst die Prorektorin setzt dieses Recht voraus. Doch in ihren Augen bleibt es
gegenstandslos. Im Universum der von ihr vertretenen
Tat-Sachen kommt es nicht vor. Seltsam nur: die volle Wucht der Verdächtigung
geht an ihm vorbei, sie trifft ihn nicht, sie kann ihn gar nicht
treffen, weil … weil… Während sie beide da sitzen, geht es ihm auf: weil in ihr nichts
weiter am Werk ist als dieselbe Kraft der Negation, die ihn an
Elisabeth nach seiner Rückkehr so faszinierte – als habe sie von
Anbeginn der Ehe, nein, vom Urbeginn ihrer Geschlechtlichkeit an,
darauf gewartet, sie in dieser Explosion zu pulverisieren. Das
Ende der Beziehung ist kein privater, sondern ein gesellschaftlicher
Akt. Diese Prorektorin, was geht es sie an, wie es um seine
häuslichen Verhältnisse steht? Welcher Paragraf in welchem
Gesetzbuch verbietet es ihm, mit einer jungen Frau eine Nacht zu
verplaudern? Keiner, doch darum geht es nicht. Worum dann? Um das
Recht der Frau, an dieser Stelle die Austaste zu drücken, so lange,
bis der Mann das Haus verlassen hat, um sich nie wieder blicken zu
lassen, denn ohne diesen Rauswurf bliebe die Beziehung ewig
unvollständig. Die Universität legt ihm Handschellen an. Das ist
absurd, aber nur die halbe Wahrheit, denn die Universität ist
in diesem Falle bloß ausführendes Organ. Der Wille, der wirkliche
Wille sitzt ihm gegenüber, er hat die Gestalt einer unscheinbaren Frau angenommen, die
das Ganze nun wirklich nichts angeht … nichts anginge, hätte sie sich nicht
kraft ihres Amtes eingeklinkt in den Kraftstrom, in dem seine Ehe gerade zergeht, indem
sie das Unerhörte dessen, was er sich erlaubt hat, auf ein Maximum steigert.
Nun, da der Groschen gefallen ist, ist es ihm auch lieber, viel
lieber, dass ihm eine Frau gegenübersitzt und kein Mann, aus dessen
Mund jedes Wort nur eine Gemeinheit darstellte und sonst gar nichts, eine
Schäbigkeit ohne Ende, verziert mit Hohn. Das hier ist unglaublich,
aber es bleibt dem Chor der Weiber verbunden, der aus den ältesten
Texten der Antike herüberschallt, es ist alteuropäische Substanz, von
der es sich nährt, und insofern … gerechtfertigt? So weit möchte
er dann doch nicht gehen.
Das Angebot
5
Sie ist gegangen, nichts hinterlassend außer dem Namen einer Organisation, einer Nichtregierungsorganisation, um genau zu sein,
denn das war ihr Auftrag, mitsamt Kontonummer und Codewort, er werde
mit beidem leicht zurechtkommen, nun, da der Deal erst einmal vereinbart
sei. Nein, sie erwähnt das Wort nicht. Es scheint in
ihrem von korrekten Gedanken erfüllten Gehirn nicht vorzukommen, dafür findet sie andere –:
was das Rektorat angehe, so sei die Sache abgetan, sobald die erwähnte Summe
erst überwiesen sei. Auch habe er weitere Behelligungen nicht zu
fürchten, auf dem Campus nicht und – vermutlich – nicht in der
Öffentlichkeit (aber das liege schließlich irgendwie an ihm selbst). Punkt. Im
übrigen müsse sie ihn jetzt leider alleinlassen – der nächste Termin, er
wisse schon, heute sei es wieder arg. Sie wünsche ihm noch einen
schönen Tag.
―Wir haben irre viel zu tun im Moment.
Aber sicher. Das wissen wir doch.
Dein Hirn brütete nicht, was du vollbracht.
Das Angebot
6
Er fühlt sich ein wenig betäubt, der Gute. Er
hat sich einverstanden erklärt, was sonst hätte er auch tun sollen, aber, ehrlich gesagt, er weiß noch immer nicht, wer ihm den Streich gespielt hat. Denn ein Streich ist es, das fühlt er wohl.
SPENDE DICH FREI
So steht es unsichtbar, aber nicht
minder wirksam in den Statuten der sanften Erpresser-Organisationen,
die in den letzten Jahren wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem
Boden wuchsen. Hart arbeiten sie daran, die Welt zu retten. Man munkelt,
gewisse Regierungen schöben ihnen dafür beträchtliche Summen in die
Taschen. Die Welt muss in vielerlei Hinsicht gerettet werden. Da ist es folgerichtig, dass, wer sich
in die Netze der Retter verirrt, bluten muss oder zahlen. Zweifellos freut sich das Gewissen der Sachreferentin, die den Deal einfädeln
durfte: wieder kann der Planet fünf Minuten durchatmen, bis der
nächste Fall anliegt. Schade, dass er, Leckebusch, sie nicht zu Gesicht bekommen wird!
Was nützt es, die Phantasie zu vergiften? Der Preis ist
beträchtlich, aber bezahlbar. Elisabeth, davon geht er aus, wird die
Überweisung – Trennung hin, Trennung her – nicht unentdeckt
bleiben. Was soll er sagen? Vorerst nichts.
Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
1
Wie wirkt die Tatsache, dass Elisabeth gegangen ist, sich auf die Psyche des Mannes Leckebusch aus?
Die Psyche des Mannes Leckebusch setzt Elisabeths Abgang keinen Widerstand entgegen. Das erstaunt den Mann Leckebusch, der sich vor dieser Szene lange in abstracto gefürchtet hat.
Elisabeths Abgang ist nüchtern, verständig und bestimmt.
Leckebusch konstatiert erleichtert, dass auch er die verantwortungsvolle
Aufgabe nicht besser hätte angehen können. Das beruhigt die Psyche
des Mannes, der zufällig seinen Namen trägt, da es ihm einige
praktische Fragen, das künftige Leben betreffend, mit seiner
abgehenden Frau zu besprechen erlaubt.
Selbstverständlich ist er der ausziehende Teil.
―Bestellst du mir einen Spediteur?
―Schon erledigt.
―Konntest du ihn herunterhandeln?
Das Herunterhandeln, fixe Idee, gehört zur
Vorstellung effizienten Wirtschaftens, also der Tätigkeit, die
Elisabeth in seinen Augen vorbildlich beherrscht. Ihren Rat wird er
weiterhin brauchen, davon geht er aus.
Im Augenblick ist er die Ruhe selbst. Dass seine Hände zittern,
registriert er mit der stillen Verwunderung eines Säuglings, der gerade
seine Extremitäten zu erkunden beginnt.
Er entdeckt die Freiheit des Kopfes; ihr ergibt er sich willenlos.
Eine willenlose Freiheit ist eine überraschende Erfahrung.
Darüber wird er nachdenken lassen.
Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
2
Freunde haben ihm die neue Bleibe besorgt: ein verträumtes,
windschiefes Fachwerkhäuschen, gleich neben einer Ausfallstraße
gelegen, auf der Schwelle zwischen Stadt und Land, den erreichten
Ausnahmestatus sichtbar allen anzeigend, die an seinem exzentrischen
Dasein Anteil nehmen. Groß genug, um den aktiv benützten Teil
seiner Bibliothek aufzunehmen.
DIE NEUE BLEIBE
Das sagt sich leicht, aber die innere Stimme
signalisiert Leckebusch, sie werde von Dauer nicht sein. Das Verstörende daran ist die innere Stimme. Er kann sich nicht
daran erinnern, jemals Stimmen gehört zu haben, es sei denn, sie
kämen ordentlich durch den Gehörgang, wie es sich gehört, mit Ausnahme der
Stimme der Pflicht, die überall und zu jeder Zeit sprechen kann,
aber dann durchs eigene Sprechorgan: auch darin liegt, wie in allem
Sprechen, etwas Geheimnisvolles, aber der Mensch gewöhnt sich daran,
schließlich unterscheidet ihn das vom Vieh.
Die innere Stimme, Leckebusch hört sie neuerdings überall.
Sie erhebt sich, wann immer er die neue Bleibe betritt: ein
Schwirren, ein Wispern, ein Tuscheln, ein Räuspern, ein Zischeln –
wüsste er nicht, was der Ausdruck meint, er würde das Phänomen als
Tinnitus deuten, aber das hieße, die neue Realität einem krassen
Fehlurteil opfern, und noch immer liegt ihm an Urteilen.
―Das hier, Dame, ertrag ich nicht.
Du musst die Betonung ändern, zieht es ihm durch den Kopf, das
›Hier‹ stärker artikulieren, nicht ganz so stark, dass ein ›Hier
und Jetzt‹ daraus würde, davon ist schließlich nicht die Rede,
nur das reine Hier wäre hier gefragt, wenn von Gefragtsein überhaupt
die Rede wäre, das reine Hier und sein Ich, der Philosoph
Leckebusch, der Mann Leckebusch, würde ihr Therapeut ihm
jetzt suggerieren, doch diese Erinnerung versucht er so rasch wie
möglich aus dem Bewusstsein zu drängeln – es sollte über kurz
oder lang der reinlichen Stube ähneln, die er neuerdings sein eigen
nennt und in der nichts an die elegante Wohnung erinnert, die
Elisabeth jetzt allein mit ihrer Tochter bewohnt. Was so nicht
stimmt, denn allein ist er, und das nicht bloß deswegen, weil sie,
im Unterschied zu ihm, zu zweit sind.
Geh, schwirrt die Stimme, in die Küche, öffne den Brotkorb und
streich dir ein Brot. Irgendetwas wird im Kühlschrank vorrätig
sein, das sich herausholen lässt. Etwas musst du herausholen, dieser
Drang beseelt dich wie irgendeiner, wann jemals fühltest du dich
annähernd so beseelt? Es sind die simplen Handlungen, die das Leben
lebenswert erscheinen lassen, diese gehört dazu (oder auch nicht).
Die Küche ist der Ort, an dem du dich von deiner neuen Bleibe
erholst. Weitgehend funktional, ein wenig zugestopft, wie Elisabeth
sagen würde, stellt sie keinerlei Ansprüche ans ästhetische Gemüt.
Elisabeth ist die erklärte Feindin aller Verstopfung, nur seine hat
sie nicht meistern können. Sollte ihr beiderseitiges Verhältnis an
der Einseitigkeit seiner Verstopfung zugrunde gegangen sein? Falsch,
Leckebusch, ganz falsch.
Was braucht der Mensch ein Verhältnis, wenn er verheiratet ist?
Noch weiß Leckebusch sich verheiratet.
Auf dem Meeresgrunde da drehten wir eine Runde.
Trouble inside.
Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
3
Unter Verstopfung leidet Leckebusch, soweit er zurückdenken kann Mit dieser Partnerschaft geht es ihm wie mit der, die der Tod mit ihm unterhält: selten
aufdringlich, stets einseitig. So oft er es auch versuchte, sie lässt sich
nicht abschütteln. Denn eigentlich hat er nichts ausgelassen: Diät, Bewegung,
Abführmittel-Geheimrezepte, regulären medizinischen Rat und die irregulären
Künste der Heiler, die im Untergrund über die Krankheiten des Volkes herrschen –
sie alle, vor das Mysterium seines Verdauungstrakts gestellt, haben einfach
versagt. Der Darm ist die Sphinx hat er einmal in eines seiner
Arbeitshefte notiert. Das war vor dem Computer-Zeitalter, nicht einmal in die
Schreibmaschine hat die Notiz es geschafft. Sie blieb einfach liegen, ein Relikt
aus der DDR-Vergangenheit, in der seine literarischen Freunde sich reihenweise
an antiken Stoffen versuchten.
Könnte sein, dass die Sphinx ihn jetzt überwältigt. Er hat
seine Nahrungsaufnahme nicht im Griff, soll heißen, er ist im
Begriff, unter die einfachen Karnivoren zu sinken, er stopft, um der
Verstopfung Paroli zu bieten, das ist zwar widersinnig, aber es ist
die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die … wohin verirrt
sich die Sprache? Was fällt ihr ein?
Was soll ihr schon einfallen, wenn die Zügel schleifen? Der
Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Stimmt das? Müsste es
nicht doch heißen: ›der Traum‹? Auch dieses Mal wird er das Rätsel
nicht lösen, das an der Grenze zweier Sprachen aufsprang, am
Übergang zweier Plattensysteme, durch Reibung, wie alles im Leben
des Geistes? Alles, was schläft, träumt – läge da die
Lösung? Nein, sagt die Psychologie, stimmt nicht! Aber vielleicht
trifft nicht sie die Wirklichkeit dieses Satzes, ganz sicher nicht,
der Schlaf der Vernunft fällt nicht in ihr Arbeitsgebiet, andere
Disziplinen sind da gefragt, schlafende möglicherweise, also
vielleicht gerade jene Ungeheuer, von denen der Künstler träumte,
ohne sie anders als in den hergebrachten emblematischen Tieren
darstellen zu können … er muss sich verständlich machen, der
Künstler, also erschafft er Ungeheuer und hofft, die Menschheit
werde verstehen: die irrende Hoffnung, Elpis, ist es, die auf seinen
Blättern die Linien zieht, verflüchtigt sie sich, ist es aus mit
der Kunst und andere Organe, ein Darm zum Beispiel, übernehmen das
Kommando.
Leckebusch heiratet seine Küche und beschließt Maurer zu werden
4
Irgendwie gleichen sich alle abservierten Männer. Sollte das eine
Feststellung sein, so scheitert sie selbst umgehend am Irgendwie. Nichts in
diesen Breiten ist festgestellt, da kommt es auf einen aus der Reihe
tanzenden Mann mehr oder weniger auch nicht an. Der abservierte Mann
ist der belanglose. An ihrer Belanglosigkeit sollst du sie
erkennen, in ihr gleichen sie wie ein Ei dem anderen. Einen
Leckebusch serviert man nicht ab, einfach nicht und auf die
komplizierte Tour auch nicht. Wenn er das Geschehene erträgt, dann,
weil er außer sich ist: im Zustand des Außer-sich-Seins. Leckebusch
kann sich nicht erinnern, diesen Seinsmodus jemals behandelt zu
haben. Konnte er ihn übersehen haben? Die Welt ist das Außer-sich
des Gottes: liegt da der Hase im Pfeffer? Die letzte Scheu? Nun,
er muss sie wohl ablegen, jetzt, wo es ans Überleben geht.
Der abservierte Mann ist der Überlebende der Beziehung. Wenn die
Beziehung das Haus war, in dem er täglich ein und aus ging, in
dessen Schatten er seine Hände wusch und seinen Schlafanzug
hervorkramte, wenn es Nacht wurde, dann ist es offenbar über seinem Kopf
zusammengefallen und er kann von Glück reden, dass ihn keines der
Trümmer erschlug. Er will aber nicht von Glück reden, so
nicht und jetzt nicht und überhaupt, es hat ihm die Sprache
verschlagen und seine Sinne betasten die Nacht, die so unvermittelt
über ihm aufzog, am hellen Vormittag, ganz wie dem tollen
Menschen Zarathustras.
Meinen zarten Astralleib zu schützen, begab ich mich in die Hände von Toren.
Der Klang der Kirchenglocken, gleich nebenan, prügelt ihn fast
aus dem Gehirn.
Drehte er aber sein Hütlein und sagte ihm, wohin die Reise ging, so war er im Nu dort
Sechse kommen durch die ganze Welt
1
Siehst du, sagt Iris
―Leckebusch ist nicht zu packen. Ein zäher Hund, mit allen Wassern gewaschen, man weiß nur nicht, wofür. Jetzt hat er seinen Fernsehauftritt, er hat ihn gehabt, was einen Unterschied darstellt wie der zwischen Tinte und Brause, er geht zufrieden nach Hause und fragt sich, ob so ein öffentliches Dasein sich lohnt. Nicht des Geldes wegen, das kann er immer brauchen, das Zubrot verschafft ihm Respekt bei der Ex. Elisabeth macht sich nichts draus, sie lacht sogar drüber. Aber es schmeichelt ihr doch. Ja, es schmeichelt ihr, weil sie weiß, dass er ein Wurm ist, ein zäher Wurm, das schmeichelt ihr. Wäre sie anders, hätte sie ihn nicht abserviert, sie hätte ihn laufen lassen, aber nicht abserviert, die Leine immer zur Hand, wie sonst, man weiß nie, wozu so ein Professor gut ist. Hast du sein Zauberhütchen gesehen, die Baskenmütze, schief übers Ohr gehängt? Damit kommt er durch die Welt. Auf diesem Ohr ist er taub. Es ist sein Welt-Ohr. Auf dem anderen hört er alles, er benützt es als Hör-Rohr, um die Verhältnisse zu belauschen. Dieser Mann lebt in Verhältnissen, er lebt nur in Verhältnissen, ich meine, er kennt nichts anderes, und er ist der Fremdkörper in allen. Ein richtiger Fremdkörper, selbst der eigene ist ihm fremd. Er ist ein Körper in einem Körper in einem Körper. Nein, das stimmt nicht, er ist ein Körper in allen Verhältnissen, sie sind ihm alle gleich fremd. Deshalb trägt er die Mütze so schief. Schöbe er sie gerade, erstarrte die Welt. Nicht vor Ehrfurcht, das gerade nicht, auch nicht in der Furcht des Herrn, obwohl er etwas von einem Priester... Hast du das nicht bemerkt? Wo schaust du hin? Ich denke, sie würde der Kälte eingedenk, die sie umgibt, und begänne zu klappern, schutzlos dem Kosmos ausgeliefert, der in ihm kreist. Unser Mann im All, das ist Leckebusch, darauf gehe ich jede Wette ein. Du musst ihn nur hüsteln hören, dann weißt du Bescheid. Kein Mensch hüstelt so. Erst denkst du, er hüstelt geziert, aber das stimmt nicht. Was du hörst, ist das Knattern einer Membran. Leckebusch hüstelt, sobald andere menscheln, das klingt wie ein Reflex, aber es ist nur ein Effekt. Ein Berühr-Effekt. Ein richtiger Raumfahrer verlässt die Erde nicht, er ist immer schon unterwegs. Allein genommen, ist er ein Bote, sobald sechse von seinem Schlag beisammen sind, erlischt das Feuer der Welt.
Sechse kommen durch die ganze Welt
2
Das mag sein, hörst du dich sagen
―aber wo war er am elften September 2001, genannt nine-eleven?
―Das kann ich dir sagen, sagt Iris, er hat es mir selbst gesagt. Es geht eine Sagerei ohnegleichen um diesen elften September, vermutlich, um das allgemeine Versagen damals zu übertünchen, aber vielleicht ist das nur ein Kalauer. Er saß am Schreibtisch, natürlich saß er am Schreibtisch, und Hölzchen, natürlich Hölzchen, schickte ihm eine Nachricht, kurz und kryptisch, so wie man damals mailte: »NINE-ELEVEN. Schau in den Geschichtsbüchern nach. BREAKING NEWS.«
Sie duzten sich also damals schon: ein nicht unwesentliches Detail. Er, Leckebusch, habe das erst nicht verstanden, aber die Hilfskräfte hätten ihn vor den institutseigenen Fernseher geholt, weiß Gott, warum der bereits lief, und so habe er alles in Echtzeit mitbekommen, wenn man das so sagen dürfe. Der qualmende erste Turm, der zweite Einschlag, der senkrechte Einsturz einer ganzen Zivilisation in den Bruchteilen einer Sekunde … er hat das wirklich so formuliert, unter einer Zivilisation tut er’s nicht, das ist er seinem Denkansatz schuldig…
―Also du findest das übertrieben?
―Ich finde es nicht übertrieben, ich find’s absurd.
―Ach. Schieß los.
Aber sie schießt nicht los, die Gute, sie hat sich in ihren Erinnerungen verhakt und ihr kommen die Tränen.
―Erinnerst du dich an die Pünktchen, die aus den Fenstern in die Tiefe fielen? Tränen der Schöpfung. Später hat man sie vergrößert, so dass man sie fast identifizieren konnte, es waren Menschen, Büromenschen, angetan mit Büroklamotten, im freien Fall. Zu denken, dass man ihnen das angetan hat…
―… um ein Zeichen zu setzen.
―Ein grausiges Zeichen, ein Zeichen zuviel in dieser verrotteten Welt, wenn du mich fragst, man weiß nicht einmal definitiv, wer solche Zeichen setzt und wozu –
―Auch du?
―Was soll das heißen? Ja, ich bin truther, wenn du das meinst, ich scher mich einen Dreck um die Korrekten. Du kannst mich ja feuern, wenn du das nicht aushältst. Hältst du mich aus? Ich wollte das immer schon fragen, aber man kommt sonst nie zu solchen Themen. Diese Fu-Kacke hält einen ganz schön am Laufen. Meinst du, das ist ein Honigschlecken?
Die gedankliche Abweichung und ihre Beziehung zur Gemeinschaft
1
Elfriede Ritter, frisch ernannte Professorin für Tourismus und Kommunikation, lädt zur NIE WIEDER!-Party mit Sekt und Brötchen in den Räumen des Lehrgebiets ein und stellt bei dieser Gelegenheit ihre Arbeitsschwerpunkte vor
Die gedankliche Abweichung und ihre Beziehung zur Gemeinschaft
2
Ritter, den Rock gerade streichend, taucht ins strahlende Auge des
Abgrunds und erblickt dort Tronka
Tronka gibt sich zerstreut.
―Ranke, sagen Sie: Wie kommen Sie auf Ranke? Janein, das würde mich interessieren. Meinen Sie jetzt den Historiker Ranke? Oder den preußisch-deutschen Patrioten? Oder den Mann R…
Ritter knipst ihre Mitarbeiterinnen an. Reihum gehen die Köpfe hoch. Sie lässt sich Zeit, viel Zeit.
―Ehrlich gesagt, ich fühle mich nicht wohl bei Ihrer Wortmeldung.
Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, mich Ihnen verständlich machen zu
wollen, aber ich versuchs mal so rum. Vielleicht reden wir hier auch
nicht über Wörter, es handelt sich ja um ganz normale Wörter, die
jeder von uns schon einmal gebraucht hat – ja, auch
ich, natürlich, warum sollte ich das leugnen? –, und weiterhin
gebrauchen wird, im Gegenteil, müsste man sagen, eher handelt es
sich um einen Fall von Missbrauch, Missbrauch mit Wörtern,
Missbrauch an Wörtern … vielleicht, ich sage ja nicht, dass es so
ist, ich stelle es nur einmal in den Raum, wer will, kann daran
nippen… Es ist schon so, dass ich mich unwohl fühle, seit Sie an
diesem Tisch Platz genommen haben, um den wir nun einmal alle
versammelt sind … neinnein, Sie können nichts dafür, keine Frage,
dafür können Sie nichts … Was ich sagen möchte, ist nur:
dieses Unwohlsein ist konkret, es geht nicht deswegen weg, weil ich
mir sagen könnte, der arme Mann kann nichts dafür. Also … sie
verstehen, was ich damit sagen möchte … also muss ich mir sagen, der
arme Mann kann sehr wohl etwas dafür, keineswegs ist er so arm dran, dass
er nichts dafür könnte, der arme Mann weiß, wie man Frauen
manipuliert, wir alle haben es oft genug erlebt und man hört, was
man hört, der arme Mann ist ein armer Mann ist ein armer Mann …
ich will sagen, wenn ihm einfach nicht zu helfen ist, dann muss man
eben auf eine andere Lösung sinnen … ich sage nicht, das muss
sein, aber mit dem Appell ans Nachdenken kommen wir hier ersichtlich
nicht weiter … nicht weiter, das ist schon klar. Und was auch schon
klar ist: einmal muss alles ein Ende haben. Verstehen Sie mich
richtig. Ich sage, das muss ein Ende haben. Ich bin ja nicht die
einzige hier, die dieser Überzeugung ist, falls Ihnen die Mitteilung
helfen sollte, aber es ist nun einmal so: Ihre Anwesenheit macht mich
fertig, das spitzt die Sachlage auf eine einfache Alternative zu. Ich
kann gerne auch deutlicher werden, falls Ihnen das helfen sollte.
In den einsamen Stunden des Geistes geht Wissenschaft anschaffen
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
1
Ein Stück aus dem Tollhaus oder: Birnendialektik vom Feinsten
Vorwärts und nicht vergessen. Welche Birne aber die richtige ist, ich sag’s dir nit.
Es kommt selten vor, dass eine Birne die andere totschlägt. Gewöhnlich erdrücken Birnen einander heimlich, indem sie sich braune Flecken zufügen, wo es keiner sieht. Totschlag vor aller Augen hat ein anderes Format. Passiert er dennoch, drücken die Leute sich die Nasen an den Scheiben platt. Nichts dient mehr dem Gaudium des Volks als Politik, die im Glashaus poltert. Natürlich ist Birne eine Metapher. Der Kanzler und die Kanzlerin heißt das Stück, auch Zukunft und Gegenwart kann man auf einem der Plakate lesen, die windige Verkäufer schnell zwischen sie und das Objekt ihrer Neugier schieben. Aus allen Branchen strömen die Verkäufer des Edlen, Wahren, Guten auf den Jahrmarkt der Macht. Hier wollen sie Verdienste erwerben. Mit von der Partie ist selbstverständlich die Wissenschaft, der mit ›Engagement‹ gepflasterte Vorhof der Politik. Überhaupt ist wissenschaftliche Expertise die nobelste Nummer, wenn es gilt, dem Ab- und Aufstieg der Mächtigen ein paar Promille Sekundenruhm abzuluchsen.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
2
Birnenspezialist I
Der Historiker Kaltenegger, von Dürrobst einmal in häuslicher Runde als graue Figur vor gekalktem Hintergrund bezeichnet, hat sich beizeiten ein System öffentlicher Äußerungen zugelegt, das wie ein mit Zähnen
gespicktes Tellereisen in Aktion tritt, sobald Birne I eine seiner wählernahen Äußerungen tätigt, die der teils belustigte, teils angetane Volksmund sich in ein Was kostet die Welt? Nur Mut, es wird schon werden! übersetzt. Jeder kennt Birne und weiß, was seine Sprüche bedeuten: Das braucht jetzt viel Geld, aber es lässt sich auch gutes Geld damit verdienen. Mit anderen Worten: das Geld der Massen wechselt seine Besitzer und das ist gut so. In politischen Kreisen nennt man das ›Investition in die Zukunft‹. Das geht manchmal gut und manchmal daneben.
Kalteneggers Lesart geht so:
Aha. Birne zieht uns das Geld aus der Tasche. Wofür? Damit
die Konzerne sich bereichern. Vetternwirtschaft! Korruption!
Birne belügt das Volk, indem es ihm unerreichbare Ziele
vorgaukelt. Niemals wird es blühende Landschaften geben, da der
Kapitalismus Landschaften nur zerstören, aber nicht zur Blüte
bringen kann. Q.e.d.
Niemals werden jene Landschaften blühen, weil …
nun, weil sie ihre Blüte hinter sich haben. Begründung a) siehe 1.
Begründung; b) Jene Landschaften sind überflüssig. Das System
bedarf ihrer nicht. Dunkelland forever. So geht Dialektik.
Birne, der, wo es geht, die Geschichte für sich arbeiten lässt (»Wir
sind ein Volk«), arbeitet in Wahrheit der Geschichtsvergessenheit zu: ein Verbrechen, das uns alle ins Verderben zerren wird. Birne gaukelt den Massen eine intakte Geschichte vor, die es weder geben kann noch darf. Dagegen hilft nur: Damnatio memoriae!
Birnes Ansatz ist menschenverachtend.Er disqualifiziert sich moralisch, indem er andere
disqualifiziert. Bildlich gesprochen: er setzt den Fuß auf den Nacken des Feindes und triumphiert. Dass er sich da mal nicht täuscht. Heute liegt dieser Feind scheinbar unrettbar am Boden, aber wer sagt Birne, dass das so bleibt? Ideen können nicht besiegt werden, vor nicht, wenn sie einem tiefen Gefühl für Gerechtigkeit entspringen. Sie werden die Menschen immer bewegen. Davon versteht Birne nichts.
Wer die Gerechtigkeit zum Feind erkor, dessen Enttarnung ist bloß eine Frage der Zeit. Die Geschichte, seine Geschichte, wird über ihn hinwegpoltern.
Als Meister seines Fachs hat Kaltenegger ein feines Gespür dafür
entwickelt, welche Kombination aus Punkt 1 bis 6 in welchen
Situationen die stärksten Effekte erzielt und wendet sein Wissen rücksichtslos an. Sein Gespür hat ihn in die
Fernsehstudios getragen und da sitzt er nun. Nur die Sessel wechseln. Geht er noch immer nach Hause, sobald die Lichter erlöschen? Lohnt es sich für einen wie ihn überhaupt? Besser, er schliefe gleich vor Ort, zwischen den Kulissen, wenn die Gespenster des Vortags zum Tanz der Vampire bitten.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
3
Birnenspezialist II
340 Kilometer Luftlinie von Kaltenegger entfernt, in einem wonnigen Städtchen am Oberrhein, tickt sein Historiker-Klon mit dem beziehungsreichen Namen Herzländer. Wann immer Kaltenegger sich räuspert, räuspert sich Herzländer. Wann immer Heribert ›W.‹ sich wehenden Haars ins Studio aufmacht, blickt Kahlkopf Alertus Herzländer auf die Uhr und lässt das Taxi rufen, das ihn zum Flughafen befördert. Der Wechselgruß der Champs, oft geübt, ist das leichte Neigen des Kopfes. Darüber hinaus vermeiden sie Blickkontakt. Kaltenegger, long-legged wie nur immer eine blonde Beauty, beansprucht im Ganzen Mittelmaß, nicht anders sein Gegenspieler, der klein von Statur, aber, darin Tronka vergleichbar, als Sitzriese sein Format behauptet.
So sieht er aus, der Herold von Birne II, dem aufgehenden Stern am Hauptstadthimmel, zur Zeit damit befasst, durch schonungslose Aufdeckung seiner Schandtaten ihren Ziehvater Birne I zu demontieren.
Herzländers Part liest sich so:
Ganz recht. Wurde auch langsam Zeit.
Sagen wir doch einfach: die vor uns liegende Politik wird weiblich und ökologisch sein oder gar nicht. Wenn wir den Zug verpassen, dann, ja dann gehen wir einer Zeit der Verwüstung in globalem Ausmaß entgegen. Der Kapitalismus, wie wir ihn bisher kannten, ist ein Programm zur Selbstausrottung der Menschheit. Das können wir sogar beweisen.
Ihnen ist schon klar, dass die Politik dieses Landes plötzlich wieder ein Gesicht besitzt? Ich sage das nur, weil es mir auf der Seele brennt und ich es einmal loswerden will. Es ist verdammte Medienpflicht, die Botschaft in jedes Wohnzimmer zu transportieren. Einfach mal zur Kenntnis nehmen: an dieser Frau führt kein Weg vorbei.
Vor uns liegt, ich erwähne das nicht zum ersten Mal, eine historische Aufgabe von gewaltiger Dimension: die Vollendung der größeren Einheit Europas. Ohne sie ist alles Erreichte falsche Tendenz. Keiner wünscht sich den Nationalstaat zurück. Europa, das bedeutet Frauenrechte, Schwulenrechte, Diversität, Toleranz und Frieden. Da wollen wir hin und deshalb ergibt Birne II Sinn.
Natürlich ist alle Politik Geschlechterpolitik. Politik wurde bisher von Männern gemacht. Das ändern wir jetzt. Diese Frau ist an der Zeit und sie hat den richtigen Sinn für das, was an der Zeit ist. Und sie besitzt diesen tief in ihrer Herkunft verankerten Sinn für das zu Bewahrende. Merken Sie sich das!
Ich stelle das jetzt so ungeschützt in den Raum, aber es stammt aus innerster Überzeugung –: ich wünsche diesem Land, dass es in den kommenden Auseinandersetzungen nie das wertvolle Doppelerbe der Kandidatin aus den Augen verliert – nüchterne Frömmigkeit, gepaart mit bürgerrechtlichem Engagement und naturwissenschaftlicher Leidenschaft. Das ist die Kombination, die das Land sicher vor den idealistischen Versuchungen der Vergangenheit bewahrt.
Herzländer beherrscht das flüchtige Tremolo.
Blowasser bewegt eine Frage.
―Wer beherrscht Herzländer? Die Partei? Welche Partei? Die neue oder die alte? Die neue noch nicht und die alte nicht mehr?
Gewisse Kollegen, Kiefer zum Beispiel, sehen Anhaltspunkte für Tieferes, eine verborgene Agenda, über die niemand spricht.
Was wäre schon sicher in diesen Tagen.
―Puppen, sagt Tronka… Puppen mit harten Köpfen. An Kalteneggers Bürotür steht mit Filzschreiber in studentischer Krakelschrift: We want Herzländer now. Darunter: das Zeichen der Anarchie. Was mag wohl an Herzländers Tür stehen? ›Die Frau*innenschaft der pol. Sekt. der Hs, vorm. Marx-Engels, dankt‹? Oder doch eher das alteingeübte: ›Verräter‹?
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
—Weiß Kaltenegger, an welcher Kulissenschieberei er sich beteiligt? Wahrscheinlich nicht. Seine Analyse strahlt das exakte Maß an Kälte aus, das es braucht, damit man ihr – ganz ohne Nachfrage – das wissenschaftliche Fundament abnimmt. Unser aller Kaltenegger ist, wie wir dort draußen erfahren, Experte … Experte schlechthin, die wandelnde Expertise, ins Studio geholt, um eine der quälendsten Fragen der Gegenwart bündig zu beantworten: Darf man den Kanzler der Einheit entmachten? Die Antwort darauf lautet (sonst würde die vierte Gewalt ihn nicht ins Studio bitten): Man darf es nicht bloß, man muss es tun. Jedes Ausweichen vor dieser Entscheidung wäre Verrat an den demokratischen Prinzipien, die uns alle leiten. Nieder mit dem Verräter! Halt! Etwas noch. Dass unser aller Experte gerade die demokratischen Prinzipien vertritt, ›die uns alle leiten‹, das, will ich meinen, bedarf keiner Frage. Die Vermittlung erledigt die Moderatorin … ihr strahlender Augenaufschlag, die präzise Klugheit, mit der sie, Knopf im Ohr, Suggestivfragen oder kleine Zwischenbetrachtungen nachlegt, wann immer ihr Gegenüber Ermüdungserscheinungen zeigt, ihr kuscheliges Sich-Zurechtrücken im Angesicht seiner Ausführungen, ihr seliges Aufgehen in der Aufgabe, deren Wichtigkeit auf ihren gebrechlichen Körper zurückwirkt und ihm Reserven aus Stahl zuführt –
—Was bewegt Herzländer zu seinen Schalmeien auf Birne II, vorerst zarte, aber kräftig treibende Knospe? Das Reich des Bösen, das Weltreich des Josef Wissarionowitsch, errichtet auf den Knochen geschundener Klassen und Völker, ist zerfallen, die Weltgeschichte hat einen ihrer verblüffenden Schwenks vollzogen und die journalistische Muse zieht ihr Batikdeckchen darüber: die wirkliche, echte und wahre, seit Jahrzehnten aus- und anstehende Revolution, die Wachablösung der Geschlechter auf den luftigen Höhen der Macht. So veränderungsträchtig ist diese Umwälzung, dass sie, pardon, ohne reellen Inhalt auskommt. Ich sehe, da regt sich Widerstand. Vorerst jedenfalls will keiner sich einstellen. Oder kennen Sie einen? Sie ist sozusagen das Reelle selbst.
Herzchen Herzländer hat das gut erfasst, die Himmel jauchzen und die Herren, die Herren hören es mit … schlechtem Gewissen, denn schließlich ist es genau das, was sie den Frauen seit langem versprochen haben: der Durchbruch. Ein Tusch auf das Geschlecht der Zukunft! Huschhusch! Will sagen, das Fu-Projekt, in einem weiteren Sinn genommen, hat die Spitze der Gesellschaftspyramide besetzt und zeigt seinen realen Kern: Wer wen? Guter Mann! Wissen Sie, Frau Ritter, dass die Pyramide dieses Riesentalent verschmähte, als es sich vor Jahren auf eine hiesige Professur bewarb? Jetzt treibt er ihr Thema auf die Spitze.
Argument (1) Angenommen, dem wäre so, dann könnte es nur die
Macht des Wortes sein, denn eine andere steht ihm nicht zur
Verfügung.
Argument (2) Das kann so nicht stimmen. Auf Anhieb fallen dir zwei, drei Leute aus deiner Umgebung ein, die, sobald es darauf ankommt, bedeutend eloquenter zur Sache gehen.
Was also zeichnet Kaltenegger aus?
Erste Antwort Nichts. Schlicht und einfach: nichts. Das Wort wird ihm erteilt, weil da nichts
ist. Und das ist nicht einmal paradox. Das Medium liebt sein Nichts. Aus diesem Stoff erschafft es alles.
Studio-Kaltenegger wäre demnach nichts weiter als eine Kunstfigur (›Imagina‹). Mit dem aufgeblasenen, aber kompetenten Wicht, mit dem du gestern noch am Rande einer Sitzung ein paar belanglose Worte gewechselt hast, hätte sie nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. So oder so ähnlich ähnlich muss sich des Rätsels Lösung in den Köpfen der Medienspezialisten malen, Teuschners etwa, der das Thema länger schon auf dem Schirm hat.
Eintretende aller Wissensgattungen: Lasset alle Hoffnung fahren, ihr könntet hier etwas aus eurem vertrauten Hausrat einschleusen.
Aber das gilt für jede Region des Todes.
Demnach verfügte die Macht über Kaltenegger?
Aber gewiss, gewiss.
Macht verfügt über manches, warum nicht auch über
Kaltenegger?
Macht ist Macht.
Zweite Antwort Verlässlichkeit. Überzeuge dich selbst: der gute Kaltenegger, unser aller Kaltenegger, der Mann mit den kalten Augen, der Mann, den du kennst und dessen Urteil du, mit Abstrichen, schätzt, ist die Verlässlichkeit selbst. Ein brauchbares Mundstück im Gespräch der Macht mit sich selbst. Der Wind, das himmlische Kind, pfeift hindurch und es gibt – na was wohl? – Laut. Dafür braucht einer wie er sich nicht zu verbiegen, denn: so ist er nun einmal. Da kann man nichts machen.
Fazit
Kaltenegger, mit Macht-Augen betrachtet: ein
verlässliches Nichts. Eine Telefonnummer.
Sorry, aber das muss so notiert werden.
Motto
Wenn ich Birne sage, dann meine ich Birne. Ohne Abstriche. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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Wer diskriminiert hier wen?
Der international anerkannte Prof. Dr. jur. Prof. h.c. mult. Alertus Herzländer leitet ein Institut für Diskriminierung und Diskriminierungsfolgen. Die Moderatorin der Talkshow sagt es mit hartem,
schnellem Wimpernschlag, als schlüge sie ein Ei auf: Sieh da, der Dotter,
Spiegelei oder Rührei? Ebenso gut wie Herzländer könnest du auf diesem Stuhl
Platz nehmen und nein, du würdest nicht über Diskriminierung reden, nicht über
geschlechtliche, stattdessen über Strategien intersexueller Macht, über
Subtilität und Grobianismus, über versteckte, verdrehte, asymmetrische Formen
der Symmetrie, Variationen der Abhängigkeit, über Sucht, Passivität, Motivation,
Versagung, Überwältigung, Schulderzeugung und Schuldverschiebung, über Scham und
Scheu, über die Klaviatur der Dreistigkeit, über verschleppte, verzögerte,
delegierte und fabrizierte Entscheidungen, über die Grenzen der Öffentlichkeit,
den unsichtbaren Teil der Gesellschaft und seine Bedeutung, über die Funktion
von Sichtbarkeit überhaupt: über dies alles könntest du, ohne Punkt und Komma
redend, Rechenschaft ablegen und immer nur sähest du das eine, den Knopf im Ohr
der Moderatorin, ihre flackernden Gesten, ihren verzweifelten Kampf, dir das
Wort abzuschneiden, bevor irgendein unnennbares Unheil über sie und dich
niedergeht und euch auslöscht.
Woher weißt du das? Ganz einfach: du kennst das
Spiel. Automatisch detektierst du die Kraftfelder, in die gerät, wer die Orte öffentlicher Sichtbarkeit aufsucht, im Schlaf erkennst du das Verhalten des anwesenden Personals… Daran ändern auch die Studiolampen der Fernsehanstalten nichts. Die kleine Öffentlichkeit der Symposien hat dich Mores gelehrt. Gut, noch fließt das Sagbare breiter, noch herrscht thematische Vielfalt. Aber schon einmal warst du dabei, als sich die Horizonte verengten, hast dir deinen Teil dabei gedacht, als sich der immer vorhandene Anteil des Politischen
peu à peu vergrößerte und unaufhaltsam nach vorn schob. Auch du bist Zeuge. Hast
du protestiert? Aber nicht doch. Da war die Macht und das Teilchen, das deinen Namen trägt, hat sich an ihr ausgerichtet. Auch Fu hat sich zu Tode gesiegt.
Die Unbedarftheit der Jungen und das Ressentiment der Alten ergeben zusammen den Cordon sanitaire, der alle Geschichte umspielt.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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Das Große Spiel
Herzländer, der zwar wenig über Wahlmechanismen und ihre Folgen, aber dafür alles über
sexuelle Benachteiligung weiß – jedenfalls in Zonen, wo es politisch opportun ist –, Herzländer
kämpft. Er kämpft den Kampf seines Lebens, betreffend den wichtigsten Job, den die
Republik zu vergeben hat. Der Historiker findet – und er steht damit in seiner Zunft nicht allein –, es sei nunmehr an der Zeit, dass ›dort‹ eine Frau hinkommt. Tief in den Abgründen seines Empfindens steht für ihn unverrückbar fest:
dies (und nichts anderes) ist der logisch nächste Schritt im weltweiten Kampf gegen geschlechtliche
Diskriminierung. Die Welt ist reif. Er kann es sich gar nicht anders vorstellen, als dass die Erfüllung dieses Wunsches sein Sieg sein wird, die Krönung seines Kampfes, ach was, seiner Lebensarbeit, er kann die Ironie, die in dieser Aussage steckt, nicht erkennen, sie will und will nicht heraus, so oft er seine Motive auch prüft. Wie alle Renegaten erschlägt er seine Zweifel mit Eifer. Niemand, schwört sein empfindliches Ego, niemand (auch keine Frau) soll ihn an Glaubensstärke übertreffen.
So jedenfalls deutet es Teuschner, Experte für Ironie. Das Schweigen der anderen missdeutend hat er gerade beschlossen, sich selbst zu übertreffen, als der Zufall, verkleidet als Argloser, das stille Wässerchen Argloser, ihm ins Wort fällt.
―Aber das ist Schwachsinn. Wenn der das wirklich meint, dann … dann … ist ihm nicht zu helfen. Dem ist sowieso nicht zu helfen, brabbelt er weiter, aber das steht auf einem anderen Blatt. Diese Frau, für die er so vehement streitet, ist eine dreifach gewundene Schlange. Die will an die Macht wie irgendein Mann. Wo ist da der Unterschied? So eine wartet doch nicht darauf, dass ein Gerechtigkeitsfuzzi sie auf den Geschlechterpodest hebt. Was soll sie da oben? Das grenzt ja an vorsätzliche Behinderung… Was bildet der Kerl sich ein? Glaubt er…
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―Schon gut. (Elisabeth bringt einen Tupfen Gelassenheit in das Gespräch) Könnte es sein, dass Sie sich in diesem Augenblick ein bisschen verrennen? Es ist ja nicht so, als ob die Frauen gar keinen Nachholbedarf hätten. Man soll die Männer nicht aus der Pflicht entlassen, wenn sie sich schon einmal verantwortlich fühlen, ansonsten… Sie haben natürlich recht, die Frage ›Ist das eine Frau?‹ lässt sich nicht völlig von der Hand weisen, und ob Frauen, sind sie erst einmal an der Macht, auch Fraueninteressen bedienen, das, tja, das steht…
―… in den Sternen, ganz recht, das wollte ich noch anmerken.
Wie meinen Sie das mit dem Nachholbedarf, gnädige Frau? Sie
glauben, die zweitausend Jahre allerchristlichster weiblicher
Machtabstinenz müssten jetzt –
―Manchmal grenzen Ihre Bemerkungen wirklich an Schwachsinn, lieber Argloser. Ich
wollte es Ihnen schon stecken, bevor Sie es von anderer Seite erfahren, und da
jetzt gerade die Gelegenheit … so ein grandioser Wissenschaftler wie Sie hat das
eigentlich gar nicht nötig, sind Sie verheiratet? Nein? Aber geschieden sind
Sie, das sehe ich Ihnen an. Psst! Leugnen Sie nicht. Wir diskutieren das noch
ein andermal, ein ander-… Frauen sehen es nun mal gern, wenn eine
Frau solch ein Amt gewinnt, es ist ein wenig so, als würde jede von uns ebenfalls …
aber deshalb sind wir weder naiv noch dumm. Bei alledem wissen wir ganz gut, wie schlecht
unsere Interessen bei manchen Vertreterinnen unseres Geschlechts aufgehoben sind,
deshalb steht für uns die Frage obenan…
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Nassen hechtet dazwischen. Er muss es einfach – eine Reflexhandlung, die zu meistern er spät oder nie lernen wird.
―Aber das ist Defätismus, sagen Sie sowas nicht. Wie können
Sie die Machos nur in ihren Auffassungen bestärken? Wenn ich Sie
nicht besser kennen würde, dann…
Mit dem sanftesten aller Augenaufschläge spießt sie ihn auf und wickelt ihn ein.
―Dann? Ganz schnell heraus mit der Sprache: was dann? Ich mag Ihre Art zu denken, aber in diesem Fall … Ach Nassen! Ich rate Ihnen, hüten Sie sich vor dem ›dann‹. Es hat schon manchem übel
mitgespielt. Wo waren wir stehengeblieben? Objektiv schadet dieser etwas selbstgefällige Herr Herzländer der Sache der Frauen natürlich. Das ist ja schon peinlich, was der Mensch absondert. Niemand zweifelt doch am Durchsetzungswillen dieser Frau. Sie kann das. Aber darum geht’s nicht. Keiner fragt, was die eigentlich vorhat. Keiner kennt ihre Motive. Keiner weiß, wo sie herkommt. Die Männer sind ganz
benebelt, sie starren nur auf das eine … neinneinnein, nicht das,
was Sie meinen, das Starren und das Meinen haben in diesem Fall gar
nichts miteinander zu tun und das erschreckt mich ein bisschen, denn
das klingt jetzt, als hätten die Männer den Verstand verloren. Schade, sie werden ihn
brauchen. Denken Sie an meine Worte, ich komme darauf zurück.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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Häufiger, als wolle sie das Schicksal herausfordern, zeigt sich Elisabeth jetzt in der Pyramide. Argloser lässt sie nicht aus den Augen. Tatsache ist: immer mehr Blicke drehen sich zu ihr hin. Und das scheint nicht allein der sexuellen Attraktivität geschuldet.
Still und heimlich hat Argloser, das Mauerblümchen des Systems, einen ›Weblog‹ angelegt, voll naiven Vertrauens, seine Kollegen würden es als unter ihrer Würde stehend erachten, diese Form der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Hier fühlt er sich frei, ›von der Leber weg‹ seine Gedanken zu äußern, müde der sachfremden Einwendungen, die seine Überlegungen keinen Schritt weiterbringen, und dem Hautgout, mit dem sie die Sache (und damit letztlich seine Person) belegen. Nicht dass er sich verfolgt fühlte. Noch ist er sich relativ sicher, unter dem Radar der radikalen Feministen zu fliegen, und möchte nicht, dass dieser Zustand vor der Zeit zu Ende geht.
Vor der Zeit? Was heißt ›vor der Zeit‹? Der ›herrschende Feminismus‹, wie er ihn wahrnimmt, hat gesiegt, er ist buchstäblich herrschend geworden, noch dazu in einer Form, die keinerlei Rechenschaft duldet, vielmehr rigoros jede noch so rudimentäre Plus-Minus-Rechnung zu unterbinden trachtet. In Arglosers Diktion heißt das: er ist nicht lernfähig.
Er wird seine Zeit gehabt haben.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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Appendix: Birne an sich und Birne per se
Warum Birne? Das ist leicht erklärt, führt aber in Abgründe. Birne I, das ist: die sich selbst in den Schoß fallende Politik. Der Kanzler der Einheit, der nichts von ihr wissen wollte, als sie in weiter Ferne zu liegen schien, und hineinbeißt, als sie ihm vor die Füße kollert. Und sein schnell fabriziertes Versprechen: Birne für alle.
Warum muss Birne I fallen? Aus demselben Grunde wie alles: weil er reif ist.
Das wäre der Grund, gäbe es nicht noch einen zweiten: weil er hineinbiss, als die Zeit reif war.
Und noch ein dritter: weil sein den Massen gegebenes Versprechen unwiderstehlich war. Das verzeihen die Eliten ihm nie.
Apropos Eliten.
Merke: Birnes Schuld / das Glück der Vielen. Die Verächter nehmen ihre Plätze ein. Da geht sie hin, die alte Republik.
Ungetrübt aber bleibet nichts.
Unaufhaltsam, das wäre: Birne II.
Die doppelte Birne und die Herrschaftsphantasien der Schwachen
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―Armes Land! sinniert Zypras. Der ungezügelte Hass auf den ›Kanzler der Einheit‹ wirft einen Schatten auf die Zukunft und wird es schließlich zugrunde richten. Es sind die Medien: sie verachten und fürchten das Volk. Damit ziehen sie den nächsten Politikertypus, feige und autoritär bis auf die Knochen. Das war’s dann. In der Mitte des alten Kontinents öffnet sich gerade ein Krater und keiner kuckt hin.
Zypras’ düstere Anwandlungen kommen in letzter Zeit häufiger. Als stünde die Zukunft offen und er sei in ihr bereits vergangen.
Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
1
Protect Art!
Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
2
Vor der Wirklichkeit steht die Kunst
Die Kunst muss weichen, damit Wirklichkeit sei. Ein zurückgeschlagener Vorhang: mehr bleibt nicht von der Kunst angesichts dessen, was einfach zusatzlos ist –; vielleicht
auch bloß die Geste des Umschlagens, erhalten im Körpergedächtnis.
Jedenfalls geht sie nicht weg. Kein Mensch lebt vollständig in der
Wirklichkeit. Kein Mensch? Was weißt du von den Menschen? Nichts. Eine ganze
Menge. Nichts. Ob es dir passt oder nicht, du stehst auf den Schultern
von Riesen. Die Riesen sind abgedunkelt, deinen Blicken entzogen, allein, auf dich zurückgeworfen, füllst du den Raum. Aber das
Dunkel enthält sie, du gewahrst ihre Mitgegenwart. Nimm sie heraus und du bist: kein Mensch. Einmal gelangt auch die Rede vom Menschen, jahrhundertelang geübt, an ihr Ende. Wer sagt das? Ein Wicht.
Kommt die Mathematik an ein Ende? Die müde Kultur schließt die Augen und
murmelt: Alles vergeht. Seht ihr nicht, wie ich vergehe? Seht ihr nicht, wie ich
mich auflöse … löse … Gelall. Die ausgeschlafene Kultur kann sich an nichts
erinnern. »Das soll ich gewesen sein? Wie dem auch sei, ich melde mich zurück.
Ich bin da und heute ist mein Tag. Heute könnte mein Feind fallen. Heute gehört
mir die Welt. Vergiss die Kunst, heute steht Wichtigeres auf der Agenda.
Schlemmer…!« Was weißt du schon von den Menschen? Nichts.
Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
3
Frage
Was weißt du von den Menschen, die auf Plätze strömen und
verlangen, dass anders wird, was gerade noch nicht anders sein
konnte, obwohl es anders hätte sein müssen, um ganz und gar
wirklich zu sein? Oder gerade umgekehrt: was nicht anders sein
konnte, so ganz und gar Wirklichkeit, dass es auf die Dauer nicht
aushaltbar war … Oder wieder anders: weil es unter dem Ansturm
plötzlicher Erwartung unvermutet zusammenbricht wie ein Kartenhaus,
etwas freisetzend, dessen Mitgegenwart lange in Zweifel stand … was
hat das alles mit Kunst…?
Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
4
Sei versichert:
eine ganze Menge. Wenn die Wogen hoch gehen, wenn
kühle Köpfe verlangt sind, um das Scheitern zu verhindern, wenn
Menschen zu strömen beginnen (so wie das Klümpchen ›heiligen
Blutes‹ in seinem hölzernen Fetischbehälter unter dem verzückten
Blick einer Ultragläubigen plötzlich zu rinnen beginnt), Menschen,
die gerade noch ihrer täglichen Arbeit nachgingen, als gäbe es
nichts Ferneres unter der Sonne, wenn eine Welt, welche du aus nicht ganz
zu klärenden Gründen für die deinige hältst, sich zu drehen
anschickt, auch wenn der Anlass in nichts weiter als einer
Fehlkalkulation im Herzen der Macht besteht, dann wird der geringste
Handgriff zum gefährlichen Spiel mit dem Tabu und alle Beteiligten
wissen das. Es steht in ihren Gesichtern, es bekundet sich im
Eifer, der sich ihrer bemächtigt hat, es drückt sich aus in der Weise, in der sie über sich hinausgehen, als sei dies die
selbstverständlichste Sache der Welt.
Die Kunst kennt das Geheimnis des Übergangs und stellt es scharf
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Das Spiel mit dem Tabu –
worin sonst bestünde der Reiz der
Kunst? Das Tabu, einmal angekommen in den Herzen und Köpfen (die es
nie wirklich verlassen hatte, aber das steht auf einem anderen
Blatt), lässt dieses Spiel beginnen, heimlich und offen, erst
heimlich, dann offen, aber gewiss nicht einseitig, denn auch die kalten
Hüter des Tabus begnügen sich nicht damit, seine Wirkungen zu
kontrollieren, auch sie sind Künstler, auch sie lieben das Wagnis,
auch sie wollen seine Grenzen erkunden, indem sie es ausdehnen. Doch
was sie wollen, erweist sich am Ende als nicht so … wichtig… Das Tabu bläht sich, es geht über alle Absichten
hinaus, es wächst, von keiner Gegenmacht gebändigt, zu etwas heran,
wofür es in der Sprache der Menschen keine Bezeichnung gibt, es sei
denn die etwas altmodische der Tyrannei, einer tief in den Alltag der
Menschen eingreifenden Tyrannei, einer Schmeißfliegen‑ und
Schwarmtyrannei, die immerfort neue Parteigänger und Nutznießer,
aber keinerlei Achtung hervorruft. Gerade dieses eine ist ihr verwehrt, im Gegenteil: sie lässt die Selbstachtung derer, die von ihr eingehüllt werden, unaufhörlich sinken, bis endlich vom Menschsein nur noch der Schmutz eines Alltags übrig ist, der niemanden befriedigt, während er doch Befriedigung pur herbeizuschaffen verspricht.
Die Rasierklinge, Werkzeug der Massenmobilisierung, hat tiefe Schnitte in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts hinterlassen. Ich werde darauf zurückkommen.
Wovon gehen wir aus? vom Ausgehen, möchte ich meinen. Der Kunst gehen die Mittel aus. Sie machen sich selbstständig. Sie werden zu Elementen des Wirklichen. Sie werden Wirklichkeit.
Die Gestaltbarkeit des menschlichen Handlungsraums unter den Prämissen ungebremster Virtualität ist das eigentlich Neue.
Wie oft bemerkt wurde, tendiert die Kunst zur Beliebigkeit. Das führt uns auf das erste Theorem, das ich Ihnen heute vorstellen möchte: Alle wirkliche Kunst ist beliebig. Sie werden es bereits stillschweigend um ein zweites ergänzen: Alles Beliebige ist Kunst. Nein, so ist es nicht. Aber alles Beliebige kann Kunst sein.
Das folgt unmittelbar aus dem genannten Theorem.
Wie platt, werden Sie sagen.
Wen hätte dieser Gedanke nicht bereits beim Gang durch ein Museum angeweht?
Meine Antwort lautet: Redlichkeit. Es ist eine Frage der Redlichkeit, dergleichen zuzugeben. Wer wäre im Angesicht der Kunst redlich? Darüber ist zu reden.
Wenn die Kunst die Maske ablegt, legt der Betrachter sie an.
Dahinter mag keine Absicht stecken, aber es ist der Gang der Dinge. Die Kunst hat lange gebraucht, diesen Mechanismus von Grund auf zu verstehen, es bedurfte dazu einer neuen Wirklichkeit und eines neuen Verständnisses von Wirklichkeit, um ihm zu vertrauen.
Duchamps Readymade wies vielen den Weg, doch der Weg war noch lang. Die Kunst entsteht im Auge des Betrachters, dort gehört sie auch hin.
Der Excess, was ist der Excess? Zum Excess kommt es, wenn im Auge des Betrachters die Kunst zum Ärgernis wird und der allgemein gewordene Zorn sie auszureißen beginnt. Die Klinge der Kunst, jeder weiß es, gleitet an der Oberfläche dahin, sie will glatte Flächen. Gleichzeitig zieht es sie unter die Haut, dorthin, wo es schmerzt.
Kunst mischt sich ein, sie kann nicht anders. Aber sie verliert dabei immer. Am Ende verliert sie sich selbst. Dann zeigt sich, dass sie im Ernst nicht verlieren kann. Sie verliert sich an ihresgleichen, so ließe sich das formulieren. Kunst verliert sich an Kunst. Das war das zweite Theorem, das ich Ihnen heute vorstellen wollte.
Die Kunst der Wenigen verliert sich an die Kunstlosigkeit der Vielen.
Die Kunst ohne Kunst, in der ein blinder Strich genügt, ein zufälliger Kameraschwenk oder ein ungehobelter Ton, verliert sich an den Mechanismus der Anerkennung.
Kunst ist das Ergebnis von Anerkennung. In einer virtualisierten Umwelt ist auch Anerkennung virtuell. Gewährung und Entzug sind miteinander verschmolzen und meinen dasselbe.
Der Entzug von Anerkennung bedeutet Gewährung et vice versa.
Die Verhüllung eines Bildes erschafft das Bild.
Die Entfernung eines Filmes erzeugt den Film.
Wer weiß, der sieht. Wer sieht, der weiß. Wer nicht sieht, erkennt die Zusammenhänge, jedenfalls idealiter, in der Realität gibt es Abstriche.
Dem Aufmerksamen gehört die Welt. Die Kunst geht nach Anerkennung wie alles andere auch. Und sie wird alles Andere: keine Kunst. Kein Weg führt daran vorbei.
Die vorläufig letzte Geste des Künstlers, in der Kunst zu geistern beginnt: Lass mich aus. Ich bin’s nicht.
Ein groß geschriebenes A, ein groß geschriebenes W: mehr braucht es in der Regel nicht, um einen Forscher zu charakterisieren. AW, der Champion unter den Kunsthistorikern der Pyramide, den jungen Wilden, wie sie sich selbstironisch zu nennen belieben, beherrscht das Alphazet der gediegenen Sprache, allerdings nicht über das W hinaus. Ihm fehlt das XYZ der Kunst und damit ihr Allerheiligstes. AW redet zur Kunst, als ginge es zur Sache. Es geht aber nur bis zum nächsten Kiosk, vermutlich, um die Zeitung zu kaufen, mit der einer gesehen werden will, wenn er zur Tagesform aufläuft. Darum geht’s doch. Aber presto, solange es der Karriere dient.
Sie können zwei, drei, fünf Geschlechter für sich ›akzeptieren‹, Sie können sich Identitäten in jeder beliebigen Zahl zulegen und Feldzüge zu ihrer Anerkennung starten, ganz wie es Ihnen beliebt, aber eines können Sie nicht: jenen dumpfen Begleiter loswerden, der Ihnen bar aller Sprache sagt, wer Sie sind. Er bleibt an Ihrer Seite, und während Sie sich einmal für dies, einmal für jenes ausgeben, gibt er Ihnen unmissverständlich zu verstehen, dass nicht Sie all diese Rollen sind, sondern der Hanswurst, der Sie niemals sein wollten und der jetzt die magere Beute Ihrer sogenannten Kämpfe einstreicht, während Sie auf der Strecke bleiben.
―Norwegen, sagt Eike, wann waren Sie das letzte Mal in Norwegen?
―Lassen Sie mich nachdenken. Das war…
―Vergessen Sie Norwegen, Norwegen ist jetzt überall. Vergessen Sie die hellen Nächte am Nordkap, vergessen Sie die ewig singenden Wälder, vergessen Sie die grauen einsamen Fjorde, vergessen Sie alles, was sich in Ihren Gedächtniskammern erhalten hat. Vergessen Sie rasch, denn dieses Land gibt es nicht mehr.
―Was ist passiert?
―Ich sehe, Sie lesen nur BILD, um sich über das, was draußen so abgeht, zu informieren. Das ist zwar konsequent, aber in diesem Fall … nicht ganz ausreichend, es sei denn…
―Ja?
―Vergessen Sie’s. Ich dachte nur an die Kinder. Ich sehe, das sagt Ihnen nichts, aber das Thema Kinder ist, möchte ich annehmen, wieder in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, seit ein Mann sich mit einem Luftgewehr in einem Kindergarten eingesperrt hat und damit droht, Geiseln zu töten und das Gebäude in die Luft zu sprengen.
―Wann war das denn?
―War? Ich denke, es ist noch nicht vorbei.
―Was hat er genommen? Weiß man das schon?
―Nein, aber er ist im Fernsehen, natürlich nur im lokalen, er hält dort Reden über Telefon, er findet, die Behörden hätten kein Recht besessen, ihm die Kinder wegzunehmen, er gebe ihnen jetzt die Möglichkeit, ihre Entscheidung zu korrigieren, andernfalls… Na Sie wissen schon.
―Psychopathen gibt’s immer.
―Was machen eigentlich die Wälder, wenn sie nicht singen?
―Sie stehen still, nehme ich an. Warum fragen Sie?
―Ich vermute mal, das ist kein Fall für die Drogenfahndung. Der Mann wirkt völlig normal.
―Na das klang aber gerade noch anders. Schöne Normalität, von der Sie mir da berichten. Besitzen Sie einen Waffenschein? Ich meine das jetzt im Ernst, ich zum Beispiel besitze keinen, aber das will nicht viel bedeuten.
―Nein, das will nicht viel bedeuten. Vielleicht ja doch. In diesem Fall…
―Erzählen Sie mir, wie’s ausgeht, wir trinken nachher ein Bier. Was sagt denn die Polizei?
―Die Polizei sagt … die Polizei sagt … ich dachte gerade, ich falle vom Stuhl: die Polizei sagt…
―Sagen Sie’s schon.
―Die Polizei sagt, jetzt hätte er ja Gelegenheit gehabt, sein Anliegen vorzubringen.
―Mich würde an dieser Angelegenheit ein Detail interessieren.
―Mich würde da schon mehr interessieren. Aber schön: was für ein Detail wäre das?
―Dieser Mann ist geschieden, er hat ein Sorgerechtsverfahren hinter sich, man hat die Kinder der Frau zugesprochen, das geschieht, wie wir wissen, in mehr als achtzig Prozent der Fälle, das ist also normal. Der Mann säuft nicht, er nimmt keine Drogen, er ist nicht gewalttätig, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, denn andernfalls wüssten wir das alles bereits. Andererseits nimmt er die Knarre, um seiner Bitte an die Behörden, ihm bei der Lösung seiner Probleme zu helfen, den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Ganz recht, so drückt er sich aus. Das ist doch seltsam. Man sollte annehmen, er verlangt seine Kinder zurück, er könnte mit ihnen ausreißen, das wäre zwar dumm und aussichtslos, aber in einer psychischen Ausnahmesituation durchaus üblich – doch nein, er will, dass die Behörde ihm bei der Lösung seiner Probleme hilft – und niemand will wissen, worin seine Probleme bestehen.
―Das ist alles? Natürlich hat er ein Problem. Er hat sich in eine ausweglose Lage manövriert, der Kindergarten ist von Scharfschützen umstellt, er muss aus der Sache herauskommen und weiß nicht wie. Da haben Sie sein Problem, jedenfalls das augenblickliche, er mag noch andere haben, aber das hier überlagert nun einmal alle anderen und muss schließlich gelöst werden. Die Therapie kann warten.
―Haben Sie Kinder?
―Ich? Einen Sohn, das wissen Sie doch.
―Haben Sie eigentlich Skrupel? Ich meine, wenn Sie so reden.
―Hören Sie, Sie und ich, wir beide haben da kein Eisen im Feuer. Wir können die Sache nüchtern betrachten und konstatieren: der Mann demonstriert gerade, wie recht das Gericht daran tat, die Kinder der Frau anzuvertrauen, jedenfalls nehme ich jetzt einmal an, dass es sich um keinen Heimfall handelt, sonst müsste schon Ernsteres vorgelegen haben.
―Da trifft es sich ja gut, dass jetzt Ernsteres vorliegt.
―Jetzt werden Sie zynisch. Hören Sie, solche Entscheidungen werden nach reiflicher Erwägung gefällt, das Kindeswohl steht an erster Stelle, die Leute in den Ämtern sind in der Regel gut ausgebildet und unverblendet, sollte man annehmen, ich jedenfalls sehe keinen Grund, das nicht anzunehmen. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen: der berühmte Einzelfall, in dem alles anders ist… Warum gerade hier? Dafür gibt’s keinen Grund. Dieser Mann stellt ein Risiko dar, das hat er soeben unter Beweis gestellt, es gibt in solchen Fällen, wie Sie wissen, oft lange Latenzzeiten, ich für meinen Teil ziehe vor der Behörde den Hut.
―Achtzig Prozent!
―Na und? Wenn’s sechzig Prozent wären und die Kinder wüchsen als seelische Krüppel auf, wär’s auch wieder nicht recht.
Ein Staat, der die Staatsaffinität der Frauen auf die Spitze treibt, verändert nicht die Frauen, sondern das Geschlechterverhältnis: er erzeugt ein Geschlecht, das mit ihm verheiratet ist und gegenüber dem ›Partner‹ eine Politik der gespaltenen Loyalität oder der offenen Illoyalität verfolgt. Das ist nicht nach dem Geschmack jeder Frau und daher bleibt, neben den reinen Familienfrauen, das Riesen-Reservoir derer übrig, die in der Sehnsucht nach der Beziehung leben, die sie bzw. ihre Partner zwanghaft auf Grund von Fehlkonditionierung zerstören.
Die tödlichen Angriffe richteten sich gegen zwei Ziele: das Büro des amtierenden Ministerpräsidenten und ein, bei blendendem Wetter, gut besuchtes Ferienlager auf der siebzig Kilometer entfernten Freizeitinsel Pansviga, ausgerichtet von der Jugendorganisation der regierenden Arbeiderpartiet. Zum Einsatz gelangte eine aus Benzin und Kunstdünger gebastelte Autobombe, desgleichen ein automatisches Gewehr, mit welchem der zunächst als verwirrt bezeichnete Täter mehrere Stunden lang Jagd auf die über die Insel verstreuten Jugendlichen machte. Danach gelang es den via Bus und Bahn aus der Hauptstadt angereisten Ordnungskräften, ihn dingfest zu machen. Der Täter ließ sich willenlos festnehmen, dabei war ihm eine gewisse Erleichterung anzumerken. »Es ist vollbracht« soll er zu den festnehmenden Polizisten gesagt haben, doch sicher verbürgt ist das nicht.
Während die im Kofferraum eines geparkten Wagens deponierte Bombe den Ermittlern keine größeren Rätsel aufgab, wies die Rekonstruktion der tödlichen Vorgänge auf der Insel zunächst größere Lücken auf. Wie konnte es geschehen, dass ein als Polizist verkleideter Fremder, ausgerüstet mit einem Sturmgewehr und größeren Mengen Munition, ungehindert die Freizeitanlage betreten durfte? Wie erklärte sich die systematische Wut, mit der er seine Opfer über das gesamte, zum Teil unübersichtliche Gelände verfolgte und wirklich in der Mehrzahl der Fälle aufspüren konnte? Warum verfügte die Anlage über keine sicheren Räume, in die sich die Jugendlichen bei Gefahr hätten zurückziehen können? Warum besaß die Verwaltung keinen Notplan? Warum schließlich waren die Sicherheitskräfte außerstande, innerhalb einer angemessenen Zeitspanne dem Wüten des Mörders ein Ende zu setzen?
All diese Fragen wurden in der Öffentlichkeit breit diskutiert und, so gut es ging, abschließend in der Gerichtsverhandlung geklärt. Dennoch bleibt ein unerklärliches Grauen angesichts der Verkettung von Umständen, die den hohen Blutzoll ermöglichte. Gemessen am kill factor, einer international von Experten genutzten Effizienzskala, rangiert die Tat des rechtsradikalen, von wirren Rassephantasien beseelten Einzeltäters unter Terrorakten, wie sie für gewöhnlich in Ländern außerhalb Europas zum Alltag gehören. Alvin K, der sich zu beiden Attentaten bekannte, bezeichnete sich vor Gericht als nicht schuldig. Vielmehr habe er aus ›Notwendigkeit‹ gehandelt. Nach juristischem Konsens beschränkt sich das reklamierte jus necessitatis (›opinio juris sive necessitatis‹) allerdings auf die Überzeugung, rechtmäßig, etwa auf Grund eines übergesetzlichen Notstands, zu handeln bzw. gehandelt zu haben. Davon kann hier selbstverständlich keine Rede sein. Auch die Berufung auf ein höher geartetes Naturrecht hilft dem Täter nicht weiter, weil die Tat ebenso wie die ihr zugrundeliegende Gesinnung einen entschiedenen Bruch mit dem allgemeinen Rechtsempfinden enthält, so dass Gesinnung und Tat im vorliegenden Fall gleichermaßen als hochgradig verwerflich zu gelten haben.
Scharfroeder/Michels: Handbuch des Terrorismus, 16. überarbeitete Auflage, Bd.22, Sp.1667f.
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Das Quadrat ist das Symbol des Bösen. Das schreibt sich so hin, aber ich empfinde es tief. Ich sehe ein Quadrat und es durchfährt mich: das Tor zur Hölle, umlagert von Dämonen. Vier gleiche Seiten, vier rechte Winkel, vier Geraden: mehr braucht es nicht, um die perfekte Leere zu erzeugen. Die perfekte Leere … übriggeblieben nach den Menschheitserregungen, als sei das hier gerade das, was sich von selbst versteht. Keiner versteht die Botschaft, keiner will sie verstehen. Warum? Weil man sich scheut, dem Boten ins Gesicht zu sehen. Dabei wäre das die geringste Sorge. Sein Maskenvorrat ist unerschöpflich. Die Kunst und die Leere – altes Thema. Die Kunst kennt keine Leere. Sie lässt sie nicht zu.
Dem Raum der Metaphysik fehlt ein T. Das eben ist Kunst: der metaphysische Traum. Chirico hat das gut erkannt. Ich setze das T gegen das Quadrat, den Tod gegen die Verdammnis, die Erlösung vom Leiden gegen das währende Leidlos. Ich bin ein Verächter des Immergleichen. Es muss immer anders sein. Die leidlose Gesellschaft – eine Fata Morgana, bewohnt von Schimären, die vorgeben, Menschen zu sein. Sind sie denn welche? Mit-Menschen sind sie. Sie machen mit, darin besteht ihr Mensch-Sein. Mache ich mit? Ich weiß es nicht. Ich träume den Traum des Dagegen-Seins. In Träumen fest: das ist meine Form der Existenz. Auch ich bewege mich in der Fata Morgana. Aber mein Beobachtungspunkt ist weit weg. Ich male sie kenntlich. Das behaupten viele, es ist die Eitelkeit, die es ihnen diktiert, es ist nichts dran.
Die Kunst kennt kein Leidlos. Wo Kunst ist, da ist Leiden. Der Weg zur Erlösung ist mit Funden gepflastert, die keinem begegnen, den das Leid scheut. Ich glaube nicht an das falsche Nirwana der Hygiene und des Sozialstaats. Ich glaube nicht an das Kapital, aber ich glaube fest, es ist die Essenz dieser wie jeder geschaffenen Welt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an das Böse. Man muss maßlos glauben, damit es nachlässt. Erst wenn der letzte Glaube verbraucht ist, wird das Böse aus der Welt sein. Ist das dann noch die Welt? Ist das dann noch eine Welt? Ich weiß es nicht. Vielleicht will ich es gar nicht wissen. Dieses Wissen ginge zu weit.
/30/Homo anti-vitruvianus. Der Mensch im
Quadrat ist Psychopath. Der Mensch, dem der Andere nichts sagt –
außer dass er ihm zuflüstert: Beherrsche mich! Zieh maximalen
Nutzen aus mir! Ein solcher Mensch hat viele Vorteile (ich
unterscheide Vorteile von Vorzügen, das grenzt für den einen oder
anderen bereits an Mystik). Entscheidend ist: für sich oder andere? Was
wären das für Leute, die aus der Karriere von Psychopathen Vorteile
ziehen? Ich weiß es nicht. Oder doch: ich weiß es zu genau.
Steckt erst mein Geld in einem dieser Menschen, dann verlange ich nur, dass es arbeitet – und zwar in meinem Sinn. Und was
ist dieser mein Sinn? Warum lagere ich ihn an einen Empathielosen aus? (Denn das geschieht, wenn ich den anderen in meinem Sinn arbeiten lasse.) Ganz
einfach: weil ich, der homo empathicus, mit ihm nicht
zurechtkomme. Weil mein Mensch-Sinn sich sträubt, in meinem
Geld-Sinn zu wirtschaften. Weil mein Empfinden mir sagt: Das ist
nicht recht. Ich heuere jemanden an, der nicht fragt, ob das, was
er in meinem Sinn verrichtet, auch recht sei. Der Psychopath ist also
ein Nutznießer meiner Lage (er lässt mich Mensch sein!), er besitzt
erpresserisches Potential, das ihn, wie warme Luft im Kamin, nach
oben führt. Irgendwann ist er mir überlegen und beginnt mich zu
beherrschen. Wenn er gut ist (richtig gut), dann beginnt seine
Herrschaft über mich lautlos. Vielleicht endet sie im Getöse, aber
am Anfang steht: Kein Wort!
/31/
Der empathielose Mensch ist das Beste, was mir
passieren kann. Er ist, auf den Menschen übertragen, dasselbe
wie Geld heckendes Geld. Die Stümper mit den harten Gesichtern, die
das Leben verheizt, sind bloß Gestörte. Psychopathen, falls
sie wirklich gut sind, besitzen Philanthropengesichter. Ich habe
ihresgleichen oft gemalt, anfangs aus reiner Faszination, ohne zu
wissen, was sich dahinter verbirgt. Aber der Mensch lernt schnell.
Die Kunst lernt schnell. Das Böse treibt.
/32/
Warum ist das Quadrat leer? Weil es nichts hält. Ein flacher
Kubus, die Andeutung eines Kubus, nein, ein Kubus, dem die Gnade der
Geburt verweigert wurde (aus gutem Grund, was wäre das für eine
Ausgeburt), eine Form, in der jeder Inhalt klappert, es
sei denn, er bestünde selbst aus lauter Quadraten, ein untragisches
Nichts, das jede gewordene Umgebung aufsprengt. Die Bilder dieses
Wegenaer sind gemalte Container, sie enthalten Gegenstände. Kein
richtiges Bild ›enthält‹ Gegenstände. Wegenaer steckt sie zu
Lehrzwecken hinein, sie bellen jeden an, der sich ihnen nähert,
solange sich noch ein Funken Widerstand in ihnen regt. Ansonsten
liegen sie wie tot herum und warten darauf, dass sie jemand dem Leben
zurück gibt. Weiß Wegenaer das nicht? Er selbst steckt im Käfig
seiner Professur und kann nicht heraus, das wird es sein. Er muss
forschen, wo es aufs Machen ankäme, er tut forsch, wo er glaubt,
etwas machen zu müssen. Eine forsche Kunst … was soll das
sein? Er ist nicht schlecht … nicht schlecht … Er will die Kunst
zu Ende bringen… Aber das stimmt nicht, er will sie bloß
darstellen, als sei sie am Ende angelangt, und behauptet aufrichtig,
das, was er macht, sei der einzig mögliche Abschluss, die letzte
Konsequenz, die Quintessenz aller Kunst. Seine Kunst soll
übrigbleiben, wenn ringsherum alles zum Teufel geht. Eher gibt er
den Teufel, als dass er sich holen ließe.
―Du hast recht, sagt Blowasser, das Geheimnis der Pyramide liegt
in ihrer Existenz. Ihre Formel lautet, heute wie damals, Organisation
+ Masse = Macht. Das Einfachste daran ist die geometrische Form. Sie
ergibt sich praktisch von selbst: e pluribus unum. Das
einzige, worin Pyramiden sich unterscheiden, ist ihre Größe … und
… ganz recht, ihre Ausrichtung. Aber die Ausrichtung ist weder das
Rätsel noch seine Lösung. Ideologie ist immer die ihrer Zeit.
Eigentlich ist das Wort Ideologie falsch … ›Weltanschauung‹
wäre das bessere Wort, weil es nicht den Wahn nährt, es handle sich
um ein bloßes Konstrukt. ›Wir sehen die Sache so und so‹…:
darin liegt schon das alle umfassende Wir, ferner die bestimmte
Weise, eine Sache anzugehen, und wenn die Sache die ›Welt‹ ist,
also die Gesamtheit aller Sachen, die angegangen werden müssen, weil
sie nun einmal am Weg liegen (denn auch die Welt entfaltet sich nur
in der Zeit, in aller Zeit der Welt, um genau zu sein), dann kann man
eine Anschauung davon haben, aber keine Idee. Die Ideologie ist
eigentlich das Gegenteil der Idee, sie enthält ein an die
Wirklichkeit gerichtetes Sollen, das gegenstandslos bleibt, weil
jedes Sollen, das es zu etwas bringen kann, die vorhandene Welt
voraussetzt.
―Das Geheimnis der Pyramiden? Komische Frage. Sie wurden gebaut
und nun sind sie da. Bleibt also bloß die Frage, warum sie errichtet
wurden. Unserer Pyramide zum Beispiel wurde, janein, einfach ein
Zweck untergeschoben, indem man eine Universität in ihr
unterbrachte. Nichts leichter als einen Zweck zu erfinden. Zu Pharaos
Zeiten handelt es sich um die einfachste geometrische Idee, die sich
mit Masse und nichts als Masse realisieren, das heißt errichten
ließ. Darauf kommt es an. Die benötigte Technologie, wie das heute
heißt, wurde einfach am Bau gewonnen und fiel nicht weiter ins
Gewicht. Offenbar galt sie den Meistern der Schrift als so wenig
bedeutsam, dass keiner sich der Mühe unterzog, sie dauerhaft zu
überliefern. So können sich heutige Architekten nach Belieben
den Kopf darüber zerbrechen, ›wie die Kollegen das damals wohl
gemacht haben‹, ganz ohne unsere Kenntnisse. Das Geheimnis der
Pyramiden ist, gemessen an den Maßstäben ihrer Erbauer, platt.
―Was mich bewegt: warum ist eine stumpfe Pyramide ästhetisch
unergiebig? Weil der Blick automatisch die Spitze sucht – und
nichts findet. Die Spitze gibt dem Ganzen Sinn. Dabei hat sie, in
Bezug auf das Leben der Vielen, nichts zu bedeuten, während die
nächsthöhere Ebene alles bedeutet. Auch die Bürokratie bedeutet
nichts. Aber sie bestimmt alles. Das ist zwar bekannt, wird aber
weggespöttelt. Nur die Bürokratie zum Beispiel hat die Macht, dich
deiner Sprache zu entfremden, indem sie dir vorschreibt, welche
Wörter du, sobald du in ihren Dunstkreis eintauchst, zu verwenden
hast und welche nicht. Was passiert? Keiner nimmt das ernst,
alle lachen über den Esel Bürokratie. Allein das gibt ihr diese
unheimliche Macht: sie ist und bleibt der Esel.
Bürokratie ist und bleibt der Preis der Freiheit. Es ist ganz
normal, dass es zu Erstickungsanfällen kommt, sobald der Einzelne
sich bloß frei dünkt und keine Verbindlichkeiten kennt als die
seiner Bank gegenüber. Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, setzt
sich die Bürokratie an die Stelle der Person und beginnt das
Selbstverständliche zu regeln, vom Fiebermessen über das
Zähneputzen bis zum täglich verfügbaren Quantum Luft. Wer da »Mehr
Licht!« schreit, ist schon der Staatsfeind. Du fühlst dich
›vergrippt‹ und willst dich im Bett verkriechen? Von wegen. Teste
dich frei! Was, du willst dich nicht testen lassen? Staatsfeind!
Kommunikationsverbot nicht unter drei Jahren. Und der Auslandsurlaub
ist gestrichen. Aus dieser Nummer kommst du nicht mehr raus. Du
lachst? Lach nur. Du kennst meine Frau nicht. Die arbeiten dran.
―Ich lache nicht. Ich denke noch.
Tronka versteht nicht ganz. Er hätte gern ein Gespräch mit der
Bedienung angefangen, deren Körperhaftigkeit ihn plötzlich anfällt,
als handle es sich um eine Skulptur aus dem Louvre, Blowasser
erscheint ihm wie hinter einem Schleier, er kann sich nicht erinnern,
mit diesem Menschen je intim gewesen zu sein, außerdem gehört das
Wort ›Weltanschauung‹ zu den pudenda, er ist schon aus
Diskussionen aufgestanden und gegangen, in denen es fiel, es ist ihm
zuwider wie der ›Geist der Zeit‹ oder ›kongenial‹. Dahinter
wittert er den Unrat der verabscheuenswerten Epoche, die, so sein
Eindruck, im Untergrund fortdauert und deshalb, wo immer sich eine
Gelegenheit bietet, mit Fußtritten bedacht werden muss: der Epoche
der philosophischen Scharlatane, die seine Philosophie, wie er
sie versteht, zur Lachnummer verkommen ließen und darüber,
politisch gesprochen, selbst verkamen. Dass Blowasser so
anfangen würde, hätte er nicht vermutet.
Wohin steuern wir? Was, wenn wir nicht steuerten? Was dann?
Wegenaers Heimkehr
1
Herkunft
Wenn es stimmt, dass durch die Art, wie einer seinen Beruf angeht, die Welt seiner Herkunft schimmert, also im einfachsten Fall der Beruf des Vaters oder der Mutter, im komplizierteren eine bäuerliche oder handwerkliche Geschlechterlinie, dann liegt es zum Beispiel nahe, im verschlagenen Begutachtungswesen des Philosophen Leckebusch eine Kleinhändlertradition am Werk zu sehen, am besten im Obst- und Gemüsesektor, bei dem es darauf ankommt, ununterbrochen die Frische der Ware zu prüfen und rechtzeitig auszusondern, was den Ansprüchen der Kundschaft bereits ein paar Stunden später nicht mehr genügen würde. Was das Verfahren des Kunsthistorikers Wegenaer angeht, so könnte die Verpackungsindustrie Pate gestanden haben. Keiner faltet seine Objekte so zielsicher zusammen, bis sie den geringsten erdenklichen Raum einnehmen, und keiner entfaltet sie auf dieser Grundlage zu solcher Pracht wie gerade er…
… eine Fähigkeit, die auf Kunst-Synoden genauso hoch im Kurs steht wie auf kunsthistorischen Tagungen, weshalb er allgemein als Meister aller Klassen durchgeht, hochspezialisiert, von einer randscharfen Aura umgeben, die, würde ihm eines Tages einfallen, sich einer Grenzüberschreitung schuldig zu machen, ihn auf der Stelle als blasse, am Ende sogar nichtige Person dastehen ließe. Vorerst steht das nicht zu befürchten. So it is. Das Maschinchen schnurrt und liefert dem Betrieb gerade soviel ›Input‹, dass sich immer die gleiche Reputationsmenge im Raum erhält.
Wegenaers Heimkehr
2
Extrablatt
Ihren idealen Gegenstand fand Wegenaers Kunst der Entfaltung in der Brillo Box des geschätzten Kollegen Warhol. Der Wahrheit zuliebe muss gesagt werden, dass er, eher beiläufig, bei den Vorbereitungen zu einer der zeitweise beliebten Veranstaltungen zum Warenwert der Kunst über sie stolperte und er sie nicht, wie erwartet, dazu benützte, um Warenwert und wahren Wert der Kunst forciert ineins zu setzen, um daraus die zu dieser Zeit üblichen Paradoxien abzuleiten. Wegenaer fand einen klügeren Zugang: Wenn, so der einfache, aber schlagende Gedanke, eine mit Markenangaben und Werbesprüchen bedeckte Pappschachtel Kunst sein kann, dann bloß deshalb, weil alle Kunst in diesem idealen Behälter Platz findet, und zwar so, dass der Karton, und zwar er allein, von ihr übrigbleibt, weil nur er nachprüfbar von ihrer nie eingelösten Funktion kündet. Das Unvorhersehbare trat ein. Allein das Wörtchen ›nachprüfbar‹ riss das Gros der Kollegen zu einem selten dagewesenen Begeisterungstaumel hin. Manch einer biss sich auf die Lippen, dass nicht er auf diesen so naheliegenden Gedanken verfallen war. Ein paar Spezialisten der älteren Kunstgeschichte hielten dagegen, doch ohne jede Aussicht auf Erfolg. Mit einem Zauberschlag war die Brillo Box zur Prüfbox aller bisherigen Kunst aufgestiegen, in dem letztere auf Nimmerwiedersehen verschwand wie, unter Führung des kundigen Rattenfängers, die Kinder von Hameln im Berge. Der Einfall, ›die gesamte bisherige Kunstgeschichte‹ ins unbestimmte Dunkel der Box zu bannen, entpuppte sich als Wegenaers persönlicher ›Evergreen‹: wo immer er auftritt, sind die Leute enttäuscht, wenn er ihn nicht, wenigstens als Zugabe, zum Besten gibt.
Wegenaers Heimkehr
3
Extrablatt II
Wegenaer täuscht nicht, er spekuliert. Es würde ihm nichts ausmachen, die Brillo Box gegen ein anderes Objekt auszutauschen, genauso nichtssagend, genauso erhaben, aber er hat im Laufe der Jahre begriffen, welch halsbrecherisches Manöver das unter Reputationsgesichtspunkten darstellen würde und deshalb vorläufig zurückgestellt. Der Gedanke macht ihm nichts aus, dass gerade zu seinen Lebzeiten die Kunst in einer Pappschachtel schwunden sein könnte, um als Vorlesungscoup wieder zum Vorschein zu kommen, genausowenig der andere, dass es gerade in seinen Vorlesungen geschieht und sonst nirgends – denn die Kollegen, soweit er sie überblickt, halten seine These zwar für genial, aber dabei fassen sie sich an die Wange und in ihren eigenen Publikationen halten sie, bei aller freundlichen Zustimmung, peinlich auf Abstand.
Dieses zustimmende Auf-Abstand-Gehen trifft ihn ja nicht allein. Er kennt es aus vielen Veröffentlichungen, nicht zuletzt den eigenen, es gehört zum Handwerk, jedenfalls zum Handwerks-Zeug angesichts der Vielfalt der Hypothesen und der Nötigung miteinander im Gespräch zu bleiben. Man kann einen wissenschaftlichen Gegner nicht eliminieren, vor allem dann nicht, wenn er zur gleichen Gehaltsklasse gehört und ähnliche Sicherheiten genießt wie man selbst. Man kann ihm aber auf eine Weise zustimmen, die seine Rede verpuffen lässt und damit Raum für den eigenen Ansatz schafft. Dieser eigene Ansatz … Wegenaer hält nicht viel von ihm. Es liegen zu viele davon herum, ein einziges Trümmerfeld. Man ködert Doktoranden damit, dass man sie um einen eigenen Ansatz bittet, nein, ihn bei ihnen voraussetzt, um ihn anschließend zu zerreißen, in freier Rede, gewiss, auf dem Papier wird vorsichtig gelobt, es sei denn, die Arbeit wäre so schlecht, dass sie es nicht durch die akademischen Prozeduren schafft.
Ein gestandener Forscher wählt seinen Ansatz, indem er Zeit, Ort und Gelegenheit wägt. Das Thema, das er abzudecken gedenkt, saugt diese Momente auf: ein handliches Monster. Originalität entsteht durch Applikation plus Überraschung: Wende an, was du gelernt hast, aber so, dass keiner darauf gefasst ist. Was, der? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Aber interessant. Was daran ist interessant? Vorerst nur die Emphase: Es ist keine kleine Sache, die lange Linie der Kunst, ohne die Europa nicht kenntlich geworden wäre, mit der Schere durchzuschneiden, als handle es sich darum, ein neues Straßenstück zu eröffnen oder ein Hallenbad seiner Bestimmung zu übergeben – vor allem, wenn man sich vorher durch Studien zu Michelangelo und Géricault einen Namen gemacht hat, zwei Künstlern mit einem kraftstrotzenden, zur Nachfolge animierenden Œuvre, die sich Kunst nicht anders als von Ewigkeit zu Ewigkeit vorstellen konnten. Der Kontrast macht’s. Wegenaer schriebe gern ein Buch über die hohe Kunst des Kontrasts. Die innere Stimme flüstert ihm zu, das wäre sein Alterswerk. Noch fühlt er sich rüstig und entschlossen, das Geheimnis in seiner Brust zu verwahren.
Die meisten Kunsthistoriker halten die Kunst für eine Mumie, von den Zeitgenossen mit Fleiß präpariert und bandagiert einer Nachwelt vermacht, die vor dem Erbe erschauert und sich fragt, was wohl unter den Bandagen verborgen sein mag. Wer das nicht weiß, dem sagen auch die Museen nichts, in denen die Kunst, ordentlich nach Epochen und Regionen sortiert, sich wie ein abgestorbener Bandwurm durch eine bild+skulpturbestückte Abfolge containerartiger Säle windet, um im Schlussteil mit Hilfe von ›Installationen‹ genanntem Gerümpel dem gedankenvoll wandelnden Besucher den Weg zu versperren und ihn just dadurch zur beschleunigten Flucht ins Freie zu veranlassen. Das wäre geschafft. Jetzt ab ins Café! Die leere Brillo Box, das imponierte Wegenaer schon immer, ist keine Installation, sondern ein Karton, geeignet, je nach Bedarf eine aus ihm hervorzuzaubern oder in ihm verschwinden zu lassen. Sie steht am Anfang und am Ende der Installationen. Was war doch der ursprüngliche Inhalt? Soap pads? Nicht schlecht, das Zeug, es hilft beim Großreinemachen, es tilgt, als Wille und Vorstellung, den Schmutz, der sich um die historischen Bestände lagert: Welcher warlord hat welches Gemälde in Auftrag gegeben, um seinen Ruhm an die Sterne zu nageln? Welche Arschkriecherei liegt diesem perfekt modellierten Marmor-Hinterteil voraus? Welche Höllenpredigten explodierten in Hörweite jener exzellent gearbeiteten Predella aus dem zwölften Jahrhundert? Welch närrischer Aberglaube spukte im Kopf des gefeierten Künstlers zur Linken, der seiner Zeit weit voraus eilt und ihr doch, nüchtern betrachtet, bloß hinterherhinkt? Welcher blutigen Tyrannei lieh sein Kollege XY den gefeierten Pinsel, vielleicht aus innerster Überzeugung, vielleicht, um die eigene Haut zu retten? Wo liegt der Unterschied? Welchen Unterschied macht es am Ende? Bilde Künstler, rede nicht! Ein kluger Spruch, kein Zweifel, ebenso ließe sich fordern: Putze, Putzfrau, frage nicht! Beim Großreinemachen der Kunst stellt Wegenaer sich in die erste Reihe und ruft: Ick bün all hier. Sein Wille, heiße Luft zu fabrizieren und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, erkennt in der Brillo Box einen Verbündeten, den natürlichsten von allen, den radikalen Vereinfacher, Burckhardts terrible simplificateur, der, bei Neonlicht betrachtet, so grässlich nicht ist – denn aller Witz will verschwendet sein, schon aus Trotz gegen die groteske Verschwendung der Märkte, die unser aller Leben bestimmen. Wegenaer ist ein Kämpfer, seine zahlreichen Feinde behaupten: ein selbsternannter.
Wegenaers Heimkehr
5
Der Mann des Quadrats
Soap pads … der Kunsthistoriker als Reinigungskraft … Wegenaer fühlt in sich die Kraft, die, zugegeben, prägnanten Bilder hinter sich zu lassen und ernst zu machen: Wenn alle Kunst am Ende ist … nun, alle vielleicht nicht, aber die Kunst, (den Unterschied hat er sich bei Hegel gemerkt und wendet ihn gnadenlos an) –, dann steckt sie vielleicht im Ende, in Warhols Diktum, jeder sei Künstler, nun, vielleicht nicht jeder, aber ein jeder, der sich mit ihm ausreichend beschäftigt hat, um es in seiner ganzen Brisanz zu realisieren … einer wie er zum Beispiel, der nie auf die Idee käme, sich als Erbe einer großen Tradition aufzuspielen, schließlich hat er keinen Reiterhof geerbt und übt sich nicht im Dressurreiten, auf dass die hohe Kunst der Fortbewegung zu Pferde nicht vor die Hunde gehe. Wenn er zum Beispiel ein Rechteck zeichnet – zu seinem Erstaunen fühlt er die Verpflichtung, den Gedanken auszuführen und wirklich zu zeichnen –, wenn er dieses Quadrat zeichnet, ein simples, kunstloses Quadrat, ganz ohne Füllung, dann ist dies das Ende der Kunst, es steckt keinerlei Wiederholung darin, gleichgültig, wie viele Quadrate jemals auf dieser Welt gezeichnet wurden, es kann darin keine Wiederholung geben, keine wiederholende Weiterführung, denn es bleibt immer dasselbe Quadrat, es bleibt es selbst, doch nun aufgeladen mit dem Gedanken, dass in ihm die Kunst ans Ende gelangt ist und allen Betrachtern allen Respekt abverlangt, es ist State of the Art, ohne Aussicht darauf, dass sie sich je wieder aus diesen Niederungen erhebe. Beruhigend, dass nicht er als erster auf die Idee mit dem Quadrat verfallen ist, beunruhigend wäre es, in diesen Gefilden Erster zu sein, im Ernst ein Stück Wiederlegung des Grundgedankens, es kann hier keine Ersten und Letzten geben, nur die reine Praxis, dieser Gedanke wäre dann vielleicht doch neu, man muss ihn unausgesprochen lassen, damit er Wirkung zeitigen kann.
Wegenaers Heimkehr
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Der Ungleichzeitige
Wegenaer: Mann des Quadrats. Während Wegenaer die Kunstwelt bestückt, erklärt eine Frauen-Vorhut das Quadrat, letztes Herrschaftssymbol des weißen Mannes, für obsolet, lässt den puren Gebrauchswert als Ausstellungsware zirkulieren: auch eine Realisationsform der Reinheit, aber jenseits von allem, was jemals als Kunst das künstliche Licht der Museen zu erblicken Veranlassung fand. Die letzten Künstler, Wegenaer empfindet es tief, gleichen den letzten Menschen aufs Haar: sie irren zwischen den neuen Menschen herum, als gäbe es keinen Unterschied, dabei sind sie wie Feuer und Wasser, jeder weiß es, jeder trägt dieses messerscharfe Bewusstsein bei sich, als sei er der Bote. Gewiss, sie sind freundlich miteinander, die letzten und die neuen, jedenfalls in der Regel, aber sie haben einander nichts zu sagen und sagen es sich ins Gesicht.
―Wir hängen ja doch, sagt Nassen (er trägt neuerdings Bart), wir hängen ja doch von den Bewegungen des großen Kapitals ab. Und wenn ich sage, des großen, dann meine ich nicht irgendwelche hergelaufenen Milliardäre, die sonderbarerweise annehmen, sie hätten jetzt auch etwas zu sagen. So einer kann zur Not Präsident eines Mafiastaates werden, aber wenn er seinen Standesgenossen nicht passt, dann werfen sie ihn hochkant hinaus, eher früher als später, notfalls per Stimmzettel, warum nicht? Diese Leute spielen in einer anderen Liga. Und: sie haben eine Agenda. Wer glaubt, sie hätten keine, der ist natürlich naiv. Ich persönlich habe nichts gegen Naivität, ich möchte nur nicht davon befallen werden. Sollen die Leute doch naiv sein. Die Naivität der Vielen ist das Pfund, mit dem die Agilen wuchern, das ist allgemein bekannt.
―Willst du hier Phrasen dreschen oder worauf willst du hinaus? Du, wir haben keine Zeit, die Konferenz startet in drei Stunden und wir haben unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht.
Mit Blowasser ist in diesem Augenblick nicht gut Kirschen essen.
―Ich weiß, wovon ich rede.
Nassen redet pikiert, er trägt die Nase höher als sonst, Blowasser könnte die Löcher sehen, doch dafür müsste er sich bücken.
Sie haben zueinander gefunden, die beiden. Über sie herrscht die Beziehung.
American Gulag
2
Seit die beiden Tisch und Bett miteinander teilen, schwirrt zwischen ihnen die Vokabel ›Hausaufgaben‹ umher.
―Erst einmal müssen wir unsere Hausaufgaben machen.
―Soll der doch seine Hausaufgaben machen.
―Es wird Zeit, dass ich endlich an meine Hausaufgaben gehe.
―Hast du auch deine Hausaufgaben gemacht?
Blowasser ersetzt sie das Brüsseler ›chéri‹, er gebraucht sie abundant, als könne er damit das Scharren des Hundes an der verschlossenen Zimmertür übertönen. Die untere, weitgehend unterdrückte Lebenslinie, die den Falten seines Bewusstseins eingezeichnet ist und nicht weggehen will, verzehrt sich nach einem ›chéri‹. Geist heißt Leiden, wer wüsste das nicht.
Dazu gehört ein neuer, bisher dort, wo er anklang, verlachter Ton. Seit Nassen nicht mehr undercover unterwegs ist, sondern partner in friendship, gehört die Warnung vor Denunzianten zu seinem täglichen Repertoire.
―Pass auf, wenn du den Raum verlässt. Das hier ist safer space. Aber vor der Tür … wer weiß.
American Gulag
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Safer space…? In Blowassers Universum gibt es so etwas nicht. Sein Jagdrevier ist die Pyramide, sein Hochsitz das Büro, seine Büchse das Schreibgerät, zartsinnig auf dem Schreibtisch arrangiert: Monitor, Tastatur, Maus, das liebe Mäuschen, huschend unter Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, auch eine Blumenvase hat ihren Platz gefunden, Blowasser lehnt es ab, dass die Sekretärin ihm darin zur Hand geht, jeden Morgen leert er das Blumenwasser und lässt neues einlaufen, über Nacht abgestandenes, sorgsam den dünnen Strahl überwachend – nichts Überschießendes an dieser Stelle, dafür sind andere Orte besser geeignet.
Überhaupt findet er, dass Nassen zu viel Geschwätz von draußen in
die Pyramide trägt. Das Draußen stört, pflegt er seinen
Studenten in den Videoseminaren einzutrichtern, die er mit der
Regelmäßigkeit eines Uhrwerks abhält. In der Wissenschaft, merken
Sie sich das, ist alles Konstrukt. Da draußen tut sich etwas, aber was,
das entscheidet sich auf dem Feld der Theorie, und Theorien werden nun
einmal konstruiert. Das ist nicht weiter schlimm, erschrecken Sie
nicht, das hat seine Vorzüge, Sie werden einige davon kennen
lernen.
(Was er nicht weiß: sie haben es sich längst gemerkt, seine Studenten wie die seiner Kollegen. Sie haben Verwaltungslaufbahnen eingeschlagen und konstruieren dort Wirklichkeiten, wie sie es im Seminar gelernt haben. Natürlich gibt das Blowasser recht, das wissenschaftliche Konstruieren geht heute bedeutend leichter von der Hand als in den Anfängen, er ist überzeugt, dass sich sein wachsendes Genie darin zeigt.)
American Gulag
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Pass auf, kontert Nassen, da draußen tut sich was.
―Diesmal oder immer?
Blowasser lächelt.
―Das ist nicht wie immer. Die großen Kapitalien haben sich so vermehrt –
―… dass es schon wieder heiße Luft ist. Spekulationsgeld.
―Das auch. Aber diesmal sammelt es sich in verdammt wenigen Händen. Und diese Hände, sie zucken, sie wollen etwas gestalten, etwas Großes –
―… something big. Ich weiß. Die Freunde der Welt wollen immer gestalten. Aber sie können eben nur raffen. Das Drama der Geldproleten. Wollen täten sie schon. Sie beherrschen halt nur diese eine Sache.
―Mag sein. Immerhin beherrschen sie so die anderen. Doch diesmal haben sie genug Geld in Händen, dass sie den Rest der Welt damit kaufen können. Einfach
wegkaufen. Sie kaufen sich also…
―die Universität, willst du sagen. Die Pyramide: ein Schnäppchen.
―Was wollen die mit Universitäten? Die kaufen sich die Öffentlichkeit, dann haben sie die Universitäten im Sack. Oder das, was von ihnen übrig bleibt, wenn man
die Drittmittel abzieht.
―Und die Regierungen. Was von ihnen übrig bleibt…
―Und die Regierungen. Sag mal, willst du wirklich diese Krawatte tragen? Ich
frage ja nur. Wenn du auf die Uhr sehen möchtest…
―Die Öffentlichkeit ist immer gekauft. Das wissen wir doch.
―Bei der Gelegenheit … dein Hemd sieht Scheiße aus.
―Du bist wahnsinnig. Das sagst du mir jetzt?
Blowasser vibriert.
American Gulag
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―Geldproleten. Sie kaufen sich also die proles, das willst du doch sagen?
―Wozu kaufen, was man auf dem Grunde seiner Seele doch ist? Nicht mal Funktionäre wollen heute gekauft werden, sie sitzen alle in einem
Boot. Gekauft hat sie bereits das System. Die Proleten sind keine
Macht mehr. Sie sind Rohstoff, der durch die Finger rieselt. Sie sind
dabei.
―Also bei was jetzt?
―Bei der Verwandlung der Welt. Dem großen Knopfdruck. Sagte ich bereits.
Zuhören könntest du mir schon, sonst schaffen wir das nie.
―Wollen wir es denn schaffen? Wollen wir da wirklich hin?
―Ich will es schaffen.
―Du auch?
―Die Diskussion führen wir später.
(Sie sind keine Scharfsteller, die beiden. Das macht sie begehrt. Als Team geben sie das Blenderpaar, das sie im Grunde ihres Herzens immer waren: Schaut her, hier sitzen wir und diskutieren das Schicksal der Welt.)
American Gulag
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―Worauf sind wir eigentlich vorbereitet?
―Glaub mir, das wird ein Schock.
―Fragt sich für wen.
―Diese Krawatte ist himmlisch. Nein, nicht die. Stop. Wir gehen auf Reset. Wir müssen neu nachdenken. Das geht so nicht.
―Ich kann dir jetzt gerade nicht folgen.
―Du sollst mir nicht folgen. Diesmal nicht. Ich brauche deine Kreativität.
―Ich nehme diese.
―Passt. Was ich sagen wollte…
―Ja?
―Du hintergehst mich doch nicht?
―Wie meinst du das jetzt?
―Etwas hast du in petto, ich seh’s dir an. Wenn du mich blass aussehen lässt –
―Ist das eine Drohung?
―Ach du. Wovon reden wir? Von gekauften Regierungen? Die Nummer hatten wir schon. Reden wir doch von der Plattformökonomie.
―Alle Welt redet von der Plattformökonomie. Also reden wir von etwas anderem.
―Sprich weiter. Wir kommen der Sache näher. Wie viel Zeit haben wir noch?
―Wenn du mich fragst: alle Zeit der Welt.
―Das ist nicht viel. Aber gut, mehr brauchen wir im Augenblick nicht.
―Woran denkst du?
―An das Elend der
Vielen.
―Du meinst…?
―Ich meine.
―Das ist kein Clubthema, das weißt du?
―Natürlich ist das kein Clubthema. Deshalb machen wir es dazu.
―Wenn uns das mal gelingt. Aber es ist so besetzt. Dystopien find’ ich bekloppt. Wie findest du Dystopien? Sie sind so … dystopisch. Aufgebretzelt, wenn
du weißt, was ich meine. Dieser ganze Big-Brother-Hype lässt
doch den wirklichen Menschen außen vor. Es gibt keine Dritte Welt
mehr. In dieser Welt gibt es nur competitors. Es gibt auch
keine Erste Welt mehr. Das hat sich herumgesprochen. Das soziale
Problem ist gelöst. Manchen trifft’s hart, vor allem, wenn du im
Slum hockst und der Fernseher geht kaputt. Da wächst ein
Riesenproblem heran. Aber, ehrlich gesagt, das wussten wir schon vor
fünfzig Jahren. Entschuldige, wenn ich das sage.
―Willst du das wirklich sagen? Ich meine, das mit den fünfzig Jahren? Da wächst ein Riesenproblem heran… Dazu fällt mir ein: Sprechen wir die
Sache mit den Impfungen an?
―Welche jetzt? Sterilisation? Zwangsimpfung? Scheinimpfung? Verdeckte
Implantationen? Impfterror? Junge, Junge, bist du naiv. Wenn du
erst in dieses Fahrwasser kommst…
―Der digitale Gesundheitspass ist clean. Damit können wir locker drei Stunden bestreiten und haben Oberwasser.
Im Netz kursiert ein Video, auf dem eine abgerissene Person – ein paar Jahre früher hätte man sie liebevoll-abschätzig als Penner bezeichnet – einen Polizisten beleidigt. Der Zwischenfall spielt in einem öffentlichen Verkehrsmittel, der Rhein-Ruhr-Bahn vielleicht, vielleicht auch in der U-Bahn einer anderen Stadt, eng geht es zu, doch um die beiden ist leerer Raum, den die Kamera sich zunutze macht. Der Polizist antwortet kaum, murmelt ein paar begütigende Wort wie »Lass mal« und »Beruhigen Sie sich«, »Komm runter«, so wie man auf einen Betrunkenen einspricht, der eben im Begriff ist, einen Streit vom Zaun zu brechen, dessen unausweichliche Resultate er nicht mehr überblickt. Doch dieser Mann ist nicht betrunken und er provoziert weiter. Er steht dicht vor dem Polizisten, so dass er ihn fast berührt, und spuckt ihm seine Worte ins Gesicht – rauen, ätzenden Sprachschlamm, menschlichen Auswurf jenseits von Gut und Böse, der Polizist wankt und weicht nicht, er bleibt die Freundlichkeit in Person, fast könnte man meinen, er beachte den anderen nicht, oder nicht wirklich, nicht dienstlich: fast wie ein Kumpel, ein Schwager vielleicht, der weiß, welche familiären Zusammenstöße es auslöst, wenn er jetzt falsch reagiert, versunken in die dienstliche Weihehandlung, genannt ›Deeskalation‹, als habe er sie zu oft und zu intensiv trainiert, um jetzt von ihr zu lassen und die Situation aus einer umfassenderen Perspektive zu beurteilen. Denn inzwischen hat sich der zu erwartende Ring aus Zuschauern, Zuhörern, Zuspät- und Zukurzgekommenen um die beiden gebildet und verschmilzt mit ihnen zu einer Szene.
Paradise blue
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Die abgerissene Person – man muss sie als ›Mann‹ bezeichnen, ganz sicher werden die Medien, soweit sie über den Vorfall berichten, sie als ›Mann‹ bezeichnen, ungeachtet aller journalistischen Selbstverpflichtung, die sexuelle Autonomie der Menschen zu achten, auch und gerade wenn kein Berichterstatter wissen kann, zu welchem Geschlecht die Person selbst sich zugehörig fühlt –, die abgerissene Person treibt das Spiel, das kein Spiel mehr ist, weiter, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet, denn der Polizist, müde offenbar der monotonen Beschimpfungen, hat, unvorsichtig vielleicht, der Kette seiner ›rituell‹ zu nennenden Beschwichtigungsversuche ein ›sonst…‹ eingefügt, die nebulöse Andeutung einer Konsequenz, die das Verhalten des Fahrgasts – nennen wir die Person ›Fahrgast‹ und bleiben wir hübsch neutral – nun einmal irgendwann in einer nicht weiter qualifizierten Zukunft nach sich ziehen könnte. Als habe sie auf diese Zuspitzung nur gewartet, wechselt die Person ins Verfolgtenregister und stößt eine Reihe von Drohungen gegen die Staatsperson aus, die von äußerster Furcht-, ja Sorglosigkeit hinsichtlich etwaiger Verfolgung seitens der Staatsmacht Zeugnis ablegen sollen, womit die Furcht unmittelbar auf die Corona von Gaffern überspringt: Sollte es sein, dass der Staat, herausgefordert von Mann zu Mann, tatsächlich kneift? Was passiert dann? Der Fall verspricht spannend zu werden, etwas wie das Schicksal aller steht plötzlich im Raum und wird, wie es aussieht, auf fahrender Bühne verhandelt – eine solche Verhandlung unterbricht man nicht, man stört sie nicht einmal, man will wissen, wie der Staat reagiert, um sein künftiges Verhalten danach einzurichten. Wirklich holt der Mann, offenbar um das Gesagte zu unterstreichen, aus und schlägt dem Polizisten vor den Bauch.
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Zweifellos ist der Mann in einer Art Paradies angekommen. Er fordert die Staatsmacht heraus und sie … kuscht? Kuscht sie wirklich? Sie hält sich an ihre Vorschriften. Es ist das Mindeste, was sie tun kann, sie würde ihren Auftrag verraten, ließe sie sich provozieren. Andererseits: Provokation heißt nun einmal Herausforderung, wer sie nicht annimmt, ist kein Mann. Ist die Staatsmacht ein Mann? Nein, das ist sie nicht. Kann einer die Staatsmacht herausfordern? Oh ja. Fast täglich sind ihre Mannschaften in den Zentren der großen Städte unterwegs, weil irgendjemand beschlossen hat, sie herauszufordern: Rangeleien am Rande von Demonstrationen, die sich blitzschnell zu richtigen Gewalttätigkeiten auswachsen können, Angriffe auf Dienstpersonal der Feuerwehr und anderer Einsatzdienste, die an den kleinen und größeren Brennpunkten der Gesellschaft ihren Pflichten nachgehen, die allnächtliche Verwandlung öffentlicher Plätze in Zonen verminderter Sicherheit (oder vermehrter Unsicherheit, wie man’s nimmt), Richter werden bedroht, Staatsanwälte, Einsatzärzte, Amtsärzte, Sachbearbeiter, selbst Krankenschwestern, oft genug bleibt es nicht bei der leeren Drohung: das alles geschieht, es geschieht pausenlos; geschähe es nicht, könnte man sich fragen, wozu all diese Staatsmacht nütze sei, da den Menschen die Neigung eigne, ihre Angelegenheiten friedlich zu regeln, was im Großen und Ganzen auch stimmt. Dieser Mann hier – unser Mann, konstatiert die jäh erwachte Aufmerksamkeit – könnte vielleicht zu den Anhängern des Friedfertigkeitsdogmas zählen, der Lammsgeduld, die jede staatliche Gewalt zutiefst verabscheut, weil sie den Bürger in ein abhängiges, zuinnerst unmündiges Wesen verwandelt, das überwacht werden muss, da es sonst ausfällig wird, und gerade diese Überzeugung lässt ihn angesichts einer zufällig seinen Weg kreuzenden Zivilstreife ausfällig werden, sie macht ihn rasend (denn das hier ist Raserei, jeder Anwesende empfindet es so), sie lässt ihn Grenzen passieren, die sonst dafür sorgen, dass Alltag ist. Er könnte, sicher sollte man sich da nicht sein.
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Die Perspektive … wieviele Kameras sind im Raum? Dreißig, vierzig? Siebzig? Wie viele sind auf die Szene gerichtet? Drei, fünf, zehn? Wo stecken die anderen? Was nehmen sie auf? Den Boden unter den Füßen…? Er ist beteiligt, gewiss, der Boden unter den Füßen, er ist der Grund des Zusammenstehens, denn er bewegt sich doch. Er bewegt sich doch. Er bewegt sich doch, oder nicht? Steht er in diesen Momenten still? Diese Szene, diese Szene, aufgenommen von einer Kamera, aus einer Perspektive, schafft den Weg nach draußen, die anderen bleiben eingeschlossen in die Wahrnehmung weniger, allzu weniger, anonymer Zeitzeugen ohne Zeit, Passanten eben, die nichts weiter wollen als weiterzuwollen. Man stelle sich vor, sie ließen sich anzapfen, man könnte die Filme kopieren und senden: Wie wirr wäre das? Nun gut, wirr ist hier alles, ein bisschen Wirrnis mehr oder weniger fällt da nicht auf. Offenkundig handelt es sich um eine Traumsequenz. Sie geht vorbei, sie wird vorbeigehen, das ist der einzige Trost, ein winziger Trostsplitter, den sie, tanzend im Strudel, mit sich führt. So ein Trost lässt sich nicht filmen, vielleicht bleiben die stets griffbereiten Kameras, eine ausgenommen, deshalb in ihren Halftern oder verkümmern untätig in den Händen ihrer konsternierten Besitzer.
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Die Polizei … wo bleibt die Polizei? Wenn man sie braucht, ist sie nicht da. Hier würde sie gebraucht und … sie ist zur Stelle. Unglücklicherweise ist sie zur Stelle. Gerade darin besteht ihr Problem. Sie hat ein Problem, die Gute, wäre sie nicht zur Stelle, hätte sie keines. Das fällt auf. Die Staatsmacht sollte Distanz zu den Problemen der Bürger halten, das dient ihrer Reputation und hilft, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Ein Mann wird angepöbelt und schließlich handgreiflich attackiert: »Polizei!« Ein Handy findet sich immer im Raum, das sie ruft – ein Ordnungsfaktor ersten Ranges, unersetzbar, kostbar, ein Zivilisationszeichen erster Güte. Hier wird die Polizei angegriffen und nichts passiert. Man will wissen, wie sie sich in so einem Fall behilft. Ein Polizist, der sich nicht zu helfen weiß, stellt die Staatsmacht bloß, er ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, er gehört suspendiert. Wird dieser hier suspendiert? Nein, er wird höheren Orts gelobt: Er hat alles richtig gemacht. Er wird belobigt ob seiner besonderen Verdienste, denn er zeigt, wie man es richtig macht. Das Publikum, darüber verwundert und ein wenig verwirrt, will auch gelobt werden, schließlich trägt es das Seine dazu bei, dass niemand gelyncht wird und die Szene nicht zur Massenschlägerei ausartet. Zweifellos verhält es sich ebenso besonnen wie der Polizist, recht betrachtet sogar ein winziges Stückchen besonnener, denn es enthält sich jeder, selbst der kleinsten Provokation. Nein, es tut keineswegs so, als ginge es die Szene nichts an. Es ist gespannte Aufmerksamkeit, denn es weiß: was sich hier abspielt, geht es etwas an, geht jedermann etwas an. Besser, man prägt sich jede Kleinigkeit ein, um sie nie wieder zu vergessen, denn hier entscheidet sich womöglich unser aller Schicksal: das Schicksal einer polizeilich gesicherten Welt, an die wir alle unendlich gewöhnt sind.
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Die pünktlichsten Züge sind die Gesichtszüge. Sie können entgleisen, ohne aus dem Plan zu fallen. Leckebusch, einer der Angepöbelten selbst, hat seinen Tram-Kurs hinter sich gebracht und weiß, wie es ist, öffentlich angefallen zu werden und keiner Hilfe gewärtig zu sein. Er hat ein Buch geschrieben und seither ist die Bande der Verleumder hinter ihm her. Er hat viele Bücher in seinem Leben geschrieben. Dieses, mit Herzblut geschrieben, wurde ihm zum Verhängnis. Vor kurzem mischte er sich ein, als ein Unbekannter im Bus eine Frau mit Schmähungen überzog, darunter sexuelle Grobheiten, die den mitteleuropäischen Raum entschieden hinter sich ließen. Man muss nicht jeden Irrsinn dokumentieren. Von den Umsitzenden wurde seine Einmischung abfällig vermerkt: Sie war gegen die Regel. Welche Regel? Die emanzipierte Frau steht ebenso auf dem Prüfstand wie der einsame Polizist: Wird sie sich wehren? Kann sie sich wehren? Die emanzipierte Frau lehnt, ähnlich dem Polizisten, der sich jede laienhafte Einmischung in seine dienstlichen Belange verbittet, männliche Hilfe ab. So hat die Welt es verstanden – schelte einer die Welt! Also gilt in beiden Fällen die Regel: Hilf dir selbst. Was geht es dich an, wenn diese da scheitert? Nicht anders der Anwalt, dem Leckebusch, Entrüstung im Tonfall, die Tiraden seiner Verleumder vortrug: Was geht’s den Staat an, wenn Sie sich in Schwierigkeiten befinden? Sie mögen sich verleumdet fühlen, doch was Sie mir da vortragen, ist, verzeihen Sie den Ausdruck, Standard: gedeckt durch Meinungsfreiheit und, wer weiß, vielleicht ein Stück notwendiger Aufklärung über einen wie Sie. Wer sind Sie schon? Wer ist dieser Polizist? Er vertritt die Ordnung und tritt sie selbst mit Füßen, weil er sich nicht zu helfen weiß. Doch, er weiß sich zu helfen, so wie der Kneipenwirt sich zu helfen weiß, der dichtmacht, weil er sich einer bestimmten Klientel nicht mehr zu erwehren weiß. Dieser Polizist macht dicht. Gern würde auch er, Leckebusch, dichtmachen, aber er wüsste nicht warum. Etwas in ihm sträubt sich dagegen.
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Nein, es ist nicht der Polizist, der dichtmacht. Er ist nur das Schiebefensterchen, das sich schließt. Die Hand, die sich seiner bedient um dichtzumachen, bleibt unsichtbar. Sie ist nicht die Hand des Staates, der sich vieler Hände bedient, jeder zu ihrer Zeit, an unterschiedlichen Orten, zu Zwecken, die einander so wenig gleichen, dass die Halbklugen bereits ›Verschwörungstheorie‹ murmeln, wenn jemand ihn überhaupt als Urheber in Betracht zieht. Der Staat ist niemand. Der Polizist ist nicht niemand. Er hat einen Beruf, er hat Vorgesetzte, er hat ein Privatleben, er hat sich gerade verschuldet, er muss ein Haus abbezahlen oder seine Kinder, nachdem die Partnerin ihn vor die Tür gesetzt hat, er hat auch Ansichten, teils die üblichen, die niemanden interessieren, teils solche, die im Verborgenen blühen, für die sich vielleicht jemand interessieren würde, obwohl sie auch die üblichen sind. Er hat einen schmerzempfindlichen Körper, er hat eine schmerzempfindliche Psyche, er hat – auch er! – eine Ehre, von der er nicht weiß, ob sie ihm gerade genommen werden soll oder ob sie sich nicht bereits vor Jahren in die Büsche geschlagen hat, er glaubt, halb und halb, an ein Berufsethos, das ihm rät, in dieser Situation nicht zu versagen, sondern sie durchzustehen, wie es ihm eingeschärft wurde, teils der Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten wegen, die andernfalls auf ihn zukommen würden, teils, um sich nicht selbst das Etikett ›Versager‹ umhängen zu müssen, teils aus Trotz: Was geht’s mich an. Und, ganz im Ernst: Was geht es ihn an? In Situationen wie dieser spaltet der normale mitteleuropäische Mensch sich auf: ein Teil geht da-, ein Teil dorthin, einige machen sich unsichtbar, andere schweben über der Szene, der Rest filmt. Dort, wo es in anderen Kulturen hart zur Sache ginge, filmt der europäische Mensch. Es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, es ist sein Herzblut. »Das werde ich nie vergessen«, murmelt der europäische Mensch und füllt seine Festplatte.
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Bleibt also der Mann. Der zusatzlose ›Mann‹ der Medien in seinem verbrauchten Outfit, dessen Erscheinung jeder Beschreibung spottet, weniger, weil sie so sehr außerhalb des Üblichen fiele, sondern weil bereits die Schutzmauern der journalistischen Sorgfaltspflicht um ihn hochfahren und ihn den Blicken der Allgemeinheit entziehen, die sich längst am kommentarlosen Video schadlos hält und ihre Mutmaßungen im tausendfachen Hinterkopf verbirgt. Was ihn treibt? Nun, auch hier das Übliche, völlig ausreichend für diesen banalen Fall. Einer will Aufmerksamkeit erregen und – da ist sie. So einfach geht das. Er will Aufmerksamkeit auf sich ziehen, auf seine Person, nicht auf sein abgerissenes Äußeres, sondern auf sich, als wollte er sagen: Seht, ein Mensch. Er könnte es auch ›auf Lateinisch‹ sagen und seine Wundmale vorweisen. Doch das gibt die Penne, soweit er sie besucht hat, nicht her, oder er hat den Ausspruch vergessen, weil es nichts bringt. Wahrscheinlich würde, wer ihm dergleichen vorschlüge, einen Wutausbruch provozieren und müsste sich schleunigst in Sicherheit bringen. Die Fäkalkultur, in der er sein Zuhause aufgeschlagen hat, hält dafür den Ausdruck ›Was soll der Scheiß?‹ bereit, er hat ihm schon gute Dienste geleistet, er denkt nicht im Traum daran, auf sie zu verzichten. Der Ausdruck ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er ist Fleisch von seinem Fleische und Blut von seinem Blut und er will, dass alle davon kosten dürfen, denn er hält sich für kostbar.
Paradise blue
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In diesem Fall will er nicht bloß Aufmerksamkeit erregen. Dafür würde es genügen, sich hinzustellen und auf den Gang zu pinkeln oder sein Armutssprüchlein aufzusagen und ein vernichtendes »Gutntachnoch« hinterherzuschicken, um den kaum aufblickenden Mitfahrenden ihre Hartherzigkeit ins Gehirn zu ritzen. Nein, er will seine Wut an den Mann bringen und er verlangt vom Staat und seinem Vertreter vor Ort, sich als Dienstleister zur Verfügung zu stellen. Denn seine Wut ist auf Ordnung getrimmt und braucht einen ordentlichen Adressaten, nicht das Kind auf der Bank, das seinen Rucksack umklammert und ihn mit offenen Augen anglotzt, nicht den hageren Geschäftsmann, der sich gerade fragt, ob er nicht doch lieber das Taxi genommen hätte, oder … oder… Er hat sie alle taxiert und verworfen. Ordnung macht obszöne Gedanken. Diese Wut, diese aufspringende Wut, die er einem Klappmesser gleich zusammenfalten und wegstecken könnte, fände nur einer der Umstehenden den richtigen Knopf … es gibt eine Reputationsordnung der Wut, so wie es eine der Berufe gibt oder der Titelinhaber oder der Meisterdenker, in dieser Ordnung steht der Staat obenan, der Bullenstaat, wie ihn die Aufbegehrenden einst nannten, da kommt jeder Bulle, der sich in der Menge verläuft, gerade recht. Dieser hier hat sich nicht verlaufen, er waltet seines Amtes, so ein Glücksfall findet sich nicht alle Tage, wer da nicht zulangt, der … der … dem ist nicht zu helfen. Also bedient er sich, ein bisschen so, als wäre er an einem eingeschlagenen Schaufenster vorbeigekommen und die Auslage hätte ihn angelacht – was hätte er tun sollen?
Gedanklich gesprochen, bewegt Wegenaer sich auf plattem Terrain. Er gefällt
sich, indem er sich nicht gefällt. Die Feststellung, so absurd sie klingt,
gefällt ihm selbst. Er versucht sie mit Vorstellungen zu füllen, weit weg vom
Mainstream, nur fort. Selbstredend! Denn Wegenaer hält große Stücke auf
Distinktion. Gern möchte er die feine Spur eingebildeter Trauer um Augen- und
Mundwinkel, die ihm am Philosophen Dassler so gut gefällt, dem eigenen Gesicht
eingeschrieben wissen. Doch gefehlt! Sobald er es im Spiegel betrachtet, macht
sich Enttäuschung breit: die Stirn zu breit, das Kinn zu weich, das Auge
gutmütig bis zum Abwinken. Daraus wird nichts, in diesem Leben nicht mehr und im
anderen… Daraus konnte nie… Er betrachtet sein Gesicht, wie er die Predella
betrachten würde: mehr in Gedanken als Strich für Strich. Zu oft hat er es
gesehen, es durchsehen müssen, als dass ein vertrauter physischer Zug
seine Wahrnehmung auffrischen und in den Zirkel sinnlicher Neugier zurückbannen
könnte.
Wegenaer telefoniert
2
Im Spiegel ist jeder ein Sechzehnender. Eine zweifelhafte Sentenz.
Leicht verschwommen, aber gut lesbar, im Schriftzug an eine gepflegte
Baskerville erinnernd träumt sie im Hintergrund, wann immer im Spiegel sein
Ebenbild aufscheint. Ein ›Unebenbild‹, recht betrachtet. Wegenaer prüft seine
Wörter wie andere die Reifen ihres Straßenrenners: Stimmt der Druck? Reicht das
Profil noch? Oder sind sie schon jenseits des Vertretbaren und müssen gewechselt
werden? Selbst ein Kunsthistoriker ist nicht immer flüssig und gerät hin und
wieder an seine Grenzen. Dann müssen die Ausdrücke länger halten als eine aus
einer verjährten Recherche destillierte Überzeugung. Ein Reizwort wie
›Unebenbild‹, richtig eingesetzt, kann segensreich wirken: das herausgeforderte
Sprachgefühl, bereits zum Protest aufgelegt, kommt ins Stocken und vergrübelt
sich. Daraus lässt sich gut und gern eine Vorlesungsstunde bestreiten.
Reizwörter liebt Wegenaer über alles. Im Sprachuniversum des Dozenten kommen sie
gleich hinter den von ihm so genannten Aufziehwörtern: man setzt sie auf eine
ebene Fläche und sie spulen, praktisch selbsttätig, ein ganzes Programm ab.
›Uneben‹, um im Beispiel zu bleiben, wäre das zweidimensionale Abbild zu nennen, weil es
prinzipiell unauslotbare Tiefen schafft, statt sich, wie das Modell, mit sanften
Gewebe-Modulationen zufrieden zu geben. An dieser Stelle angelangt könnte er auf
einfache Weise die ›fordernde Gewalt des Konterfeis‹ einführen, vergleichbar der
bekannteren des Nichts, das bekanntlich alles fordern kann, um … nichts
zu erhalten: ein Scherz, ein verbaler Triangel, der womöglich mehr über die
Sache verrät als ein vorgehaltener Terminus, auf den sich die Philosophen-Zunft
irgendwann in mühsamen Verhandlungen geeinigt hat.
Wegenaer telefoniert
3
Was fordert das Konterfei vom Betrachter? Zunächst: nicht viel. Eher scheint
es ihm etwas zu geben, einen Eindruck zumindest, den es bei genauerem Hinsehen
verweigert. Es ist der verweigerte Eindruck, der Eindruck macht. Ein Bild
eindrücken heißt es zerstören. Bei der Plastik ist das anders, hier entsteht,
wie es sich gehört, das Bild im Auge des Betrachters, während es im Spiegel …
oder auf der Leinwand … gleichsam herausoperiert, auf eigene Faust existiert,
und eben deshalb, anders auch als im Film, sich verrätselt, sich als Rätsel dem
Auge nähert, das unschlüssig die richtige Distanz zu suchen beginnt. Aus welcher
Entfernung ist ein Konterfei Bild? Das kommt auf den Zweck an, sagt der prüfende
Blick. Mag sein, mag nicht sein. Der Prüfzweck erschafft kein Bild, er rückt ihm
zu Leibe. Hat das Bild einen Leib? Strikt gesprochen: nein. Alles in allem ist
der materielle Träger das Gegenteil eines Leibes. Eine Glasplatte, mit einem Mix
aus Silber und Glukose hinterlegt, reicht völlig aus, um das Bild zu ›erzeugen‹,
sprich, aus ›Zeug‹ erstehen und auf seine Weise ›Zeugnis‹ geben zu lassen.
Welche Materialien ein Künstler benötigt… Die moderne Kunst ist wahrlich weite
Wege gegangen, um der Sinnstiftung durch Öl zu entgehen, nachdem die Palette der
Ölfarben ein paar Jahrhunderte lang die Welt der Bilder in sich zu enthalten
schien. Dem Gefängnis der Ölfarben konnte die Kunst entlaufen, dem Bild nicht.
Wer will, darf es ›Simulacrum‹ nennen. Was bessert das? Es verschlimmbessert
nur, weil es die Differenz zwischen Bild und Plastik beiseite wischt. Das Gros
der Kollegen arbeitet so – jemand tackert mit Hilfe von ein, zwei
Klammerbegriffen zusammen, was bis dahin unter getrennten Bezeichnungen lief.
Durch diesen scheinbar harmlosen Eingriff erschafft er das Monster der Saison,
an dem alle sich abarbeiten, bis es wieder im Abgrund der Ideenlosigkeit
versinkt, aus dem es aufstieg.
Wegenaer telefoniert
4
In diesem Moment – es muss schon ein ›Moment‹ sein, anders funktioniert die
Story (eigentlich keine Story, sondern eine Art Schicksalsverkettung)
nicht –, in diesem Moment schellt das Telefon – man sagt noch immer, ›es
schellt‹, obgleich weit und breit keine Schelle ertönt, wohl aber ein paar
ausgesuchte Takte aus Smetanas Moldau dem Ohr des Angerufenen
schmeicheln –, Wegenaer, agil und prompt nach dem Hörer greifend, ahnt nicht,
dass dies der Anruf ist, ›der sein Leben verändert‹ (gut möglich auch, dass er
es wissen könnte, ohne es zu glauben, da er, im Leben wie in der Kunst, nicht an
Anrufe glaubt), er ahnt gar nichts, das ist auch unnötig, da sein Leben,
gerade jetzt, weit offen steht wie das sprichwörtliche Scheunentor und die
Person X, die da hereinspaziert, zwar Wert auf Vorzeichen und Ahnungen legt,
aber doch erst, nachdem sie abgelegt und das Fenster geschlossen hat – eine
Geste, die Wegenaer in natura noch viele Male erleben wird, während sie
bei diesem ersten Mal rein akustisch … vorgeführt…
―Ja bitte?
Die Kunst, nein, die ganze Kunst besteht darin, nein zu
sagen, nicht ›Nein!‹ und nicht ›nein…‹, sondern einfach nein: sie gehört, als
Form der Rede betrachtet, zu den großen Verneinern, jedenfalls im Gewebe dessen,
was die Europäer ›Kultur‹ nennen und was großenteils nichts weiter beinhaltet
als die Überreste gewalttätiger Auseinandersetzungen, wie die behördliche
Verlautbarungssprache das nennt, es sei denn, man studiert sie am Leitfaden der
Kunst, um am Ende das Positive überwiegen zu lassen. Leider ist das Ende
der Kunst selbst gewalttätig, so fügt sie sich in den Reigen europäischer
Großereignisse ein, nachdem sie lange ihre eigene Ereigniskette gepflegt hat, in
der alles, was geschah, sich dem Diktat der Schönheit zu beugen hatte. Zu
beugen, gewiss, die Kunst hat Europas Barbaren aufs Knie gezwungen, eher
gingen sie aufs Schafott, als dass sie jemals der Einsicht die Ehre gaben. Vor
der Kunst haben alle den Hut gezogen – kein Wunder, dass sie heute, in einer
Welt ohne Kopfbedeckungen, den Kürzeren zieht.
―Wegenäär? Nein, ich heiße Wegena-er, so ist es, am Apparat. Was kann ich für Sie tun?
Homomaris, eingedenk seines fortgeschrittenen Greisenalters, kämpft. Auf einen
Zettel hat er den Satz gekritzelt: »Wer sammelt Sammler?«, auf einen anderen die
Formel »X ≠ U« nebst einem sorgfältig ausgezogenen Quadrat: Vorboten der
Zettelflut, die er nach und nach, wie Aktäons von Diana auf ihren verzauberten
Herrn gehetzte Meute, Wegenaer ins Haus oder, um im Bild zu bleiben: auf den
Hals schickt. Verblüfft muss dieser hin und wieder die Lupe zur Hand nehmen, um
die einlaufenden Botschaften zu entziffern. Viel nützt auch das nicht. Der
geheime Sinn dieser Notizen heißt Chaos. Was auf den ersten, zweiten und dritten
Blick wie altertümlich anmutendes Gekrakel daherkommt, entdeckt sich dem
forschend grübelnden Auge als Abfolge winziger Kunstwerke: tief ins Faserwerk
des Büttenpapiers eingedrungener und mit ihm verbackener signa, die zwar,
aus mittlerer Entfernung betrachtet, als Buchstaben durchgehen, aber in ihrer
kleinteiligen Fülle Assoziationen an frei programmierbare Zeichensysteme Raum
geben.
Homomaris
2
Der Zeichner Homomaris scheint das Zeichnen aufgegeben zu haben. Anders
gesprochen: Krakelschrift und Zeichnung folgen dem gleichen Muster. Um das
festzustellen braucht Wegenaer keine Lupe. Eher wundert ihn, dass der
scherzgeborene Gedanke jedem ernsthaften Einwand standhält, ihn schließlich
sogar überwindet, so dass der Professor, die tiefe, mit einem leichten Quäkton
nach oben abgerundete Telefonstimme im Ohr, nach einer Woche innerer Kämpfe sich
bereit findet, den Absender einen ›genialen Krakler‹ zu nennen – ohne zu wissen,
worauf er sich damit einlässt. Denn Homomaris drängt nach, vielleicht zu sehr,
so dass dem Geständnis eine leichte, vom Meister der signa vorausgesehene
Abkühlung folgt, die dieser für eine größere Zusendung nützt: ein den Sinnen
schmeichelndes Druckwerk, das Wegenaer, verunsichert, aus mehreren präzise
gewickelten Lagen Seidenpapier schält und abschätzend, denn es besitzt die von
Repro-Drucken gewohnte Schwere, in der Hand wiegt. What comes next?
Homomaris
3
Wieder und wieder stellt sich die Frage in diesen Tagen. Homomaris hat keine
Zeit mehr. Er hat die längste Zeit im Aufschub gelebt und will, Wegenaer im
Visier, reinen Tisch machen. Warum Wegenaer? Homomaris hat, still im Kämmerchen,
nachgedacht und die Lösung ist einfach: das Quadrat bedarf der Füllung.
Homomaris mag das Quadrat nicht, er hasst es geradezu und verachtet seine
Expropriateure. Eben das hat seine suchende Aufmerksamkeit auf Wegenaer gelenkt,
den Quadrat-Wegenaer, wie er ihn am Küchentisch nennt, als gebe es in diesem
Gewerbe noch einen dem Quadrate-Geschäft abgeneigten Namensvetter, was
aber nicht der Fall ist. Er hat einen Vortrag von ihm besucht und die falsche
Magie des leeren Quadrats, ein ums andere Mal auf die ausgerollte Leinwand
geworfen, zum ersten Mal nackt erlebt, ohne farbliche oder chemische Zusätze
anderer Art, auf offener Bühne, denn bei sich, im Bann der eigenen Kritzeleien,
praktiziert er sie als eine Art Gegenzauber, um die bösen Geister der
Abstraktion zu bannen und sich abzugrenzen gegen die Zumutungen einer
durchästhetisierten Lebenswelt, in der ein mit Pop-Farben nachgebesserter
Malewitsch, millionenfach abgekupfert, noch immer als verkaufsfördernder
Blickfang gilt. Les extrêmes se touchent. Die robuste und alltagstaugliche
Maxime hat Homomaris sein Leben lang gute Dienste geleistet, dieses eine Mal
vertraut er ihr blind. Was soll schon passieren? Ein verprellter Experte mehr
oder weniger macht das Kraut auch nicht fett. Im Gegenteil, er hält es schön
dünn und deshalb wählt der ›Mann des Meeres‹, halb träumerisch, halb listig
berechnend, aus seinem umfangreichen Œuvre den Titel, von dem er sich in dieser
Hinsicht die besten Dienste verspricht:
Wegenaer, das Buch durchblätternd, fortlegend, holt es zurück.
Ihm liegt eine Doktorandin im Sinn, deren Arbeit nach einem Abschluss
verlangt:
DAS KLEINE WERK IM GROSSEN Künstlerschriften des
zwanzigsten Jahrhunderts
Die perfekte Zusammenführung von Bild
und Text, ihre Verschmelzung im Angesicht des Lesebetrachters, dem
das Auge übergeht und mit dem Auge der Sinn –: so in etwa lautet
die Formel, mit der die junge Dame ihn quält, weil er sie einerseits
für banal, andererseits für ausreichend hält, ein solches Projekt
zu legitimieren, vorausgesetzt … vorausgesetzt, es findet sich noch ein Werk, das den femininen
Anspruch auf Perfektion glaubhaft transportiert, denn daran hapert
es. Vielleicht liegt hier ein Anlass, erneut darüber zu reden, und
sei es ein dilettantischer: soll sie doch herausfinden, was es mit
dieser Zusendung auf sich hat, die so offenkundig an seine
Zuständigkeit appelliert und sie eben dadurch verfehlt.
Recht gewogen, fühlt das Buch sich leicht an, eines unter Millionen, der
graue Einband, durch einen schwebenden Blauton von den Toten erlöst,
fällt breit genug aus, um das Öffnen zu einer großspurigen
Handlung aufzublasen: eine Spur nur, merklich, doch nicht ins
Umständliche verfallend – perfekt wie alle Konfektionsware, die in
einem tausendfach erprobten Format daherkommt.
Ein Werk für alle und keinen
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Die Feuerprobe
Wegenaer wäre nicht Wegenaer, hielte er an dieser Stelle allzu
lang inne. Ein Blick auf das Einbandmotiv, ein flüssig beschriftetes
Aquarell, hat ihm den Pastiche verraten und der einmal gewonnene
Eindruck setzt sich von Abbildung zu Abbildung fort … als habe
einer zu lange in Surrealisten-Katalogen geblättert und sein geliebter Pinsel
habe ihm zugeflüstert:
―Das können wir auch.
Aber gewiss doch, wer
kann es nicht? Perfekt! Können Pinsel sprechen? Nun, wenn man Homomaris heißt…
Die Meister des Imperfekt kopiert man nicht
ohne Schaden, nicht ohne Schaden… Man riskiert Missachtung, geht
man so auf Beachtung aus. Mehr: man riskiert
Geringschätzung, wenn man allzu laut Anspruch auf ein Erbe erhebt,
das längst Gemeingut geworden ist.
Die Hohenzollern (warum gerade sie?), verstrickt in Prozesse um ein Eigentum, das längst ein Raub der Geschichte wurde, könnten ein Lied
von dieser Art Kampf singen. Sie stehen damit nicht allein. Gerade die Kunst … in punkto Nachfolge ist
sie gnadenlos. Homomaris? Ein Scharlatan mehr. Mag Lydia ihn
entlarven, ihr traut er es zu. Auf diese Weise könnte sie auch das
Stück Vertrauen in ihre Arbeit herbeischaffen, das ihm bisher noch
abgeht – ein hübscher Nebeneffekt, bei dem er vor und hinter dem
Vorhang hantiert, als Schauspieler und Beleuchter.
Sie braucht die Coda.
Ein Werk für alle und keinen
3
Kunstkenner Tronka entdeckt das Opusculum auf Wegenaers Schreibtisch
―Ach, wirft Tronka hin, Homomaris, den kannte ich nicht. Muss man
ihn kennen? Ich sehe schon, ich sehe schon… Diese italienische
Phantasie, die geht uns Nordmenschen ab. Pardon, aber ich habe Max
Ernst immer langweilig gefunden, wie geht es dir damit? Bin ich jetzt
durchgefallen? – Das ist ja köstlich. Hammer und Amboss in einem.
Und darauf: ein Vogel! Ein Vögelvogel. Kolben und Zylinder, alles in
diesem eleganten Grau, man möchte mit dem Finger darüberfahren, nur
so, warum eigentlich? Was ist dran an der taktilen Kunst? Ich frage
ganz ernsthaft, das hat mich immer beschäftigt: Kunst zum Anfassen,
was ist das? Obwohl, zwischen Anfassen und Drüberwegfahren besteht
noch ein Unterschied, für mich ein riesiger, andere Leute mögen das
anders sehen. Dieser weibliche Torso rechts, stammt der aus einem
Anatomiebuch? Es kommt mir so vor, als hätte ich ihn bereits
gesehen, natürlich ohne Innereien, jedenfalls ohne diese,
schreckliches Zeug, warum malt man sowas? Da stehen ja Beschreibungen
drunter, ich habe jetzt meine Brille nicht dabei – was heißt das?
Urgenetismus? Das will ich meinen, vor allem Ur. Ich seh’ schon,
hier wächst die Wirbelsäule aus dem Blutkreislauf direkt ins Freie.
Wohl bekomm’s. Die Intuition des Künstlers bleibt uns
Verstandesmenschen immer ein bisschen fremd. Resignierst du nicht
manchmal?
Wegenaer ist blass geworden. Das Experiment mit Lydia war
ein Fehlschlag. Nach einem Monat nutzloser Schwärmerei hat er ihr das
Buch wieder abgenommen, es liegt noch in seinem Büro, er hat
vergessen, es mit nach Hause zu nehmen, wo sich die Zettel aus
Büttenpapier häufen, samt Krakeleien. Und jetzt das hier.
Peinliche Szene.
Ein Werk für alle und keinen
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Ein Buch im Buch (vielleicht)
Du kennst das Buch, als hättest du’s nie gesehen. Es ist kein wirkliches Buch, aber eines nach deinem Herzen. Homomaris, der so gerne Bücher schriebe, hat sich den Eintritt ins literarische Universum ertrotzt: durch Reproduktionen seiner auf Büttenpapier gekratzten und aquarellierten Zeichnungen, auf denen es, zugegeben, von Schriftzeichen nur so wimmelt – lesbaren, unlesbaren, beschreibenden und expressiv gestalteten wie den Großbuchstaben des Alphabets, mit dessen Hilfe er die Abfolge der Blätter festlegt, als handle es sich, diesmal jedenfalls, um ein medizinisches Lexikon.
Plattfuß Wegenaer hat das ganz richtig gesehen: in diesem Pseudo-Buch regiert das Chaos. Aber es regiert nicht unumschränkt. Seine Herrschsucht wird gebremst durch das Alphabet, dem sich alles fügt. Jedes einzelne Blatt hingegen scheint den Betrachter anzuschreien: Falsch entziffert! Das gibt’s doch nicht! Das kann der Künstler nicht meinen! So kindisch ist keine Kunst! Lesen lernen! Da lacht das Kind im Erwachsenen und fühlt sich geschmeichelt.
Es lacht eine Weile, dann beschäftigt es sich mit etwas anderem.
Ein Buch
mit sieben Siegeln (Aber warum sieben?)
der falschen Redensarten (Was daran wäre falsch?)
Ein Werk für alle und keinen
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Bücherfalle
Erste und umfassendste Geste des Bücherlesens: das Aufschlagen.
Ein schlechtes Buch versammelt so viele Eindrücke auf seinem Einband, dass sich das Aufschlagen
nicht mehr zu lohnen scheint. Und es will belohnt werden, soll es zustande kommen. Ein guter Einband zeigt den Weg – nicht mehr, nicht weniger. Aber nicht jeder Weg will
begangen sein. ›Das ist ein Holzweg‹, grinst das bäuerliche Gemüt, ›den kannst
du dir schenken.‹ Wer nicht weiß, was ein Holzweg ist, der misstraut der
Abzweigung und bleibt lieber auf der Geraden. Ein origineller Titel ist ein
allzu flüchtiger Reiz. ›Ah, originell‹, sagt der Tastsinn, der unter der
Betrachtung erblüht, ›dafür muss ich mir Zeit nehmen.‹ Womit schon gesagt ist,
dass gerade dieses Stück Zeit wieder und wieder fehlen wird.
Unter den Büchern bilden die liegengebliebenen eine Extra-Klasse. Sie scheinen darauf zu warten, dass ihre Zeit kommt. Welche Zeit mag das sein? Jedenfalls ist sie noch nicht, darin liegt bereits das Verhängnis, denn ›noch nicht‹ bedeutet Aufschub: Störe unsere Kreise nicht, heißt es, damit beschäftigen wir uns später. Ein Buch, mit dem wir uns später beschäftigen wollen, hat Zeit, es hat alle Zeit der Welt (jedenfalls scheint es so) – wir haben keine. Dieses protzige Wir sind das Ich und sein Siegel-Ich (sein Briefbeschwerer).
Ein Künstler, der ins Buch strebt, stiehlt sich davon. Er misstraut den Ausstellungen, auch er will ›etwas Festes‹. Was noch? Nun, er will ausgestellt werden. Für ihn ist das Buch eine Dividende auf kommende Ausstellungen. Sie schlummern darin wie die verborgenen Kräfte des Drachen Niruwan, der zur gegebenen Zeit erwacht, es muss ihn nur einer wecken. Wer will so ein Buch? Sein Geheimnis ist das Prestige, vor allem dort, wo es fehlt. ›Schau, was ich gefunden habe‹, sagt das suchende Ich, ›lass doch‹ das blätternde: es ist schon weiter und erkundet ›den unbekannten Lagerfeld‹ oder ›Loriot: das späte Werk‹. Da weiß es, was es hat.
Was hat es denn? Ein Nachholbedürfnis. Nichts darf ihm entgangen sein. Deshalb ist alles, was ihm entgeht, nichts.
―Kultur, erläutert Wegenaer seinen zum Dreitages-Enklave
versammelten Studenten, hat neben der Fähigkeit, den Blick frei
schweifen zu lassen, mit Fingerfertigkeit zu tun. Beim
pinselschwingenden Maler oder dem mechanisch schuftenden
Objektkünstler ist das offensichtlich. Aber es gilt auch im Bereich
der Rezeption. Bücher zum Beispiel… Lieben Sie Bücher? Sie müssen
Bücher schon lieben, sonst wird das nichts zwischen Ihnen und der
dahinter steckenden Kulturtechnik. Die besten Bücher wollen
erblättert werden. Ansonsten reden wir nur über Text.
Blättern bedeutet, Sie vertrauen sich der unsichtbaren Führung
durch Masse und Gewicht, aber natürlich auch durch all die
eingebauten Klapp- und Faltstrukturen an, durch die sich das
klassisch gebundene Buch von all den Billigimitaten abhebt, die den
Markt überfluten. Was Sie dadurch erfahren, geht über bloß
reproduktives Lesen weit hinaus. Der im Buche blätternde Mensch
bedient sich des simplen, aber wirkungsvollen Mechanismus, der das
Buch seit altersher zum Orakel prädestiniert. Damit
gerät er in Sinnregionen, die dem Bravsein mit Worten auf ewig
verschlossen bleiben.
Wie das?
―Nun, er verschiebt etwas. Nennen wir es vorläufig das Verhältnis
von Teil und Ganzem. Was heißt Blättern? Wer blättert, überschlägt
die Lektüre. Er überschlägt sie nicht ganz, der Blick trifft auf
dies und das, er nimmt Lese-Eindrücke auf, er springt von Eindruck
zu Eindruck. Eine Reihe rasch erzeugter Eindrücke soll Aufschluss
darüber gewähren, was dran ist am Ganzen, am ganzen Werk
meinetwegen. Kann sie’s? Kann sie’s nicht? Nein, sie kann es
nicht. Warum kann sie es nicht? Was meinen Sie? Nein, sagen Sie’s
ruhig. Ganz recht, die Verknappung der Zeit erzeugt etwas, was der
Autor nirgends im Sinn hatte, als er seine Sätze niederschrieb,
sorgfältig, einen nach dem anderen, Satz für Satz. Das Blättern
erzeugt eine künstliche Selektion und die erzeugt etwas anderes,
etwas, das nur dem die Lektüre verweigernden Leser gehört. Aus
diesem Grund legt der Blätternde das Ganze nie ganz aus der Hand. Er
behält es hübsch in Reserve. Warum? Er könnte es irgendwann
brauchen. Und nun hören Sie noch einmal hin: ›Das
Ganze nicht ganz…‹ Da haben Sie die Formel für das
erblätterte Buch. Was braucht der Mensch mehr, um ganz Mensch zu
sein (um mich, was sonst nicht meine Art ist, bei Schillers
Spielformel zu bedienen)? Gute Frage. Alles, womit der Mensch spielt,
könnte er noch einmal brauchen. Das ist der Sinn des Spiels, die
unaufhörlich schweifende Mimesis.
… ??
―Ein Buch, wie ich es hier in der Hand halte, kann ebenso
schweifend erschlossen werden wie … wie … eine Landschaft. Sie
kennen das aus anderen Zusammenhängen… – versuchen Sie mal, sich
innerhalb einer vorgegebenen Zeit in einer Bibliothek zu orientieren.
Ich sage bewusst Landschaft, weil der schweifende Blick erst
Landschaft ermöglicht. Er erschafft sie, man könnte sagen im
Handumdrehen, aber das wäre dann wieder ein anderes Zeitmaß. Der
Ausdruck ›Bücherlandschaft‹ gehört ins Feuilleton, da tauchen
im Besprechungsteil von oben nach unten, von links nach rechts immer
die gleichen Autoren plus, sagen wir, hin und wieder ein, zwei
Neulinge auf: der Lesepfad geht vom allzu Bekannten zum weniger
Bekannten, das sich nach wenigen Sätzen als das Altbekannte in
frischer Verpackung entpuppt. Wer will, kann das natürlich
Landschaft nennen. Die wahre Bücherlandschaft aber ist die
Bibliothek. Sie erzeugt den Eindruck von Ordnung, weil sie eine
Ordnung besitzt. Doch der Eindruck von Ordnung und die Ordnung selbst
sind himmelweit unterschieden. Die bibliothekarische Ordnung ist
kontraproduktiv. Warum? Weil sich das Schweifen in ihr
erübrigt. Deshalb ist die Bibliothek nicht der richtige … nicht
ganz der richtige Ort, um sich schweifend zu
orientieren.
Der richtige Ort ist, unter uns, die Terrasse.
Die Terrasse ist der Ort, an dem sich das bergende Haus
zur Landschaft hin öffnet und im Subjekt mit ihr verschmilzt.
Das Buch ist der Ort, an dem die durch Material und
Symmetrie eingebundene Schrift sich entgrenzt.
Da blicken die ›Studierenden‹ – wie die Krake Bürokratie
sie neuerdings nennt – ihn fragend an und in den Köpfen beginnt es
zu rauchen. Blicke durch, wer will.
Hier und da: gedämpftes Gelächter.
Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
2
Lydia, den bleichen Schopf straff nach hinten gekämmt, sitzt in
der ersten Reihe.
Sie will sich hervortun.
Wegenaers schweifender Vortrag verwirrt sie.
Am liebsten würde sie ihm das Buch aus der Hand nehmen und aufschlagen, sie
weiß die Seite, sie hätte damit kein Problem. Das Problem heißt Wegenaer.
Er hat ihr das Buch, das sie bereits sicher in ihrem Besitz wähnte, wieder
abgenommen und hält es verschlossen. Sie könnte sich melden, aber sie wagt es
nicht. Warum sie es nicht wagt, weiß sie nicht genau. Es geht nicht. Aber, wie
sie sich bereitwillig einräumt, das ist keine Antwort. Sie möchte die Antwort
nicht wissen. Die Trennung vom Buch, das fühlt sie, ist ist ein
traumatisierender Eingriff, den sie nicht so leicht wegstecken wird. Nie hat sie
sich Männergewalt so … bloß ausgeliefert gefühlt, schutzlos in ihrer
Hülle aus guten Vorsätzen und hochfliegenden Plänen, die sie sich liebend gern
patentieren lassen würde, so eigen kommt sie ihr vor, so anschmiegsam weich und
wunderbar, so ganz und gar passend, dass allein das Sicherheit gibt, Sicherheit,
die jetzt zerbrochen ist, naja, vielleicht nicht zerbrochen, aber ›angeknackst‹
trifft es auch nicht, dem Ernst der Lage würde so ein Allerweltswort nun
wirklich nicht gerecht. Ein Allerweltswort in einer Allerweltswelt … nicht dafür hat
sie dieses Studium begonnen, nicht dafür sitzt sie an diesem Platz, nicht
wirklich. Dafür hat sie nun wirklich nicht geforscht, denn das … das hat sie, fast bis
zur Selbstpreisgabe, und sie will den Preis … natürlich will sie den Preis …
›einstecken‹ ist nicht das richtige Wort, sie will ihn schließlich nicht in der
Tasche davontragen, auch nicht über oder unter dem Herzen, sondern … fast hätte
sie eingesetzt: ›in der Gloriole‹, komischer Ausdruck, könnte auch
›Gladiole‹ heißen, dann hätte sie wenigstens etwas Handfestes, etwas,
worüber sie lachen könnte, während sie die aufsteigenden Tränen verdrückt.
Der kultivierte Mensch ist der ahnungslose
2
Lydia, den bleichen Schopf straff nach hinten gekämmt, sitzt in
der ersten Reihe.
Sie will sich hervortun.
Wegenaers schweifender Vortrag verwirrt sie.
Am liebsten würde sie ihm das Buch aus der Hand nehmen und aufschlagen, sie
weiß die Seite, sie hätte damit kein Problem. Das Problem heißt Wegenaer.
Er hat ihr das Buch, das sie bereits sicher in ihrem Besitz wähnte, wieder
abgenommen und hält es verschlossen. Sie könnte sich melden, aber sie wagt es
nicht. Warum sie es nicht wagt, weiß sie nicht genau. Es geht nicht. Aber, wie
sie sich bereitwillig einräumt, das ist keine Antwort. Sie möchte die Antwort
nicht wissen. Die Trennung vom Buch, das fühlt sie, ist ist ein
traumatisierender Eingriff, den sie nicht so leicht wegstecken wird. Nie hat sie
sich Männergewalt so … bloß ausgeliefert gefühlt, schutzlos in ihrer
Hülle aus guten Vorsätzen und hochfliegenden Plänen, die sie sich liebend gern
patentieren lassen würde, so eigen kommt sie ihr vor, so anschmiegsam weich und
wunderbar, so ganz und gar passend, dass allein das Sicherheit gibt, Sicherheit,
die jetzt zerbrochen ist, naja, vielleicht nicht zerbrochen, aber ›angeknackst‹
trifft es auch nicht, dem Ernst der Lage würde so ein Allerweltswort nun
wirklich nicht gerecht. Ein Allerweltswort in einer Allerweltswelt … nicht dafür hat
sie dieses Studium begonnen, nicht dafür sitzt sie an diesem Platz, nicht
wirklich. Dafür hat sie nun wirklich nicht geforscht, denn das … das hat sie, fast bis
zur Selbstpreisgabe, und sie will den Preis … natürlich will sie den Preis …
›einstecken‹ ist nicht das richtige Wort, sie will ihn schließlich nicht in der
Tasche davontragen, auch nicht über oder unter dem Herzen, sondern … fast hätte
sie eingesetzt: ›in der Gloriole‹, komischer Ausdruck, könnte auch
›Gladiole‹ heißen, dann hätte sie wenigstens etwas Handfestes, etwas,
worüber sie lachen könnte, während sie die aufsteigenden Tränen verdrückt.
Wegenaer wird mich nicht aufhalten. Er hat
mir etwas genommen und etwas in mir ist zerbrochen. So sieht es aus. Das Ganze
raubt mir den Atem, wann immer ich daran denke. Das ist eine bloße Redensart,
aber in diesem Fall voll
gerechtfertigt. Ich leide
unter Atembeschwerden, unter Schluckbeschwerden, allmählich meldet sich auch
mein Magen. Das hat noch gefehlt. Ich kann das alles nicht brauchen. Ich nehme
Medikamente. Ich habe mich bei meiner alten Yogalehrerin angemeldet, ich habe
Siegmund erklärt, dass er besser vielleicht eine Zeitlang auszieht, weil ich ein
Problem klären muss. Nein, nichts mit ihm, er darf sich da ganz beruhigt
zurücklehnen und seine männliche Eitelkeit einfach für eine Weile stecken lassen. Ich habe alle
Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Aber beim Joggen bereits überfällt mich
Kurzatmigkeit. Alarm!! Ich komme
nicht mehr voran. Die Diagnose der Lungenärztin habe ich: Keine
organischen Ursachen (wie nicht anders erwartet). Das wäre also abgeklärt. Mein
Problem heißt Wegenaer. Ich muss, ich will mir das Buch zurückholen. Ich habe es
bereits bestellt, das ist, wenngleich nicht der entscheidende, so doch der erste Schritt.
Immer wieder kehrt Wegenaer zum Buchstaben F = Fettleibigkeit
zurück. Wenn es eine Seite in Homomaris’ Buch gibt, die gleichsam
von selbst aufklappt, sobald er sie berührt, dann diese, die
vorgibt, der ›Adipositas‹ auf den Leib zu rücken, während es
sie mit einem Lächeln, so zweideutig und hart wie das Leben, das er
selbst nie geführt hat, feiert, nein, als Lösung des kulturellen
Formproblems preist. Dass Kultur ein Formproblem hat, das sie lösen
muss – so zu reden ist ganz
alte Schule, aber das Problem bleibt, auch wenn die Wörter wechseln,
und Wegenaer ist Ästhet genug, um von Zeit zu Zeit dem Charme der
älteren Terminologie zu erliegen. Was liegt an Terminologie! Alles
und nichts, folgt man Homomaris, der dieses Klavier benützt, als
habe er es, einsam im Walde spazierend, auf einer wilden Müllkippe
entdeckt und klimpere, unter tirilierenden Sängern, jetzt munter auf
ihm herum.
Hat er nicht recht? Hat man die alten Ismen nicht wild entsorgt,
sobald ein neuer anrollte? Sind sie nicht…? Nun ja, ebenso sehr
Müll wie die traditionellen Mittel der Bildgestaltung, die im
Malewitsch-Wegenaer-Quadrat spurlos untergegangen sind – er würde
den Ausdruck ›restlos aufgehoben‹ bevorzugen, aber ein kleines
Cave! läuft immer mit und will gehört werden. Plötzlich,
unter den fleißigen Fingern dieses Homomaris, beginnt es zu plärren
wie ein billiges Transistorradio, das jemand vor dreißig Jahren
abgestellt hat und jetzt, ein Menschenalter danach, lärmt es los.
Nein, man muss die sinnliche Schönheit des weiblichen Modells in
seiner zur Üppigkeit neigenden Variante nicht mögen (ist das ein
Widerspruch oder ein Sexismus?). Man darf sie aus vielerlei
Gründen nicht mögen. Aber ohne Zweifel leiht das Gerede vom ›guillotinistischen
Schönheitsverlust‹, gestisch unterstrichen durch die ›medizinische
Kulturgrenze‹ des durchtrennten Halses, einer Verlustgeschichte die
Stimme, die sonst unkommentiert die Museen bevölkert…
Formuliert er schon? Meldet sich hier die Stimme des nächsten
Buches? Der dicke Strich, der die moderne Zwei-Reiche-Lehre der Kunst
begründet, ist, wie es scheint, fadenscheinig geworden. Wegenaer
wundert sich, wie leicht es ihm fällt, ihn tentativ zu überschreiten
und sich den boys von der anderen Seite anzunähern, die
dort auf Aufträge lauern. Dieser Homomaris, das spürt er genau, ist
einer von ihnen, zweifellos mit dem Zeug zum Anführer, ein
Sechzehnender, der am Ende seines Lebens stürmisch Aufschluss
darüber begehrt, warum seinesgleichen nie zum Zuge gelangte. Die
Sprache der Comics in ihrer stilisierten Hässlichkeit ist seine
Waffe, er scheint sie zu beherrschen, aber sie ihn nicht, da
liegt der Unterschied. Er benützt sie als Schmutzkübel, um
Schönheit einzufordern: nicht ironisch, nicht gebrochen, wie es sich
gehört, sondern mit dem Pathos des Alten, der zum Aufrührer
mutiert, weil die Zeit des Aufschubs zu Ende geht.
Nun, auch er, Wegenaer, ist nicht mehr der Jüngste. Das verbindet, zumindest
lässt es die Motive des anderen in einem milderen Licht erscheinen. Eine
Beschäftigung mit ihnen scheint denkbar. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass da
etwas liegengeblieben ist.
So jedenfalls würde die Geschichte, wie Wegenaer sie erzählt, rechtmäßig
lauten. Würde er genauer hinsehen, dann würde er bemerken, dass bei dem Vorgang
eine Instanz ihre Finger im Spiel hat, die sich selbst durch absolute
Inkompetenz nicht abschrecken lässt, die Fäden zu ziehen. Diese Instanz ist
nicht Lydia, die es liebend gern wäre, sondern das penetrante Geplapper, auf
Grund dessen er ihr das Buch wieder entzog. Die Adipositas-Seite war darin bis
zur Widerwärtigkeit gegenwärtig, auf jeden Fall gegenwärtig genug, um seinen
Abwehrreflex zu provozieren.
Was heißt das schon?
Ehrlich gesagt, nicht viel. Es mögen ein, zwei Sätze gewesen sein, auch drei,
übrigens nicht zurückrufbar, das Gedächtnis erweist sich an dieser Stelle, wie
so oft, als blank sheet of paper, besser gesagt, als Leerstelle, in
welche die Gedanken hineinströmen, als hätten sie nichts Besseres zu tun, als
hätte sich hier eine dieser Mulden in ihrem Universum gebildet, von denen selten
die Rede ist und ohne deren Hinzunahme es sich nicht wirklich begreifen lässt.
Nein, die Neigung zur Korpulenz ist nicht sein Problem. Er hat sich den
federnden Körper bewahrt. Auch gehört er nicht zu den Männern, die den
weiblichen Fettansatz über alles schätzen. Diese sehr eigene Welt der Kalorien
und der verzweifelten Versuche, sie im Alltag zu kontrollieren, soviel kann
gesagt werden, ist ihm wesensfremd. Allein: der Teufel steckt im Detail.
Wegenaer ist verheiratet.
Liegt hier der Punkt, an dem Lydias Geplapper ihm zu nahe kam? Eine Spur
jedenfalls wäre es, der nachzugehen sich lohnte. Wir kennen, so würde der
Philosoph Dassler, falls eine unbekannte Instanz ihn zwänge, so tief unter sich
zu greifen, es wohl formulieren, Wegenaers Privatleben nicht genau genug, um an
dieser Stelle augenblicklich weiter zu kommen. Im Leben des Kunsthistorikers
Wegenaer ist der Augenblick alles. Er hat ihn kultiviert und wurde reich dafür
belohnt, nicht zuletzt durch den akademischen Posten, der ihm den freien
Rundblick erlaubt, prinzipiell zumindest, auch wenn er sich hin und wieder, wie
jetzt gerade, ein bisschen eintrübt. Jedenfalls liegt das Buch, seit Wegenaer es Lydia
wegnahm, nutzlos bei ihm herum, als fehlte etwas, sagen wir: der rechte
Gebrauch.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
1
Leckebusch am offenen Grab, Mompti durch den Sargdeckel hindurch
kognoszierend, räuspert sich. Er räuspert sich eine Spur zu scharf
und legt, begütigend, wie er meint, der Witwe, die für diesen Tag
den dichtesten aller schwarzen Schleier gewählt hat, mit vertrauter
Geste die Hand auf die Schulter, von letzterer unwillig dankbar
quittiert, denn auch Amas warm unter seinen Verhüllungen atmender
Körper kommt gegen die Mechanik der Gesten nicht an.
Selbstverständlich, doziert Leckebusch, den Blick weit über die
klaffende Öffnung hinauswerfend, sei es ihm Ehre und
Freundespflicht, an diesem Ort in dieser eben auch
historischen Stunde … sein unstet schweifender Blick saugt sich an
Hölzchens Kutte fest – von allen Verkleidungen, die sich am Morgen
vor den Spiegel drängten, hat gerade sie das Rennen gemacht und
lockt nun beim Grabredner einen Hustenanfall hervor, der kaum zu
bändigen ist. Denn aller Anläufe sind, in der Philosophie wie im
Leben, die infamen drei, das verfügt schon die Dialektik, das
dia-legein, in dem das Überhaupt seine Fortgänge plant.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
2
Was redet Leckebusch da? Tacheles, wie er sagt. Der Furor hat ihn
gepackt, der Furor Europas, des alten, so oft verwüsteten und aus
Trümmer wiedererstandenen Kontinents, der, wie der Dialektiker mit
bitterem Tonfall beteuert, hier vor den Augen der in seinem Namen
Versammelten ins winterliche Grab sinkt, so wie er mit jedem
letzten Künstler, Gelehrten, Ingenieur, soweit er die
Berufsbezeichnung da Vincis verdient, ins Grab sinkt. Denn nach
ihnen, nach uns allen wird kommen nichts Nennenswertes…
Diesem schroffen, durch keinen Sophismus zum Verschwinden zu
bringenden Befund sei, wenngleich im Innersten bebend, standzuhalten,
ihm gelte es mit aller begrifflichen Schärfe nachzuspüren, damit …
damit auf den Verblichenen im Kreise seiner … wieder ein leichtes
Stocken, er macht das gekonnt, das Stocken ist der rhetorische Kniff,
den Leckebusch, am Katheder stehend, das Mikrofon gut unter dem
Revers verborgen, mehr als jeden anderen schätzen gelernt hat … im
Kranz seiner Getreuen ein letzter Schimmer gewesenen Glücks falle.
―Vermag sie es denn? Vermag sie die Opakheit dieses härtesten
aller Momente zu durchdringen? Das Versprechen des Logos gilt
– es trägt seine eigene Dauer, seine ewe in sich und bedarf
daher der äußeren, mathematisch ohnehin fragwürdigen Ewigkeit
nicht. Zudem gilt es dem Werk, über dem in den klassischen
Lettern des lateinischen Alphabets das Wort ›vollendet‹ steht,
auch wenn dem Abschluss stets ein Stück Kontingenz innewohnt, denn
im Verweilen steckt bereits die ›Weile‹, die unbestimmte Dauer,
das letztlich Unbestimmbare aller Existenz in der Zeit.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
3
An dieser Zeit-Stelle beginnt der Kuttenträger zu husten, als
müsse er, nach dem Muster der ersten, nun die zweite Stimme ins
Spiel bringen. Es ist nicht so, dass er die These vom Untergang
Europas nicht teilt. Europa musste fallen, damit
Welt wird. Doch drängen sich dem Historiker andere
Fragen auf, vor allem solche der Periodisierung. Dagegen bleibt ihm
der Vollendungsgedanke, an dieser Stelle in den Gedankengang
eingefügt, eher suspekt. Er weiß auch nicht, ob auf Momptis
Arbeiten, soweit er sie überblickt, das Prädikat ›vollendet‹
zutrifft. Ihm kam, was er sah, wie aufgegeben vor, nachdem der
Künstler sich, seiner subjektiven Auffassung nach, lange genug mit
ihnen abgemüht hatte – ›da hätten wir ja gleich eine Parallele
zu Europa‹ –, sei’s drum, hier ist wahrhaftig nicht der Ort,
sich mit ketzerischen Ansichten nach vorn zu drängen. So verrichtet
stellvertretend der Husten sein Werk. Andererseits fragt sich, auf
welcher Seite das Ketzertum liegt. ›Mompti der Europäer‹: das
haut nicht hin, das sortiert ihn an einer Stelle ein, an die er
einfach nicht gehört. Die ganze Kunstszene hat sich, gleich nach dem
Krieg, enteuropäisiert, sie ist erst atlantisch und dann
›international‹ geworden. Warum? Weil sie nach dem Geld geht,
ganz einfach. Überall schnüffelt sie ihm nach und richtet ihre
icons danach ein, wer sie gerade bezahlt. Die Kunst ist eine
Hure. Das unterscheidet sie grundsätzlich nicht von Europa, aber
beide arbeiten auf eigene Kasse. Davon versteht der Großphilosoph
Leckebusch nichts.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
4
Ist Momptis Kunst eine Hure? In gewisser Weise… In gewisser Weise
ist immer Montag. In gewisser Weise … ist immer Montag auf seinen
Blättern. Sie kündigen eine Woche an, die sich, von Tag zu Tag,
vertagt. Wie ist das möglich? Ist es möglich, an der Schwelle
dahinzuleben, vermummt in die Attitüden des Künstlertums, ohne den
Schritt zu tun, der ins Innere führt? Den Schritt, um dessen willen der
Aufwand… Na sicher. Nichts ist gewöhnlicher. War Mompti
gewöhnlich? Aber keineswegs. Es sind die Ungewöhnlichen, die den Gang
des Gewöhnlichen gehen. Selbstauslöschung? Wer sich auslöschen könnte,
wäre einen Schritt weiter. Es ist die Selbstvermessung, die uns
weiter bringt. Welch ein Irrtum. Mompti, in seiner letzten Phase:
ein Selbstvermesser, der für den Papierkorb produziert, unter
Kunst-Orten der gehaltvoll-leerste. Wer nach dem Geld geht, wer nach
ihm geht, ohne je anzukommen, wohin geht der? Er geht nach. Der
Nachgeher, der allen zuvorkommt: hier sein Grab. Was tut er da? Dieses
Grab war nicht für ihn bestimmt und er legt sich hinein: Angeber.
Kletter heraus, wisch diesen Leckebusch weg und sag dein: Weiter
geht’s! So gehört es sich, so hat es sich immer gehört. Warum konntest
gerade du nicht hören? War die Stimme, die rief, nicht entschieden
genug? War die Stimme, die abrief, verführerischer? Kann es sein, dass
du den Weg verlorst, als du dich für ihn entschiedest? Warum in aller
Welt hast du dich dann entschieden? Ama, die Kunst-Gefährtin, hat sie…?
Für dich entschieden? Worin bestand dann die kommende Aufgabe? Ama
zufriedenzustellen? Ama zu ermöglichen? Dein Worumwillen: ein
whataboutism?
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
5
Nein Mompti, nicht du hast entschieden. Entschieden hat die Frau,
die du verlassen musstest, weil sie es so wollte. Entschieden hat der
Kinderwunsch einer Frau, dem du nicht zu Willen sein konntest, da dir
ein Künstlertum ohne Verpflichtungen vorschwebte. Entschieden hat … es
wäre besser, hier abzubrechen, aber der Gedanke, einmal im Fluss, lässt
sich nicht aufhalten: entschieden hat der Blick dieser Frau, der
erkannte, dass der Künstler, der vielleicht in dir steckte, vielleicht
auch nicht, auf sich warten ließ. Das ist die bittere, von dir mit ins
Grab genommene Wahrheit. Ama gelang nur, woran die andere scheiterte.
Ama war’s, die dich zum Künstlerdasein gezwungen hat. Dich gezwungen
hat, mit vollgekritzelten Blättern Geld zu verdienen … was dir gelang,
weil diese Blätter von einem unbezweifelbaren Talent redeten, einem
grüblerischen Talent, was die Preise ein wenig anhebt, weil der Markt
seine grüblerischen Talente liebt – nicht auf Hochpreisniveau, bewahre,
dorthin gelangen nur ausgesuchte Säufer- und Herointypen,
Selbstzerstörung treibt den Preis ungemein. Die höchsten Dotierungen
greifen die Ingenieure des Ruhms ab, Leute, die etwas von Marktanalyse
verstehen und in Produktlücken springen. In dieser Region hat
Grüblertum nichts zu suchen. Wie man es immer dreht, Mompti ist ein
Versager. Ein hochtalentierter … Versager. Ein Versager vor dem Herrn –
ja sicher, vor wem denn sonst? Alles wirkliche Versagen geschieht
vor dem Herrn. In der Kunst gelten, wie vor uralten Zeiten, nur
Herr und Knecht. In der Kunst musst du Knecht sein, sonst bist du
nichts. Als Frauenknecht bist du nichts.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
6
Professor Tronka, nachdenkend über Gesagtes und Ungesagtes, steht vom Totenmahl auf, um sich ›die Beine zu vertreten‹ – ein Bedürfnis, das ihn, nach langem, mit Pida ausgefochtenen Trennungskampf, häufiger ankommt, er schwitzt jetzt selbst nach einfachen Mahlzeiten und empfindet das Bedürfnis, sich Erleichterung zu verschaffen –, eine halbe Drehung des massig gewordenen Körpers führt ihm die Rückenansicht Elisabeths zu, die, ihm flüchtig zu Ohren gekommenen Unkenrufen zum Trotz, an der Seite des Skandal-Gatten dem Ausgang zuwandelt. Nach all den Jahren, die seit dem legendären Partyauftritt vergangen sind, findet Tronka, dass sie noch immer umwerfend aussieht. Nicht mehr ganz so weich wie einst in den Bewegungen, das Laszive hat sich daraus verflüchtigt, aber die Stimme … die Stimme … er will ihre Stimme erhaschen, ein eben noch inexistentes Begehren bricht sich in ihm Bahn… Stattdessen vernimmt er monotones Gebrumm aus Leckebuschs Mund, das sich anhört, als habe der Arzt ihm beim letzten Besuch einen Schalldämpfer verordnet. Anfangs versteht Tronka bloß einzelne Wörter, erst als er begreift, dass von ihm die Rede ist, formt sich so etwas wie ein Gefüge aus Worten:
—… aufgedunsen … ekelhaft ist der Kerl geworden … wie kann jemand sich so gehenlassen… unbegreiflich!
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
7
Tronka spürt, wie Röte sein Gesicht flutet. Plötzlich explodiert in ihm ein lange zurückgestauter, bis zu dieser Stunde unschlüssig, welches Objekt er befallen soll, sich bedeckt haltender Hass: endlich hat er seinen Feind gefunden. Parallel dazu vagabundiert durchs Gehirn die Frage: Warum tut er das? Welche geheimnisvolle Macht bringt den Gelehrten Leckebusch dazu, sich so zügellos über seinen Ex-Assistenten zu äußern? Die Kraft der Objektivierung steckt darin, des instinktiven Beiseitetragens, schließlich ist dieser Ex er, Tronka, und kein anderer. Wie reagieren auf die nicht für sein Ohr bestimmte Beleidigung? Niemals ist Leckebusch ihm mit Hochmut begegnet. Im Riss, der sich hier in der Wahrnehmung auftut, versinkt das Gewesene, zurück bleibt die bittere Lüge einer vorgegaukelten Vergangenheit, in der man einander mit Achtung begegnete. In den Augen dieses Kretins, dem gegenüber er stets einen Loyalitätsrest im Herzen trug, ist er ein Gescheiterter, nein, ein Verworfener, einer, der es nicht geschafft hat, sich rein physisch auf der Höhe seiner sozialen Existenz zu halten.
Die Selbstauslöschung Europas und andere Sperenzien
8
Ist das Europa? Ist das … Europa? Dieser Hochmut, der still, leise durch alle Verhältnisse hindurchgeht, durch alles gemeinsam Gebaute, Errungene, Befestigte und wieder in Frage Gestellte um neuer kühnerer Bauten willen, bloß um am Ende ›ein jegliches‹ in den Abgrund zu reißen? Ein Hochmut, der scharf und unversöhnlich Individuum von Individuum trennt, weil er kein Seinesgleichen anerkennt, es sei denn, er wird durch außergewöhnliche Umstände dazu gezwungen … und selbst dann fällt jedes Achtungsverhältnis über kurz oder lang in sich zusammen. Dieses Paar vor ihm, das, soviel er mitbekommen hat, definitiv kein Paar mehr ist, eine Simulation gewissermaßen, ein soziales Konstrukt für eine Stunde, empfindet es Achtung füreinander? Wenn Leckebusch ihm, Tronka, die Achtung entzieht – wirr, unberechenbar –, ist er sich der Achtung seiner Noch-Frau sicher oder bringt er selbst ihr noch einen Funken Achtung entgegen? Nun gut, einen Funken vielleicht … aber daneben klafft der Abgrund der Ver-achtung, die sie für ihn empfindet, empfinden muss und auf ihn überträgt, ob sie will oder nicht. Besser als Zerknirschung ist die Verachtung des anderen allemal.
Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
1
Leckebusch besteigt die Untergrundbahn
Der Staat, sinniert Leckebusch, schiebt seine Aufgaben auf, fast wie ein unwilliges Kind, das lieber auf den Spielplatz geht, weil in den Hausaufgaben, das spürt es unbestimmt, aber heftig, der Misserfolg lauert: ein Springteufel, schwer in den Kasten zurückzubannen, sobald er erst einmal befreit wurde.
Der zu sich selbst befreite Misserfolg, doziert Leckebusch leise, ist dem Misserfolg an sich in mehreren Punkten überlegen, er ist, für sich betrachtet, das heißt, mit den Augen des Misserfolgs, ein Opfer der Verhältnisse bei voller Verantwortung, so wie man in anderen Zusammenhängen sagt: bei laufendem Motor. Soll heißen, das Vehikel des Misserfolgs, die Staatsmaschine, wartet darauf, dass ein anderer hineinspringt und, nach kurzem Gerangel um die Führung, davonbraust. Deshalb hält, wer gerade regiert, den Kasten mit dem vermuteten Springteufel fest verschlossen, solange es irgend geht. Gerade so geht Regieren, möchte man meinen, aber das Gegenteil ist der Fall. Regieren geht anders, so geht es zu Bruch. An und für sich, doziert Leckebuschs leise Stimme weiter, ist es nicht schwerer, die Alltagsprobleme eines Staates anzugehen, als sie auszusitzen, ausgenommen das regierende Interesse profitiert an ihnen und wünscht, still und heimlich, dass sie fortexistieren. Es sei denn – hier kommt der Zeigefinger ins Spiel, natürlich als gefühlter, denn der reale steckt tief und fest im Hosensack –, es sei denn, man verfügt über eine fanatische (oder vernagelte) Anhängerschaft, die keine Probleme sieht, weil sie keine sehen will, teils, um sich ihre Überzeugungen nicht rauben zu lassen, teils, weil es ihr fürs erste gut dabei geht und sie nicht über den Tellerrand des Heute hinausblicken möchte.
Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
2
Der moderne Staat ist vom Zerfall bedroht
Wer schreibt so etwas? Viele, viel zu viele haben dergleichen geschrieben. Es ist das konservative Mantra, der moderne Staat denkt vorderhand nicht daran zu zerfallen, vielleicht dank der Konservativen, vielleicht trotz ihrer Einrede. Wenn aber – der Finger hat sich der Fahrkarte bemächtigt und Leckebusch schält seine Hand aus Hose, Sakko und Mantel ans Licht –, wenn aber der Konservatismus selbst zerfällt, wenn seine letzten Vertreter unter Hohn und Spott vom Schauplatz der Auseinandersetzung gejagt werden, wenn ihnen – Leckebusch räuspert sich, seine Stimme klingt inwendig belegt – die Ehre genommen wird, ihr Andenken besudelt, ihre Bücher aus den Auslagen entfernt, ihre Überzeugungen unter Kuratel gestellt werden, wenn ihre Kinder in der Schule gehänselt, ihre Partner bedrängt, ihre Versammlungsorte verwüstet, ihre Wege überwacht werden, was dann? Was, wenn die Überwachung lautlos geschieht, berührungsfrei, wenn alle Welt darüber Bescheid weiß und alle Welt demjenigen Paranoia bescheinigt, der sich darüber beklagt? Nun, dann ist es Zeit, an Exil zu denken. Wenn aber … verfluchtes wenn! Kein Wenn, kein Aber, kein Drumherum: Im Exil der Gestrigen findet das Heute keine Zukunft. Exil ist Massenware, benützt von Heutigen, um Staaten zu entrinnen, in denen der Zerfall bereits eingesetzt hat, ohne dass sie jemals im Heute angekommen wären.
Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
3
Leckebusch steckt den Fahrschein in den Entwerter und erwartet das metallische ›Klick‹.
Überhaupt erwartet er viel.
Der Tag ist noch lang.
Klickt’s? Eher nicht. Unzuverlässig, diese öffentlichen Geräte. Doch sicher ist er sich nicht. Die Bahn rollt und neben ihm schnäuzt sich ein Prolet-Typ, jedenfalls taxiert er ihn so.
Des Menschen Unglück beginnt mit dem Anstarren.
Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
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Der Prolet-Typ, unterwegs nach Hause, hängt Sexualphantasien nach. Sie könnten ihm, locker überschlagen, zehn Jahre Haft eintragen, gesetzt, er käme auf den dummen Gedanken, sie zu äußern oder gar ansatzweise umzusetzen, vorausgesetzt, er würde sich das falsche, also das richtige Milieu dafür aussuchen, denn im richtigen, soll heißen im falschen, da ist alles richtig und normal. Ginge es in dieser, also der anderen Welt richtig und normal zu, dann müsste er heute noch einen Nobelpreis sein eigen nennen und wäre in Gedanken damit beschäftigt, die Vorzüge von Cutter’s und Ditters Braustube gegeneinander abwägen, um über den Verlauf des anstehenden Abends zu entscheiden. Denn diese Phantasien, die er besser steckenlässt, hätten ihm, vor ein paar Jahren – nun gut: vor ein paar Jahrzehnten, aber was ist das schon? – aufgeschrieben und in Millionenauflage um die Welt geschickt, im System der Ehrungen einen sicheren Listenplatz eingebracht und ein hübsches Sümmchen, ach was: einen Haufen Kohle eingefahren. Natürlich könnte einer wie er in Erwägung der Schwierigkeit, die dafür nötigen Sätze dem Papier oder einem anderen geeigneten Datenträger anzuvertrauen, einen jener Menschen mit der Aufgabe betrauen, die man zu einer Zeit vor seiner Zeit ›Ghostwriter‹ nannte und in den Untergrund des Gewerbes verbannte, während dergleichen inzwischen zu den regulären Tätigkeiten des professionellen Schriftstellers zählt und sein ›Label‹ begründen hilft. Dafür ist der Markt empfindlich geschrumpft. Angesichts der heiklen Thematik würde der professionelle Schriftsteller mit ein paar dürren, vorsichtig distanzierten Sätzen den Kopf aus der weiträumig ausgelegten Schlinge ziehen. Schwein bleibt Schwein. Naturschützer sehen das naturgemäß anders. Bloß Prolet bleibt Prolet.
Leckebusch quert den öffentlichen Raum und gerät unter Beschuss
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Hombre, tönt der innere Monolog, dieser Mann führt eine scharfe Klinge. Alles Schein. Wäre er nicht, aus einer unerklärlichen Anwandlung heraus, einen heben gegangen, er hätte dich gar nicht bemerkt. Der Alkohol hat dich ihm offenbart. Einer Offenbarung trotzt man nicht. Alles an ihm ist scharf geschnitten: vom Scheitel bis zu den Schuhspitzen. Hallo Meister Scherenschnitt, was hast du gesagt? Mäßigen Sie Ihren Ton, wir sind hier nicht im Zirkus. Hierher, Schaffner, dieser Mann wird ausfällig, schaffen Sie ihn fort. Das können Sie nicht? Wo stecken Sie überhaupt? Mein Gott, was gäbe ich jetzt für einen Schaffner. Ist nur ein Wort. Weißt du, zum Pöbeln gehören zwei: einer, der es versteht, und einer, der damit anfängt. Du meinst, ich versteh was davon? Kann schon sein, kann schon sein. Also was ist? Was ist, frage ich. Wirds bald? Ich verlange eine Antwort. Da kannst du die Zähne zusammenbeißen, solange du willst. Ich höre das Knirschen bis hierher. Reiß dich nicht so zusammen, das ist unnatürlich. Wenn ich jetzt auf eines deiner blitzblanken Schühchen trete – so –, dann, dann und dann sieht deine Welt schon anders aus. Aha! Auf den Effekt habe ich gewartet. Ich soll dich getreten haben? Du bezichtigst mich –? Komm mir nicht zu nah, sonst tret’ ich dir in die Eier. Komm mir nicht zu nah. So ein Pinkel. Scheut sich nicht, einem Werktätigen in die Eier zu treten. Er hat mich angegriffen, die Sau. Ich sage dir, das geht nicht gut aus. Das geht nicht gut aus. Ich ruf jetzt einfach mal die Polizei. Dieser Herr hat mich angegriffen, Sie bestätigen mir das, ja? Ja? Ja, hab ich gesagt, glotzen Sie nicht so verschüchtert, Sie wissen genau, wer recht hat. Ich habe recht und dieser Scheißkerl … will sich aus dem Staub machen. Hiergeblieben! Keiner lässt ihn durch! Ich halte die Bahn an. Ich will, dass man mich vernimmt. He du, deine Fingernägel sind morgen immer noch dreckig. Sieh besser her, sonst gibt’s eins auf die Fresse. Du weißt, was dieser Kerl mit mir gemacht hat, du kannst es bezeugen. Na klar kannst du es bezeugen. Vorwärts, wir steigen aus. Alle miteinander. Ich muss jetzt raus und ihr kommt mit. Ihr kommt alle mit. Gutntachnoch.
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Genauso gut hätte der Andere brüllen können: Schlag mich doch! Schlag mich doch! – was einem Nachbarn passiert war, der ein paar Kinder von seinem Grundstück verscheucht hatte und sich alsbald mit dem Händel suchenden Vater konfrontiert sah. Väter! Dieser hier – die Sache ging vor Gericht – sollte eine überaus verständnisvolle Richterin finden.
Tätlich angegangen zu werden –: nicht gerade die herausragende Erfahrung im Leben Leckebuschs. Selbst die Stasi hatte es in ihrer bürokratisch-unergründlichen Bosheit versäumt, ihn körperlich anzugehen. Jetzt, plötzlich, ist das Unerwartete eingetreten. Doch eigentlich beschäftigt ihn etwas anderes: eine Abwesenheit, dumpf gefühlt, die Anwesenheit einer Abwesenheit, um es philosophisch-paradox auszudrücken. Der Andere hat ihn, während er sein albernes Zeug schrie, am Revers gepackt und geschüttelt, offenkundig nicht, um sein Gewissen wachzurütteln, sondern um den Feind in ihm hochzukitzeln. Ein Kasten Warsteiner für einen Feind! Aber vielleicht bevorzugt er andere Währungen. Leckebusch könnte sich daher gut verstehen, würde sein Inneres kochen. Tragischerweise ist das nicht der Fall. Jäh tritt ihm stattdessen der Schläger ins Bewusstsein, der er nie war, diese komische Figur, mit der sich zu identifizieren er, von jugendlichen Anwandlungen abgesehen, bisher noch keine Gelegenheit fand. Nun ist sie da und – er schlägt ihren Beistand aus. Der aktuelle Leckebusch würde sich durchaus verstehen, wenn sein beleidigtes Ego tobte: In die Fresse! (Politikerinnen reden so, gewisse jedenfalls, der Feminismus hat dem friedfertigen Geschlecht die Zunge gelöst und seiner verbalen Schlagkraft, jedenfalls in der Öffentlichkeit, neue Denkmäler gesetzt. Eine Frau an seiner Stelle, dessen ist er sich sicher, wüsste zu toben. Da kann er sich ruhig ein wenig anstrengen, um ihr zumindest äußerlich ebenbürtig zu wirken. So, als Memme, fühlt er sich unwohl in seiner Haut.)
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Als kulturelle Randfigur profitiert der Schläger von der Abwesenheit der Ordnungsmacht. Genausogut könnte ein Interpret, sagen wir Leckebusch, behaupten, dass sie ihn überfordert und dass sie ihn provoziert. Er weiß nicht, dass sie immer da ist und dass sie, wenngleich verzögert, auch diesmal in Erscheinung treten wird. Er hat die Überwachungskamera vergessen, die jede seiner Bewegungen filmt, oder sie ist ihm in diesem Intervall seines sozialen Daseins egal. Leckebusch benötigt die Kamera nicht, er kontrolliert sich selbst. Gerade in diesem Moment kontrolliert er sich selbst. Er ist selbstbeherrscht bis an den Punkt, wo es schmerzt. Nicht der innere, den Hintergrund wie einen Türrahmen füllende Schläger bereitet ihm Schmerzen, sondern die gefühlte Unfähigkeit standzuhalten, käme es hier und jetzt zu einer physischen Eskalation. Er würde sich schlagen und er würde verlieren: eine Doppelfigur aus Unbehagen, der er nichts entgegensetzen kann als das Bewusstsein der Grenze zwischen sich und dem anderen, der ihn rüttelt, während er seine sinnlosen Bezichtigungen brüllt. Leckebusch könnte, was ihn durchwallt, als Wehen bezeichnen. Doch der Gedanke würde das Gitter sprengen, das ihn umfängt. Das Standhalten beschäftigt ihn durch und durch. Dennoch sind es Wehen: ein neuer Leckebusch, einer der vielen neuen Leckebuschs, die sein Leben auswirft, wird diesen Zug verlassen. Der Schläger, ab jetzt stets im Hintergrund, wird seine Sprache durchsetzen, seinen ›Gemütshaushalt‹, sein Lebensgefühl. Er wird die Grenzen seiner Erregbarkeit verschieben und sein Verhältnis zur Ordnungsmacht mit einem Groll aufladen, der sich nicht mehr besänftigen lässt, der Genugtuung verlangt und weiß, dass sie nicht zu erreichen ist. Er wird, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, sich zwischen ihn und die einfache Wahrnehmung schieben, die nicht so einfach ist, wie sie sich darbietet, gar nicht so einfach…
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Einfache Wahrnehmung. Exkurs
Excuse me – suchen Sie etwas? Ja sicher, ich suche … Normalität. Wo wollen Sie sie finden? Hier und da … hier natürlich, wo sonst? Gerade hier, gerade hier und jetzt, sonst wäre sie keine – Normalität, nicht wahr? Ganz recht, sonst wäre sie keine. Warum ist sie nicht da? Aber sie ist doch da. Gefühlt ist sie da. Gefühlt ist sie immer da. Es fehlt nur etwas… So, was denn? Ein Quäntchen Wirklichkeit, sozusagen. Das Wirkliche ist normal, aber nicht ganz. Ein Stück Normalität fehlt. Wo ging es hin? Gerade war es noch da und jetzt vermisse ich es. Habe ich es nicht vermisst, als es da war? War es also da? Ich weiß es nicht. Was soll die Fragerei! Ich will es nicht wissen. Ich verlange Normalität, und zwar jetzt. Und wenn sie nicht zu erreichen ist? Ich will mich beschweren. Ich werde durch alle Instanzen gehen, denn diese Beschwerde übertrifft alle anderen. Normalität ist Menschenrecht. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo Normalität herrscht. Das beginnt in ihm selbst. Ich nehme wahr, du nimmst wahr, sie – Sie, ja Sie dahinten, auch Sie nehmen wahr, und wo die Wahrnehmungen zusammenfließen, da entsteht Wirklichkeit, nein, da entsteht Normalität. Und wenn sie aufeinanderkrachen? Dann gibt es Krach. Verstehe. Ist das normal? Nicht wirklich. In Krachgesellschaften ist Normverletzung die Norm. Normal ist nichts. Das Normale ist nicht normal, nicht ›vorhanden‹ oder doch nur in Spuren, es hat keinen Zweck, es vorauszusetzen, wie das, nun ja, normal wäre. Deshalb ist in solchen Gesellschaften der Wunsch nach Normalität auf der Suche, unerfüllbar, ein edler Ritter mit schwarzem Visier, gehüllt in unauflösliche Trauer, schweifend am Rande der Welt, wie es im Liede heißt. Nur vom Rande her ist die Welt einsehbar, die erste einfache Linie ist der Horizont. Es bedarf komplizierter Entwicklungen jenseits des streitbaren Einzelnen, ehe das Gewebe der Welt einfach einsehbar wird, nicht rückwärts im Zorn, nicht vorwärts im Rausch des Erwachens, sondern von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Mal zu Mal. Please don’t care. Don’t trust me. Trust anybody anywhere. You will not be disappointed. Not always –
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Hat, was niemals aufhört, jemals begonnen?
Eines ist sicher: es überzieht das Gewesene mit einem Schmutzfilm, bestehend aus den abgelagerten Resten älterer Wahrnehmungen, die nie ganz weggehen. Irgendwann gewinnst du den Eindruck, es sei zu keiner Zeit etwas anderes gewesen als die Falle. Für wen? Für dich, Dummkopf. Wo andere leben, steckst du in der Falle. Gern würdest du dich aus ihr befreien, es könnte dir gelingen, wärest du nur allein. Doch eingeklemmt zwischen all diesen Personen, die zufällig das gleiche Abteil benützen, hast du keine Chance. Dies hier zeigt keine Neigung aufzuhören. Der randalierende Typ hat Gefallen an seiner Rolle gefunden und niemand, Leckebusch eingeschlossen, hält ihn auf. Im Gegenteil, der Kreis, der sich um ihn geschlossen hat, scheint seinem Anliegen nicht günstig gesonnen. Niemand hat den Platz gewechselt. Doch im Gedränge hat sich ein Raum gebildet, ein Raum aus Körpern, Schweigen und Aufmerksamkeit, ein Spannungskreis, der sie einschließt und isoliert – ganz recht, isoliert. Niemals in seinem Leben hat Leckebusch sich so isoliert gefühlt, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, das Gespräch mit der Stasi steht auf einem anderen Blatt und dort wusste er sie, wenngleich durch Mauer und Stacheldraht von ihr getrennt, auf seiner Seite. Damals beseelte ihn die Empfindung: die Welt schaut zu. Er wusste es nicht (wie hätte er –?), überhaupt konnte, wie er später begriff, davon nicht die Rede sein. Heute, wenngleich anders, spürt er das Ziehen wieder, auch wenn dieses armselige Zufallspersonal nicht die Welt ist, nicht die Welt, nicht die … welche Welt hätte er gern? Das Sozialarbeitergesicht dort missbilligt Leckebuschs Benehmen zutiefst. Jeder Muskel ist bereit zu bezeugen: der Mann weiß, wie man deeskaliert, er hätte die Sache längst erfolgreich beendet … vielleicht. Um welchen Preis? Den der Selbstachtung? Überlegenheit kennt keine Selbstachtung, sie nimmt das verletzliche Ich aus dem Spiel und fährt ihre Geschütze auf. Hast ja recht, Kumpel. Den ›Scheißkerl‹ annehmen, nur weil der andere ihn offeriert? Ist es das? Nein, das ist es nicht.
―Eigentlich ging es ganz leicht, erzählt der einfache Abgeordnete und Minister S seinem Freund, dem Nahostexperten Triphan, sie blicken vom obersten Stock der Pyramide, den man ihnen für die Dauer des Inkognito-Besuchs überlassen hat, in den Nachthimmel, er lächelt ein wenig dabei, was der andere nicht sieht, ihm ist wolkig zumute, das mag am Champagner liegen oder am Höhenfieber, das ihn an dieser Stelle stets überkommt. Verlass mich nicht, kritzelt der Minister auf eine Serviette, tupft sich damit die Mundwinkel und reicht sie dem Nahostexperten, der sie schweigend überliest.
Die Ruhrstadt strahlt. Sie hat sich herausgeputzt diese Nacht wie seit Generationen nicht mehr. Triphan rechnet die vielen kleinen Freudenfeuer dort unten zu einem großen zusammen. Die Ruhrstadt brennt. Sie brennt von innen heraus, aus den Eingeweiden, den Bars, Kinos, Restaurants, den Diskotheken, Nachtclubs, Mitternachts-Fitness-Studios, 24-Stunden-Saunen, Glücksspiel-Orten, Grilltheken, Gebetstrichtern – gewiss, auch die Stätten vertikaler Inbrunst, im Inneren fahl erleuchtet von Ewigen Lichtlein und polizeilich vorgeschriebenen Notfunzeln, feiern, sie alle feiern die Auferstehung der Gorgo, der GROSSEN VERDRÄNGTEN.
Die Zerstörung der Ehe
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Triphan genießt die Stunde
Triphan und Friedenwanger sind Kumpel aus alten Kampfzeiten, auch sie vergessen einander nicht, verflossene Kämpfe ergeben zusammen eine Kordel, die keinen außen vor lässt. Man trifft sich gern, auch wenn der Liaison des anderen mit dem Minister in seinen Augen etwas Degustables innewohnt, das nicht weggeht.
―Wir haben das erreicht, spricht Triphan andächtig, er befleißigt sich desselben Tonfalls wie Friedenwanger, ohne es sich bewusst zu machen. Dass er für manche als Friedenwangers Spion durch das Fu-Projekt geistert, lässt ihn kalt, so wie ihn das ganze Projekt stets nur am Rande berührt hat, als eines aus der Unzahl von Sandkastenspielen, in denen viele kleine Helfer im Geiste den Umbau der Gesellschaft simulieren, während er draußen, weitgehend unberührt von den Einfällen und Erkenntnisgewinnen der Modellierer, seinen Gang geht. Friedenwanger, der nach der Kampfzeit in die Wissenschaft ging, um dort zu reüssieren und die Verhältnisse aufzumischen, hat ihm den Tipp mit dem Fu-Projekt gegeben, nicht ohne Hintergedanken, nicht ohne Hintergedanken… Triphan sieht am Flackern der Augen, dass etwas nicht stimmt, er trägt es mit derselben Gelassenheit, mit der er Pressekonferenzen bestreitet, wissend, dass das Interesse an Information im Ernstfall jeden anderen Impuls überwiegt, auch wenn man nie wissen kann, was wirklich geschieht.
Die Zerstörung der Ehe
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Der Minister betrachtet seinen Partner
›Worauf warten wir noch‹, wird der eine oder andere Mund an seiner Wange in der nächsten Zeit flüstern. Diese Mann-Frau-Maschine ist passé. Der öffentliche Umbau einer Institution zieht viele private nach sich. Niemand kann dem ausweichen. Fatal sind die Hoffnungen, die sich daran knüpfen und nun rigoros zerstört werden müssen, während andere in Erfüllung gehen, die so nie gehegt wurden.
―Was haben wir erreicht, denkt Triphan, er ist froh, den Sandkastenspielen für ein paar Stunden entronnen zu sein. Ihm ist nicht nach Feiern zumute, eine neue Klasse von Entscheidungen drängt in sein Gesichtsfeld und er weiß nicht, ob er dafür gerüstet ist. Scheiß drauf. Ein Kraftwort kommt selten allein. Falls doch, hat es sich verirrt oder es gibt einen Grund.
―You need satisfaction, sagt der Minister, der ihn lächelnd betrachtet hat. We all need satisfaction. Ehemäßig bleibt’s bei den Frauen. Sei’s drum. Ich werde mich nicht mehr umstellen. Ihre Leidenschaft … kitzelt mich, im übrigen lassen sie mich kalt. Sie haben mich immer gemocht, mancher wird sagen: umschwärmt, ihnen verdanke ich viel. Da werde ich jetzt nicht von der Stange gehen.
―Wenn du das meinst, trotzt Triphan, bleibe ich doch eher einseitig konstruiert. Was die Frauen angeht, naja … sie haben ein paar Fortschritte hingelegt, die sie im Wesentlichen uns verdanken, aber sonst? An der sklavischen Abhängigkeit von den Heteros scheinen sie nichts ändern zu können. Da hat ihnen Mutter Natur wohl einen Streich gespielt. Dieser verantwortungslose Wunsch, Kinder zu empfangen und in die Welt zu setzen, naja naja.
Die Zerstörung der Ehe
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Nachtgeschwätz I
―Warst du nicht selbst einmal eines? Des Ministers Stimme glimmt, ein Streichholz im Dunkeln. Oder ist das jetzt eine falsche Erinnerung?
―Das ist lange her, Boy. Vorstellen könnte ich mir schon, mit einem Partner ein Kind großzuziehen, schon um den Schlamassel der Kindheit wieder gutzumachen. Irgendwann, eines Tages… Es ist schön, seinesgleichen heiraten zu können. Ich will dich da jetzt nicht unter Druck setzen, so ist das nicht gemeint. Du kannst dich darauf verlassen. Mein Kind ist noch nicht geboren. Gestern hat dieser unsägliche Feuilletonist Strunz doch geschrieben, nach dem neuen Gesetz könnte er ja jetzt einen Lampenschirm heiraten. Darauf muss einer erst kommen. Unsereiner scheint da draußen ja gewaltig im Kurs zu steigen.
―Einen Lampenschirm? Soso… Der hätte auch vorgestern einen geheiratet … das einzige Wesen, mit dem er zurechtkommt. Eine Nachteule, gar nicht unsympathisch, kennst du ihn? Im übrigen: Was soll daran falsch sein? Ich sehe nicht, was daran falsch sein könnte.
―Bleibt die Sache mit dem Jawort. Oder habt ihr das auch abgeschafft?
―Lass das mal unsere Sorge sein. Man hat mir einen intelligenten Lampenschirm vorgeführt, der seine Durchlässigkeit den herrschenden Lichtverhältnissen anpasst. Da hätten wir doch schon eine Definition der Ehe.
―Was die Lichtverhältnisse angeht…
―Jetzt mal Butter bei die Fische…
―Mehr Licht…
―Mehr was?…
Die Zerstörung der Ehe
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Nachtgeschwätz II
―Schläfst du?
―Ich denke nach.
―Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.
―Wir haben die Ehe zerstört und die da draußen reden von Lampenschirmen. Was bedeutet das? Ein zweihundert Jahre währender Kampf ist zu Ende gegangen und sie merken es nicht einmal. Ich meine, da muss man doch auf Gedanken kommen.
―Schon Scheiße, das Ehegefängnis für alle.
―Ehejoch, wenn’s geht.
―Wir haben die Frauen aus ihren Käfigen geholt…
―Das waren wir?
―Das waren wir… Weißt du noch? Der Kampf gegen die Versorgungsehe … von heute aus betrachtet … was war eigentlich so schlecht daran?
―Fünfzigprozentige Steigerung des Arbeitskräftepotentials, das entsprechende Kaufkraftvolumen eingeschlossen, das konnte sich doch sehen lassen, oder nicht? So bringt man Volkswirtschaften zur Expansion, ganz ohne Krieg. Es war das größte Friedensprojekt aller Zeiten.
―Bei schrumpfender Bevölkerung.
―Das ist nicht wahr. Bis gestern stiegen die Zahlen noch.
―Welche Zahlen? Du meinst die der Altenheim-Insassen?
―Na und? Nichts gegen meine Mutter. Die Bevölkerung wird älter. Was soll daran schlecht sein? Außerdem macht es Einwanderung attraktiv.
―Quod erat demonstrandum.
―Noch immer eifersüchtig? Das ist jetzt aber lächerlich.
―Ich hör mich mal um.
―Das wirst du schön bleiben lassen.
―Eine Drohung?
―Warum nicht? Macht droht. Das ist ganz normal. Nimm das jetzt bitte nicht persönlich, ich meine, du kannst dir was wünschen, aber ob du es bekommst, entscheiden die Umstände. Und in diesem Fall sagen mir die Umstände, dass du schlechte Karten hast. Ich mach dir ein Angebot –
―Hilf mir mal hoch. Ich habe da einen Krampf. Um Himmelswillen, hilf mir doch mal. So, ja, so. Vorsicht.
Die Zerstörung der Ehe
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Apropos Triphan
Ein rarer Vogel. Hin und wieder man trifft ihn auf den Fluren, zerstreut und freundlich, das Ziehköfferchen hinter sich, das ihn nie verlässt. Er ist viel im Nahen Osten unterwegs, beruflich, die Pyramide erfährt davon nichts. Einmal im Jahr, zur Karnevalszeit, nimmt er sich frei und fliegt nach Rio. Seine Rede fließt sanft, seine Worte wiegen leicht, anschließend fragst du dich, was er gesagt hat, und findest die Antwort nicht. Es hat dich beeindruckt, soviel ist dir erinnerlich, der Eindruck sitzt noch fest in den Knochen: Gut, dass es solche Menschen gibt. Man reiche ihnen einen Zwirnsfaden und sie halten die Welt zusammen, mit einem darüber gestrichenen Satz, einem Heben und Senken der Braue. Das Bild hinkt, ein lahmer Gaul, nicht vorstellbar, dass ein Triphan jemals an Ränder geriete. Er ist immer mittendrin. Zwischen Not und Nagel, zwischen Nah und Ost, zwischen dir und dir. Ein Mittler? Vielleicht. Du weißt zu wenig über das, was ihn treibt.
Der Taschenspieler Tschipek, der später als Philosoph zu einer Art Weltruhm
gelangte, hat als Junge zuviel Ljubljanicawasser geschluckt. Das führte über
allerlei Zwischenstufen dazu, dass er für alle Probleme, die man ihm vorlegt,
eine brachiale Lösung zu besitzen behauptet. »Der Klassenkampf«, pflegt er
auszuführen, »ist der Schlüssel zu einer Sache, die weder Tür noch Schloss
besitzt.« Die wahre Natur der Besitzergreifung sei daher der Einbruch. »Ich
persönlich bevorzuge die direkte Aktion, aber nicht vor Einbruch der Dunkelheit.
Das erleichtert das Weglaufen.« In Erwartung der Nacht, in der alle Katzen
grausam sind, schrieb er ein paar Bücher, die seinen Namen um die Welt trugen –
teils, weil sie Kopfschütteln erzeugten, teils, weil er ihnen persönlich auf dem
Fuße folgte. »Was nützt ein Ruf, wenn nach Abzug der Spesen nichts bleibt? Wenn
ich als persona non grata meine Einkünfte verdoppeln kann, dann
vervierfache ich sie als persona non grata grata und verzehnfache sie,
nach einem mir selbst nicht ganz durchsichtigen Schlüssel, als persona non
grata gratissima. Das heißt den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen
schlagen. Nun denn: ich bin der letzte freie Kommunist der westlichen
Hemisphäre, der östlichen sowieso. Und jetzt kommt her, Erniedrigte und
Beleidigte, damit ich euch einen Aufwärtshaken verpassen kann.«
Tschipek. Ärger im Kontroversum
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II
Tschipek weiß, dass Kleineleutephilosophie niemanden auf der Welt mehr zu fürchten
hat als die kleinen Leute. Aus diesem Grund (und einigen kleineren) hat er ein
ausgeklügeltes System geschaffen, das es ihm erlaubt, sie berührungsfrei vor den
Kopf zu stoßen. Das Mittel, das er dazu verwendet, ist die Psychoanalyse oder
das, was unter dem Druck seiner mächtigen Pranken von ihr übrigbleibt. Das ist
wenig, manche sagen: weniger als nichts, denn auch die einst mächtige
Psychoanalyse ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, ganz wie der Sozialismus,
aus dem Tschipek stammt, wie zu betonen er nicht müde wird: zwei Knetkugeln, denen
jeder die Gestalt verpasst, die ihm einfällt. Das eigentliche Instrument seines
Philosophierens ist daher die Zwille. In diese legt er einmal die eine, einmal
die andere Knetkugel ein, während er sich rasch um die eigene Achse dreht und
auf jeden zielt, der sich gerade zu einer Sache geäußert hat und jetzt auf
Einwände wartet. Es kommen aber keine. Tschipek hat es sich zur Regel gemacht,
niemals auf seine Gesprächspartner einzugehen. Als Begründung führt er an, dass
er den westlichen Diskurs für Geschwätz hält, den östlichen übrigens auch.
Tschipek überantwortet. Die Frage ›Wen wem?‹ hat ihn sein Leben lang
beschäftigt. Diese Beschäftigung hält an. Einmal hat ihn die Frage, ob er
Gedankenpolizei befürworte, zu einer dialektischen Antwort verführt.
Mittlerweile würde er sie gern wieder los. Sein Pech, denn sie hat Geschmack an
ihm gefunden. Leider kann er sich nicht mehr an sie erinnern.
Tschipek. Ärger im Kontroversum
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III
Wenn Tschipek die Zeitung liest, hält die Welt den Atem an und Ängstliche
verzichten auf ihren geliebten Sport: die einzige Sparte, in der er niemals
brilliert. Seit er einen Redakteur mit dem Ruf »Ich will keine Abzeichen, ich
will Anzeichen« überraschte, lauert die neoliberale Welt bei ihm auf erste
Anzeichen physischer Schwäche. Das kann dauern. Die Wartezeit teilt sie sich mit
der Zeit, die heimlich von der taz Auffassungen zukauft. Das Kleeblatt soll sich
bereit erklärt haben, dem New Yorker den Vortritt zu lassen, wenn es denn einmal
sein soll. Warum? Einer wie Tschipek hat mächtige Gönner. Niemand kann wissen,
woran er bei ihm ist. Andererseits: Woran sollte er schon sein? Tschipek ist
Tschipek. Wer ihn von hinten sah, kennt ihn von vorn. Nur durch und durch kennt
ihn niemand, ihn eingeschlossen, und damit hat es dann auch sein Bewenden. »Wenn
Sie wissen, was Sie von mir zu halten haben, wollen Sie es dann noch?« So eine
Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Man hat Tschipek gesehen, wie er
Redaktionsräume verließ, in denen noch Stunden später das Aufräumkommando
wütete. Wut ist sein Markenzeichen. »Die Wut«, räumt er lachend ein, »ist gerade
die Woge, die mich trägt. Warum sollte ich ihr gram sein? Fassungslosigkeit ist
mein Lebenselixier. Am liebsten würde ich meine Brille fassungslos tragen. Aber
das geht nicht, denn wie Rosenmund sagt: Die Brille ist der Mann. Wenn einer im
Raum die Fassung behält, dann bin ich das.«
Tschipek. Ärger im Kontroversum
4
IV
So gern Tschipek kommt, so gern kommt er von Hölzchen auf Stöckchen. Denn
eines weiß er bestimmt: Wo alles mit allem zusammenhängt, fällt alles
auseinander. »Warum soll meine Rede konsistenter sein als die Wirklichkeit? Das
wäre ein Fehler.« Also erlaubt die Wirklichkeit ihm, immer wieder auf den Punkt
zu kommen. »Die Wirklichkeit ist der Klassenkampf, alles andere tut nur so.
Nichts ist wirklicher als das, was wirklich vorgeht. Erst wenn wir das
festhalten, wissen wir wirklich Bescheid. Glaubt mir, Freunde: Für den, der
nicht Bescheid weiß, ist alles wirklich. Das ist absurd.« Es soll Schüler geben,
die daraus schließen, Tschipek wisse, wo es langgeht. »Ich weiß nichts. Ich
existiere gar nicht, es sei denn als Mittelfigur und jede Mitte ist falsch. Lebe
dein Extrem. Ich kann das sagen, denn es kann mich mal. Mein Extrem ist dein
Extrem. In Wahrheit ist es niemandes Extrem und das ist der Kommunismus.« Dann
lächeln die Wissenden. Die Unwissenden schweigen, denn sie wissen: Es hat keinen
Zweck. Das ist es, was Tschipek an den Mann & die Frau zu bringen versucht. »Ein
Mittel, das einem Zweck dient, übt schon Verrat. Ich bin das Mittel, das nichts
verrät.« Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, auch nicht die halbe. Es
ist die ausbuchstabierte Wahrheit, soll heißen das Ergebnis einer Lektüre, die
in Wahrheit, das heißt angesichts der Zeitung, nichts anderes meint als Hader:
Zeige mir ein bedrucktes Stück Papier und ich zeige dir, was darin schief
läuft. Über das bedruckte Papier ist Tschipek nicht hinausgekommen. Er wirkt
sehr beruhigt, seit er erfuhr, was im Netz alles schief läuft. Seither kennt er
sich wieder aus.
Tschipek. Ärger im Kontroversum
5
V
Der russische Roman, aus dem Tschipek kommt, heißt Wir. Tschipek kommt
darin bloß deshalb nicht vor, weil er sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht
hat. Das heißt, wenn er ›Wir‹ sagt, dann meint er ›Ich plus…‹, genauso wie die
LGBTQ-Leute einfach ein Plus an ihre Chiffre hängen, wenn sie es leid sind, so
genau zu sein, wie sie es von ihren Mitmenschen verlangen. Eigentlich weiß man
nicht, was Tschipek meint, wenn er ›Wir‹ sagt oder schreibt. Der Verdacht steht
im Raum, dass er es selbst nicht weiß. Es ist auch kein Verdacht, sondern eine
Gewissheit, die nur darunter leidet, dass Tschipek immer weiß, was er
sagt. Wie das? Nun, die analytische Schule, von der Tschipek herkommt wie ein
anderer vom Frühstück, sieht in der misslingenden Unterwerfung unter den Anderen
den wahren Ursprung des Ich. Daher ist letzteres nichts weiter als ein falscher
Fuffziger, wie man damals sagte, als die Seelenklempnerei noch zum
Gesellschaftsspiel taugte. Und folglich ist Tschipeks ›Wir‹ bloß der
fortgesetzte Versuch, den falschen Fuffziger in einen echten zu tauschen … aber
unauffällig, so dass nichts auffliegt. Wenn das Ich, eingezwängt zwischen dem
kleinen a der Begierde und dem großen A wie ›Autorität‹, das manche als A***
buchstabieren, zu nicht mehr als einem Aha taugt, dann taugt das ewige
›Wir‹ dazu, aus möglichen Gegnern Proselyten zu machen, bevor der Schwindel
auffliegt und der Kredit erlischt. Denn Tschipeks Weltruhm ist, wie der
Kapitalismus, auf galoppierende Kredite gebaut. Er gleicht damit einem
Hütchenspiel, bei dem Tschipek auch das Aufdecken mitbesorgt, damit alles
schneller geht.
Tschipek. Ärger im Kontroversum
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VI
Sein Gefährte Le Moi-le-double hat ihm einmal den Tipp gegeben, ein Buch über
die Hoffnungslosigkeit zu schreiben. Damit sollte all denen, für die eine
Tschipek-Lektüre ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt, ein Licht aufgesteckt
werden. Erst wenn die Hoffnung erloschen ist, wird es Licht. Das erinnert
an den Witz, in dem drei Bauern den Mond vom Himmel holen, weil sie finden, dass
sein Licht dem Nachbarn nicht zusteht. Sie kriegen aber kein Auge mehr zu und
einer sagt endlich, was Sache ist: Besser fest geschlafen als wach geträumt.
Tschipek hat sich, wie billig, nicht lange bitten lassen und den Hoffnungslosen
zur Hoffnung verholfen, der Schlaf der Vernunft möge in baldiger Zukunft
zurückkehren und den Alb namens Tschipek von ihren Häuptern verscheuchen. »Der
Kommunismus des 20. Jahrhunderts«, so schreibt er, »lehrt uns, dass wir die
Kraft aufbringen müssen, die Hoffnungslosigkeit vollständig anzunehmen.« In
Tschipek für Laien heißt die entsprechende Passage: »Wer sich mit dem
Kommunismus des 20. Jahrhunderts beschäftigt und dennoch den Mut nicht sinken
lassen will, muss sich voll und ganz auf die Verhältnisse einlassen.« Natürlich
steht dahinter Tschipek und lacht sich ins Fäustchen. Wer aber glaubt, ihn an
dieser Stelle packen zu können, der zielt zu kurz. Als guter Analytiker streicht
Tschipek die Hoffnung gleich wieder, um sie durch
den Trost zu ersetzen. Merke: Nur wer nicht ganz bei Trost ist, buchstabiert die
große Pleite als Weg, der direkt in den Kommunismus des 21. Jahrhunderts führt.
»Nordkorea kommt Shangri-la heutzutage am nächsten – in welchem Sinn?« Nun denn,
in jedem. Eine trostlose Theorie ist für einen, der nicht bei Trost ist, das
Tröstlichste auf der Welt. So oder ähnlich muss Tschipek beim Schreiben gedacht
habe. Seine Freunde in aller Welt geben ihm recht.
Tschipek. Ärger im Kontroversum
7
VII
Tschipek wäre nicht Tschipek, wäre er nicht auch der Spatz, der von den
Dächern pfeift, wie man’s macht, wenn man Tschipek heißt und nichts zu verlieren
hat außer vielleicht dem Ruf, nichts zu verlieren zu haben (es sei denn den Ruf,
berechenbar unberechenbar zu sein). Treibe die Unberechenbarkeit auf den
Punkt, an dem sie als Wiederholungszwang auftritt, um ultimativ zu wirken!
»Das darf doch nicht wahr sein!« entfährt es dem Leser an dieser Stelle. Mit
Kennergeste setzt Tschipek hinzu: Gerade deshalb ist es wahr. Das
verwirrt den Leser, weil sein Ausruf keiner Sache galt, sondern Tschipeks
verzweifeltem Manöver, sie von sich fernzuhalten. ›Vielleicht ist ja doch etwas
dran‹, denkt er resigniert und um seinen Geisteszustand besorgt, und Tschipek
setzt hinzu: »Was soll schon dran sein, du Analphabet! Du bist dran.« Denn
Tschipeks Leser ist stets das Salz in der Suppe, sein Jüngstes Gericht, nachdem
die älteren aufgebraucht sind und der Verdacht aufscheint, dass sich’s nach
Tisch wieder anders lesen wird. Tschipeks Welt ist ein Kartenhaus. Fällt es
zusammen, steht er lachend auf und sagt: »Siehst du!« Er verlangt aber vom
Leser, dass er sitzen bleibt und es weiter versucht: »Du wirst es schaffen! Klar
schaffst du es! Bleib dran, damit du es schaffst!«
Existiert Tschipek? Wer kann das wissen? Irgendwo dort draußen im medialen
Universum, im digitalen Rauschen, treiben Bilder von ihm vorbei. Doch sie fügen
sich nicht zusammen. Sie ergeben keine Person. Was ergeben sie dann? Eine
Unperson? Eine Unperson ist eine persona non grata, eine weggewünschte
Person, eine Person, die Ärger macht. Macht Tschipek Ärger? »I wo«, sagen seine
Freunde. »Tschipek ist lustig.« Tschipek, falls es ihn gibt, sieht das anders.
»Ich bin, im Paradies der Gesten, der Wort gewordene Ärger. Seht auf mich! Seht
auf mein Bild! Was seht ihr da? Ihr seht Tschipek. Würdet ihr daran zweifeln?
Wenn einer hier zweifelt, dann ich. Ich bin euer Zweifel, vergesst das nicht.
Wenn einer, dann ich. Warum? Weil ihr nicht zweifeln dürft. Zweifelt an
eurer Existenz und ihr seid geliefert: So sieht es aus. Ihr müsst zweifeln und
dürft es nicht. Aus diesem Grund gibt es mich. Ich nehme euch eure Zweifel und
verkaufe sie mit Gewinn zurück. Berappen müsst ihr, ich bin nicht billig.
Glaubt, was ihr wollt, aber glaubt nicht, ihr werdet mich los. Ihr zweifelt, ihr
wiegt das Haupt? Versucht’s erst gar nicht. Nehmt mich! Ich mache den Ärger und
ihr Karriere. Ich mache Karriere und ihr habt den Ärger gratis, als Aufschlag.
Niemand soll an mir zweifeln. Das hieße ja am Zweifel zweifeln und das gelingt
keinem so schnell.« Manche behaupten, er sei ein Produkt der Medien. Das freut ihn und er stimmt gerne zu. »Im Kapitalismus ist alles Produkt.« (Im Sozialismus auch, fügt er hastig hinzu.) »Wenn die Medien mich produzieren, bitte! Einer muss es ja tun. Wer bin ich, sie daran zu hindern?«
Existiert Tschipek?
2
IX
Als der Kapitalismus noch Zwiesprache mit den Menschen hielt, kam er einmal zu Tschipek und unterbreitete ihm ein Angebot. Worin dieses bestand, weiß niemand. Aber es muss umfassend gewesen sein. Seither weiß Tschipek alles, was den Kapitalismus betrifft, folglich alles. Mit diesem supranaturalen Zustand ist nicht gut Kirschen essen. Deshalb beschreibt Tschipek den Kapitalismus auch gern als Hölle. In solchen Phasen ist er ganz er selbst und ganz außer sich. »Geht’s euch gut? Geht’s euch gut?« fragt er die Leser, »Das ist die Hölle.« Irgendwann, weiß Tschipek, macht der Kapitalismus jedem ein Angebot. Daher wundert’s ihn nicht, wenn andere dagegenhalten: Neunmalkluge, gestützt auf Statistiken, die vorgeben, in der besten aller bisherigen Welten zu leben. »Globale Krise? Welche Krise? Die Menschheit stürmt voran. Also hinterher!« Tschipek widerspricht ihnen nicht. Er findet nur, sie sollten sich teurer verkaufen. »Mit vielen Einschränkungen kann man grob die Daten akzeptieren, auf die sich diese ›Rationalisten‹ beziehen.« Man sieht, er kann schmallippig sein. Er ist schon ein Genie. Warum, das schiebt er gleich hinterdrein: »In der Tat leben wir heute eindeutig besser als unsere Vorfahren vor 10 000 Jahren, und selbst ein durchschnittlicher Häftling in Dachau (dem Nazi-Arbeitslager, nicht Auschwitz, dem Todeslager) lebte wenigstens etwas besser als wahrscheinlich ein Sklave der Mongolen.« Das werden sich die 41 500 Toten des KZ Dachau auch gedacht haben (von denen, die nach Auschwitz weiterdeportiert wurden, einmal abgesehen). ›Wir‹ wissen nicht, welche Formen des ökonomischen Realismus sich im Zeichen der Vernichtung durch Arbeit entwickeln. Selbst ein Tschipek hält sich da zurück, aber nur mühsam. Seine wahre Hölle ist der Schreibtisch.
Existiert Tschipek?
3
X
Was verbindet die Erschossenen, Gehenkten, zu Tode Geprügelten, die
Verhungerten, Gefolterten, Vergewaltigten, Entwürdigten, Versklavten,
Dekapitierten, Dehumanisierten außerhalb der privilegierten Regionen dieser
Erde, über die Stalin und Mao ihre schirmende Riesenfaust hielten, mit den
Reichen, den Satten, den Zufriedenen, den Konsumidioten, den Korrespondenten und
Kritikern in ihren klimatisierten Büros? Richtig: der Kapitalismus. Der
Kapitalismus, findet Tschipek, ist der große Gleichmacher auf Erden. Wer glaubt,
es könnte einen guten und einen bösen Kapitalismus geben, der liegt radikal
schief. Der böse, kapiert es endlich, ist nichts als die dunkle Unterseite
des guten. Als Postkartenmotiv macht sich das nicht schlecht. Dabei weiß
Tschipek, dass mit solchen Fabeleien kein Blumentopf zu gewinnen ist. Ihre Zahl
ist Legion und jeder Sozialarbeiter war bereits weiter. Im Grunde findet
Tschipek, es sei besser, den Kapitalismus für sich sprechen zu lassen. Das meint
natürlich, dass er, Tschipek, als Sprachrohr mit gutem Beispiel vorangeht und
dekretiert: Gesundheit im Kapitalismus ist Scheingesundheit.
Existiert Tschipek?
4
XI
Tschipek hat ein loses Mundwerk. Doch er will nicht, dass ein Handwerker
kommt und es festschraubt. Das heißt, er scheut die Ausgabe, weil in der Krise,
wie er sagt, sich der Wert nicht im Produkt, sondern im Geld konzentriert.
»Bedeutet das nicht, dass sich der Fetischismus in diesem Moment, anstatt sich
aufzulösen, in seinem direkten Wahn durchsetzt?« Irgendwie schon, denkt
Tschipek. Das lose Reden erzeugt eine Abwärtsspirale, aus der zu entkommen
schwierig wird. Wenn der direkte Wahn sich durchsetzt, so ist das dem
Kapitalismus gesetzmäßig inhärent und deshalb zwingend. Folglich erscheint
Tschipek alles, was er gerade erzählt, gesetzmäßig inhärent und zwingend. Er
selbst muss sich nicht zwingen. Er steht unter Kontrakt und der Kapitalismus
erledigt die Sache im Handumdrehen. Aus dieser Sicht erscheint ihm der
Kapitalismus als Witz, aber als einer, der, wie er selbst, alles ernst meint.
»Tatsache: dass etwas faul ist mit einem System, in dem unkontrollierte
Bankgeschäfte den Bankrott eines ganzen Landes verursachen können.« Wäre es da
nicht besser, kontrollierte Bankgeschäfte würden den Bankrott verursachen? Im
Prinzip schon. Es müsste nur einer da sein, der kontrolliert. Woher nehmen, wo
alles korrupt ist? Das ist nicht so einfach. Die Demonstration, dass mit einem
korrupten System etwas faul ist, gehört zu den Glanznummern Tschipekscher
Dialektik. Doch da sein ganzer Systembegriff faul ist, weil er sich niemals
bewegt, entgeht ihm dessen eigener Witz, das heißt, sein Korruptsein. Nie würde
sich Tschipek der Frage stellen, wie zum Beispiel das Geldsystem funktioniert
oder wo die Krisenauslöser sitzen. Sobald er vom ›System‹ redet, ist immer alles
irgendwie inbegriffen und geht mit allem einher wie ein misstrauischer
Obdachloser, auf den der lateinische Merksatz zutrifft: Omnia mea mecum
porto. »Welches Porto?« könnte Tschipek fragen, »Ich kenne nur Portwein.«
Existiert Tschipek?
5
XII
Als Tschipek einmal originell sein wollte, erfand er, wie Brunelleschi, die Kuppel. Das ist kein Witz, es hat nur welchen. An dieser Stelle sollte von Tschipeks Kollegen geredet werden. Ja, auch Tschipek hat einen Kollegen. Er ist, Brunelleschi herausgerechnet, der eigentliche Erfinder der Kuppel. Der gute Kollege hatte den Einfall, die Globalisierung als eine Art Treibhaus zu beschreiben, in dem die Reichen und Satten sitzen, während die Armen und Hungrigen ihnen von außen auf die Finger sehen. Er wollte damit sagen, unter der hermetischen Kuppel könnten keine richtigen historischen Ereignisse (wie zum Beispiel Revolutionen) mehr eintreten, vergaß aber in seiner gewohnten, etwas zerstreuten Eile, die Zerbrechlichkeit solcher Glaskonstruktionen zu erwähnen. Tschipek hingegen erkannte sogleich mit geübtem dialektischem Blick die alte Zweiteilung der Welt. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Wo Klassen sind, da herrscht Klassenkampf. Wenn aber die Ausgeschlossenen die neue Klasse bilden, das neue emanzipatorische Subjektsubstrat der Geschichte, dann tschüss, ihr nie wirklich funktionierender Ersatz für die abgehalfterte Arbeiterklasse, ihr FeministInnen, Schwule, Lesben, Transen, Gastarbeiter, Farbige, Abgehängte! Objektiv reaktionär, wie ihr unausweichlich von jetzt an seid, habt ihr keine andere Chance, der ziellosen Idiotie des Privatlebens zu entkommen als die, euren Kampf mit dem der vom globalen Kapitalismus wahrhaft Exkludierten zu verbinden. Was wird den Exkludierten verweigert? Inklusion. Was verlangen die Exkludierten? Inklusion. Was ist Kapitalismus? Inklusion durch Exklusion. Wie zerbricht man Exklusion? Man zerbricht Grenzen. So denkt Tschipek, weil es in ihm so denkt. Kommt es hart auf hart, so denkt es aus ihm heraus.
Existiert Tschipek?
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XIII
An dieser Stelle muss Tschipek den Kopf aus dem Sand gezogen und nachgedacht haben. Jedenfalls redet er seither mit gespaltener Zunge. Im Grunde seines Herzens kann er sich nicht entscheiden, ob er das Elend der Ungleichheit dem Elend der Gleichheit vorzieht oder umgekehrt. Sobald er den einen Elendszug passieren lässt, setzt er den anderen in Bewegung. Offenbar hegt er die Hoffnung, an ihrem Kreuzungspunkt müsse zweckmäßigerweise eine Art Himmelfahrt stattfinden. Sicherheitshalber lässt er sich nie an ihm blicken. Er zeigt nur flüchtig in seine Richtung. Der Schock der radikalen Gleichheit, so Tschipek, trifft die Kuppelbewohner im Morgengrauen. Warenfetischisten, die sie sind, gleichen die Mindergestellten ihren Bessergestellten wie ein Krokant-Ei dem anderen. Doch der consumismo verrät die Ungleichen. Gleicher ist, wer mehr konsumiert. Wenn aber die radikal Ungleichen die Hölle stürmen, dann ist sie wirklich das Paradies, als das sie den Ausgeschlossenen fälschlich erscheint. Allerdings gilt das nur für den kurzen historischen Moment, bevor es unter dem Ansturm der Ausgeschlossenen zerbirst. Es kommt also darauf an, die Hölle zu verteidigen, mit allen Finten und Finessen des Diamat, der jetzt als Galimathias firmiert, um nicht aufzufallen, da es allenthalben heißt, er sei tot. Wie Tschipek das macht, ist schon lesenswert. Bleibt, wo der Pfeffer wächst, und revolutioniert euch redlich, steckt er den Wanderlustigen, die irgendwann entdeckt haben, dass die Kuppel nur eine Zirkuskuppel ist und untenherum voller Löcher. Im übrigen: Seid willkommen! Er könnte auch schreiben: Wir lieben euch doch alle: gebongt! Aber dann käme er sich schäbig vor wie die Vorsichtigen, die schon länger so reden und die er verachtet, wenngleich nicht wirklich. Ein bisschen Schäbigkeit muss halt sein, denkt er sich und tritt im Vorbeigehen nach dem Sack mit der Aufschrift ›Xenophobie‹: Das Wimmern da drin ist ja nicht zum Aushalten.
Existiert Tschipek?
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XIV
Am liebsten wäre es Tschipek, die Unangepassten aller Länder, die Ausgeworfenen, Ausgeflippten, Zurückgebliebenen, Abgedrifteten, die Sentimentalen, die Kokser, der ganze Rest, die Herrenreiter ohne Gestüt, aber mit Vergangenheit, die Kokainbauern, Hühnerzüchter, Brieftaubenhalter, Frauendrangsalierer aus Herkunftsgründen, die religiös Musikalischen mit dem absoluten Gehör, die erfolglosen Modedesigner, die Überlieferungsfreaks, die nicht Überzeugten aus Überzeugung, die grundsätzlich Überzeugten jeder Himmels- und Farbrichtung, die »Nö« rufen, sobald das Wort ›rationale Verständigung‹ fällt, sie alle sammelten sich unter der Fahne des Tschipekismus zur wahren Tat und riefen: »Passt!« Das wäre schön. Ginge es nach den üblichen Millenaristen, die allzu ungeduldig dem Ende der Zeiten entgegenfiebern und gewohnt sind, das Fell des Bären zu verteilen, ohne sich an der Jagd zu beteiligen, es gäbe einen Tschipek des Nordens und einen Tschipek des Südens, daneben einen des Westens und einen des Ostens. Im Grunde ist es schade, dass nicht mehr Himmelsrichtungen zur Verfügung stehen. Die wundersame Tschipekvermehrung käme sonst an kein Ende. Die Leute sind scharf auf Tschipek und jeder will seinen ungeteilt. Das liegt teils daran, dass Tschipek, sobald man ihn teilt, in lauter Bekanntes zerfällt – »Das soll Tschipek sein? So ein Quatsch!« –, teils an der nicht unplausiblen Überlegung, dass jede Teilung in Klassenkampf mündet, ja ihn gewissermaßen voraussetzt. In mancher Hinsicht ist Tschipek der Null-Meridian des Klassenkampfes. Praktisch verkörpert er die Reißleine des Planeten. Wer an ihr zieht, dem öffnet er sich und fliegt im Ethanolrausch davon. Daher ist es wichtig, ob oben oder unten gezogen wird. Wer oben zieht, ist so frei, wer unten zieht, hängt im Freien. »Stellt euch nicht so an«, scheint er den Gebeutelten aller Länder zuzurufen, »besser wird’s nicht.« Das ist seine Deutung des bereits erwähnten Satzes, dass Veränderung erst eintreten kann, wo alle Hoffnung zertreten wurde. Haut drauf, aber werdet nicht kriminell, bevor ich weg bin. Tschipek sitzt im Flieger, wenn ihn die Nachrichten einholen. Er fliegt sich frei, darüber erwartet die Welt ein Buch von ihm. Teile daraus zirkulieren bereits, aber unerkannt.
Existiert Tschipek?
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XV
Wenn Tschipek keine Lust hat, sich mit anderer Leute Geschwätz zu befassen,
dann findet er es obszön. Zum Beispiel fände er, spräche er über sich selbst, es
obszön, dass so viel über ihn gesprochen wird. Das bedeutet nicht, dass die
Dinge sich besserten, hielte er stattdessen den Mund. Das Gegenteil wäre der
Fall. Das Obszöne existiert ja, es will heraus, so wie das Böse, auf dessen
Oberfläche es glitzert. Auf Tschipeks nach oben offener Obszönitätenskala ist
obszön, wer das Obszöne obszön findet. Tschipek lässt die Beine baumeln und starrt ins
Leere. Adieu Psyche, adieu Seminarwelt, adieu Universum! What comes next? Wer
hat die Pfoten verdeckt im Spiel, wenn das Spiel aus ist? Wer im Märchen
lebt, der will am Ende heraus. Was aber, wenn das Märchen aus lauter Märchen
besteht, die einer selbst gesponnen hat? Wohin fällt, wer beschlossen hat, nicht
mehr aufzufallen? Im Grunde, sinniert Tschipek, ist das exakt die Lage, in der
sich der Westen befindet. Er ist der Westen nicht mehr, während er doch davon
lebt, der Westen zu sein. Angekommen zu sein und das Haus steht leer: ein
Debakel. Das darf nicht sein. Wenn die Amerikaner vor lauter correctness
anfangen, Renegaten zu wählen, dann hat die Theorie, mit Verlaub gesagt,
versch***. Allein die Sternchen zeigen schon, wohin dort die Reise geht. Zeit,
sich auf das alte Europa zu besinnen! Der Kommunismus, da kommen wir der Sache
schon näher – das europäische Ereignis schlechthin! Nun gut, streichen wir das
›schlecht‹, es verdirbt den Geschmack, schreiben wir ›guthin‹. Gut Ding hat
Weile, das Stück Wegs will genossen werden. Nur im Genuss findet der Mensch
sich, jedenfalls bruchstückhaft. Was will mir ein Bruchstück von mir? Das soll
mir genügen? Eurozentristisch gedacht, ist der Eurozentrismus schlecht. Nieder
mit dem Eurozentrismus! Ganz nach unten damit, denn er ist die Basis von allem.
Was wäre die Welt ohne einen gesunden Eurozentrismus? Sie wäre ärmer – das
zumindest verbindet uns mit den Reichen. Oder mit den Armen? Oder mit den
Anderen? Oder mit den Fremden? Wieso dann fremd? Mittun kann jeder, es kommt
immer drauf an, was einer daraus macht. Oder wir mit ihm. Oder es mit uns. Oder
es mit sich… Unsinn.
Dieser Duro hat zuviel Zeit, sinniert der Rektor, nachdem er das Manuskript durchgeblättert hat, ich werde ihn mit einer Kommissionsleitung betrauen. Wir sollten diesen Tschipek einladen, falls es ihn wirklich gibt.
Existiert Tschipek?
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Tschipek . Leckebusch
―Binden Sie den Gefangenen los!
―Das wird schwierig werden. Er hat mir stets gute Dienste erwiesen.
―Sie haben aus ihm den Postboten Ihrer Wünsche gemacht.
―Mein Hegel hat alle Rationalitätstests der letzten zweihundert Jahre bestanden.
―Bologna! tönen die Herren in den taubengrauen Anzügen, misstrauisch beäugt von den regenbogenbunten Pullovertypen der zweiten und dritten Reihe,
―Bologna! tönen die Damen in den diskreten Hosenanzügen, klingeln leise mit ihren Ohrgehängen und bekunden durch ein leichtes Kopfnicken, dass sie das passende Ticket in ihren Kollegmappen stecken haben …
und
―Bologna! tönt Friedenwanger, er übertönt sie alle, seltsamerweise erweckt gerade sein Ruf keinerlei Widerhall, sein Dabeisein scheint out zu sein, vorderhand jedenfalls, anders als die Bologna-Fanfaren des Rektorats, durchdringend wie die Posaunen von Jericho, die Fakultäten rücken zusammen und erstarren zu Fels, solange der Klang sich durch die Stockwerke der Pyramide arbeitet. Vereinzelt brechen Steine heraus und poltern geräuschvoll in die Tiefe: das sind die dem Volk, das nicht zuhört, versprochenen Opfer der großen Harmonisierung.
―Bologna ist ein Prozess, sinniert Pottner, breitbeinig seine knarzigen Stiefel prüfend. Die Politik hat ihn angestoßen und er wird durchlaufen, bis er die kleinste Zelle der Universität erfasst hat … nichts, das garantiere ich euch auf die Hand, nichts wird so bleiben, wie vor allem die Älteren unter uns es noch in der Gewöhnung haben. Aber auch die Jüngeren werden sich umschauen, oh ja, ich denke dabei an ein paar Kandidaten, Schwamm drüber.
Beliebt ist er nicht, der Herr Pottner. Sein Haar, silbergrau durchwirkt, erinnert manchen unter den Älteren an einen Topfrasch.
Dürrobst rastet aus
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Dürrobst rastet aus
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Was hat das alles…
In Dürrobst, dem scheidenden Pädagogen, gärt es. Wir leisten uns einen doppelten Klimawandel: einen in den Institutionen der Wissenschaft und einen in ihrer Außenwirkung. So könnte man es ausdrücken. Man? Oh, da hätten wir bereits den dritten. In diesen Tagen stopft Dürrobst die Pfeife, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Die Lunte muss brennen, verkündet eine ihm aus vergangenen Zeiten vertraute Trotz-Stimme. Was willst du? fragt er gegentrotzig in sich hinein. Doch die Antwort bleibt aus. Was hat er erwartet? Ein Forscherleben lang hat er das Rektorat als Gegenmacht begriffen und die Weisheit des Ministeriums bezweifelt, wann und wie immer es sich zu Eingriffen in das Leben der Alma Mater herabließ. Nun, des Haken-und-Ösen-Spiels ledig (während andere Entwicklungen festzurren, die selten auf seine Billigung stoßen), lacht er bitter, sobald die Phrase von der ›neuen Zeit‹ durch sein hell-dunkles Bewusstsein geistert. Noch verfügt er über eine Stimme – Widerstimme, wie er mit grimmigem Vergnügen konstatiert – und er wird keinen Augenblick zögern, sie in die Waagschale zu werfen, wenn … wenn … der Zeitpunkt gekommen ist. Welcher Zeitpunkt? Die Zeit … die Zeit, die bleibt, ist ein ausgedehnter Punkt, in dem keine weiteren Punkte Platz finden. Darüber hat er in der Mensa mit Weißäcker, dem blonden Philosophen, ein Schwätzchen halten wollen, doch außer einem bedeutungsvoll-unangenehmen Gesichtsausdruck war an dieser Stelle nichts zu holen gewesen.
Nicht jede Pfeife ist dazu bestimmt, dass man sie raucht.
Dürrobst rastet aus
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… mit Dürrobst zu tun?
Dürrobsts climate change ist perfekt. In ihm herrscht Eiszeit. Der erste, der das entdeckt, ist, wie könnte es anders sein, Friedenwanger.
―Gebt acht auf Dürrobst!
Es dauert nicht lange … nein, es dauert wirklich nicht lange, dass die Kunde davon Dürrobsts Ohr erreicht. Et tu, Brute? brummkreiselt es in ihm, doch bloß kurz und der Kreisel fällt um. Friedenwanger war nie ein ehrlicher Brutus und nun ist er … Feind. Nein, auch das nicht, dieser … Kerl schürt Feindschaft, ein Feuerhaken der Repression, also das, was er stets hinter der heimelig progressiven Fassade vermutet hat.
―Der Ofen ist aus, knirscht Dürrobst. Er sagt es sich vor für den Tag, an dem er diesem Friedenwanger in persona begegnen sollte.
Ist Friedenwanger Person? Oh no, I don’t think so. Was überhaupt ist eine Person? Soviel steht fest: eine Person, gegen die sich diese Frage erhebt, ist keine. Man kann sie weiterspinnen und unversehens … unversehens! … läuft die Masche, sie läuft, ohne dass etwas ihr Einhalt geböte, kreuz und quer durchs Haus, bis hinauf in die Spitze und hinaus … hinaus ins Freie, ins Scheinfreie wohlgemerkt: wer dort draußen Personen vermutete, den sollte man gleich in die Zwangsjacke stecken, da wäre er wenigstens sicher.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Fuuhhh! Die Gesellschaft hat das Fu-Projekt überholt Die Politik löscht die Wissenschaft aus und erschafft sie sich nach Bedarf neu
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Agosch sinniert, während rings um ihn abgeräumt wird Ein paar Hilfskräfte hören zu
―Stellen Sie sich vor… Nein, stellen Sie sich nichts vor. Vorstellen ist gefährlich, dabei können vertraute Bilder auftauchen und schon sind Sie … bin ich … stellen Sie sich nichts vor, ich bitte darum. So ist’s schon besser. Jetzt ruhig halten, ganz ruhig halten, ich bin ja dabei, alles zu erklären. Sie, ich meine jetzt Sie, niemand anderen, jedenfalls niemanden hier im Raum, Sie entdecken, durch Zufall, nehme ich an, bei einem Kollegen irgendeine Unregelmäßigkeit. Es fängt damit an, dass er Ihnen, bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten, von ein und demselben Antrag erzählt, genauer gesagt von ein und derselben Antragsgeschichte, nein, auch das ist ungenau, er erzählt Ihnen, und zwar haarklein, ein und dieselbe Antragsgeschichte, obwohl zwischen dem einen Antrag und dem anderen, sagen wir dem zweiten (später stellt sich heraus, es ist vielleicht der dritte oder vierte) ein paar Jahre verflossen sind, es sich also, egal, was Sie von der Sache halten, nicht um ein und denselben Antrag handeln kann. Sie empfinden das, sagen wir einmal, als komisch, denn der Kollege neigt nicht zur Vergesslichkeit und seine Geschichte ist ziemlich detailreich, es muss ein halber Nachmittag gewesen sein, an dem er Sie damit unterhielt, und Sie müssen sich blendend unterhalten gefühlt haben, denn auch Sie besitzen eine Wissenschaftler-Natur, Ihr Herz schlägt höher, wenn es um Geschichten von Forschungsgeldern und geplatzten Anträgen geht, und diese hier scheint ziemlich erfolgreich gewesen sein. Und auch Ihr Gedächtnis arbeitet, nach allen Anzeichen, die Sie aus der Umgebung empfangen, ziemlich präzise, vielleicht sogar überdurchschnittlich, ganz sicher überdurchschnittlich sogar, denn darauf beruht Ihr Erfolg, wenngleich nur beruflich.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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―Natürlich gehen Sie der Geschichte nicht nach. Was für ein Zug wäre das denn? Es ist nur … in der Regel bleibt das Befremdliche, wie man so sagt, besser im Gedächtnis haften als anderes und es gibt Tage, da beherrscht es einen vollkommen… Es darf dann nichts hinzukommen. Sie erraten es schon: in diesem Fall kommt etwas hinzu, etwas Unvermutetes, etwas Drittes. Sie erhalten, zunächst nichts Besonderes, eine Anfrage von unserer Forschungsbehörde (genau genommen handelt es sich, wie Sie wissen, eher um eine Gemeinschaft, eine illustre Notgemeinschaft in Zeiten fehlender Not, denn in der Wissenschaft ist immer irgendwo Not am Mann, auch wenn der Mann gelegentlich eine Frau ist) und diese Anfrage betrifft … naja, sie betrifft den erwähnten Kollegen, der offenbar einen neuen Forschungsantrag eingereicht hat, es geht dabei um Millionen, so dass Sie plötzlich blitzwach werden, denn Geld schärft bekanntlich die Sinne. Und nach und nach … wie soll ich es ausdrücken? … fällt es Ihnen wie Schuppen von den Augen: das ist kein neuer Antrag, sondern der Ihnen bereits vertraute, wiederum bereits Jahre zurückliegende und, wie Sie annehmen müssen, erfolgreich abgewickelte. Aber dieser Antrag hier ist zweifellos neu, das heißt seine Ausgangsdaten und einige Details der Projektbeschreibung sind neu, aber es handelt sich um die gleiche Sache, nur in anderer Verpackung, um es etwas rüde zu sagen, um eine Art Selbstplagiat, wenn so etwas möglich wäre.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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―Sieh an, denken Sie, der Kollege arbeitet mit sparsamen Mitteln, aber ziemlich effizient, um nicht zu sagen außerordentlich erfolgreich, denn die Hälfte des Antragstextes handelt von nichts anderem als der Wichtigkeit dieses Vorhabens, das offenbar bereits von ein paar Ministerialbeamten, vielleicht nach einem ausgedehnten Restaurantbesuch, mit ein paar dicken Strichen abgesegnet wurde, so dass die ausstehende Bewilligung mehr das Aussehen einer Formsache annimmt. Vielleicht ist ja gerade das der Grund, dass Sie, als guter Kollege, um eine Stellungnahme gebeten wurden. Es sei denn … es sei denn, es handelt sich um eine Art Test, durch den Sie in diese Sache hineingezogen werden sollen, vielleicht weil Sie selbst unter dem Verdacht der K…, nein, das wäre jetzt wirklich zu hart, aber man kann nie wissen und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Also recherchieren Sie, was Ihnen in diesem Fall nicht besonders schwer fällt, und schon nach ein paar Tagen befinden Sie sich im Besitz von Informationen, die unwiderruflich beweisen… Was beweisen Sie? Nichts. Sie beweisen, dass der Kollege, besessen von einer, sagen wir: Intuition, seine ganze Karriere (oder doch ihren bedeutenderen Teil) auf eine fixe Idee gegründet und dabei stets willige Helfer auf der anderen Seite gefunden hat, um es bei dieser allgemeinen Benennung zu belassen. ach innen schweigen wir ohnehin, doch wenn man genau hinhört, auf den Fluren, da zeigt sich so ein Gewimmel von Spuren, denen niemand nachgeht, man käme ja sonst wohin.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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―Warum nicht, werden Sie fragen? Die meisten Entdecker sind Besessene. Was hat er denn entdeckt, der Herr Kollege? Da, sehen Sie, beginnt das Geheimnis. Ich persönlich darf Ihnen nichts verraten, ich bin Teil des laufenden Verfahrens, selbst wenn ich wollte, dürfte ich nicht… Aber ich darf Ihnen etwas verraten. Auch wenn ich dürfte – kein Wort davon. Dazu sitzt der Schreck zu tief. Nein, ich bin nicht bedroht worden, es ist nichts Persönliches, es ist auch nichts Allgemeines, es ist etwas dazwischen, wenn Ihnen das etwas sagt. Viele Dinge, die unser Forscherdasein betreffen, sind irgendwie dazwischen, nach außen schwer zu vermitteln, nach innen schweigen wir ohnehin, doch wenn man genau hinhört, auf den Fluren, da zeigt sich so ein Gewimmel von Spuren, denen niemand nachgeht, man käme ja sonst wohin.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Was Agosch hier vorträgt – er trägt es wirklich vor, mit zitternder Stimme
und einem leicht belustigten Zug um die, ja was wohl, Mundwinkel –, folgt
einerseits den bekannten Regeln des Flurtratsches, andererseits weist es auf ein
Problem hin: das Problem der Kontrolle, das Leib-und-Magen-Problem aller
Bürokratie. Warum sollte gerade die Wissenschaftsbürokratie eine Ausnahme
machen? Dafür gibt’s keinen Grund. Die Bürokratie kontrolliert die Wissenschaft,
niemand sonst, damit kontrolliert sie, niemand sonst, den Wissenschaftsausstoß.
Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken schrieb
einst Goethe. Das ist zwar, gerade unter Weimarer Lichtverhältnissen,
physikalischer Unsinn, aber es umschreibt trefflich das Wesen der Bürokratie,
der sich alles anverwandeln muss, was in ihren Dunstkreis einzutreten gedenkt.
Wissenschaft, das unerhörte Ding, das Wissen schafft, gedeiht im
Dunstkreis der Bürokratie, nirgends sonst, sie ist sowohl Herz als auch Seele
des Betriebs und der Betrieb ist die Sache selbst, denn eine Tätigkeit, die
Wissenschaft sein will, ist entweder Wissenschaft oder sie begründet eine –
letzteres ein Vorgang, der bekanntlich so selten vorkommt, dass er sich in der
Praxis vernachlässigen lässt. Als Wissenschaft jedoch ist sie Teil der
Wissenschaft und damit Teil des Betriebs.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Alle Bürokratie beruht auf Repetition: der Ausführung
immergleicher Griffe. Wie ein Experiment, das sich nicht wiederholen lässt,
keines war, so sorgt ein Zwischen-Fall, der die Bahnen der Bürokratie
durchkreuzt, für örtlich und zeitlich begrenztes Chaos und damit –
Zerfall. Eine wissenschaftliche Fragestellung, die schon fünfzigmal
durchgewunken wurde, wird es auch das einundfünfzigste Mal schaffen,
die zu ihrer Verfolgung notwendigen Mittel zu generieren. Das ist
keine Frage. Wir haben viel Geld in diese Sache hineingesteckt und
die Ergebnisse sprechen für sich: 78 Studien, an erstklassiger
Stelle publiziert, die neunundsiebzigste durchläuft gerade das
Peer-Verfahren – und es sieht gut aus! Das kann sich
doch sehen lassen. Und alle sagen im Grunde dasselbe. Das
gibt Entscheidungssicherheit.
Entscheidungssicherheit: darauf kommt es an. Nicht die Politik
allein giert nach diesem Stoff. Auch nachgeordnete Behörden können
nicht genug davon bekommen. Schließlich wollen nicht sie im Regen
stehen, falls es irgendwann regnet. Die sicherste Entscheidung ist
eine, die schon so oft getroffen wurde, dass sie als einzelne bereits
verschwimmt, während sie fällt.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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―Wer spricht von Bürokratie, schwatzt Tronka, dem du davon erzählst, wenn ich eine Tagung ausrichte und ein Panel besetzen muss, dann benenne ich zwei
oder drei Vertreter der gängigen Lehrmeinungen und einen, der etwas
erzählt, von dem keiner so recht weiß, was daraus werden soll. Ich
versuche also erstmal die einschlägige Prominenz zu gewinnen. Wenn
das fehlschlägt, dann sind die Verlässlichen aus der zweiten Reihe
dran, honorige Leute, die bei jedem Auftritt dasselbe vortragen. Auch
dafür gibt’s Geld. Janein, isso. (Mittlerweile sagt er bei jeder
sich bietenden Gelegenheit isso. Das ist so.) Bleibt der
unsichere Kandidat mit den originellen Ansichten: Woher nehmen? Am
besten nimmst du dafür eine Frau. Da ist das Unkonventionelle gleich
eingepreist und du bewegst dich auf sicherem Boden. Obwohl man ja nie
weiß. Also Vorsicht! Nimm zwei, das gibt Konkurrenz. Tja. Man muss
vorsichtig sein. Isso.
Dass Tronka einmal so reden würde…
Das hättest du nicht gedacht.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Also gut: Die Wissensbürokratie fördert das Immergleiche. Damit fördert sie
etwas anderes: nenne es Indolenz, Geistesträgheit, Heuchelei,
Beschäftigungstherapie, selbst Lüge (denn was soll es anderes sein als Lüge,
etwas als Forschung auszugeben, was doch bloß Wiederholung ist und nichts
weiter?), also das Gegenteil von Wissenschaft. Nach dieser Regel verkehrt
Wissenschaft sich langsam, aber unaufhaltsam in ihr Gegenteil. Was ist das Gegenteil
von Wissenschaft? Aberglauben. Nein, das ist es nicht. Eher: Aberwissenschaft.
Etwas sieht aus wie Wissenschaft, ohne Wissenschaft zu sein. Es hat die Hülle
gekapert und kassiert Prestige ab. Dabei sinkt das Prestige und weicht … der
Skepsis? Aber nicht doch: dem Aberglauben.
Die Wissensgesellschaft sucht eine Form und findet sie
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Der irreligiöse Kern des Aberglaubens ist die fixe Idee. Überall,
wo der Wissenschaftglaube frenetisch wird, wird Wissenschaft (»Die
Wissenschaft sagt…«) zur fixen Idee. Man findet diese Idee …
überall: in den Medien, in den Reden der Politiker, den Programmen
der politischen Parteien, am Küchentisch, in den Chatrooms –
überall. Kein Wunder also, dass an allen Ecken und Enden
Wissenschaftler auftauchen, die einer fixen Idee huldigen und daraus
ihr Prestige beziehen: Karus zum Beispiel, unser Mann fürs Grobe,
der in die Politik abgedriftet ist, aber er ist beileibe nicht der
einzige. Die Pyramide brütet diese Spezies aus, hier scheint, alles
in allem, die richtige Temperatur zu herrschen, abgesehen von den
Strukturen.
―Was, und du meinst wirklich … Nein, das glaube ich jetzt
nicht.
―Seltsam klingt die Sache schon. Aber was willst du? Der
Bibliotheksjob lastet den Mann nicht aus. Das sieht doch jeder. Aber
er gibt ihm Gelegenheit zu wahlloser Lektüre…
―… um sich wie ein Schwamm mit den abartigsten Theorien
vollzusaugen. Da ist was dran.
Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
2
Du rufst die
Bibliotheksaufsicht Kurtzweil vor dein inneres Auge und da
kommt sie: eine große, knochige Gestalt mit starkem Haarwuchs,
physische Stärke ausstrahlend, ausgestattet mit einer kernigen, von
Allerweltsweisheiten überlaufenden Stimme, die Einspruch im voraus
wegdrückt, besonders wenn er von schwächerer Seite kommt, kurz,
kein besonders sympathischer Zeitgenosse, von den Kollegen ignoriert
oder belächelt, um gleich wieder der Vergessenheit anheimzufallen.
Dieser sich in seinen Anfängen am Arbeitsplatz mit Wurststullen und
zerfledderten Perry-Rhodan-Heften auffütternde Kurtzweil also sollte…
Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Stimmt. Dieser Kurtzweil hat jahrelang die Leserbriefspalten des Ruhr-Kurier
mit Kurztraktaten gefüllt, bevor er sich endlich
seinen eigenen Blog zulegte. (Wie hieß der noch? Aber sicher:
Kurtzweil’s Kurzweil, gez. Kurtzweil. An solchen
Sprach-Details ermisst sich die Klaue des Adlers.) Kurtzweil hat, wie
mancher bedeutende Kopf vor ihm, die Welt an seiner Radikalisierung
teilnehmen lassen. Nur dass er wirklich eine ›Gruppe‹ um sich
geschart haben soll, um die sich letztlich, wenngleich in diskreten
Tiefen, offenbar sogar der Staatsschutz kümmert, das wundert dich
jetzt doch. Eine Bibliotheksaufsicht! Aber vielleicht liegt da der
Hase im Pfeffer.
Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Eine Aufsichtsperson ist eine Person … eine Person, ganz recht, eine Maske, durch welche die Hausordnung spricht. Und nicht nur spricht: tief beugt sie sich über die Büchertasche des Bibliotheksbenutzers, die Ein- und Ausgänge der Bücher kontrollierend, auf dass, so die Theorie, aus den Aus- keine Abgänge werden, während die stets nachlässige Praxis gerade letzteres nicht gewährleistet und auch gar nicht gewährleisten will. Was will sie dann? In ideologisch angespannten Zeiten … wo denken wir hin? Die Freiheit der Wissenschaft beginnt beim Buch. Dort endet sie in der Regel auch. Ein Kurtzweil im Betrieb, der seine Nase in jeden abzustempelnden Titel steckt, funktioniert wie eine Geheimpolizei, von der man vorderhand nur die sittsamen Informationen abschöpft, wohl wissend, dass in ihren Archiven noch ganz andere Kaliber lauern. In normalen Zeiten hat sich Kurtzweil darauf verlegt, mit seinen platten Sarkasmen die jungen Frauen zu verschrecken, die das Schicksal täglich an ihm vorbeiführt. Doch die normalen Zeiten sind längst vom Tisch, es herrscht der Ausnahmezustand. Mittlerweile sortiert sein geübter Blick in Sekundenschnelle, was alles ihm über die Theke geht: Ach sieh an, der Herr Professor liest ein Buch von diesem irren Killus. Hat man den nicht schon vor Jahren von allen Kongressen verbannt? Der ist doch quasi im Exil gestorben. War wahrscheinlich das Beste. Schaun Sie mal, Herr Professor! Wie gestern angeschafft. In all den Jahren keine drei Mal ausgeliehen! Wollen Sie wirklich Ihre kostbare Zeit…? Es gibt soviel zu erforschen. Wollen Sie sich wirklich damit beschmutzen? Sowas färbt ab, wissen Sie. Wie war das letzte Woche … das kleine Büchlein. Meinen Sie, mir entgeht das? Ihr Kollege Blowasser zum Beispiel, der hält sich eng an den Kanon, da weiß man schon, was einer wie der auf den Tisch legt. Ein produktiver Mann! Und so geschäftig. Man sagt, der Rektor hält ihn für einen fähigen Kopf. Jedenfalls klug. Der Rektor, das ist ein Mann. Den sieht man hier praktisch nie, höchstens in Begleitung von Gaggauer. Aber er wird alt. Ich gebe Ihnen einen Rat: Legen Sie’s zurück. Ich verstehe Sie ja, aber sind Sie wirklich der Kopf, damit umzugehen? Das ist doch Geschichte, das kommt nie wieder. Dieser komische Eike, Sie wissen schon, der Kerl, der dem R die Tasche nachträgt, obwohl sich die beiden eigentlich nicht … der schleppt solche Sachen pfundweise nach draußen. Manchmal juckt es mich einzuschreiten, aber was geht’s mich an! Wir haben ja Wissenschaftsfreiheit. Wenn ich so sehe … der Hanbüchl zum Beispiel, das ist doch die reine Pornographie, was der hier abgreift. Wenn die Menschen draußen verstehen würden, was hier so alles erforscht wird, wer weiß. Mittelalter! Mein Gott, wo leben wir denn?
Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Kurtzweils Geheimnis: die Langeweile. Frust nagt nicht allein an den jungen Frauen, die das Nadelöhr meiden, wo sie nur können.
Kurtzweils Gespräche sind Kopfgespräche, denen, da kaum ein Dozent sich dem Gemetzel auszuliefern gedenkt, selten die Ausführung blüht. In der profanen Welt sieht man ihn daher meist von Hilfskräften umlagert, die,
beauftragt von den fernen Chefs, gewaltige Bücherstapel durch die
Gegend schleppen, von denen neunzig Prozent dafür bestimmt sind,
kurz durchgesehen und wieder zurückgelegt zu werden – womit sich das
leidenschaftliche Blättern in der Bibliothek erledigt. Gleichzeitig
verschleiern die Chefs damit auch ihre wirklichen Interessen. Die Hilfskräfte wiederum, soweit männlichen Geschlechts, betrachten Kurtzweil als
Unikum. Sie ergötzen sich an seinen Sprüchen und schlagen gern die
Zeit mit ihm tot, indem sie ihn dazu verleiten, auf jede absurde
Bemerkung eine noch absurdere zu setzen.
Kurtzweil oder die Schule des Fanatismus
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Soweit die Fassade. Was sich dahinter verbirgt, wird aus den wirren Berichten nicht ganz deutlich. Irgendwann scheint es Kurtzweil
gelungen zu sein, ein paar von den Hilfskräften, auch zwei
Assistenten sollen darunter sein, zu privaten Zusammenkünften zu
bewegen, bei denen Kurtzweils tiefer Abscheu gegenüber dem
Wissenschaftsbetrieb das hauptsächliche Bindemittel abgab: den
Studenten gefielen seine Kraftsprüche, je kerniger, desto besser.
Immerhin entfiel jetzt die Rücksicht gegenüber anderen
Bibliotheksbesuchern. Irgendwann kochte man gemeinsam und überlegte,
was man ganz konkret tun könnte, um den eigenen Anspruch
gegenüber dem Betrieb provokativ zur Geltung zu bringen. Die Liste
der Vorschläge reichte vom nachträglichen Gendern der
Bibliotheksbände (als zu aufwändig verworfen) über das Verbrennen
von Büchern missliebiger Autoren (könnte falsch verstanden werden)
bis zum Abhalten geheimer Tribunale, deren Ergebnisse illegal über
die diversen Kanäle des Universitätsnetzes kommuniziert werden
sollten. Keiner dieser Vorschläge scheint zu größeren Aktivitäten
geführt zu haben, wohl nicht zuletzt deshalb, weil Kurtzweil selbst
nicht im entferntesten daran dachte, seinen bequemen Job mit
Kindereien aufs Spiel zu setzen.
Andererseits sieht er sich als Vordenker in der Pflicht.
Im Foyer der Pyramide wächst das Werk. Eigentlich wächst es
nicht, sondern ballt sich von Tag zu Tag neu. Homomaris’ rüstiger
Pinsel, wochenlang mit dem Grundieren der weiten Holzfläche
beschäftigt, zaubert Wolkenspiele. Kurtzweil betrachtet sie eingehend, sooft er daran vorbeikommt. Manchmal sieht man ihn eine halbe Stunde lang in Versenkung verharren, bevor sein schwerer Schritt sich entfernt. Soso. Das also ist die Kunst, steht in seiner reglosen Miene geschrieben, dafür wird unser Geld hinausgeworfen. Und was soll das geben?
Die wandgroße Holzplatte hat Homomaris, ganz misstrauischer alter Fuchs, der oft
genug zusehen musste, wie ihm die Felle wegschwammen, sich explizit ausbedungen.
Nie wieder nackter Betongrund, mochte der Klang seiner
Stimme sagen, und die Vasallen der Kunst, vom Rektor zu strikter
Folgsamkeit angehalten, beeilten sich, dem Befehl des Geistes Folge
zu leisten.
―Er soll bekommen, was er braucht. Alles. Punkt.
Kurtzweil staunt
2
Katze im Sack
In den sorgfältig weggesteckten Falten seines Bewusstseins fragt sich der Rektor, was da wohl entstehen mag. Nicht dass er dem Meister misstraute: der Mann scheint seinen Job zu beherrschen. Nur
wer die Profession des anderen achtet, versteht die Welt.
Andererseits werden Menschen unruhig, sobald sie zu argwöhnen beginnen, dass aus
einer gewaltigen Anstrengung nichts entsteht. Die Anstrengung des
Meisters ist geistiger Natur … jeder, der Körpersprache versteht,
sieht das, jeder, der sich aufs Geistige versteht, versteht
das. Doch jedes Verstehen braucht, soll es nicht versickern, Anreize in der sicht-, fühl- und
riechbaren Welt. Der ausströmende Geruch frischer Malfarbe dreht alle Köpfe zu der großen Fläche
hin, auf der vorderhand nichts entsteht, jedenfalls nichts
Nennenswertes, bloß jene Modulationen in Weiß, die Wegenaer ganz gegen
seinen Willen bewundert. Ginge es nach ihm, Homomaris müsste darin
fortfahren, nur fort, bis zu jenem fernen Tage, an dem es an der Zeit
ist, den Pinsel aus der Hand zu legen, um mit einem kleinen Beben in
der Stimme zu verkünden: Es ist getan. Doch in
diesen Wochen ist Wegenaer nicht gefragt. Der Rektor, dienstgrau und vigilant,
will mehr sehen als eine leere Breite, wie er sich
auszudrücken beliebt, um damit den Umfang des Projekts anzudeuten.
Ihm ist durchaus bewusst, dass er die Katze im Sack gekauft hat: arglos, denn
gerade darin, die Katze zur rechten Zeit aus dem Sack zu lassen,
besteht für ihn die Kunst. Zur rechten Zeit … jedenfalls nicht
darin, den Sack zu prügeln, bis sich nichts mehr regt.
Kurtzweil staunt
3
Homomaris, pinselschwingend,
langweilt sich. Erwartet hat er
lebhafte Gespräche auf Augenhöhe, nicht jedoch ein den scheuen
Seitenblick trainierendes, sich stumm vor der Kunst verpissendes
Professorenvolk. Nie wieder erwischt werden, so steht es in ihren
Gesichtern, jedenfalls steht es auf dem Blatt, das seine Linke aus
Überdruss anfertigt, denn das Handwerk, so sehr er es schätzt,
füllt ihn nicht aus, nicht wirklich jedenfalls, dazu gehen seine
Gedanken zu schnell. Womit wollen sie nicht erwischt werden, fragt
die Linke, oder besser: wobei? Zehn Lagen Grundweiß lassen
sich nicht von heute auf morgen auftragen, sie verlangen Zeit und
Geduld ab, selbst ihm, dem vieles Bedenkenden. Wobei also? Es hat
etwas Unbotmäßiges, wenn eine leere Fläche sich allmählich mit
Leere füllt. Die zweite Leere, man muss es so sagen, provoziert: sie
enthält eine verschlüsselte Botschaft, die Botschaft der reinen
Intention, die man sonst nur bei sich selbst kennt, das eigentlich
Gemeinte, das man nie aus der Hand gibt, die stille Reservation des
Ich. Hier nun wird sie öffentlich zur Schau gestellt, man sieht und
man sieht nichts, noch nichts, nicht ohne zu argwöhnen, dass
es am Ende bei diesem Nichts sein Bewenden haben könnte. Schließlich
ist Homomaris ein moderner Künstler, der die Finessen seines Metiers
im Schlaf beherrscht. Es fehlt eben das Vertrauen und damit das
Urelement aller naiven Kunstbegeisterung. Etwas bedeutet etwas:
etwas muss zu sehen sein, damit es etwas bedeuten kann, und eine
weiße Fläche ist zwar auch etwas, aber eines, das sagt: Hier ist
nichts zu sehen.
Kurtzweil staunt
4
Hier ist nichts zu sehen
Die Herrschaft über den Buchbestand des Instituts,
stellt Kurtzweil fest, genügt seinen sich wandelnden Ansprüchen nicht
mehr. Immer stärker in die neue Wächterrolle
hineinwachsend, fühlt er, wie eine grimmige Zufriedenheit in ihm wächst: Was
soll denn herauskommen? Kunst ist Betrug am Menschen. Einer der
verwirrenden Tricks, mit denen der arbeitende Mensch um die Früchte
seines Schaffens betrogen wird. Weißmaler und Schwarzmaler, das
gibt sich nicht viel, beide sind Holz vom gleichen Stamme. Drop
your guns, heißt es im Western, drop your guns and raise your
hands. Die Schnellen fressen die Langsamen, jedenfalls entwaffnen
sie sie und rauben sie aus, bevor sie sie umbringen. Der Weißmaler
hat die besseren Karten, weil er absolut harmlos daherkommt,
harmloser als der Schwarzmaler, der sich eine erste Andeutung dessen
leistet, was gerade im Anmarsch ist. Weißmaler, so nennt
Kurtzweil Homomaris bei sich, nachdem er den Trick einmal durchschaut
hat. Hin und wieder lässt er Andeutungen über ihn fallen, welche
Gesprächspartner wie Gaggauer, Kurtzweils Privatsprache nicht
mächtig, nicht zu dechiffrieren vermögen. Der Weißmaler hat
seinen Arbeitsplatz heute drei Stunden früher verlassen als sonst.
Das nennen sie kreative Freiheit. Was soll daran kreativ sein?
Kreativität ist ein Abrechnungsschwindel. Gaggauer, das Schaf, weiß
davon nichts, während er ungerührt den Bücheretat des Instituts
hinter dem Rücken der Professoren verbrät, die, aus Bequemlichkeit,
so tun, als merkten sie nichts – ein Simulant im Grunde auch er,
der den Anschein erweckt, als halte er die Bibliothek auf dem Stand der
Wissenschaft, während er in Wahrheit nur die Elaborate einer
Handvoll Autoren anschafft, an denen er, aus unerfindlichen Gründen,
einen Narren gefressen hat. Autoren… was soll das sein?
Friedenwanger hat ihm erzählt, das Wort bedeute ›Urheber‹.
Urheber allen Unheils, das mögen sie sein, im Großen und Ganzen
jedenfalls, aber jeder für sich sind sie die Urheber allen Unfugs,
der bereits in der Welt ist und sich täglich vermehrt. Wenn Gaggauer
die Wissenschaft überblickt, dann überblickt er die Welt.
Wer den Betrug einmal erkannt hat, der weiß auch in anderen Dingen
Bescheid.
Kurtzweil staunt
5
Jedem Teilchen sein Antiteilchen
Kurtzweil, ein Opfer ausgedehnter Science-fiction-Lektüren,
fühlt sich geladen, und zwar entgegengesetzt, wann immer er
des pinselschwingenden Homomaris ansichtig wird. Vielleicht sind
wir beide bloßMaterieteilchen im sozialen Kosmos, die beim
Eintritt in eine Hochenergiezone Antimaterie erzeugen. Die Welt
der Physik flößt ihm Respekt ein. Das sind wenigstens wirkliche
Wissenschaftler. Zwar kennt er keinen persönlich, doch die
Weltretter vom Dienst haben tiefe Spuren in sein empfängliches Gemüt
gegraben. Käme ihm einmal Hegels Ausdruck leere Negativität
in die Quere, so wüsste er auf der Stelle, was Homomaris’
Kunsthandwerk bei ihm (oder aus ihm?) erzeugt. Zwar würde es tief in
ihm brummen: Negativität, was soll der Scheiß? Aber die
Empfindung der Negativität, der aggressiven Ladung wäre
nicht wegzuleugnen und er der letzte, es zu versuchen.
Kurtzweil, der Negativist. Wie viele Sorten gibt es davon? Zehn,
zwanzig, hundert? Kurtzweil ist, bezogen auf die Kultursphäre,
Nihilist: Das ist doch alles nichts. Sie gilt ihm nichts,
folglich ist sie nichts. Ein sehr populärer Schluss,
vielleicht der populärste von allen, vermutlich das Fundament allen
Populismus. Schieben wir diesen ganzen Schmarrn zur Seite und
beschäftigen wir uns mit der Wirklichkeit. Was ist die
Wirklichkeit? Pech, Pleiten und die üblichen Betrügereien – mehr
ist nicht dran an der berühmten Wirklichkeit, der Wirklichkeit des
gemeinen Menschen, geboren aus Gemeinheit, der Gemeinheit des
gesunden Menschenverstandes, der Tag und Nacht unterwegs ist, um sich
die Taschen zu füllen und sich den Anteil am großen Ganzen zu
holen.
In diese Umgebung passt Weißmaler Homomaris perfekt.
Aber ihm ist nicht zu trauen. Mag sein, dass aus dieser riesigen
weißen Fläche eines fernen Tages doch etwas herauswächst. Was kann das
sein? Was wird das sein? Zweifellos bereitet sich, wo alles nach
Betrug riecht, hier der nächste Betrug vor.
Kurtzweil staunt
6
Es muss nichts passieren / Etwas wird passieren
Doppelgesicht alles Wirklichen: in gewisser Weise passiert nie
etwas, ausgenommen die Momente, in denen es gerade passiert.
Das ist alles.
Homomaris spürt, etwas liegt in der Luft. Kurtzweil desgleichen.
Alle spüren: etwas liegt in der Luft. Alle? Wer ist das? Wie
groß ist ihr Kreis? Niemand weiß es. Niemand kann so etwas wissen.
Der Kreis besitzt keinen Innenradius. Man könnte ihn von außen
bestimmen, aber auch das ist, aus völlig einleuchtenden Gründen,
unmöglich. Ein Gespür ist ein Gespür, nichts weiter. Was die Leute
später darüber zu berichten wissen, ist ohne Belang. Die Erinnerung
an ein Gespür besitzt keinen Zeitindex. Streng genommen hinterlässt
es keine Erinnerungsspur. Ich habe es immer gespürt:
klassischer Ausdruck einer Nebenwahrnehmung, deren Zeit gekommen ist.
Eigentlich wusste man es immer – aber gewiss doch, nur eben:
eigentlich. Soll heißen: eigentlich nicht. Auch Wahrnehmung braucht
ihr window of opportunity.
Längst hat Homomaris den knochigen Kerl registriert. Ein Spion,
aber wessen? Wer schickt eine solche Person an die Front? Der Rektor?
Seine Feinde im Kollegium? Jemand, der ihm einen solchen Auftrag
verschafft, muss Feinde haben, das liegt auf der Hand. Von diesem
Menschen geht eine Bedrohung aus. Was er nicht wissen kann: ein
Platz auf dem Gemälde, das da entsteht, ist ihm bereits sicher. In
Homomaris’ Kopf hat sich die Handskizze, nach der er arbeitet,
längst verflüssigt. Während er Lage um Lage Weiß aufträgt, nimmt
das Sensorium unermüdlich, bis hin zur kleinsten Schwingung, Signale
aus der Umgebung auf und setzt sie in bildnerische Impulse um, aus
denen, fortwährend seine Zusammensetzung wechselnd, das innere Bild
heraufdämmert. Hic Rhodus, hic salta. Niemand wird dieses
Bild je zu Gesicht bekommen. Umsetz-, aber nicht abbildbar.
Das wirkliche Bild ist Hand-Werk, Produkt von Händen, deren
Konditionierung für die große Aufgabe Tag für Tag vorankommt.
Davon weiß Kurtzweil nichts.
Kurtzweil staunt
7
Homomaris, den Eingang zur Pyramide passierend, registriert eine
aufsteigende Empfindung: überwachter Raum. Rein technisch gesehen
ist das nicht falsch. Doch die Empfindung verweilt nicht bei den
Überwachungskameras im Foyer, sie umfasst die Gesellschaft der
Pyrmidonen, wie er sie bei sich nennt, als Ganzes – ein
schattenhaft anwesendes Totum, das einzelne seiner Glieder als Boten
vorbeischickt. Der Raum der Pyramide ist ›besetzt‹, wie das
Modewort lautet, ›gekerbt‹ würde Teuschner mit Kennerblick
hinzusetzen, sofern er vom Innenleben des Malers wüsste. Unbekannt ist
ihm das Verfahren, in dem die Psyche des Künstlers, einer
Dämonologie folgend, deren Ursprünge vermutlich bei C.G. Jung und
den Alchymisten zu suchen wären, das blanke Terrain mit einer
zirzensischen Truppe von Feld-, Wald-, Wiesengeistern bevölkert.
Denn Homomaris ist, wie er sich selbst in seltenen Stunden
bezeichnet, ein Naturalist der Seele. Abends trägt er in seine
Keynotes ein:
DER MENSCH IST NUR DA GANZ TIER, WO ER HANDELT,
DAS HEISST, WO ER SICH AM WEITESTEN VOM TIER ENTFERNT.
/222/
Festhalten: den exquisiten Moment, der eintritt, bevor die Gedankenpolizei eingreift und das abrollende Spektakel hinter die Bühne verlegt.
Theatermalerei: die Bühne als Welt, die Welt als Bühne der
materialisierten, d.h. mit Kopf und Hals und Schwanz ausstaffierten
Ideen.
Die Malerei ist dazu berufen, das Drama überflüssig zu machen.
Alles ist da, eingehüllt in den richtigen Zeitpunkt wie in
Gazeschleier, ungleichzeitig, aber auf einmal, ohne die
Täuschungen des Hintereinander, wenn die Begebnisse sich in den
Schwanz beißen. Doch wie immer: Beruf ergriffen, Berufung verfehlt.
Die Malerei entfaltet sich im Raum wie die kranke Welt in der
Zeit.
Großer grüner Dämon, halb Fisch, halb Ziege, präsentiert
vor einem aufgezogenen Stück Leinwand wie auf einer silbernen
Fischplatte, gefolgt von Hanseln jeder Couleur. Anbetung Satans, der
sorgfältig seine Zeichen verbirgt. Das eben ist das Zeichen.
Sorglose Sorgfalt erzeugt den Sog der Sorge.
Ich will dieses Ungeheuer stellen.
Die Wirkung stelle ich mir magnetisch vor – ein
Reinigungsmagnet, der die kranken Ideen aus der Halle des laufenden
Aberglaubens herauszieht.
Der Name des Ungeheuers lautet: Impertinenz.
HOMO HOMINI LEPUS
Kurtzweil staunt
9
Versuch und Irrtum
Ein Bewohner der Pyramide irrt sich nicht. Er ist es gewohnt, so
geläufig über trial and error zu sprechen, als sei
dergleichen die übliche Vor-, Haupt- und Nachspeise seiner
akademischen Mahlzeiten, dass er gar nicht auf die Idee kommt, sich
zu fragen, was denn den erfolgreichen Wurf vom erfolglosen
unterscheidet, außer eben der Erfolg, der für sich nichts besagt.
Was so auch nicht richtig ist, da er alles einschließt. Die Menschen
lieben den Erfolg. Sie lieben nichts mehr als ihn, sie sind so
erfolgversessen, dass sie offen zusammenlegen, um ihn zu ermöglichen,
und insgeheim alles tun, um ihn zu verhindern, es sei denn, es handle
sich um den eigenen. Im Zusammenlegen-und-nichts-weiter besteht eben
der Erfolg. Auf einem Feld, auf dem alles widerlegbar ist –
vorausgesetzt, man betrachtet jedes hartnäckige Hindernis auf dem
Weg zum Erfolg bereits als Widerlegung –, muss der Wille zum
Beiseiteräumen groß sein. Je organisierter eine Wissensgemeinschaft
ist, desto mehr ist sie imstande, Einwände beiseitezuräumen. Wehe,
ein Einzelner, Unberufener kommt ihr in die Quere. Er kann sich
heiser reden und bleibt doch nur … ein Störenfried, einer, auf den
man besser nicht hört. Sein Votum stempelt ihn zum Verdächtigen,
die Operationen, die er ausführt, die Bilder, deren er sich
befleißigt, die Termini, die er wählt, seine Definitionen,
Landmarken, Zwischenrationen – all das trocknet in Windeseile aus
und wird gemieden, je länger je lieber, je überzeugender desto
entschlossener. Die Karawane, auf der Hut vor der Fülle der
Möglichkeiten, die sich bei jedem Schritt vorwärts auftut, bleibt
dem einmal gewählten Kurs treu.
Kurtzweil staunt
10
Hausverbot
—Moment, Herr…
Der Mann im gewürfelten grauen Anzug, die Stirn in Bleistiftfalten gelegt, das ist doch –!
Die Aufsicht (neuerdings wird der Eingang zur Pyramide bewacht) eilt ihm nach. Homomaris, den Pinsel auf die Palette senkend, spitzt die Ohren.
—Sie sind Professor Leckebusch, ja? Der Rektor möchte mit Ihnen sprechen. Warten Sie, ich hole Ihnen den Aufzug. Einen schönen Tag wünsch ich, Herr Professor.
Philosoph Starck, zufällig Zeuge des Auftritts, begleitet den Gast. Nachher sitzen sie im Foyer und fachsimpeln.
—Überhaupt, sinniert Leckebusch, sollte ich mich beglückwünschen. Wie kann ich Leute lehren, denen bei dem Wort Königsberg der Angstschweiß auf die Stirn tritt? Oder die mich gleich für einen Nazi halten? Das ist ganz un-mög-lich. Wie geht es Ihnen damit? Natürlich schmerzt so ein Abgang.
Starck brummt.
—Mich hat man in der DDR an den Pranger gestellt. Auch kein gutes Gefühl.
—Der Pranger, lieber Starck, der Pranger … schauen Sie sich um. Alles ist Pranger. Wäre ich damals nicht in den Westen gegangen…
Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
Homomaris lächelt.
Kurtzweil staunt
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Erfolg
Auch Homomaris liebt den Erfolg. Er nähert sich ihm wie der Gefangene
einer lockenden Ration, immer der Möglichkeit gewärtig, dass ein
sadistischer Wärter sie im letzten Augenblick seinen bebenden Lippen
entzieht. Der Künstler ist einer von denen, die hungern und
dürsten nach Gerechtigkeit. Was könnte gerechter sein als der
Erfolg, gesetzt, jemand ist sich seiner Sache sicher? Und Homomaris
ist sich seiner Sache sicher, ganz sicher, so sicher, wie
einer es überhaupt sein kann, der weiß, dass nur der Irrtum
vorstellbar ist und jeder neue Versuch der Gnadenerweis einer
metaphysischen Gewalt, die seltsamerweise die Gesichter seiner
Umgebung annimmt, wann immer sie sich bemerkbar macht. Kein Wunder
also, dass die ersten skizzenhaften Züge, dem flächigen Weiß
beigemischt, wolkenhaft bleiben, leere Pinselphrasen, dazu bestimmt,
die Phantasie der Vorübergehenden zu fesseln und eine positive
Erwartungshaltung zu stimulieren. Was geht mich meine Pinselei vom
Vortag an? Heute ist heute und jetzt ist jetzt. Je länger die
Formen im Fluss sind, desto länger ist die Straße zum Erfolg offen.
Glücklich der Künstler, der noch mit dem letzten Strich ein ganzes
Werk zu wenden versteht. Diese hohe und höchste Kunst nimmt
Homomaris für sich in Anspruch.
Kurtzweil staunt
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Sabine A bebt für ihn. Sie hat das seltsame Prekariat seiner
Kunst begriffen, sie hat es tief in ihre Seele aufgenommen, still
betet es in ihr für den Erfolg dieses Mannes, sobald sie seiner
Pinseleien ansichtig wird. Kurtzweil beäugt sie von der Seite, bei
ihrem Anblick feixt das innere Teufelchen, es wünscht der
anspruchsvoll harmlosen Dame den Reinfall, der endlich auch ihr
beweisen würde, was Menschen ihrer Gehaltsklasse sich selbst und der
Mitwelt geflissentlich zu verbergen trachten: dass diese sogenannte
Kunst nichts weiter darstellt als Sozialschmarotzertum auf der
untersten Stufe, als Augenwischerei – das Wort, soviel weiß
auch Kurtzweil, gehört nicht zu den in der Pyramide wohlgelittenen,
also beginnt sich seine Rede zu kräuseln und…
―Aha. Langsam kriegen wir was zu sehen.
―Wer ist wir?
―Schaumer mal. Ich seh mir das hier jeden Morgen an. Sollten Sie
auch, junge Frau. Aber passen Sie auf, unsereins kriegt da leicht den
Weißkoller. Ehrlich gesagt, ich wundere mich seit Tagen, wie der
Mann das durchzieht. Aber bitte: er ist der Fachmann. Wir mischen uns
da besser nicht ein, stimmt’s? Sein Auftrag, sein Risiko. Ich frage
Sie: Wo bleibt das Risiko? Wo bleibt die … Kunst? Die Kunst, die
Kunst… Vornehm in Weiß kommt sie daher, ein paar Schatten hier und
da, heute so, morgen so. Vielleicht ist der Herr ein Versager? Wir
wissen es nicht. Nichts wissen wir. Er malt halt weiß. Den Auftrag
hat er so oder so in der Tasche. Wissen Sie was? Ich habe den
Verdacht, er schaut heimlich nach der Uhr. Aber ich konnte ihn nie
dabei erwischen. Ein Künstler eben. Dem geht die fette Beute ins
Netz wie unsereinem… Neinnein, ich will mich nicht mit Ihnen
vergleichen. Mein Hort sind die Bücher. Wann sieht man Sie wieder?
Die Bibliothek hat geänderte Anfangszeiten, sollten Sie wissen, für
den Fall, dass wir uns dort einmal sehen. Das habe ich
durchgesetzt. Was haben Sie denn? Ist Ihnen kalt?
Kurtzweil staunt
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Fette Pferde
Sabine A bebt und Kurtzweil staunt. Nie und nimmer hätte er das
hinter der nüchternen Fassade vermutet. Der Rektor, die Szene aus
dem Augenwinkel verfolgend, sieht es mit Neid. Dass dieser Kurtzweil
etwas von Kunst versteht… Wer hätte das gedacht? Offenbar weiß
er, was sich dort auf der weiten Fläche tut. Schade, man versteht
ihn kaum. Immerhin, ›fette Pferde‹ ist ein handfester Hinweis,
gleich nachher wird er ihn in seine Abschiedsrede einbauen. Sie muss
doch irgendwann fertig werden.
Villa am See, gepflegtes Grundstück, ein schmiedeeisernes, elektronisch gesteuerten Tor und die weiße Wand –: ein vertrautes Ensemble, jede Sprayerhand zuckt, hier tätig zu werden. Der Spruch (die Drohung?), roh hingeworfen, als sei aus dem Gemäuer Blut ausgetreten, hielt sich ein paar Wochen, bevor Malerbetrieb Hansen.eu seine Spuren sorgfältig tilgte. Es standen noch andere Parolen dabei (du hast sie vergessen), aber diese hier hat sich den kleinen grauen Zellen des assoziationsfreudigen Spaziergängers unwiderruflich eingeprägt. Was du damals nicht wusstest: Aigner, Büromöbelfabrikant mit besten Geschäftsbeziehungen in die Pyramide, ein scheuer, abgeschottet lebender Herr, wurde vor ein paar Jahren von geldgierigen Rohlingen entführt und kam gegen ein horrendes Lösegeld frei. Noch immer läuft die Bande frech und frei herum. Asche-Aigner schweigt über diesen Aspekt ihres Daseins, er fällt unter die Familien-Pudenda, sie schweigt auch deshalb, weil sie ›davon ausgeht‹, dass in ihrer Umgebung ohnehin jeder im Bilde ist.
A Star is Born
2
Woher weißt du das? Weil du sie im Visier hast. Seit du Bescheid weißt, siehst du sie mit anderen Augen – genug, um in ihre Augen die Zuversicht einzupflanzen, dass sie auch dich zu den Eingeweihten zählen und auf deine Diskretion bauen darf. Immerhin könnte ihr die Erwähnung des Vorfalls peinlich sein. Nicht ohne Grund, da ihr Mann seither sein Leben geändert hat und darüber in einem Weblog unentgeltlich öffentlich Auskunft erteilt. Auf diese etwas ordinäre, der Zeitmode geschuldete Weise erfährt alle Welt, sofern sie hinschaut, dass auch diese Ehe am Ende war, dann aber durch die Erniedrigung des Mannes eine zweite, vampirhafte Existenz gewann. Selig die Demütigen, denn sie werden reich belohnt werden. Sicher, Ehen durchlaufen Krisen, die man den Geplagten als Unbeteiligter gern ersparen würde. Manche gehen aus ihnen wundersam gestärkt – besser: gestrafft – hervor. Dann lohnt es sich nicht mehr, ›jetzt noch‹ die Beziehung abzubrechen. Ohnehin würde sie jeden Abbruchversuch spielend überdauern, um in alle Ewigkeit fortzulaufen. Das muss verhindert werden, schon um der Hoffnung willen, sie möchte dereinst selig erlöschen wie eine der flackernden Kerzen im Märchen vom Gevatter Tod.
A Star is Born
3
Un homme de la famille
Ein Zweimalgeborener ist Aigner. Die Nächte im ›Volksgefängnis‹ der Erpresser haben das innere Licht entzündet: Geld ist nicht alles. Es ist Teil des Bösen und muss, soll es seine Unheilstendenz verlieren, ideellen Zwecken zugeführt werden. Noch immer zögert Asche-Aigner, die etwas spät, wie sie findet, eingetretene Wandlung zu akzeptieren, doch ihrer angenehmen Seiten weiß sie sich zu bedienen, so, wenn sie im Familien-Benz vorfährt, den der Gatte seit den Tagen der erzwungenen Einkehr nicht mehr angerührt hat. Auch dieses Gerät will entsühnt sein. Dafür eignet sich eine Frauenkarriere gut. Diskret stellst du dir den allmorgendlich ins Büro radelnden, von Bodyguards beschatteten Aigner vor, sein geläutertes Kapitalisten-Dasein ganz in den Dienst an ihrer Karriere stellend, buchstabierst die fragile Leichtigkeit in den gespannten Zügen eines Mannes, der zu hohen Zielen unterwegs ist, und verstehst endlich die subtile Technik, mit der es ihm gelang, sich seiner Frau zu entledigen – also gerade des Wesens, das die neue Asche-Aigner mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Eine Ehe, in der beide Parteien aushäusig sind, gibt exakt den Zusammenhalt, den es braucht, um ein alleiniges Leben zu führen, ein Leben als Ipsissimus oder -ma, ohne Wenn und Aber, ohne die Kämpfe der Intimität, in der sich gewöhnliche Mitmenschen so gern verbrauchen. Und du verstehst: das Fluidum, das Asche-Aigner umgibt, entstammt jenem Geist-Ersatz, den begüterte Menschen aus ihren Unfällen ziehen wie andere Leute eine Behindertenrente.
A Star is Born
4
Ein scharfes Schwert
Du kannst die Gendersprache, nein: gendergerechte Sprache zum Teufel wünschen (›Was will sie da?‹), wie das, zu aller Überraschung, Argloser tut, der, mit seinem akademischen Ruf spielend, sich an die Spitze des öffentlichen Unmuts gesetzt hat, aber eines musst du ihren Konstrukteur*innen lassen: Sie haben die bürgerliche Sprachkultur aufgemischt, wie es keinem Schriftsteller, gleich welchen Geschlechts, der letzten hundert Jahre gelang. Dabei gab es Sprachzerstörer erster Ordnung unter ihnen. Am Willen kann es folglich nicht gelegen sein, auch nicht an der Sparsamkeit der Mittel oder des Denkens. Es muss etwas anderes, schwer Fassbares mit im Spiel sein, Sex zum Beispiel oder, besser noch, verweigerter Sex, der stets wirkungsvoller in Erscheinung tritt als der erfüllte. So ein Asterisk trennt die Geschlechter wirkungsvoller als jede Hinrichtung. Dabei scheint er sie doch zu verbinden … kurz: er stört den Verkehr. Nichts anderes ist sein Zweck und er erfüllt ihn ausgezeichnet. In aller gebotenen Kürze erklärt er beiden Geschlechtern, dass nicht sie gemeint sind, dass sie niemals gemeint waren und, vor allem, nie wieder gemeint sein werden, vielmehr das dritte, unbekannte, sich erst in der Zukunft enthüllende, das sich zwischen ihnen auftut.
A Star is Born
5
Wie Asche-Aigner tickt
Das Geschlechter-Duopol hat seine historische Chance vertan: voreilig, übergriffig, nachlässig, immer schon untereinander verständigt, anmaßlich und voller Ressentiment glaubt diese Partei zu wissen, was Sache ist. Ihre klebrig-herkömmliche Sexualität drängt sich in den Raum zwischen den Menschen und füllt ihn aus … eine Rücksichtslosigkeit ohnegleichen, nur vergleichbar der Bosheit dämonischer Mächte, wie sie das Christentum über zwei Jahrtausende bekämpfte, um sich ihnen letztendlich nahezu willenlos auszuliefern. Alte weiße Dichter haben den Dritten nur interpretiert. Sie haben sich von der Sprache des Geschlechts blenden lassen und ihn als ewigen Konkurrenten, als Versucher in die Beziehung eingeführt. Heute wissen wir: Das war ein Fehler. Der Dritte, das ist der jeder Festlegung vorausliegende Horizont aller Geschlechtlichkeit. Ein unvermutet im Herzen des Universums aufflammender *Stern zeigt ihn an, er vermittelt ihn den einfältigen Menschennaturen, auf dass er nie mehr verloren gehe.
Damit, alter blecherner Fu, hast du nicht gerechnet. Dein Projekt ist zerstört, kaum dass es sich rechnet. Die Erfüllung ist größer als das Erfüllte. Sie löscht es aus. Löscht es aus.
A Star is Born
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Aufschlag
Die Historikerin schlägt die Peitsche, sie rührt sie sanft, sie entlockt ihr die wunderlichsten Töne, ein Rauschen geht durch den Sitzungsraum, kaum dass sie Platz genommen hat, ebenso unhörbar wie unüberhörbar, die passenden Sensoren vorausgesetzt, und welcher Mann hätte sie nicht? Die Kolleginnen spüren die Konkurrenz und nehmen sie als Zugang in ihren Reihen, sie sind, wie sie sagen, dankbar für jede Verstärkung, zugleich sonnen sie sich im Glanz der Ansprechbarkeit für gewisse … Dinge, ›rationale Argumente‹ zum Beispiel, denn Annabell Asche-Aigner, die Neue, setzt in puncto Zuständigkeit neue Maßstäbe, sie mischt überall mit. Gegen ihre Suada ist, wie das Kollegium nach und nach feststellen muss, nirgends ein Durchkommen. Wenn sie losgeht, dann wie eine Bombe, manchmal in Zeitlupe, dann wieder mit der unvermischten Wucht einer klassisch zu nennenden Detonation.
A Star is Born
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Fakultätsbeben
―Der Antrag ist abgelehnt.
―Das sehe ich nicht so.
―Aber Frau Kollegin, wir haben abgestimmt.
―Darüber sollten wir alle noch einmal nachdenken. Dieser Antrag, ich bitte das zu berücksichtigen, ist wichtig. Ich finde, die Ablehnung ist nicht statthaft. Sie bringt uns alle in eine unhaltbare Situation…
―Dann sollten wir…
―Sollten wir nicht. Ich verlange die Wiedervorlage. Sie können nicht mit einer einfachen Mehrheit vom Tisch wischen, was an fortschrittlichen Universitäten längst Usus…
―Also gut. Was schlagen Sie vor?
―Dass wir uns erst einmal hinsetzen und alle gemeinsam…
―Aber –!
―Schwierigkeiten beim Nachdenken? Darf ich dem einen oder anderen dabei behilflich sein? Sagen Sie’s ruhig, ich übernehme das gerne.
A Star is Born
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Da sitzen sie jetzt und denken nach:
der dicke Blowasser, Agosch mit den gegelten Haaren, Argloser, sich in den Bart fassend, Dürrobst, Pfeifchen samt Pfeifenputzer vor sich hinhaltend, in der Bewegung erstarrt, Stutenkeil, den Blick abwesend auf die im milden Sonnenlicht verschwimmende Fensterfront gerichtet, Werferich, die etwas behäbig wirkende Juniorprofessorin, Sabine A., die gute A., die es endlich geschafft hat und nun darauf vertraut, dass die Initiale ihr einen der vorderen Plätze beim weiteren Fortkommen sichert, denn ihr Ehrgeiz drängt in höhere Sphären, in inniger Feindschaft mit Agosch verbunden, der ähnlich hoch von sich denkt, ohne zu ahnen, dass einige seiner Kollegen, dem bajuwarisch-alemannischen Sprachraum verbunden, ihn ›A Gosch‹ nennen und seinen Namen unter G rubrizieren, bei dem graumelierten Herr dort drüben handelt es sich, wie bekannt, um Friedenwanger, ihm zur Linken hält Kypras sich aufrecht, der es gerade noch vom Flieger hierher geschafft hat, und damit beenden wir vorerst die Vorstellerei, denn in diesem Gremium geht es wie in tausend anderen seiner Art zur Sache und um nichts weiter.
A Star is Born
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Evoē!
Kypras übrigens: der einzige, der sich Asche-Aigners Redefluss unbekümmert entgegenstellt. Nein, er stürzt sich in ihn hinein, scheinbar ein guter Schwimmer, jedenfalls unerschrocken, doch man hat auch solche untergehen sehen.
―Das meinen Sie doch nicht im Ernst!
―Oh doch! Wie kommen Sie dazu, mir den Ernst –
―Das hatte ich befürchtet.
Für solche Momente wurde das Amt des/der Dekan*in geschaffen.
―Herr Kollege, Sie wollten damit doch nicht –
A Star is Born
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Der Aufsässige
Kypras fragt sich, wie er sagt – er spricht es offen aus und darin liegt eine Sensation –, was an gendergerechter Sprache gerecht sein soll, wie überhaupt der Begriff der Gerechtigkeit sich in diese triste Region des menschlichen Geistes, wie er sich ausdrückt, verirren konnte. Graeculus Kypras steht nicht an, unter Deutschen das Wort ›Geist‹ zu verwenden, die ideologischen Sperrriegel seiner Kollegen existieren für ihn einfach nicht.
―Wenn ihr den Ungeist bekämpfen wollt, indem ihr den Geist eskamotiert, bitte: Mind the gap!
Griechlein, Griechlein, hüte deine Zunge!
A Star is Born
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Kein Mann fürs Feine
Kypras klotzt:
―Wer die Überzeugung vertritt, Geschlecht sei eine Rolle, der möge sich gefälligst auch daran halten. Das wäre ja eine tolle Aufführung, wenn auf der Bühne alle Rollen zugleich angesprochen werden müssten – aus ›Geh-rächt-ich-keit‹.
Eh’r schweig, DuSie, bevor das Sprach’ Dies Leben mordet, weil sie Betgang hat.
Noch Fragen?
―Herr Kypras, wollen Sie damit –
―Nein, will ich nicht.
―Was wollen Sie dann?
―Ihre Frage nicht beantworten, wenn es Ihnen recht ist.
―Aus welchem Stück ist das überhaupt?
Kypras unter Fremden. Er vermisst ihn sehr, den Geist. Umso heftiger wirft er sich auf den Ungeist der Gegenwart.
―Wer behauptet, Geschlecht sei eine soziale Rolle, der kann sich nicht nachher hinstellen und verlangen, dass sein Geschlecht alle Rollen bekommt. Das ist nicht gerecht, sondern lächerlich. Überdies heißt es, sich eine Blöße geben. Das ist eine Körper-Metapher. Der Körper spielt also mit bei alledem, so wie er auch auf der Bühne mitspielt. Auf der Bühne kann einer behaupten, er habe kein Hinterteil, und es gleichzeitig dem Publikum hinhalten: das nennt man einen Effekt. Nichts anderes erzielt, wer Gendergerechtigkeit verlangt. So, und jetzt will ich dieses Thema ad acta legen, denn dort gehört es hin.
Da hat er die Rechnung ohne Asche-Aigner gemacht.
A Star is Born
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Eine Frage der Regie
―Ich verlange, dass dieser Kerl Hausverbot bekommt.
―Sie wissen schon, dass er unser Mann in Athen ist?
―Ich höre ›Mann‹. Das reicht mir vollauf, um auf meiner Forderung zu bestehen.
Das geflügelte Wort »Ich höre ›Mann‹. Das reicht mir vollauf« umzittert sie, wo immer sie geht, steht oder sitzt. Es führt dazu, dass sie gewählt wird, wann immer es etwas zu wählen gibt. Schon schwebt sie hoch über der Kollegenschaft, ein Heißluftballon, aus dem immerfort Botschaften abgeworfen werden, von den untertänig(st)en Scardanellis der Fakultät gierig aufgegriffen und als Regieanweisungen missverstanden. Andererseits: Was ist eine Rolle gegen die Regie? Asche-Aigner wächst rascher in die Rolle der Regisseur*in hinein, als ihr Flügel sprießen. Auch die werden hier und da schon gesichtet.
A Star is Born
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Alles was Recht ist
Warum die Reprise? Wie oft haben wir das nicht alles schon gehört? So fragen sich viele, wenn sie den Ausführungen Asche-Aigners folgen.
Auch sie hat ein Gespür für Schwingungen.
―Sie werden es noch öfter hören. Sooft Sie wollen. Und wenn Sie es nicht mehr hören wollen, wenn es Ihnen zu den Ohren heraushängt – dann erst recht!
Die Dekanin geht einen scharfen Trab. Mit der designierten Rektorin ist sie verbündet, so schnell wie möglich möchte sie den Coup wiederholen, der einer Kollegin an einer Universität im roten Osten gelang. Seit zwei Semestern gilt dort, unabhängig vom ›biologischen Geschlecht‹ der so Titulierten, die gemeine Anrede ›Frau Professorin‹: aus Gründen ausgleichender Gerechtigkeit und einigen anderen, die nicht so leicht über die Lippen gehen, aber ihren Anteil am verschwiegenen Gedankenleben der Alma Mater behaupten.
—Was ist ausgleichende Gerechtigkeit?
—Unrecht. Was sonst, Kollege?
—Darf ich Sie zitieren?
—Nein.
A Star is Born
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Virile Spritzer
―Ich habe nichts dagegen, bekundet Langwasser, ohne abzuwarten, was seine hedonistischen Freunde in Frankfurt dazu anmerken werden (kein Zweifel, das werden sie). Die Mundwinkel zittern, so dass, wer ihn kennt, sogleich den Sarkasmus aufnimmt und Bescheid weiß: Natürlich hat er, gerade er etwas dagegen, und nicht nur ›etwas‹, sondern eine ganze Menge, in Wahrheit wirft er alles an die Front, was an Argumenten irgendwie laufen kann. Besonders outriert wirkt die Invektive, Asche-Aigner betreibe zusammen mit ihren Gesinnungsgenossinnen nichts anderes als die Abschaffung der Frauen:
―Wo jedermann Frau ist, hat sich doch nichts geändert. Nur die Frauen selbst sind verschwunden.
A Star is Born
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Die Karawane zieht weiter
Asche-Aigner kann über diese müde Übung nur lächeln:
―Seit wann so besorgt, Frau Kollegin?
―Ich bitte Frau Dekanin, ihrem Antrag nicht vorzugreifen und Fakten zu schaffen, wo noch Klärungsbedarf besteht. Ansonsten behalte ich mir vor, sie zum gegebenen Zeitpunkt mit der Anrede ›Herr Kollege‹ zu konfrontieren.
―Konfrontieren Sie ruhig. Das sind wir ja von Ihnen gewöhnt.
Sie kann den Tag nicht erwarten, an dem die Wahrheit weiblich sein wird, wie sie sich ausdrückt, um sich damit vom neuerdings ebenfalls emeritierten, aber noch keineswegs zahnlosen Dürrobst die maliziöse Bemerkung einzufangen:
―Ist sie das nicht?
―Nein.
―Ich wusste gar nicht, dass sie an Gehaltsklassen gebunden ist.
Letzteres murmelt er halb: ein Greis.
Mit uns zieht die neue Zeit.
A Star is Born
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Fluctuat nec Mergitur
Dürrobst, jung, unverbraucht, statt des Pfeifchens ein Ho-Tschi-Minh-Sprüchlein zwischen den Lippen, untergehakt im rauen Chor der Genossen das Unmögliche fordernd, fühlt sich in der alt und rissig gewordenen Haut, als habe er sich an einen dekadenten chinesischen Kaiserhof verirrt und irgendein undurchdringliches Zeremoniell führe Regie, während die mongolischen Krieger in hellen Scharen über die Mauern des Palastes springen, den kein unbefugtes menschliches Auge erblicken darf, und mitten in der tobenden Schlacht bereits mit dem Plündern und Vergewaltigen beginnen, als sei der Gegner für sie kaum mehr als Luft.
Und sie vergelten Zeichen mit Zeichen, Wort mit Wort
Vorhut der Frau*innenklasse
1
Endzeitlose
Der Geist der Pyramide: Geschwätz. Die täglichen Flurkonvente: Geschwätz. Die Mensagespräche am Professorentisch: Geschwätz. Geschwätz sind die Meetings, die Fakultätssitzungen, die Unterhaltungen am Rande, hinter vorgehaltener Hand: wer immer etwas davon für härtere Zeiten zurücklegen wollte, er würde sich selbst damit größten Schaden zufügen.
Seltsamer Augenblick der Geschichte, wenn ein theoretisch, in langen Wellen Erdachtes plötzlich die Gesellschaft erfasst und zur Kampfparole der Parteien mutiert. Es ist auch nicht so sehr das Erdachte als vielmehr das in ihm Beschwiegene, das in solchen Momenten nach vorne drängt: eine Fratze, flüstern erblassend die einen, das reale Ding, triumphieren die anderen, erlösungssüchtig wie nur je eine Generation vor ihnen, ohne die Parallele gelten zu lassen. Schließlich ist das hier das Neue und darin kennen sie sich aus.
Vorhut der Frau*innenklasse
2
Entgeistert lässt Tronka den jüngsten Artikel eines neuen Kollegen sinken. Hiero der Beständige hat ihn apportiert, jetzt wartet er glänzenden Auges auf das Urteil des Meisters.
―Das ist ja … das ist ja … gnadenlos unbedeutend. Wer kann solche Leute berufen?
Alberne Frage. Leicht ließe sie sich durch einen Blick in die Akten klären, doch die dahinterstehende Frage – jedesmal steht hinter diesen Fragen, die mehr Ausrufen gleichen, eine andere Frage, unausgesprochen, dem Verstummen zugewandt, und wartet geduldig auf Auskunft –, die dahinterstehende Frage käme damit einer Antwort nicht näher. Der Geist des Geschwätzes ist identisch mit dem Geist der Generation, von akademischen Sprechpuppen ›Diskurs‹ genannt, der verbale Urgrund aller Satire. Der Diskurs aber … versichern seine Ausleger, weist Löcher auf, pulsierende Löcher, die zur Zeit grandios wachsen: Leute wie Argloser oder Hanbüchl sind, aus offenbar entgegengesetzten Gründen, fast ganz verstummt, sie könnten ihre Schatten vorbeischicken und es ginge beinahe genauso lebhaft zu, wobei man Hanbüchl ohnehin neuerdings als Schatten seiner selbst bezeichnen könnte, ohne seine Persönlichkeit zu beeinträchtigen. Die neue Dekanin jedenfalls vermag in diesem Punkt keinen Grund zur Zurückhaltung zu erkennen.
―Ich will diesen Hanbüchl loswerden. Kann mir jemand verraten, warum es den überhaupt gibt?
In diesem Fall kann Argloser seine Empörung nicht zügeln.
—Sie sind eine … eine … Ökoterroristin!
Vorhut der Frau*innenklasse
3
Mädchen für alles
Asche-Aigner, ganz Entschlusskraft, nimmt das Dekan*innenamt sehr ernst. Eigentlich hat erst sie, wie sie gelegentlich anmerkt, es allererst entdeckt, seinen Dauerschlaf beendet und die angetroffene ***schaft auf Vorderfrau gebracht, geprügelt geradezu, denn, wie sie mit einem dicken Abwärts‑ und mehreren Aufwärtsstrichen unterstreicht:
―Frauenmacht ist weder sanft noch sexy, sie ist hartes … hartes…
Nicht immer lässt sich rund aussprechen, was doch auf der Hand liegt.
―Wir stellen diese Männersprache ab, versichert sie beim Morgenappell, ihrer ersten Neuerung im Amt, vom Dekanatsangestellten Frentzen mit einem trockenen Und wer weckt uns? quittiert, das ihr Ohr nicht deutlich erreicht, nur einen bestimmten Verdacht auf Unbotmäßigkeit aus der zweiten Reihe erregt.
Frentzen ist vorgemerkt, wenngleich vorerst, wie ihr geflüstert wurde, unersetzlich:
―Ich weiß schon, Sie sind das Mädchen für alles.
Frentzen lacht sein sonores Lachen.
―Sie dürfen das gern so ausdrücken.
―Ich werde Sie ausdrücken. Geben Sie acht. Unter mir wird es kein Mädchen geben, schon gar nicht für alle.
Uneinholbar: Flexibilissimus Frentzen.
―Ich bin froh, dass Sie kommen. Ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung. Ausschließlich.
―Absolute Loyalität?
―Bis in den Tod und darüber hinaus.
―Das will ich sehen.
Vorhut der Frau*innenklasse
4
Arachagma
—Dieser Frentzen, sinniert Blowasser und lässt vorsichtig seine Hand über einen im Halbdunkel des Vorhangs von Blassgelb ins Rötliche spielenden Kaktus gleiten –: erinnerst du dich, was Nassen über seine Leipziger Zeit zu berichten wusste? Ein Bluthund…
—Bluthund … ich verstehe nicht … hilf mir mal auf die Sprünge, murmelt Tronka, in eine Lektüre vertieft. Was streichelst du da?
—Das, ach… Arachagma heißt dieses reizende Etwas. Die Früchte sind übrigens braun. Ich sprach von unserer Arachagma, auch Asche-Aigner genannt. Wie die meisten ihres Schlags hat sie an einem Namen nicht genug. Ob sie Frentzen erledigen wird?
—Warum sollte sie? Der Mann ist tüchtig und effizient.
—Es heißt, sie hätten ihn nach der Rückkehr aus Leipzig promoviert, weil er sich sonst in seinem Dorf nicht mehr hätte blicken lassen können.
—Ist das wahr?
—Wer soll das wissen? Es passt zu ihm.
—Und zu diesem Fach. Irgendwo hat jeder ein Dorf, in das er zurückzukehren wünscht.
—Und eine Asche-Aigner, die ihn dorthin zurückschicken möchte, mit Stempel und Autogramm.
—Ich finde, sie hat was. Eine Frau muss sich behaupten können.
Vorhut der Frau*innenklasse
5
Aktion Großer Stern
Bei allen sonstigen Qualitäten ist Annabell Asche-Aigner: eine sensible Frau. Die Aufnahme des Gender-Asterisks (*) in den offiziellen Sprachschatz hat sie schwer getroffen. Fakultäts-Uhu Frentzen vermutet mit hochgezogenen Schultern, der Vorgang habe sie fürs Leben gezeichnet. Einfach aufgenommen und das ganz ohne ihr Zutun: allein der Gedanke daran versetzt sie, sichtbar für alle, die mit ihr zu tun bekommen, in Raserei. Sie hat, via Frentzen, in der hauseigenen IT-Abteilung das Projekt ›Großer Stern‹ losgetreten (Die Säcke sollen mal was tun!) und möchte Ergebnisse auf dem Tisch haben, aber flott. Jeden Büro-Morgen brütet sie über den einlaufenden Entwürfen.
Seit Frentzen ihnen im Nacken sitzt, geht unter den Computerleuten die Erbsche Lähmung um. ›Leistung‹ und ›Kreativität‹ sind Fremdwörter, die ihrer Dienstauffassung gemäß ausgiebig diskutiert gehören, am besten in langen Kaffeepausen. Durchgedrückt verwandeln sie sich in Arbeitshetze und Mobbing. So bedauerlich das auch klingt, es muss erst einmal ausgiebig diskutiert werden, am besten in langen Kaffeepausen. Welchen Kriterien muss ein Großer Stern genügen? Welche Sinnlücke soll er füllen? Bis zu welchem Termin muss das Werk vollendet sein? Diskussionsbedarf über Diskussionsbedarf! Und keiner da, der kompetent Auskunft geben könnte. Asche-Aigner … nun ja, sie schickt ihren Famulus.
Vorhut der Frau*innenklasse
6
Asterisk-Sammlung Asche-Aigner (ungeordnet)
Der Große Stern ist keine kleine Sache. Er soll den Asterisk nicht bloß ersetzen, sondern tunlichst dem kulturellen Vergessen überantworten und mit ihm jeden von diesem Sprachzeichen ausgehenden Kleinheits- und Behelfsgedanken. Der Große Stern muss den Sprung ins Alphabet schaffen. Darum geht es.
BALLADE VOM ZUTUN
Was
ohne dein Zutun geschieht, geschieht
das überhaupt? Jedes Mal
bist du im Spiel.
Nichts geschieht
ohne dein Zutun.
Frage: Wann
geschieht nichts?
Niemals.
Niemals geschieht
nichts. Demnach
geschieht, was geschieht, nach
einem Plan, der
dein Zutun einschließt, jedoch:
Vergiss den Plan!
Kennen
lernst du ihn nie.
Wann ist nie?
Dein Zutun verläuft
planlos, demnach
ohne dein Zutun, per
Zufall. Als sei’s
deiner nicht mächtig. Das sagt
dir jetzt nichts. (Oder alles.)
Sein Zutun sagt
dir jetzt nichts.
Dein Zutun,
zur Rede gestellt,
bekennt: Du bist schuld.
Schämst du dich gar nicht?
Du sagst: Das kommt ganz darauf an,
wie es ankommt.
Du bist schuldig,
also trage die Schuld.
Die nach dem Lob gehen,
werden auch schuld sein.
Die dann gelobt werden,
werden den Pranger erleiden
und von der Bildfläche verschwinden,
der ewig bewegten.
Die bleibenden Namen,
der Nachwelt sind sie
ein Rätsel. So oder so.
Vorhut der Frau*innenklasse
8
Erfolgsfrauen
Petra Gobelin-Trocken, ein Rätsel für Fachfremde, sie ist der Schlüssel, der überall schließt, wo Asche-Aigner draufsteht: Petra schreibt dies, Petra schreibt jenes, Asche-Aigners wütender Widerstand ist ihr gewiss. Petra weiß nicht, wie ihr geschieht, sie besucht Stalking-Kurse und lernt: Wissenschaftliches Stalking ist Wissenschaft. Hier gelten andere Regeln als draußen unter der Sonne der Normalität. Asche-Aigner falsifiziert Gobelin-Trocken, Gobelin-Trocken erhebt sich, schüttelt den Staub des Widerspruchs aus dem Hosenanzug und zieht, als sei nichts geschehen, weiter des Wegs. Gobelin-Trockens Gegenwart widerlegt die röckeliebende Asche-Aigner im Handumdrehen. Verschlungen sind die Wege der Wissenschaft, an den Knotenpunkten laufen sie alle zusammen. Das Geheimnis des Erfolgs heißt wie überall Tempo. Wer vornliegt, liegt richtig.
Gobelin-Trocken: schnell vorneweg. Asche-Aigner: schnell hinterdrein. Zwei Arten zu sein, zwei Arten, unterm Sonnensegel der Theorie … Karriere … zu gestalten. Asche-Aigner, raschen Schrittes die Pyramide, zumindest den ihr zugewiesenen Flügel, durchstreifend: in Wahrheit sucht ihr Blick Petra. Längst hat ihr inneres Auge die Konkurrent*in gesichtet, unstet, abgelenkt wandert das äußere… Ein Schlag mit der Wimper, elektrisch, bringt es zurück.
Vorhut der Frau*innenklasse
9
Wachsam sein
Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte.
Ist das wahr? Ist Gobelin-Trocken frei und Asche-Aigner Knechtin Ruprechta? (Gendersprachlich ein Unding, aber bisweilen fordert das Leben im Elfenbeinturm harte Entscheidungen, darunter auch sprachlicher Art. Wer dann nicht lange fackelt, gewinnt.) Asche-Aigner, die ewige Zweite, sieht das, dem zögernd-entschlossenen Naturell entsprechend, ein wenig anders. Strategisch überblickt sie das Feld der anzugehenden Aufgaben, notiert sich Rezepte, überschlägt den Kalender, wirft einen Blick aus dem Fenster – und wen sieht sie: Gobelin-Trocken, Maulwürf*in sonder Rücksicht, geschäftig dabei, den Vorgarten umzugraben. Eine unendliche Aufgabe, gewiss, für eine wie Petra drei Stufen zu hoch, aber, einmal angegangen, geeignet, den sorgsam erstellten Plan zu durchkreuzen, ließe ihr frau freien Lauf. Das muss unterbunden werden.
Vorhut der Frau*innenklasse
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Aufgeben? Nie!
Was treibt die beiden gegeneinander? Nichts. Alles. Schon die Frage ist falsch gestellt, ein blinder Zeiger an einer türlosen Wand, denn Gobelin-Trocken … sie versteht nicht, was ihr die hartnäckige Verfolgung durch die andere einträgt, oder, falls da in tiefer Vergangenheit ein dunkler, ihr nicht bewusster Tatbestand ruhen sollte, worin er bestehen könnte, sie versteht nicht und will nicht verstehen, sie wittert die Gefahr, in etwas hineingezogen, hineingesogen zu werden, hinab in den finsteren Malstrom, und sie wehrt sich, wehrt mit aller Gewalt… Aber nein, Gewalt, diese Gewalt liegt ihr fern, sie wehrt sich gegen den Malstrom, sie wehrt sich gegen die Gewalt, die sich gegen ihn stemmt, sie wehrt sich passiv, sie begehrt nicht, Teil des Geschehens zu sein, natürlich ist ihr Begehren Teil des Geschehens, niemand lehnt es ab, Teil des Geschehens zu sein, ganz und gar nicht… Was noch?
Vorhut der Frau*innenklasse
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Petra der Fels
Petra Gobelin-Trocken geht zur Psychiaterin. Jede Woche geht sie zu ihr, die beiden verstehen sich gut. Sie geht zur Psychiaterin so, wie sie ansonsten schwimmen ginge, einmal die Woche, gesetzt, diese Körpersache würde sie anmachen. Ein Bad pro Woche macht die Psyche nicht nass. Die kleinen Dinge des Alltags wollen behandelt sein, die großen … nun, sie sind die großen. Gobelin-Trocken schätzt die Ratschläge der professionellen Freundin sehr, vor allem deshalb, weil sie ihren längst gefassten Entschlüssen aufs Tipfelchen gleichen.
Vorhut der Frau*innenklasse
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Dreamtime
Rat Frentzen hat einen Traum. Er hegt und pflegt ihn in den Stunden des Alleinseins. Jeden freien Abend holt er ihn mit sanftem Griff aus dem Käfig, streicht über sein goldenes Fell und schiebt ihn mit einem Klaps wieder zurück ins Gestell. Einmal in Pension, will er ein volles Jahr lang mit der Eisenbahn kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika reisen, auf der fahrplangetriebenen Suche nach Nirgendwo, der kleinen verwahrlosten Station, bei deren Erreichen er mit einem Blick auf die Uhr endlich sein word of wisdom sprechen könnte:
―Vorbei.
O-Ton Argloser: Pfui Teufel! Gut gemacht. Ihr kriegt noch mehr.
Warum Argloser? Die Antwort ist relativ einfach. Argloser war schon immer ein unsicherer Kandidat. Keiner weiß, welcher Zufall ihn in die Pyramide befördert hat: Er war schon immer da. Sobald das Institutsgedächtnis versagt, gilt das geflügelte Wort Das muss vor Argloser gewesen sein. Sein Faible für chaotisch verlaufende Prozesse macht vor dem eigenen Leben nicht Halt. Was hat einer wie er zu verlieren? Nichts. Argloser hat nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren, das hebt sich auf.
Dann und wann
Dann und wann
Dann und wann kommt es jetzt vor, dass Dürrobst keine Luft mehr bekommt. Jedenfalls redet er so. Wozu bedarf ein grau gewordener Panther wie Dürrobst der Luft? Allem Anschein nach präpariert er seine kommende Rolle.
Dasein heißt eine Rolle spielen.
Leicht wird es nicht, ein Publikum dafür zu gewinnen, bereit, die Botschaft weiterzutragen:
―Mehr Luft!
›Pollution‹ (›polljuhschen‹) lautet das Stichwort, gegen das Dürrobst, von gelegentlichen Kabbeleien wie jener mit der geschätzten Kollegin Asche-Aigner einmal abgesehen, in den letzten Kampf geht.
Was zählt schon der Umstand, dass einem Kämpfer die Luft zum Atmen knapp wird, gegen die Furcht der Massen, toxisches Gas zu atmen, wann immer sie Nase und Schnabel aufsperren? Ein Gelehrtenleben hindurch hat das ominöse Wort ihn begleitet, ihm soviel Courage eingeflößt, dass er die bürokratische Vokabel ›Luftschadstoffe‹ mit dem nötigen, stets ein klein wenig Abscheu enthaltenden Anstand in den Mund zu nehmen bereit war, ihn dazu angehalten, es Abend für Abend griffbereit, einer Prothese vergleichbar, auf dem Nachttisch zu deponieren, willens, bei aufgehender Sonne es sich aufs Neue über den zahnlosen Kiefer zu ziehen, und jetzt, jetzt, jetzt… Der neue Feind ist ebenso unsichtbar wie unumgänglich:
Jeder stößt ihn aus – er, Dürrobst, sein neuer, etwas unangenehm wirkender Hausnachbar ebenso wie der jüngste Seychellen-Flüchtling, den sie noch immer den ›Flüchtenden‹ nennen, ganze Kontinente atmender Mitwesen, Christen und Heiden, selbst Buddhas sanfte Jüngerschar, das Leben … ganz recht, das Leben selbst, sofern es ihn nicht einfach – so wunderbar ist das Leben gemischt! – verbraucht. Auf diese Weise vergeht sich jeder am Leben selbst, am Leben überhaupt (wie Leckebusch sagen würde), sofern er seins lebt, nur die Pflanzen, sie machen es richtig und dafür essen wir sie ungerührt auf.
Mehr Luft!
2
Was geht den Pädagogen die Kohlendioxid-Frage an?
Nichts.
Halten wir fest: Die Kompetenz der Pyramide ist unbestreitbar.
Klimaforschung ist Sache der Klimaforscher (betont Friedenwanger mit jenem maliziösen Lächeln, das so gut zu ihm passt).
Die Pyramide ›verfügt‹, wie der Ausdruck lautet, über ein renommiertes Klima-Institut (so redet der renommierende Rektor, dem die Litanei bei jedem Anlass flüssig über die Lippen geht).
Pyramidenleute gehen in der Neumayer-Station ein und aus. NASA, DESA, PISA, das volle Programm. Verschläft die Pyramide, gehen im IPCC die Lichter aus. Mancher Konkurrent gerät da ins Schlucken. Legendär die Kontakte ins Kanzleramt, wo ihre Expertise immer wieder für Turbulenzen sorgt.
Das ist selbstverständlich.
Mehr Luft!
3
Dürrobst hingegen…
Dürrobst schert sich nicht um die projektmittelgetriebenen Filiationen der Klimaforschung. Er hat genug gesehen, um sich seinen persönlichen Reim auf das Zusammenspiel von Erkenntnis und Interesse im semi-öffentlichen Palaverraum zu machen. Dürrobst, pfeifeschmauchend, lauscht auf Obertöne, studiert Karrierewege, liest die Zeitungen und gesteht sich mit leisem Bauchgrimmen ein: Sie haben’s drauf.
Journalisten … dem einen oder anderen traut er durchaus – durchaus, Kollegin A-ehm! – zu, das Spiel zu durchschauen: ansatzweise, sehr ansatzweise. Im Entscheidenden, das strahlt ihm aus fast jeder Seite entgegen, die er am Bildschirm entrollt, sind die Herolde des öffentlichen Bewusstseins Wachs in den manipulativen Händen allzu ehrgeiziger Kollegen, deren politisches Bewusstsein, wie er sich ausdrückt, auf dem Niveau jener zutiefst Sechzehnjährigen festgezurrt ist, die sich nicht so richtig für Politik interessieren, weil sie doch so furchtbar korrupt ist und es einfach nicht bringt, da die Welt, die Menschheit, der Planet, das globale Geschehen Entscheidungen in ganz anderen Größenordnungen verlangten.
Mehr Luft!
4
Think global!
Dürrobst kennt den Wahlspruch. Er folgt ihm, seit er als kleiner Student Seit’ an Seit’ mit den Genossen dem Hörsaal entgegentrottete.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.
Vergraben, vergessen, vorbei.
So ganz kann das nicht stimmen.
Dumpf aus der Erde wandert es mit.
Selbst die Gesichter von damals kommen wieder hoch. Wie sich die Typen doch gleichen. Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Muss wohl das Alter sein.
Hawking heißt der Mann.
―Genug ist nicht genug. Der Mensch ist ein Bewohner des Kosmos. Dahin möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Typische Gelehrtenrede, still und heimlich revidiert, wenn’s an die Fleischtöpfe geht. Forschen ist entweder lukrativ oder zum Hinternabwischen. Darum braucht es Politik, grüne Politik, nicht irgendeine.
―Aber das ist Voluntarismus!
—Das sagt mir jetzt nichts.
Mit manchen Sätzen kann man den Dialektiker in Dürrobst noch immer zur Weißglut bringen.
Er ist ein Roter, die Grünen sind ihm zuwider.
Mehr Luft!
5
Blitzwach wird Dürrobst,
Experte für Massensteuerung durch Massenerregung, sobald es im Medienwald klingelt. Das Klingeln in den Kassen der Konzerne hört er gleich mit. Friedenwanger, den alten Gegner, der ihn von Zeit zu Zeit heimsucht, weil ihm nach dem Abschied von der Lehre kein eigenes Zimmer in der Pyramide bewilligt wurde, zwingt er, das Ohr auf die Tischplatte zu legen:
―Hören Sie’s?
―Alter Freund, was soll ich hören?
―Ich wusste es. Er hört immer noch nichts.
Da müssen sie beide lachen und plaudern über die alten Zeiten und Leckebusch, den Meister des Hörens überhaupt.
—Hätte er mal auf seine Frau gehört.
—Cave!
—Elisabeth ist taff. Die steckt uns alle in den Sack.
Man beachte das ›uns‹.
Mehr Luft!
6
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Aus Feindschaft ist Kumpanei geworden (was sie im Grunde immer schon war). Der Klima-Dissens, mit dem die beiden sich heute die Zeit vertreiben, ist nicht mehr als ein schwaches Säuseln, in dem der frühere Donnerhall mitgehört werden muss. Friedenwanger, trotz des Alters noch immer geschmeidig, hat sein Repertoire dem herrschenden Diskurs angepasst und hält in der Laienwelt gut bezahlte Vorträge darüber, wie der planetarische Mensch peu à peu seine Lebensbedingungen zerstört.
—Wir stoßen hier auf die zentrale Rolle der Klimagase, allen voran natürlich das Ihnen allen geläufige Zeh-O-Zwei, die seit Beginn des industriellen Zeitalters den Planeten kontinuierlich aufheizen. Es ist also nur eine Frage der Zeit – nein, ich beantworte jetzt keine Fragen … sind Physiker anwesend? Warten Sie doch, warten Sie … eine Frage der Zeit –
Einmal hat auch er das Periodensystem der Elemente hersagen können. Eine flüchtige Erinnerung, mehr nicht, gerade jetzt muss sie ihn heimsuchen, da er sich auf die kulturellen Folgen des an die Wand gemalten Debakels konzentriert. Übrigens spürt er den Klimawandel bis in die Knochen. Was er über frühere Winter ›in unseren Breiten‹ zu erzählen weiß, siedelt gleich neben der Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein und wird vom Publikum mit derselben innigen Anteilnahme konsumiert. Mancherorts, so kolportiert man, soll es Tränen gegeben haben. Dürrobst, dem er davon erzählt, schüttelt energisch den Kopf.
―Aber das ist Unfug, Kollege. Der Wandel liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des menschlichen Organismus.
―Das behaupten Sie!
Mehr Luft!
7
Die Schere öffnet sich
Dürrobst ist entsetzt. Er hat sich die Statistiken angesehen und weiß Bescheid. Von Friedenwanger, der mit der Gendersprache kokettiert, auf den Status eines ›Behauptenden‹ zurückgeworfen zu werden, annihiliert seine Wissenschaftler-Existenz. Friedenwanger, so schließt er messerscharf, fällt unter das Gesetz der wachsenden Entfernung, von dessen Gültigkeit er sich Tag für Tag mehr überzeugt: Je weiter sich eine Disziplin von den ›harten‹ Klimafächern entfernt, desto überzeugter geben sich ihre Vertreter von den grundlegenden Annahmen der Klimaforscher, also jener globalen Truppe, die jedem aufkommenden Zweifel an der Welt-Unheilswährung Kohlendioxid mit harten Diskursschlägen entgegentritt. Wobei auch Dürrobst weiß, dass Sich-überzeugt-Geben und Überzeugtsein in der Wissenschaft wie in der Theologie auf verschiedenen Beeten gedeihen. Deshalb ärgert ihn ja Friedenwanger so sehr. Die perfekt sitzende Maske traut er ihm nicht zu und die Naivität nimmt er ihm nicht ab.
―Geben Sie zu, das Ganze erinnert an Galilei: Da steht das Fernrohr. Schauen Sie doch hinein, meine Herren. Schauen Sie einfach hinein.
Friedenwanger scheint der richtige Zeitpunkt für einen Schnitt gekommen zu sein.
―Auf dem Niveau diskutiere ich nicht. Soll ich ehrlich sein? Meiner Auffassung nach – und damit stehe ich weiß Gott in dieser Institution nicht allein – leiden Sie unter einer verzerrten Weltsicht. Vielleicht sollten Sie einmal hören, was die Menschen da draußen über Sie reden.
Mehr Luft!
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Schützt den Atem! Schützt eure Kinder!
Fossil Dürrobst gesteht: mit der Front hat er nicht gerechnet. Sie ist die härteste und er fühlt, er wird den Einsatz nicht überleben. Diesen Krieg hat er weder gewollt noch kann er behaupten, er sei ihm aufgezwungen worden: aus freiem Willen stürzt er sich ins Getümmel, wissend, dass er damit alte Freundschaften pulverisiert und sich im Grunde nur Feindschaften einhandelt, die zu kontrollieren seine Kräfte übersteigt. Eines aber weiß er mit Sicherheit: den Kampf ist er sich schuldig. Wenn er etwas beherrscht, dann das Lesen von Statistiken, von objektiven Verlaufskurven und projektiven Aussagen, es ist sein Ein und Alles, er hat Generationen von Studenten bis aufs Blut damit gequält und denkt nicht daran, der Welt, die es offenbar nötig hat, diese Lektion zu ersparen. Es macht ihm nichts aus, als ›Wir‹ schuldig zu sein, im Gegenteil, die Schuldfrage zieht sich als roter Faden durch seine Lehrbücher, gern würde er in den überdimensionierten Chor derer einstimmen, die ›kein Problem‹ mit der Annahme haben, dass sich der Mensch zum Störfall der Natur entwickelt hat und, jedenfalls auf dem Sektor ungebremster Bedürfnisse, teilentsorgt gehört – kein Problem, aber: beim Atmen hört der Spaß auf. Warum beim Atmen? Weil er ahnt, schmeckt, riecht, wittert, dass hier ein neuer Feind in die Welt gesetzt wurde, dessen hitzköpfige Verfolger vor keiner Verfolgungstat zurückschrecken werden, so wie sie bisher jedesmal bis zum Äußersten gingen, Brudermord, Vater-, Mutter-, Schwestern- und Kindsmord inklusive. Außerdem weiß er natürlich, denn Psychologie gehört zu den Grundvoraussetzungen seines Fachs, dass, wer das Atmen mit Schuldphantasien infiziert, den ganzen Organismus – und damit den Menschen – irreparabel beschädigt. Schuldphantasien aber, das ist jedem Pädagogen aus statistisch geronnener Erfahrung geläufig, treten unausweichlich auf den Plan, sobald der Stoff, den jeder Einzelne mit jedem Atemzug in die Umwelt entlässt, als Umweltgift entlarvt und der Kampf an allen Fronten gegen ihn zur universellen Pflicht erklärt wird. (Er weiß nicht, dass im Hintergrund bereits Studien anlaufen, die das globale Einsparpotential des menschlichen Atemvolumens taxieren, vielleicht würde er es zu diesem Zeitpunkt nicht einmal glauben wollen. Aber er spürt, etwas ist im Busch und dieses Etwas raubt ihm die Ruhe.)
Du verlässt den schützenden Raum der Pyramide und gleich
Wähl’ dir eine kleine Apokalypse! Das wird so schwer doch nicht sein? Die
Auswahl ist überschaubar, jedenfalls auf den ersten Blick…: im planetarischen
Maßstab, drunter geht nichts, verbrannt, verbrüht, gesotten, erfroren,
erschlagen, verhungert, verdurstet, von Parasiten gepeinigt, von Viren
zerstört, von Künstlicher Intelligenz in den Kerkern des Bösen gehalten oder
gleich in den Wahnsinn getrieben, versklavt von Verschwörern, entmannt durch
Verrückte, ausgewrungen durch Superreiche, gekreuzigt durch Sklaven, von Machos
vors Mündungsfeuer ihrer neuesten Waffengenerationen gezerrt, von
Femokriegerinnen – Halt!
stehst du am Laufsteg der Apokalyptiker. Noch bist du Publikum. Aber du spürst, kaum dass du
Platz nahmst, das Zupfen und Reißen in deinen Gliedern. Dort hinauf (oder
hinunter:
the way up and the way down
… das alte Glasperlenspiel!) geht der Weg, dein Weg, willst du nicht am Wegrand verkümmern oder dich im
Gelände der Gleichgültigkeiten verirren. Von der Sorte gibt’s viele. Allein
wärst du daher nicht, im Stich gelassen schon. Von wem? Von dir. Gewiss,
einer wie du kann sich im Stich lassen, aussetzen gleich einem Hund oder einer
Katze, diesen Standardbegleitern des psychischen Elends: dort draußen läufst du
herum, ziel-, richtungslos, mit knurrendem Magen, während hier das Licht erlischt
und die Wände, eine nach der anderen, in Staub und Rauch aufgehen.
(Immer wieder hält der Zug der Gedanken an dieser Stelle. Das macht dich
stutzig, doch nicht allzu sehr. Jetzt nicht!)
Apokalypse
2
Hinweis für Adepten
Hast du dir deine Apokalypse gewählt, so behandle sie pfleglich. Gern zum
Beispiel badet sie lau. Als erstes also ertaste ihre Binnentemperatur und sorge
für die passende Umwelt aus gleichtemperiertem Gedankengut. Sonst wird es nichts
mit ihr und die Qual der Wahl übermannt dich aufs Neue. Achte auf strenge Diät. Auch die fetteste Apokalypse kennt den vergeblichen Hunger nach mehr und neigt
zur Autophagie. Es ist ihr gutes Recht, sich nach dem Anderen ihrer selbst zu
verzehren, und woran hätte sie es, wenn nicht an sich selbst? Die moderne
Apokalypse ist selbstverhütend und wäre sehr überrascht, träte sie einmal ein.
Ihr Wesen –
Ihr Wesen? Woher hätte sie…? Woher wohl?
Das innere Wesen der modernen Apokalypse ist die
Kakophonie, ergänzt und zusammengehalten durch das Mantra der Unentwegten, jenen
Satz immergleicher Behauptungen, an denen man sie von ihresgleichen
unterscheidet.
Eine gute Apokalypse, eine, die in Betracht kommt, verfügt über deren mindestens vier: ein
vorderes und ein hinteres, ferner ein An- und ein Unwesen. Hinzu kommen die
unwesentlichen Differenzen im Inneren, denn jede Apokalypse, so klein sie auch
sein mag, laboriert an ihren inneren Widersprüchen und wäre längst zu Grunde
gegangen, wären ihre Adepten nicht darauf geeicht, auch die gröbsten logischen
Fehlgriffe auszuhalten, solange die gute, sprich: die schlechte, sprich: die
gute Sache davon profitiert.
Apokalypse
3
Die Büchse der Pythia
Nicht unwesentlich
ist es zum Beispiel, Atom-Apokalyptiker von Kohlendioxid-Apokalyptikern
zu unterscheiden. Nicht, weil sie einander nichts zu sagen hätten!
Ganz im Gegenteil. Sie haben einander unendlich viel zu sagen und gern erscheinen sie Arm in Arm. Die Bereitschaft des Publikums allerdings, dieser wankelmütigen Primadonna, ihnen Gefolgschaft zu leisten, sinkt mit der Dauer des
traulichen Kompetenz-Tête-à-Tête:
―Schon gut, die Katastrophe ist gebucht. Jetzt zu etwas anderem.
Gleich neben den Nah-Apokalyptikern des Artensterbens finden sich die
in Jahrtausenden rechnenden Liebhaber finaler Supervulkanausbrüche
und Meteroriteneinschläge, die gespannt darauf lauern, den
entscheidenden Moment der ›Extinction‹ noch in eigener Person erleben zu dürfen. Apokalyptikern
des kommenden Bankencrashs, die das Ende des Währungssystems und des
Wirtschaftssystems und überhaupt der Welt, wie wir sie kennen,
im Portfolio haben, fällt das nicht sonderlich schwer. Sie rechnen fest mit
dem nächsten Jahr und buchen nur rasch um, wenn es wieder vorbeiging
und die Welt noch steht. Was, alles in allem, nicht schlecht ist.
Denn der nächste Symposiums-Auftritt steht bereits
und der private Terminkalender erstreckt sich weiter, als der globale
Erwartungshorizont es erlaubt. Überhaupt erstaunt bei den Matadoren
der Schwarzmalerei die enge Verbindung von Welt-Unheilserwartung und
solider Lebensplanung. Das ändert sich, betritt man die Gefilde der
Alltagsapokalyptiker, denen ein Kind, ein Mann, eine Frau, ein Job
oder Nichtjob genügt, um die Welt Kopf stehen zu lassen, als hätten
die Dämonen nur auf ein Stückchen Nähe gewartet, um
hervorzubrechen: dies aber mit einer als ›elementar‹ erlebten Wut
und Wucht, dass das Ende deiner und meiner Welt, auf
die sich am Ende alles reduziert, nur eine Frage der nächsten Zeit
ist, denn wir sind zu erschöpft, uns dagegen zu wehren.
Apokalypse
4
Fazit
Apokalypsen sind Primadonnen. Sie stehlen einander die Schau. Wer sich erst
an eine verliert, gewahrt die Konkurrenz wie durch einen Schleier. In der Regel
bestreitet niemand, dass es sie gibt und dass sie ernst genommen zu werden
verdienen. Aber leidenschaftliche Aufmerksamkeit kann man nun einmal nicht
teilen und gern überlässt man sie daher Leuten, die andere Reizmittel
benötigen, um sich zu echauffieren. Dennoch … dennoch haben sie – die
Apokalypsen wie ihre Liebhaber – einander im Blick, teils aus banaler
Eifersucht, teils aus dem einfachen Grund, dass sie, da auf Erregungen fußend,
psychischen Druck aufbauen und daher Linien gleichen Drucks erzeugen, an denen
sich die Erregungszustände einer Gesellschaft ablesen lassen: Isobaren des
Allgemeinbefindens, deren einsam scheinende Gipfel sicht- und fühlbar
miteinander korrespondieren. Nicht selten findet die Korrespondenz in der
Öffentlichkeit statt, wenn kämpferisch veranlagte Adepten die Aufmerksamkeit
des Publikums von einer Gipfelschönheit zu nächsten zerren, als warte erst dort
das Glück der tiefen Einsicht in das, was uns allen bevorsteht. Was ebenso
richtig wie falsch ist, denn am Ende wird die Geschichte sich für einen Ausgang
entscheiden müssen, wenngleich der Verdacht im Raum steht, dass sie, wie bei
früheren Gelegenheiten, just den Hinterausgang wählen wird, mit dem keiner
gerechnet hat. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
Apokalypse
5
Postscriptum
Die Frage: »Was trage ich, wenn der Zeitpunkt da ist?« bewegt
insgeheim mehr Gemüter, als das Pokerface der Gesellschaft erkennen
lässt. Vor der Apokalypse sind alle nackt. Zumindest empfinden die Menschen es
so. Nicht im Moment des Verschlungenwerdens wird Nacktheit zum Problem.
Ausschlaggebend sind die Momente davor.
Kleiderfragen I
Die Selbstbewahrung ›im Angesicht des Grauens‹ bis hin zum
persönlichen Kippppppunkt ist ein Bekleidungsproblem: die
richtigen Sachen, richtig getragen, sie tragen auch ein Stück weit
durch die Apokalypse. Gewiss machen sie den Einzelmenschen nicht
feuerfest. Aber letztlich lassen sie ihn so erscheinen. Für diese Differenz
gibt er sein letztes Hemd, will sagen, den letzten Funken Verstand. Er
gibt ihn nicht weg, er gibt ihn dran – als bohrendes Kreisen um den
Exzess, der wir sind: »Wie begegne ich dem, was allen
bevorsteht, aber mir in besonderer Weise?«
Diese besondere Weise: was, bitteschön, wäre sie anderes als
Bewährung? Offenkundig besteht das Paradox der Bewährung, dieser
Bewährung darin, dass sie nicht mit Bewahrung einhergeht,
stattdessen mit einer zur Idée fixe eingefrorenen Illusion der
Bewahrung – oder der Widerständigkeit –: zerplatzen wird
sie, so die irre Hoffnung, eine Sekunde (sprich: eine
Ewigkeit) später als all die Seifenblasen, in denen, deinem
untrüglichen Glauben-zu-wissen nach, die unbedarft-schuldige Mitwelt
dahintreibt.
Kleiderfragen II
Outdoor-Klamotten, wie du sie schätzt, sie schützen nicht
wirklich. Die simple Wahrheit (dir sehr bewusst): sie sind Stoff vom Stoff jener
›Kluft des Vergehens‹, die, wenn’s drauf ankommt, auf deiner Haut brennt wie das sprichwörtliche
Nessusgewand. Sie geben die Illusion des Schutzes, an die du dich klammerst wie
je ein Wesen, das nicht vergehen will.
Eher möchtest du die Welt in den Abgrund reißen als sie dich.
Gestern noch las ich ›Zukunftsleugner‹ und setzte mich
vorsichtig in die Vergangenheit ab: Fehlanzeige.
Vergangenheitsleugner gibt es zuhauf, sie kommen aus keiner Gegenwart
mehr heraus, sie ist ihnen angewachsen, ein zweites Paar Ohren, sie
hören auf nichts anderes.
Stutenkeil ist nicht dumm. Hat seine Macken (›Weiber‹!), aber: beherrscht das Alphabet aus dem Effeff (in aller Vorsicht sei es gesagt).
Frenetische Begriffe
2
Schmalz & Sulz. Trägerraketen des Absoluten
Am Mensatisch geht Bedrückung um.
―Nein, fabuliert Weißäcker, fahl im Gesicht, die sparsame Sonne hat
ihre Bräunungskraft noch nicht entfaltet, wir wissen nicht, was wir
tun, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir wissen nicht, warum wir
sind, wie wir sind. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere
Hälfte der Wahrheit, die keiner kennt, weil sie, im Ganzen
betrachtet, dem Denken nicht zugänglich ist, liegt nun einmal darin,
dass wir ziemlich genau wissen, was wir tun, dass wir sehr genau
wissen, was uns zu tun bleibt, bevor es mit uns zu Ende geht, und
dass wir viel darüber wissen, warum wir, als biologische Wesen
betrachtet, so sind, wie wir sind. Die Evolution beherrscht uns bis
aufs i-Tipfelchen im Alphabet und wir, wir … beherrschen das
Alphabet der Evolution, zwar nicht in alle Feinheiten hinein, da
bleibt noch eine hübsche Summe Forschung zu leisten, aber im Prinzip
haben wir den Bauplan der Natur entziffert. Da gibt es gar keinen
Zweifel. Trotzdem frage ich mich an Tagen wie heute: Woher weiß
letztendlich die DNA das alles?
Im Zweifel gibt es gar keinen Zweifel. Nach diesem Grundsatz
verfahren alle – Weißäcker, Argloser, Gaggauer, Werferich, Nassen
– und legen die bekannte Verdauungsminute post mensam ein.
―Kollege Weißäcker, krächzt Argloser, will uns damit sagen: Dienst ist
Dienst und Schnaps ist Schnaps. Jetzt haben wir Schnaps. Das letzte Alphabet,
das ich entziffert habe, war das meiner Tochter und es sah ziemlich grauslig
aus. Ich bezweifle, dass eine Generation, der schon der Spracherwerb
missrät, weil die Erzieher ideologische Flausen im Kopf haben, wissen wird,
was zu tun bleibt. Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht.
―Rein sprachlich betrachtet, sagt Weißäcker, der große Blonde, bezeichnet der Ausdruck ›wissen, was zu tun bleibt‹ keinerlei Wissen. Er besagt nur, dass ich in der
Pflicht bin. Wenn ich zu einem Abhängigen sage: ›Du weißt, was zu
tun ist‹, dann verlange ich von ihm, dass er das Verlangte tut, und
wünsche gerade nicht, dass er sich darüber seine eigenen Gedanken
macht. Ich könnte ihm genauso gut sagen: ›Mach dir darüber mal
keine Gedanken, das geht schon in Ordnung‹. Ich weiß: sobald er
anfängt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, geht die Sache
schief. Vielleicht springt er auch ab, weil er plötzlich in einen
Abgrund starrt. Das wäre, je nach Auftrag und Konstitution, gut
möglich. Was werde ich sagen, wenn es schiefging? Ich werde ihn
fragen: »Wo waren deine Gedanken? Was hast du dir dabei gedacht?
Hättest du getan, was ich dir gesagt habe, dann wäre das nicht
passiert!«
Werferich kommt zur Sache.
―Ich finde die ganze Unterscheidung sophistisch. Die Regeln sind in unsere Körper eingeschrieben und verlangen von jedem von uns,
gelebt zu werden. Ich kann mich dagegen sperren, damit sperre ich
mich praktisch vom Leben aus und stürze mich und meine Umgebung ins
Unglück. Aber wenn das so ist, weiß ich dann nicht, was zu tun ist?
Wie kann das sein? Wie kann es mir passieren, dass ich etwas nicht
weiß, was mein Körper doch weiß? Mein Körper weiß mehr als ich,
gut, das kann ich, rein grammatikalisch, so in den Raum stellen, aber
wäre ich nicht einmal mein Körper, dann wäre ich nichts weiter als
ein Häuflein Unglück und, ehrlich gesagt, so fühle ich mich ganz
und gar nicht.
Weißäcker schaltet sein gewinnendes Lächeln ein.
―Da möchte ich in aller Form widersprechen, Frau Kollegin. Die Regeln, die Regeln … entschuldige, die Regeln geben wir uns selbst, uns selbst als Gruppe betrachtet. Die Sozialwissenschaften haben sich definitiv vom Individuum verabschiedet. Das scheint so zu sein. Ob es klug ist? Was ist schon klug? Weißt du, was klug ist? Du bist eine Frau, du solltest es wissen. Okay, ich nehm’s zurück. Neinneinnein, so geht das nicht. Okay, nehmen wir das Individuum. Das Individuum meldet sich im System als Störfall. Falls es sich meldet, andernfalls ist es tot. Zu den Akten! Für den Umgang mit Störfällen aber
… – Sie verwirren mich, wenn Sie mich so unvermittelt fixieren, stimmt
etwas nicht mit meiner Frisur? Für diesen Umgang existieren klare
Anweisungen. Wo nicht, sollten sie schleunigst erlassen
werden. Und was den berühmten Körper angeht, so machen gewisse Leute eindeutig zu viel Aufhebens davon. Okay, mein Körper leistet mir im Alltag ganz gute Dienste, ich will nicht klagen, toitoitoi. Eigentlich will ich ihn gar nicht missen. Es sei denn, ich bekäme ein definitiv
besseres Angebot. Dann müsste ich natürlich umdenken. Dann wäre es eben nicht dieser, sondern ein anderer und ich müsste mit dem
zurechtkommen. Was ich sagen will: die Regeln des Sozialen gelten absolut. Jedenfalls in den Grenzen der Empirie und darüber reden wir hier doch. Hättest du, nur als Beispiel genommen, drei
Arme (was die Evolution glücklicherweise verhütet hat), dann brächte
dir das in bestimmten Situationen, in denen es aufs simultane Greifen
ankommt, einen technischen und in der Folge einen sozialen Vorteil, der
sich wiederum in anderer Hinsicht, etwa bei den Heiratschancen, als
Nachteil erweisen dürfte. Was ich sagen will, es gibt körperliche
Vorteile, die sich evolutionär durchsetzen, weil sie neue
Aktionsmöglichkeiten eröffnen, und es gibt andere, die von den Nachteilen
aufgewogen werden und deshalb im Prozess bloß mitschwimmen und
irgendwann wieder verschwinden. Entscheidend ist in jedem Fall der
Gebrauch. Ja? Bin ich über die Zeit? Oh.
―Ich sinniere, frotzelt Elisabeth vom Nachbartisch herüber, wann ich den letzten Dreiarmer gesichtet habe. Das muss auf hoher See gewesen sein, im Vollrausch, nehme ich an, es
soll grausam einsam da draußen zugehen können. Das mit dem Individuum kaufe ich Ihnen nicht ab. Man kann eine Sache
gut weglassen, wenn man sich ihrer sicher ist. Seien Sie sich mal
nicht so sicher in Ihrer Kollektivhaut. Das Fell des Löwen wird erst
am Ende verteilt. Das Individuum ist in diesem Fall der Löwe und er
brüllt immer noch so, dass die Steppe von ihm widerhallt. Auch die
von uns allen so geliebte Sozialwissenschaft kommt nicht vom
Individuum los. Na und? Ist das ein Unglück? Wir sollten das Feld
nicht völlig den Rechten überlassen. Sie halten das Individuum für
ein Glied in einer Kette, das bleibt Ihnen natürlich unbenommen. Ich
behaupte: nicht einen Augenblick könnte die Kette existieren,
stünden nicht all diese Individuen, eines wie das andere, für sie
ein. Kommt dann ein einziger – es muss natürlich der Richtige sein – auf die Idee zu sagen, he Leute, geht nach Hause, hier gibt es nichts mehr zu holen, dann löst sich im Nu die ganze schöne Kette auf und
hastunichtkannstunicht ist sie verschwunden. Einfach verschwunden.
―Die evolutionäre Kette verschwindet nicht einfach, bloß weil
einige Leute beschließen, sie nicht sehen zu wollen.
―Das ist Theorie, Kollege. Dafür sind wir zuständig. Schon vergessen?
Wenn wir für einen Augenblick unsere Hausaufgaben vergessen, wo
bleibt sie dann, die Theorie?
―Madame, du bist ein Ekel. Aber gut. Gehen wir wieder an die Arbeit.
Bei Weißäckers Worten ›Du bist eine Frau, du solltest es wissen‹ ist Werferich leicht zurückgeprallt, affektiert befremdete Blicke à la ›Hört das denn nie auf?‹ in den Raum werfend, aufgefangen und sorgsam apportiert vom Bibliotheksverweser Gaggauer, der damit einen seiner kleinen Triumphe über die Professorenwelt feiert, bevor er wieder in seine Unterwelt abtaucht.
Frenetische Begriffe
3
Kollege Agosch muss eine Vorlesung halten und klärt seine Gedanken am Schreibtisch:
Wie kann einer solchen Unsinn lehren? Ist ihm die
Schamröte ausgegangen? Wie kommt er dazu…? Auf dem einfachsten aller Wege:
blinde Nachahmung. Es sind überhaupt nicht seine Gedanken. Es sind die anonym
gewordenen Gedanken anderer, die irgendwann einmal erdacht wurden und den Weg in
eine gierige Öffentlichkeit gefunden haben, an deren Zuckungen einer wie Agosch
sich ohne weiteres anschließt, weil diese Hörigkeit ihm – Arbeit und Konsum
ermöglicht.
Wenn der Mensch von Natur aus böse ist, was ist dann die Natur?
Böse? Mitnichten. Warum sollte der Mensch dann böse sein? Ganz
einfach: weil er contra naturam lebt. Warum tut er das? Weil
er einen falschen Begriff von sich besitzt. Welcher Begriff wäre
das? Nun, der Mensch … der Mensch … warum verwirrst du mich? Der
Mensch ist ein Abstractum, das in der Natur so nicht vorkommt – ein
Konstrukt, das jederzeit dekonstruiert werden kann. Genau
deshalb muss es dekonstruiert werden und zwar, solange noch Zeit dazu bleibt.
Denn die Zeit läuft uns davon. Wohin führt sie? Ins Verderben. Der
Mensch hat ein Stadium der Naturbeherrschung erlangt, das es ihm
erlaubt, sie und sich mit einem Schlag auszulöschen. Nicht die ganze
Natur, bewahre, aber exakt den Teil von ihr, der sein biologisches
Vorkommen ermöglicht. ›Ermöglichen‹ ist ein wundervolles Wort,
es ersetzt ganze Bibliotheken frommer Literatur, soweit sie auf
Ergebung hinausläuft. Da kann einer ganz naiv fragen: Warum tut er’s
dann nicht? Warum hat er’s bisher nicht getan? Aus Verantwortung?
Ein plausibler Grund ist das nicht. Auf einen Menschen, der imstande
und willens ist, Verantwortung zu tragen, kommen, bloß der
Größenordnung nach, hundert Unverantwortliche. Warum hat’s dann
keiner aus dieser Riege getan? Warum haben sie’s bislang
nicht getan? Die Antwort, sturznüchtern, lautet: Sie haben einen Weg
gefunden, es trotzdem zu tun, den Weg der tausend Schritte, der mit
tödlicher Sicherheit dorthin führt, wohin der rote Knopf uns alle
mit einem Schlag befördern würde: die Vernichtung der Biosphäre
durch Arbeit & Konsum.
Der Weg der tausend Schritte, wie ich ihn hier definiere, der Weg
des Weiter-so, ist keiner, der neben der normalen Tätigkeit von
Millionen Menschen herläuft, sondern diese Tätigkeit selbst. Das muss
begriffen werden. Es ist der Weg des sich selbst konstruierenden
Wesens, genannt der Mensch. Wie gesagt, dieses Wesen ist kein
Naturprodukt, sondern das Produkt einer Entscheidung: man muss Mensch
sein wollen, um es zu sein. Um Mensch sein wollen zu können, muss –
irgendwann im Neolithikum – ein Anonymus die Unterscheidung Mensch /
Nichtmensch in die Natur eingeführt und damit die Spur gelegt haben,
die auf vielfach gewundenen Pfaden direkt zu unserer heutigen
Existenzform führt. Ein kluger Kopf zweifellos, aber
ein Verhängnis nichtsdestotrotz: denn der Mensch existiert bloß als Natur,
ergo überhaupt nicht, legt man einmal den Begriff zugrunde, den er von
sich gemacht hat. Praktisch hat er sich mit diesem Schritt aus der
Natur herausgezaubert.
Hier liegt der Hase im Pfeffer. Das absurde Wort von den Fakten,
die keinen Widerspruch dulden, ist aus einer korrupten
Naturwissenschaft in die Politik entlaufen und von dort auf die
heikleren Bezirke der Wissenschaften übergesprungen, die man
Verständigungswissenschaften nennen könnte, weil sie aus dem
menschlichen Wunsch nach Selbstverständigung hervorgegangen sind –
›auf vielfach gewundenen Pfaden‹, wie Kollege Agosch süffisant
anmerken würde. Ein Massenphänomen. Die moderne Masse ist
Biomasse. Das Wissen vom Menschen ist ihr – ›naturgemäß‹
– Satan.
Lange Zeit hat sie das hingenommen, wenngleich
bockig (merke: in der Antike wurden riesige Landmassen durch
ungebremste Nutzung verwüstet, andernorts verschwanden Kulturen, siehe Osterinsel,
selbstverschuldet von der Erdoberfläche, weil sie leichtfertig
einen unersetzlichen Lebensstoff verprasst hatten). Im Großen und Ganzen hat sie ihrem
heiklen Produkt Schonzeit gegeben. Diese Schonzeit ist
abgelaufen. Im gleichen Moment, in dem der Mensch die
Biosphäre begreift, ist seine Schonzeit ein für allemal abgelaufen. Die
Entdeckung der Biosphäre und die Nötigung zur Dekonstruktion des
Menschen sind eins. Der moderne Mensch kann dieser Nötigung scheinbar
beliebig lange widerstehen. Aber der Schein trügt, die Uhr tickt:
Ressourcenvergeudung, Artenvernichtung und Klimawandel, sie alle
sprechen deutlich zu uns, sie sprechen eine nicht-subjektive Sprache,
die jeder verstehen kann, der verstehen will, und sie dulden keinen
Widerspruch.
Agosch liegt im Trend. Guter Mann.
Frenetische Begriffe
4
Was will dieser Agosch?
Die Menschheit abschaffen? Reinen Tisch machen? Uns alle umbringen? Mitnichten. Er
will brillieren. Womit brilliert ein Manneken Pis1) der Theorie? Durch
Radikalismus. Keinen Radikalismus der Tat, das wäre ja …
kontraproduktiv und nicht mit dem angegriffenen Herzen vereinbar,
nein, durch radikales Denken. Worin besteht radikales Denken?
Es besteht in einer fixen Idee und dem unbedingten Impuls, sämtliche
theoretisch erfassbaren Sachverhalte an ihr aufzuhängen, ganz recht,
aufzuhängen, so wie man Wäsche aufhängt, zum Trocknen
beispielsweise oder für den Verkauf. Worin besteht nun der spezielle
Radikalismus unseres allseits geschätzten, ungemein umgänglichen
Agosch? Er will den Menschen auslöschen. Warum? Er hält ihn
für ein überholtes Konzept, das nur Unheil über das
Etwas-das-wir-sind gebracht hat.
LÖSCHE DEN MENSCHEN AUS UND ALLE SIND FREI
Das sagt er nicht so geradeheraus, er ist schließlich kein Dummkopf. Aber der Satz fasst zusammen, was Agosch seinen Studenten beizubringen versucht.
1 Stellen wir dem Mann der
Theorie die Frau der Theorie an die Seite. Wodurch brilliert
sie? Durch Radikalismus? Das auch, aber er ist nur einer der Vorhänge,
die sie niedergehen lässt: »Kratze am Menschen und du findest den Mann.« Und da eine wichtige
Instanz oberhalb des theoretischen Sinns ihr mitteilt, dass letzterer, bei
aller ihm eignenden Negativität, auch in Zukunft noch zu gebrauchen sein wird,
folgt die feministische ›Dekonstruktion‹, wann immer sie frei bekommt,
dem vertrauten Muster der üblen Nachrede, des Schmäh, der den Gegen-Schmäh auf den
Plan ruft, wobei dieser sich, uralter Geschlechtergewohnheit folgend, mehr hinter der Hand räuspert …
schließlich läuft niemand gern ins offene Messer, einmal abgesehen
von einer gewissen, niemals aussterbenden Spezies von Frauenanbetern.
Frenetische Begriffe
5
Wie vollzieht sich die Auslöschung des Menschen?
Durch den Strang? Keineswegs. Die Auslöschung des Menschen vollzieht sich, Agosch zufolge,
durch Arbeit, genauer: durch die Tendenz tausender kleiner und großer Initiativen – das langsame stete Bohren dicker Bretter (Agoschs Lieblingsausdruck, sobald er über seine berufliche
Tätigkeit sinniert und von seinen Schülern verlangt, es ihm gleich
zu tun). Nie kommt ihm in den Sinn, damit könne ebenso gut das Brett
vorm Kopf gemeint sein, das jede Nacht wieder nachwächst. Natürlich
riechen die Studenten den Braten. Entsprechend abwartend verhalten sie sich. Währenddessen überträgt
der unbewusste Lehr- und Lernmechanismus säuberlich alle Phrasen
in die Merkhefte, die das Gehirn vorsorglich für sie angelegt hat.
Agosch (wie hunderte Kollegen neben ihm) entpuppt sich, was die Lehre angeht,
als Schleicher: seine Gedanken, radikal gedachte
Allerweltsgedanken, schleichen sich über das
Lehrer-Schüler-Verhältnis in die Umwelt ein und entfalten dort, als
Gedankenstummel, abrufbar über Reizvokabeln, Wirkung. ›Auslöschung‹,
gerade noch das Entsetzen der Welt, ist, Agosch und seinen Freunden sei Dank, wieder positiv konnotiert und
sucht ihre Opfer. Und da ›der Mensch‹ ein Passepartout für
praktisch beliebige Inhalte ist, sollte sich niemand sicher sein,
dass nicht gerade er irgendwann dran sein wird, auch wenn seine Phantasie das heute nicht hergibt. Dekonstruktion zeugt Dekonstruktion. Darin besteht schließlich ihre Produktivität.2)
2 ›Dekonstruktion‹: Fähigkeit des theoretischen Menschen, mit dem Hintern abzuräumen, was andere vor ihm mit Gedankenhänden erbauten. Auch das erfordert Statur.
Frenetische Begriffe
6
Ist Frenetismus eine Denkrichtung?
Njet. Eher die Summe aller
Denkrichtungen, soweit sie dem Irrtum erliegen, man könne dem Denken
eine Richtung vorschreiben: das Gegenteil ist der Fall. Wäre das eine
Richtung? Die Richtung aufs Gegenteil? Das wäre doch … das wäre doch …
geh, such nach den passenden Worten. Alles ist besser als diese
furchtbare Gewissheit, der die Wörter zuströmen, als hätten sie nur auf
den Moment gewartet, um aus den finsteren Verliesen ziviler
Zurückhaltung auszubrechen, eine disziplinlose Horde, die, nachdem
sie, einmal in Freiheit, sich ausgetobt hat und der Anfall in den
obligaten Katzenjammer der Kritik am Bestehenden, wie es nun einmal
besteht, überging, sich mit ihren Advokaten kurzschließt, Schlaumeiern à la
Agosch, gewohnt, jedem das Wort im Munde umzudrehen, der sich jenem
Feuerring nähert, den sie um sich und ihre Mandanten, lauter
patentierte Rührmichnichtan-Gestalten in ihren safer spaces und
Überzeugungsblasen, gezogen haben, warum auch immer –
Frenetische Begriffe
7
Denn hier, hier enden die Argumente und die Auszeit des Denkens
beginnt. Die Klettergerüste der leeren Reflexion glänzen, nass vom
letzten Regenguss, in der Sonne, deren Kraft, wie man hört, ohne
darüber Gewissheit zu erlangen, täglich zunimmt, aber vorerst nicht
ausreicht, um Wärme für alle zu spenden, der Sonne des Ungeistes (denn
eine in Bedrängnis geratene Zivilisation ruft ihre ältesten Bilder
auf), gleißend in Nebeln verschwimmend, deren sonderbare
Reinheit, kontaminiert mit allem Schmutz dieser verrotteten Welt, die
Geburt einer neuen ankündigt, in der sich endlich leben lässt.
Eine eliminatorische Geburt – denn darauf läuft es hinaus –: was sollte ihr Zweck sein, wenn nicht der tausendste Anlauf zur Eliminierung des Sohnes, seiner ›finalen‹ Herausnahme aus dem
Schöpfungsplan, den man sich zurechtgelegt hat, seit man aus dem Vollen
zu schöpfen begann… Denn hier, im Aus-dem-Vollen-Schöpfen, liegt das
Betriebsgeheimnis der im Überfluss der Gedanken und ihrer
ökonomisierten Realgestalt aufgewachsenen Agoschs, Nassens, Weißäckers,
Gaggauers, Werferichs. Sie schöpfen, um zu leeren, aus keinem anderen
Grund, und sie vertrauen darauf, dass diese vornehme Tätigkeit niemals
endet, jedenfalls nicht vor dem Ablauf ihrer akademischen Tage, also nicht vorm Ende der Welt, denn darüber hinaus zu denken, das wäre … schon Frevel.
Was sonst?
Der Schein des Unfriedens gebiert den Unfrieden des Scheins
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
1
Die neue Rektorin verändert alles. Du meinst sie zu kennen – früher, in einem anderen Leben, habt ihr Seite an Seite … gelebt. Was dein Urteilsvernögen angeht, so glaubst du dich auf der sicheren Seite. Dennoch fühlst du schwankenden Boden unter den Füßen. Ein Zwang, der tiefer geht als alle Vernunft, lässt dein Urteil … tanzen, so sagt man … ein Kork auf den Wellen … so sagt man doch. Woher kommt so ein Bild, passend, wie gegriffen, ganz recht, gegriffen zur rechten Zeit, doch nicht du bist der Greifende. Dieses Bild greift nach dir, es greift … auf dich über, ja gewiss, so kann man es sagen. Manche Bilder graben Stollen im Untergrund, sie haben einen langen Weg hinter sich und plötzlich schütteln sie dich. Warum plötzlich? Was daran ist das Plötzliche? Was ist das … Plötzliche? Das Plötzliche ist das Unbeherrschte. Wirkt sie unbeherrscht? Keineswegs. Bist du’s? Woher dieser Gedanke? Du musst all deine Beherrschung zusammennehmen, das ist richtig, jedenfalls zu gewissen Zeiten, in gewissen Momenten, das ist wahr, aber ebenso wahr ist, dass es dir keine Mühe macht, es ist dir unwillkürlich dich zu beherrschen, das Unwillkürliche, so scheint es, nimmt im Quadrat der Herausforderung zu.
Falls du noch keine Medikamente genommen hast: jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt.
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
2
Diese Person zwingt dich zur Selbstbeherrschung. Ist das gut, ist das schlecht? Es ist, wie so vieles, gegeben, nichts weiter, ein Stück Existenz, mit dem du rechnen musst, um es zu gestalten, glücklicherweise stehen im Alltag nicht viele Begegnungen an. Eigentlich gleitet sie an dir vorbei, als existiertest du nicht. Mach dir nichts vor, es liegt nicht an dir. Sie ist aufmerksam, äußerst aufmerksam, so sehr, dass nichts und niemand ihrem Blick zu entgehen scheint, aber: auf selbstbezügliche Weise. Das ist es. Sie ist ganz und gar selbstbezüglich, selbstreferenziell, etwas fehlt ihr, ja sicher. Sie nimmt nicht teil. Stimmt das? Nein. Wenn sie teilnimmt, dann an allem und nichts. Aber wenn das so ist, ist sie dann nicht … die ideale Vorgesetzte? Rohrwasser scheint so zu denken, die ganze Gilde der jungen Kollegen, Nassen liegt ihr zu Füßen, er verehrt sie abgöttisch. Jedenfalls scheint es so oder er hat sich in die Ergebenheitsfalle gestürzt. Der freie Mann, der er eben noch war, hat sich aufgelöst, er ist verschwunden, keiner weiß zu sagen wohin. Heute ist er ein Paladin. Was ist ein Paladin? Ein Wächter ihrer Magnifizenz, ihrer Majestät, um die erste der von ihr vollzogenen Konversionen zu benennen: Magnifizenz zu Majestät – diese Person beherrscht die Zauberformeln wie einst Harry Potter, ihr literarischer Liebling, und zögert keine Sekunde, sie zu gebrauchen. Fehlt nur der Schlag mit dem Fächer. Aber den braucht sie nicht. Er wäre zu … direkt.
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
3
Sei nicht dürftig. So ein Fisch, aus dem Wasser gezogen, zum Vermessen aufgehängt, scheinbar aufgehängt an einer imaginären Waage, doch wenn man genauer hinschaut, kommt der Faden, an dem er hängt, aus einer Region jenseits des Bildraums herunter, also aus einer im Wortsinn unermesslichen Höhe. Er verschwindet im Maul des Fisches, als sei er schon immer darin verschwunden. Die Waage … was an diesem Gerät wäre geeignet, eine Fast-Person wie diesen Fisch – einen Stör vielleicht – zu wiegen? Was wird da gewogen? Zu leicht befunden? Aber vielleicht handelt es sich um keine Waage? Wo nichts gewogen wird, da ist eine Waage überflüssig, ja fehl am Platze. Diese hier … ein schlankes stählernes Instrument mit dem Charme einer Schublehre, dem Fisch zur Seite gestellt, als gehe es darum, das volle Maß seiner Unvermessenheit anzuzeigen, wirkt überzeugender als jede denkbare Funktion. Ihre Pleuel und Zahnräder, ihre Transmissionsriemen und Ausgleichsgewichte, ihre Kurbeln, Gelenke, Bügel und Muffen scheinen geheime Aufträge auszuführen, deren gemeinsamer Horizont im Geheimnisvollen verdämmert. Tatsächlich, als hätte der Künstler dergleichen geahnt und in einem Anfall von Besorgnis für den Fall, surrealer Machinationen verdächtigt zu werden, Vorsorge getroffen, lässt er den Faden, den feinen Fischfaden, auf dieser Seite des Bildes aus seinem Jenseits zurückkommen und, straff gespannt, auf eine Spule treffen, eine aus der Klasse der Spindelartigen, die suggeriert, hier werde irgendetwas gemessen, Druck oder Zug, wer weiß das schon genau. Vielleicht wäre es richtig zu sagen, hier werde Gewicht gesponnen, doch auch dieser Gedanke verläuft sich im Ungefähren. Schade, der Künstler hatte den Wurf gewissermaßen in der Hand und zerstört ihn durch Kleinlichkeit. Und siehe, gerade dadurch hält er der Gesellschaft den Spiegel vor, den guten alten Spiegel, in den keiner hineinschauen mag, weil alle wissen, was sie darin erwartet.
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
4
Die Vermessung des Mannes geschieht im Morgengrauen. Wenn der Tag beginnt, gilt jede seiner Handlungen als vermessen, das heißt, sie gilt nicht, denn Geltung, männliche Geltung, bedarf des freien Horizonts und dieser hier bleibt verhangen. Kein Frauengericht trat zusammen, um die Entmachtung des Mannes zu verfügen. Allenfalls tagt es in Permanenz und die Vielzahl an Urteilen, die aus seinen Verhandlungen den Weg in die Öffentlichkeit finden, lässt keine rechtlich gesicherte Vollstreckung zu. Andererseits tagt es, wie einst das Reichskammergericht zu Wetzlar, bereits zu lange, als dass sein Urteil ergebenst erwartet würde, geschweige denn mit Spannung, weshalb alle denkbaren Urteile im Volk kursieren, als seien sie bereits wirklich erlassen und eine feste Basis für alles Kommende. In Wahrheit herrscht Faustrecht im Lande, das Recht des Stärkeren, und stärker ist, wer sich ins Fäustchen lacht, während die Schwachen sich prügeln.
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
5
Fühlst du dich vermessen?
Das Gefühl der Vermessenheit (oder des Vermessenseins) gleicht dem Faden, nicht dem seidenen, der allzu leicht reißt, nicht der Seidenschnur, die chinesische Herrscher einst ihren in Ungnade gefallenen Lieblingen sandten, vielmehr jenem von ungefähr durch einen sinnreich im Kiemen verankerten Haken gestrafften, in einer nicht einzusehenden Höhe verschwindenden Faden der Fischerin Minerva, la grande Déesse, die außerhalb des Bildwerkes ihr Werk verrichtet. So ist es: Sie verrichtet ihr Werk. Inwieweit es ihr Werk ist, darüber gehen die Ansichten auseinander, weit auseinander, ohne den Hauch einer Chance, im heiteren Rätselraten wieder zusammenzukommen. Denn diese Diskussion darf nicht geführt werden, sie wäre – Ohren zu! – sexistisch. Dann wäre auch die Vermessung des Mannes sexistisch? Aber gewiss doch, es klingen die Ohren, es klappern die Sporen, zu den radikalen Asymmetrien des Lebens im Gender-Bann gehört, dass er, als sorgfältig angelegter und mit Bedacht gewarteter Regelkreis, den Vorwurf nur in einer Richtung passieren lässt.
Wissen wir, worüber wir sprechen? Wissen wir, worüber wir schweigen?
6
Wozu die Apparatur?
Die Apparatur … diese Apparatur dient dazu, dir ins Gesicht zu lügen. Sei eine Sekunde lang nicht diskret: schon leuchtet dir die Wahrheit des Satzes unmittelbar ein. Die Apparatur besitzt keine Funktion, jedenfalls nicht die von ihr simulierte. Ein Simulacrum ist sie, ein Götzenbild. Nichts anderes und nichts weiter. Anders als suggeriert steht es auf keinem festen Grund. Es schwebt. Selbstverständlich schwebt es – im Bildraum, wo sonst? Wo sonst? Auch sie hängt an einem Faden, nicht dem des Fisch-Manns, wie suggeriert, schon gar nicht wiegt sie ihn oder wiegt sie ihn auf – wie suggeriert –, wohl aber am Schnürchen mit Sorgfalt gestreuter Anmutungen, und zwar ausschließlich, nicht ›irgendwie auch‹ und ›ein bisschen vielleicht‹, wie der leicht befriedigte Augenschein gern zu Protokoll gibt. Ja, es gibt einen Augenpakt, der den Verstand plättet, er liegt nicht im Bild, sondern in den Beziehungen, die es spinnt, es selbst ist nur der Augenverdreher und dazu braucht es nicht viel. Was liegt an Bildern? Viel. Nirgendwo gilt der Satz ›Masse ist Macht‹ mehr als hier. Wer immer Bilder nachschiebt, beherrscht die Denkfunktionen, ohne sie beherrschen zu müssen. Von Bildern erschlagen – heißt es nicht so?
Nimm dir eines vor und es richtet dich wieder auf.
Elisabeth hat dich rufen lassen. Das ist ein überraschend gutes
Gefühl. Nicht, als hätte sie nach dir gerufen: das wäre ein anderes
Gefühl. Aber so war es nie. Die Trennung von Leckebusch und der
›neue Job‹ – tatsächlich nennt sie ihr Rektorinnenamt so –
haben eine neue Nähe geschaffen (ganz als sei die alte, verschattete,
niemals Ausgespielte nun nach vorn getreten, nicht ganz nach vorn, in
den Mittelgrund eher). Beim nächsten Gespräch kann das wieder vorbei
sein.
Frauenlob und -schimpf
2
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (2)
Warum hat sie dich rufen lassen? Sie wollte ›dich
sprechen‹. Da hätte ein Anruf genügt. Sie wollte dich sehen, kein
Zweifel, und sie wollte dich ihre neue Macht spüren lassen. Besitzt sie
jetzt mehr Macht über dich? Seltsame Frage. Du wusstest nicht, dass sie
Macht über dich besaß. Eine Schande zweifellos, eine
Schande. Jetzt weißt du es. Was auffällt: noch immer ist sie Frau
Leckebusch, bloß ein wenig kecker, als müsste sie das bitterheimliche
Spiel auf die Spitze treiben – nun, nachdem alles vorbei ist. Da bist
du dir ganz sicher: eine abfällige Bemerkung über ihn und sie fährt ihre
Krallen aus. Leckebusch geht dich nichts an, das ist etwas
anderes.
Frauenlob und -schimpf
3
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (3)
Kein Wort über Guido. Personal existiert zwischen uns nicht,
wenn es ernst wird. Du kommst dir vor wie Jünger, der zur Herzogin
geht. Wie ernst ist das alles? Albern war sie dir lieber. Was nun?
Wäre es an der Zeit, ein geheimes Tagebuch anzulegen: Die
unterirdische Beziehung zu meiner Rektorin? Aus purer Neugier,
bloß um zu sehen, was alles hineinpasst. Warum so aufgekratzt? Das
ist nicht dein Stil. Seit wann machst du dir Gedanken über deinen
Stil? Weil du Gefahr läufst, ihn zu verlieren. Demnach lautet die
Frage: Brauchst du ihn? Wozu brauchst du ihn? Wirf ihn über Bord und
sie hat dich in der Hand. Was dann?
Frauenlob und -schimpf
4
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (4)
Stil ist das, worauf der Mensch zurückkommt, sobald er Halt in
sich selbst sucht. Nur ein Haltloser sucht Halt. Sie lässt dich
haltlos erscheinen. Vor wem? Vor dir, Dummerchen. Auch diesmal bist
du Bühne, Zuschauer und Schauspieler. (Oder solltest du besser sagen:
Akteur?) Wo steckt sie? Hinter allem.
Frauenlob und -schimpf
5
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (5)
Geht doch (das mit dem Tagebuch). Schreibt sich ganz wie von
selbst. Willst du, dass es geht? Willst du, dass es so geht? Falls
nicht, sag Bescheid. Dann löschen wir alles. Wir beide, will ich
sagen. Will sagen, kaum ergreift dich die Leidenschaft, blickst du
dir über die Schulter. Blick zurück! (In unserer Kultur wird das Zurückblicken nicht geübt, es sei
denn, man nähme das Leid für die Übung. Der Blick über
die Schulter zurück ist der Blick des Gekränkten. Es gibt auch die
triumphale Variante, aber die ist gesperrt. Gilt als Ausweis
niederer Gesinnung. Du kommst nirgends heraus aus den amoralischen
Spielen der Gesinnung.)
Frauenlob und -schimpf
6
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (6)
Hast du gewusst, dass Elisabeth dir bevorsteht? Du hast es immer
gewusst. Seit sie so vor dir stand, bist du dir nicht so
sicher. Sie verunsichert dich. Sie zeigt dir Nähe, als handle
es sich um einen langen dunklen Flur. Was du siehst, ist die Wand.
Vergiss das nicht.
Frauenlob und -schimpf
7
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (7)
Die Spiele der Ebenbürtigkeit sind vertrackt. Hast du gewusst,
dass Elisabeth dir immer ebenbürtig sein wollte? Welch ein
Unsinn. Der Mann will der Frau gewachsen sein. Die Natur hilft nach,
wenn es sein muss, ansonsten ist, was kommt, das Werk der Frau.
Sie mussten die Frau zerstören, um ›Ebenbürtigkeit‹ zu
erlangen. Diese Errungenschaft hat einen Geburtsfehler. Ebenbürtig ist immer der (oder die) Einzelne.
Frauenlob und -schimpf
8
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (8)
Man kann das Geschlechterverhältnis abkoppeln vom Geschlecht. Was
erhält man dann? Gute Frage. Was immer man will. Die Frage
lautet also: Was will man? Der Feminismus sagt: In der Frage steckt schon
der Mann. Jedenfalls behauptete ›die Welt der Frau‹ das eine Weile, heute behauptet sie
etwas anderes, das aber so ähnlich klingt. Der Feminismus will das
Geschlechterverhältnis, bereinigt um das Geschlecht. Das Geschlecht
ist der unsaubere Rest, der entsorgt werden muss. Dabei lebt er – der Feminismus – vom
Geschlecht. Das klingt fast wie eine Parabel über den Sozialismus und sein Verhältnis zum Kapital.
Frauenlob und -schimpf
9
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (9)
Geschlecht ist keine Gleichung. Aufrührer auf dem Papier
behaupten, es sei das Element des Aufruhrs. Selbstverständlich ist
auch das eine Gleichung. Das ›Geschlecht meiner Wahl‹ ist stets das
andere. Man muss die Sprache verdrehen, um an die Gleichung zu
kommen. Warum sollte man das tun? Offenbar, weil der Zwang, es besser
machen zu wollen, übermächtig geworden ist.
Frauenlob und -schimpf
10
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (10)
Eine Frau abbekommen, einen Mann –: warum so verächtlich? Und
gleichzeitig so ehrfürchtig? Denn es ist und bleibt Ehrfurcht, die
bei dieser Art von Sprüchen den Griffel führt. Ehrfurcht vor dem
Geschlecht, dessen Götterspruch seine Tücken erst allmählich enthüllt.
Das einfache Denken spricht: Leichter fällt es da, sich an die Familie
zu halten, die alles verfügt (und vermasselt). Besser verkauft
als verhext.
Frauenlob und -schimpf
11
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (11)
Wenn das einfache Denken ins Komplizierte gerät, bleibt es dennoch
einfach. Was heißt das? Es nützt die Negation, um Profil zu
gewinnen. Man kann auch sagen: Es profiliert sich durch Neinsagen.
Das Neinsagen aber gehört – wem musst du das sagen? – zu den
elementaren Äußerungsformen des Geschlechts, es etabliert das
Element der Wahl, ohne das nichts läuft. Der sexuelle Aufbruch
bleibt, wie immer die Sache gedreht wird, ambivalent. Das kann zu
großer Erregung führen. Viele meinen, so zu denken sei zynisch.
Andere argumentieren, es sei der Zynismus der Natur, der so zu denken
zwinge. Man muss die Natur verlassen, um von Natur aus gut zu sein.
Moralisten kennen die Zwickmühle von jeher, neueren Datums ist
der Eingriff für jedermann. Seit auch dieser Rausch verflog, gilt
der schonendste Eingriff wieder als Nonplusultra: Man macht sich und
anderen etwas vor.
Frauenlob und -schimpf
12
Aus Rs Notizbuch: Proskynese (12)
Woher die Wucht, mit der diese Sätze aus dir herauspurzeln?
Das Interview hat sich nicht so entwickelt, wie Dürrobst sich das vorgestellt hatte. Ja, es ist ihm entglitten. Ein selbstgefälliger Journalist hat ihn übertölpelt: ein Ausrutscher, keine Frage. Früher hätten die Kollegen gefeixt, diesmal umgibt ihn eisiges Schweigen. Selbst Ruffmann, der auswärtige, huschte eben im Foyer emissions- und geräuschfrei an ihm vorbei, gleich hinter Teuschner, der notorischen Null.
Als elitärer Bewohner der Pyramide achtet Dürrobst bei seinen spärlichen Auftritten in der Öffentlichkeit peinlich genau auf Fachgrenzen
Dürrobst, der sich zu den Großen der Zunft zählt (und vielleicht wirklich dazugehört), legt gesteigerten Wert auf das wissenschaftliche Ethos. In Anfällen von Demut kann er behaupten, seine Bewahrung sei wichtiger als alle Ergebnisse der Forschung zusammengenommen, denn es sei der ›Strom, der das Licht zum Leuchten bringt‹. Dann lächelt Friedenwanger, der sich von ganz anderen Strömen bewegt weiß. Die Jüngeren aber blicken ungeduldig auf ihre Notizen, harrend, dass die Veranstaltung weitergeht. Sie wollen zur Sache kommen: ihr gutes Recht, das, abgenutzt, bald zum schlechten wird. Aber davon wollen sie noch nichts wissen.
Es schickt sich nicht, in den Vorgärten anderer Disziplinen zu wildern. Es untergräbt die notwendige Distanz. Ob eine physikalische Theorie in Fachkreisen als alternativlos gehandelt wird, geht, streng genommen, den Pädagogen nichts an. Wohl aber, wie sie gelehrt wird. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Es wurmt Dürrobst, wie in diesem die Öffentlichkeit leidenschaftlich bewegenden Fall ein bloßes Modell, eine Forschungsschablone gelehrt, vor allem aber, Lehre hin, Lehre her, wie sie allerorten lanciert wird: überheblich, unduldsam, eine Kapuzinerpredigt, die ungeniert mit den Schrecken des Jüngsten Gerichts hausieren geht. Disgusting.
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
3
Jedenfalls will es ihm so scheinen. Und nein, er steht, wenngleich auf verlorenem Posten, mit dieser Wahrnehmung keineswegs allein. ›So ihr nicht Buße tut, werdet ihr den Planeten zerstören.‹ Redet Wissenschaft so? Worin sollte denn die fällige Buße bestehen? Nichts ist leichter zu beantworten als diese Frage: darin, Dummchen, den Anweisungen der Wissenschaft Folge zu leisten. Aber Wissenschaft gibt keine Anweisungen. Sie kann keine geben, ohne dass sie aufhört, eine zu sein. Wissenschaft beobachtet, stellt Hypothesen auf, ihre approbierten Verfahren heißen Beweis und Widerlegung … Seminarweisheit, bis zum Überdruss wiederholt, so dass er irgendwann anfing, Schabernack mit ihr zu treiben. Heute muss er sie sich selbst ins Gedächtnis rufen, immer und immer wieder, um dem Sog standzuhalten. Dieser Sog … er ist es, der ihn im Innersten wurmt, weil er seinem gediegenen Altersbewusstsein die Füße wegzieht, ihm bedeutend, dass alles, was er gelebt und gelehrt hat, verschwindet gleich dem Schatten an der Wand, wenn die Sonne weiterwandert: verschwindet unter dem Gestaltungswillen einer Generation, die einen Trick – einen billigen Trick, wie ihm scheint – gefunden hat, die Leistungen der Vergangenheit erneut in Schuld zu verwandeln.
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Ex cathedra, teils – teils
―Wissenschaft, es wäre besser, Sie merkten es sich gleich jetzt, ist … stets auf dem Sprung nach einem neuen Beweis oder einer neuen Theorie, die den erkundeten Sachverhalt in ein anderes Licht tauchen und neue Perspektiven eröffnen, theoretische, praktische … technologische … letztere überlässt sie mit Freuden den fleißigen Entwicklern in ihren Labors. Wie wir alle vermuten, besteht deren Aufgabe in der Übertragung abstrakter Hypothesen auf das Reich des Machbaren, vulgo Technik: Mal sehen, ob’s funktioniert. Haben Sie das notiert? Nichts, merken Sie sich das für Ihren Alltag als Lehrende, nichts ist so fließend wie eine Theorie, selbst die unumstößlichsten unter ihnen offenbaren, sobald die Zeit reif ist, überraschende Defizite und stehen danach anders da. Aber, werden Sie vielleicht einwenden, wenn es doch funktioniert? Ist das kein Beweis? Gewiss, das ist ein Beweis. Fragt sich nur wofür. Ein Grund dafür, dass etwas funktioniert, findet sich immer. Daneben haben wir Bereiche, in denen ist so ein Beweis einfach nicht zu führen, obwohl sie als ausgesprochen praxisrelevant gelten.
Diese Klimaforschung … ist sie überhaupt eine Disziplin?
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
5
Dürrobst weiß, wer alles sich mittlerweile als Klimaforscher versteht. Selbst etliche Pädagogen tummeln sich auf dem Feld. Ihm schwillt der Kamm, wenn er in ihren Aufsätzen blättert. Sie bleiben, was immer sie zu sein glauben, Vermittlungsspezialisten. Auch wenn sie sich in die Aura von Wissenden kleiden, sind sie nur Überzeugte.
Was hat sie überzeugt? Wer hat sie überzeugt?
―Da fragen Sie, lacht Tronka, er lacht ihm mitten ins Gesicht, was Dürrobst als ungehörig empfindet, wissen Sie, was es heißt, sich als Wattforscher durchs Leben zu schlagen? Nein, ich sehe es an Ihrem Gesicht, Sie wissen es nicht. Als Wattforscher sind Sie ein ganz kleines Licht. Und, was erschwerend hinzukommt: Sie haben Lebenslänglich. Sie sitzen irgendwo in der Provinz, dort, wo sie am flachsten ist, praktisch schon hinterm Deich, und kommen nicht weg. Wenn dann der Herrgott Ihnen ein Licht aufsteckt, sowas soll ja vorkommen, dann gehen Sie ab wie eine Rakete. Versuchen Sie so einen zu bremsen, versuchen Sie’s nur! Sie werden scheitern. Und jetzt stellen Sie sich die vielen kleinen Fachkollegen draußen im Lande vor, ich will ja Ihrem Fach nicht zu nahe treten, das gilt schließlich für alle Fächer, aber die gefährdetsten sind natürlich diejenigen, die … sagen wir … im Wahrnehmungsschatten der Öffentlichkeit dümpeln, stellen sie sich so jemanden vor, dem im Zuge seiner Recherchen plötzlich der Messias begegnet. Ja, er begegnet ihm wirklich. Er verfügt über eine Lehre, er besitzt eine Überzeugung, er brennt. Die Fähigkeit Proselyten zu machen hat er bereits unter Beweis gestellt, ein Kranz von Jüngern hat sich um ihn geschart… Was haben Sie denn?
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6
Nichts hat Dürrobst, was sollte er haben? Er mag diesen Tronka nicht, er hat den Typ nicht gemocht, seit er das erste Mal den Fuß über die Schwelle der Pyramide setzte. Auch wenn er es nie zugeben würde: rein physisch ist ihm Tronka zuwider – das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Er stellt sich die Füße des anderen vor – ein probates Mittel, seinen Reden zu trotzen – und er ist sich sicher, dass er Schweißfüße besitzt, bleiche, von bläulichen Kapillargefäßen gefärbte Watschelfüße, obwohl er Tronka nie hat watscheln sehen, aber in diesem Fall ist die Anmutung stärker als alle Wahrnehmung.
―Watt sagten Sie… murmelt er und verstummt.
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7
Tronka, der ein Lied davon zu singen weiß, wie Ablehnung schmeckt, rein physisch, der darüber zum Spezialisten für alles geworden ist, was in der Luft liegt, stellt sich Dürrobst Abneigung gegenüber taub, er hat mit ihr nichts zu schaffen. Warum sich anziehen, was in keiner Beziehung zum eigenen Inneren steht? Dort ist Dürrobst ein Wicht, ein Pfeifenmännlein, ein Niemand, ein langsam erkaltendes Relikt aus einer Geistes-Epoche, die er als ›Herrschaft des akademischen Schwachsinns‹ zu den Akten gelegt hat und an die er nicht mehr zu rühren gedenkt. Auf dieser Grundlage empfindet er fast so etwas wie Sympathie für ihn, vermutlich, weil Dürrobst sich zum ersten Mal in seinem Leben gegen etwas gestellt hat, das mächtiger ist als er und ihn, sofern er nicht aufpasst, wie eine Mücke zerquetschen wird.
Tronkas Beziehung zum Schwachsinn – ein weites Feld, ein zu weites vielleicht … du solltest darauf zurückkommen. Betrachte dies als Merkzeichen!
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8
Dürrobst, der gegen die Empfindung des Alters angeht, indem er es zelebriert, als handle es sich um ein besonders prestigeträchtiges Pfeifenkraut, ist taub gegen Tronkas überragende Intelligenz. Nichts hat sich daran während all der Jahre geändert, die sie sich nunmehr kennen. Es hätte sich auch nichts ändern können, da diese Taubheit nicht speziell gegen Tronka geht und auf Uninformiertheit beruht, sondern darauf, dass er, allen IQ-Tests zum Trotz, nie gelernt hat, die menschlichen Zeichen der Intelligenz zu lesen. Für den Pädagogik-Dozenten ist Tronka eine bizarre Gestalt aus der Mottenkiste des ›Ancien regime‹: ein Passepartout für alles, was vor den Schlüsselereignissen seiner akademischen Anfänge Anspruch auf Rang und Namen erhob (wenn man davon absieht, dass er sich heute noch an denen abarbeitet, die damit Erfolg hatten).
Rein beruflich benötigt Dürrobst das Gefühl, sich unter seinesgleichen zu bewegen – nur dann gelingt es ihm, die großen Differenzen aufzumachen und damit zu punkten. Einer wie Tronka zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Zumindest, so sein Argwohn, versucht er es, und Dürrobst, wie jeder gestandene Seemann, reagiert darauf breitbeinig: er vergrößert die von ihm eingenommene Standfläche.
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9
Dispositionen
Hinter alledem steckt eine private, nie ausgearbeitete, aber im Bewusstsein außerordentlich rege Typologie. In seiner Sturm- und Drangperiode hätte Dürrobst einen wie Tronka als ›reaktionären Wichser‹ bezeichnet, ungeachtet der Tatsache, dass Tronka jahrelang, eigener Auskunft zufolge, radikal-egalitären Parolen anhing und Dürrobst in all den Jahren nichts, rein gar nichts über seine sexuellen Aktivitäten zu Ohren gekommen ist.
Der ›reaktionäre Wichser‹
vereinigt in sich die bourgeoise Eigenschaft der Verklemmtheit (und damit der Anfälligkeit für Neurosen aller Art) mit der supponierten Überheblichkeit einer Klasse, die immer und überall Bescheid zu wissen beansprucht, nicht zuletzt über die heiklen begrifflich-moralischen Grundlagen der ›Revolte‹ – die übliche Skala eben. Zwar ist der Ausdruck aus den ›Diskursen‹ verschwunden, aber das Feindbild hat sich eingebrannt und steht jederzeit zum Abruf bereit: ›rein physiognomisch‹, wie Kärich jetzt sagen würde.
Zwischen Kärich und Tronka, diesen einander so ähnlichen Charakteren, waltet in Dürrobsts Pandämonium ein dunkler, nicht zu klärender Unterschied und er würde keine Bedenken tragen, sich immer und überall auf Kärichs Seite zu schlagen. Doch diesmal ist Kärich nicht gefragt. In Dürrobst arbeitet es.
Und wie!
―Sie leugnen den Treibhauseffekt nicht?
―Ich? Wie kommen Sie denn darauf. Bin ich Physiker?
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Nein, er ist kein Physiker
Was dann? Pädagoge? Geschenkt. Informierter Zeitgenosse? Soll heißen: abgefüllt mit heißer Luft? Auf diesen Titel kann er gerne verzichten. Wissenschaft ist ein Heißluftballon. Wer keine heiße Luft produziert, der bleibt unten. Er ›versucht, den Kollegen ein Stückweit zu folgen.‹ So kann man es sagen und es folgt daraus: nichts. Kein Außenstehender kann dem Kampf der Argumente vorgreifen, als fände sich die Lösung in seiner eigenen Tasche. Gern würde Dürrobst Schiedsrichter spielen und bei Foulspiel abpfeifen, aber er weiß, dass auch diese Rolle nicht zu vergeben ist, es sei denn, einer nimmt sie sich und stürmt mit dem Ball davon. Wissenschaft hat immer mehrere Bälle im Spiel. Der Verlust eines einzelnen kümmert sie nicht. Das wissen auch die Spezialisten für heiße Luft, die nur aufsteigen wollen, egal wohin – im Himmel der Aufschneider und Schwadroneure sind immer noch Plätze frei. Je mehr sich dort drängeln, desto mehr finden Platz. Das liegt daran, dass man sie nur aufblitzen sieht, sonst nichts… Diese Figur, wer war das? Sind die Ergebnisse neu? Sind sie valide? Wurden sie bereits widerlegt? Besitzen sie den Stellenwert, den der da für sie beansprucht? ›Der da‹ ist eine Frau: da wird das Urteil schwierig, denn es ist mehrfach gezinkt. Hat sie geforscht? Oder ist sie ein Sprachrohr? Sie schieben Frauen nach vorn, um ihre Ergebnisse unangreifbar zu machen. Funktioniert das? Im Angesicht der Medien: ja. Hintenherum geht alles seinen Gang, solange die Gelder fließen.
Bei sich, ganz bei sich, ohne störenden Interviewer und Tronkas magische Einflüsterung, hat Dürrobst freie Bahn
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Dürrobst zieht Bilanz
Es soll Länder geben, da halten Industrielle und Spekulanten sich Forschungsteams wie andere Leute Fußballmannschaften. Dann tritt das ›Team Newrich‹ gegen das ›Team Eriwan‹ an. Mal sehen, wer gewinnt. Wer wird schon gewinnen? Wer die meiste Kohle einsetzt. Aber man kann sich täuschen. Ein falscher Einkauf und die Saison ist gelaufen. Die Pyramide ist keineswegs sakrosankt. Der milde Blick der Regierung ist unerlässlich. Fließen die Mittel, strömen die Ergebnisse. Wer einsetzt, der bekommt heraus. Wer auf der falschen Seite der Schranke aufbricht, die Welt zu verändern, der lernt beizeiten die Gesandten der Götter kennen (oder er tappt lebenslänglich im Dunkeln: das passiert häufiger, als man denkt).
―Lassen wir die Winde Winde sein und den natürlichen Treibhauseffekt seine Wirkung tun. Treibhauseffekte gibt es, wie bekannt, nicht nur in der Natur und der ihr in Treue fest ergebenen Wissenschaft, sondern auch in den Klimaten der Hysterie und der Ideologieproduktion, in denen eine ebenso treu ergebene Dienerschaft tagtäglich Wissen zu Klicks und Phrasen verarbeitet, um daraus Profit und Macht zu generieren, gelegentlich auch Macht und Profit, je nach Windrichtung und -stärke, denn den reinen Übergang von Wissen und Wissenschaft in Zukunftsplanung und Politik, den gibt es nicht, den kann und darf es nicht geben, weil wissenschaftliche Aussagen wesentlich schwerer wiegen (und zu knacken sind) als publizistische Verlautbarungen, daher, angesichts ihres äußerst geringen Anteils am Gesamtvolumen menschlicher Rede, unweigerlich zu Boden sinken würden, kämen ihnen nicht die Winde zur Hilfe, so dass sie zirkulieren müssen, Betonung auf ›müssen‹, denn um den ihnen zugehörigen Platz im Universum des menschlichen Denkens einzunehmen und, sagen wir, feste Strukturen auszubilden, Verknöcherungen, Korallenbänke oder dergleichen, fehlt ihnen – Sie werden lachen – der Grund. Warum Grund, werden Sie fragen, haben wir nicht den Boden der Tatsachen? Hat Wissenschaft nicht Grund genug, sich an die Tatsachen zu halten? An nichts als die Tatsachen, um die alte Bekräftigungsformel zu bemühen? Liegt darin nicht sogar ihre Begründung? Bevor ich antworte, sollte ich Sie auf die Hohlheit der Phrasen aufmerksam machen, die Sie da über mich ausgeleert haben, es klang, als hätten sie einen Grundkursus für fact checkers absolviert. Warum nicht? Die Winde, von denen ich rede, berühren sich nicht mit der Welt der Fakten, an keiner Stelle, es sei denn, man betrachtet Macht und Geld in ihrer unlösbaren Verbundenheit als das factum brutum, was in diesem Fall keinen rechten Sinn ergibt, weil das Duo mit jeder Art von Aussage blendend zurechtkommt … vielleicht auch nicht, darüber müsste auch einmal Rechenschaft abgelegt werden. Eine Tatsache, wissen Sie, eine Tatsache – Sie merken, wie es um die Mundwinkel zuckt –, eine Tat-Sache, in der Tat, es bedarf der Tat, des wissenschaftlichen Täterätä, um an die Sache zu kommen, aber das ist immer noch nur die Hälfte der Wahrheit, es bedarf auch der gemeinsamen Sache, um Taten zu … wissen Sie, wir benutzen dafür das schöne Kunstwort ›generieren‹, man will schließlich etwas herausbekommen, der eine wie der andere, vielleicht auch der Dritte, der Geldgeber, ganz gewiss will er, dass etwas herauskommt, vielleicht auch nichts, auch das kann im entschiedenen Willen dessen liegen, der da gibt, jedenfalls erweist sich, wie überall im Leben, Motivation als der entscheidende Faktor, und der motivierende Faktor im Leben des modernen Wissenschaftlers ist nun einmal der Ehrgeiz, es weit zu bringen oder wenigstens dabei zu sein, ja, sie wollen dabei sein, sie wollen nicht abseits stehen müssen, das wäre das Schlimmste. Also bohren Sie ein Loch in die wunderschöne Welt der Wissenschaft! Schaffen Sie ein Abseits, einen leise von diesem Loch ausgehenden Sog, und Sie können zusehen, wie alle sich ängstlich am entgegengesetzten Ende drängen, ganz als gäbe es dort etwas umsonst, was definitiv nicht der Fall ist, die Nieten pushen das Fach in die als angesagt geltende Richtung, die Breite des Raumes aber, die Mitte, in der am meisten zu holen wäre, weil dort die verschiedensten Motive zusammentreffen, Forschungsmotive, gewiss, aber es gibt auch andere, – sie präsentiert sich mit einem Mal als verdünnte Zone, von ein paar Mutigen durchquert, die sich mehr mit dem Misstrauen ihrer Zunftgenossen herumschlagen müssen als mit ihren berühmten Forschungsfragen und deshalb weit länger brauchen und weniger Ergebnisse einfahren, als es unter normalen Umständen der Fall sein müsste. Sie verstehen? Nein? Bahnhof? Auch gut. Das war’s, was ich Ihnen sagen … und tschüss!
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Ist es mutig, so zu denken?
Es ist ein wenig … redundant, denn wenn alle so denken, wie er es ihnen unterstellt, dann liegt es bereits in jedermanns Gedanken und er kann sich seine Ausführungen auch schenken. Tronka, der Hassmund, spuckt es ihm ins Gesicht:
―So tief hängen die Trauben nicht, Kollege Dürrobst, ein bisschen mehr strecken muss man sich in unserem Beruf schon.
Dürrobst weiß sich einmal mehr mit sich einig. In unserem Beruf? Wovon redet der Mann? Nichts anderes hat die Philosophie, seit es sie gibt, getan: bewusst machen, die Blindheit der Prozesse durchkreuzen, an allererster Stelle der Denkprozesse, darüber mag man streiten, darüber muss gestritten werden, aber es kann nun einmal kein Zweifel darüber bestehen… Worüber? Es kann nun einmal kein Zweifel darüber bestehen, dass unser Denken nicht autonom ist, dass es gesteuert wird, die moderne Gehirnforschung hat das ihre dazu beigetragen, dass keiner hinter diese Einsicht zurückkann, aber was ist Forschung nun einmal, wenn nicht Denken, angewandtes Denken, gewiss, aber eben doch Denken, nimm die Gedanken heraus und… Was daran soll unterbestimmt sein, Herr Kollege? Sagen Sie’s mir. Nein, sagen Sie’s nicht. Nein, reden wir nicht mehr darüber. Ich kann mich über die Angepassten nicht echauffieren, wenn ich weiß, dass Anpassung das allgemeine Gesetz ist und alle das wissen. Muss ich sie deshalb leugnen? Das wäre widersinnig.
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Ein Loch in der Wissenschaft … wie komme ich auf dieses Bild? Hat es jemand hineingebohrt? Der große Unbekannte? Das Kapital? Die Macht? Nur ein Bild … gewiss. First things first. Die Freiheit der Wissenschaft geht allem vor. Also reicht es, die Wissenschaft zu reglementieren, die fetten Forschungsaufträge zu monopolisieren, die Wertigkeiten zu verschieben, die Lehrstühle an den Einsatz von Drittmitteln zu knebeln, dabei die Gehälter ein wenig zu senken oder, bleiben wir vorsichtig, auf der allgemeinen Skala der Einkommen nach unten zu korrigieren, und schon sehen wir andere Gesichter auftauchen, Menschen, denen man ein paar Jahre früher jede wissenschaftliche Motiviation abgesprochen hätte, was ja auch stimmt, nein, was stimmen würde, handelte es sich immer noch um dieselbe Wissenschaft. Das gerade, das … steht doch in Frage. Ein paar Minister treffen sich, sagen wir, in Siena, es könnte aber auch Nizza oder Palermo oder Bologna sein, klangvolle Namen, und sie machen Politik in den Wolken, indem sie beschließen, die Wissenschaft ihrer Länder zu bündeln … zu bündeln, darin liegt der Trick, darin liegt der Sündenfall, wollt ihr die totale Wissenschaft, nein? Ein bisschen krass formuliert, aber im Grunde –
Warnung an alle Ideologen, die Luft zu besteuern
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Davon weiß Tronka nichts
In Tronkas Universum ist der Wissenschaftsbetrieb korrupt und die Wissenschaft sakrosankt. Wie er das hinbekommt, weiß nur er. Doch er weiß es von Grund auf. Vergessen Sie’s, würde er Dürrobst die Leviten lesen, wüsste er, was sich in dessen Gemüt zusammenbraut, diese Klimaleute sind ausgebuffte Naturwissenschaftler, die ihr Handwerk verstehen, da bekommen Sie keinen Stich. Was juckt Sie das Klima? Genießen Sie Ihre Pension, genießen Sie Ihre Reputation, die eine oder andere Tagung werden Sie doch noch beehren. Es soll ja wärmer werden hierzulande, stört Sie der Gedanke? Warum eigentlich? Ich denke, im Alter hat man’s gern warm. Ja wirklich, lassen Sie die Erregungen an sich abtropfen, wer stört sich an öffentlichen Erregungen? Die Klimasteuer kommt oder nicht, man kann schließlich auch den Genuss von Rindfleisch besteuern, wäre Ihnen das angenehmer?
Tronka glaubt nicht an die Apokalypse. In diesem Genre arbeiten andere, seine Expertise ist da nicht gefragt.
―Wissen Sie eigentlich, wie viele Zeitgenossen Tag für Tag den Weltuntergang bis ins kleinste Detail auspinseln, fragt er Pw, der ihm in diesen Angelegenheiten nicht von der Seite weicht. Die beiden telefonieren in diesen Wochen fast täglich.
―Gut, das sind Spinner. Aber seriöse Wissenschaft –? ätzt Pw mit scheinempörter Stimme zurück.
―Wo wollen Sie die Grenze da ziehen? Das interessiert mich jetzt aufrichtig.
Da staunt Pw.
―Aber Sie selbst haben doch –
―Was sollte ich? Da haben Sie etwas gründlich missverstanden.
―Also jetzt mal Butter bei die Fische. Falls ich Sie recht verstanden habe, hat es keinen Zweck, die Klimaforschung in Frage zu stellen, weil nur sie die relevanten Fragen kennt und beantworten kann. Im consensus omnium der führenden Forscher spiegelt sich also nichts weiter als der Stand der Forschung. Liege ich da richtig?
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich danke für
die mir zugedachte Ehre und reiche sie hiermit an die Verleiher zurück.
Gäa die große Schlampe bereitet dem Hornissengeschlecht ein jähes Ende ein
Heer von Arbeitsbienen überzieht den gefurchten Kontinent die Blase des Alls
starr furchtsam unerbittlich fortschreitend 1028 EIN IRISCHER MÖNCH
BERECHNET ERSTMALS DAS MENSCHLICHE ATEMZUGVOLUMEN an einem Geheimort im Herzen
Burgunds treffen sich Militärs Baumeister Steuerfachleute Ziel Unterwerfung des
Nordens unter ein neues System Choräle brausen in dunklen Gemäuern schwitzende
Mönche entführen ein atemberaubend schönes Mädchen nahe Cherbourg und werfen es
in den Atlantik diese Festung des Ungewissen die allen Attacken der braunen
blauen und schwarzen Kutten trotzt aber zu schwächeln beginnt 1140 ERFINDET
SUGER DIE GOTIK HOHE LICHTE RÄUME WERDEN ERBAUT UM ATEMLUFT FÜR GRÖSSERE
MENSCHENANSAMMLUNGEN BEREITZUSTELLEN die Menschen kommen in Massen die Bessergestellten auf
Ochsenkarren zu schauen die gläsernen Wunder Blei Zinn Cadmium werden
gebunkert überall in Europa steigt der Preis für Naturstein Alkohol fließt
in Strömen die Altstadt von Basel erhält ein goldenes Pflaster in Lorsch
wachsen mannshohe Königskerzen der Rheingraben füllt sich mit warmer Pisse ein
Jahrhundert soll das so weitergehen doch 1163 BEGINNT DIE ARBEIT AN NOTRE
DAME DE PARIS kommandiert von Maurice de Sully und Ludwig VII sowie den späteren
Baumeistern Jean de Chelles Pierre de Montreuil Pierre de Chelles Jean Ravy Jean
le Bouteiller Raymond du Temple nicht jeden Namen behält die Geschichte
Nachfolgebauten schießen wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden der
Städte Bauholz ist kostbar Europa wird Steinbruch Knappheit an Arbeitskraft treibt die Löhne Alteuropas Heiratsmodell erleidet den ersten Schwächeanfall
Weihwasser und Ehering sollen das Schlimmste verhüten apropos Verhüten
währenddessen wächst die BESORGNIS ÜBER DEN WELTWEITEN SCHWUND AN ATEMBARER LUFT
bis anno 1232 DIE ERSTE KLIMASEKTE zu Bremen gegen den Widerstand der
Pfeffersäcke aus der Taufe gehoben wird Handelseinbrüche bleiben nicht aus für
die Dauer eines Dezenniums mausert sich Bremen der Not gehorchend zum führenden
Technologiestandort nördlich der Weser mit beachtlicher Strahlkraft auch auf die unteren Stände bis 1248 KÖLN MIT DEM BAU EINER VOLLKLIMAKIRCHE BEGINNT die anfallenden Berechnungen geraten so umfassend dass überschattet von Hitlers Unternehmen Barbarossa sie erst 1941 zum Abschluss
gelangen dem Jahr in dem ein Berliner Ingenieur genannt Konrad Zuse den Computer
erfindet das Basiswerkzeug aller seitherigen Klimaforschung auch das ein Wunder aber ein blaues 1284 EINSTURZ DER KATHEDRALE
VON BEAUVAIS die Glocken der Christenheit läuten Sturm auf dem Vorplatz
verbrennen sie Ketzer im Stundentakt bis das Desaster ideologisch
verdaut ist und dem Verlangen des Pöbels nach Gerechtigkeit Genüge getan der Papst
organisiert Kreuzzüge ins Heilige Land La Douce France ein Heerlager Deutschland
schickt Helfer Italien Legaten 1285 POSTULIEREN FORSCHER DER NEUGEGRÜNDETEN
UNIVERSITÄT PISA EINEN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DEM LUFTVERBRAUCH GOTISCHER
KATHEDRALEN UND ZUNEHMENDER EINSTURZGEFAHR DURCH UNKONTROLLIERT AUSBRECHENDE
BRÄNDE Massenmailer und Schöngeist Petrarca schleudert ciceronianische
Brandfackeln gegen den barbarischen Stil aus dem Norden doch dessen Kathedralen
erweisen sich als beständig wie ihre Erbauer vorausgesagt der Glöckner von Notre
Dame unterschreibt seinen Arbeitsvertrag klettert verfolgt vom Hassgeheul der
Sektierer die den sofortigen Abriss fordern hinauf in die Turmspitze um sein
erstes Frühstücksbrot voll Hochgefühl zu verspeisen dann dämmert das Jahr
1386 NACH LANGWIERIGEN STUDIEN ZUR ERWÄRMUNG DER LUFT AN DEN HAUPTORTEN DER
CHRISTENHEIT STELLEN FORSCHER DER UNIVERSITÄT OXFORD DAS ERSTE ALLGEMEINE
KLIMAMODELL VOR unmittelbare Auswirkungen keine aber die moderne Öffentlichkeit
ist geboren REGE SEKTENTÄTIGKEIT IM GESAMTEN CHRISTLICHEN RAUM umfassende
Bilanzierung/Überarbeitung der bestehenden Sexualpraktiken koordiniert an eigens
dafür eingerichteten Stabsstellen Brüsseler Stäbe erweisen sich als rasch
überlastet Berliner sind härter ab 1540 dann fußend auf Gutenbergs Erfindung
entsteht in Schüben die sogenannte Ratgeberliteratur für das lesende Geschlecht
auch Schund genannt Facetien und Novellen füllen die Bestsellerlisten doch im
Jahr des Herrn 1488 ERSCHEINT AUF ISLAND DIE KLIMAGÖTTIN ISGULDA ihr Haar
fällt glatt ihre Zunge lispelt ihre glühende Überzeugungskraft durchfährt die
Jugend der Welt mit der Schärfe des geschliffenen Schwertes und stimmt sie ein auf
die Ära der großen Entdeckungen der massenhaften Morde an Indigenen der
Ausrottung fremder Hochkulturen den unerbittlichen Gang der Geschichte den
Blutschritt der Hegelei 1492 REITET ISGULDA AUF EINER EISSCHOLLE IN DIE
DEUTSCHE BUCHT fordert auf den Schultern ihrer frenetischen Anhänger liegend den
ABBRUCH DER KATHEDRALEN SOFORT die Löschung allen Feuers in den Öfen der
Alten Welt die rechtsverbindliche Einführung einer von schwäbischen Tüftlern
ersonnenen Atemtechnik mit Einsparungen bis zu zwanzig Prozent einmaliges
Zuwiderhandeln wird mit Pranger und Brandzeichen der mehrmalige Verstoß mit
gestaffeltem Entzug von Grundnahrungsmitteln geahndet Steuernachlässe bei Partneratmung
währenddessen sinken in der nördlichen Hemisphäre die Temperaturen
die Gletscher rücken vor die Arbeitsbienen lernen das Schlittenfahren Leben wird
eine ernste Sache die Herrscher in Paris und Wien zahlen Höchstpreise für
Kunst&Kanonen 1525 VERJAGT EINE HORDE FANATISCHER KLIMASCHÜTZER DIE
STÄDTISCHE OBRIGKEIT ZU MÜNSTER UND ERLÄSST DIE ERSTEN ATEMGESETZE DES
UNIVERSUMS der Erdkreis soweit im Bilde hält den Atem an Luther im fernen Wittenberg hustet zweimal
und lässt sich da für Essensentzug nicht geeignet aus freien Stücken den Schreibarm
amputieren sein Kommentar Gott schuf die Linke auf dass sie der Rechten zur Hand sei 1560 WERDEN DIE BAUARBEITEN AM KÖLNER DOM VORERST ENDGÜLTIG
EINGESTELLT bei der Einweihung des Isgulda-Altars im unfertigen Querschiff kommt
es zu zahlreichen Fällen von Atemnot offener Panik die Menschen fliehen die
schwarze Pest kehrt zurück die stolze Colonia versinkt in einer der restlichen
Welt unbekannten Abart des Katholizismus
1580 ENTDECKT DER HEIDELBERGER
ORNITHOLOGE MARCUS ZUM LAMM BEI DER SICHTUNG BIS DAHIN VON DER WISSENSCHAFT
VERNACHLÄSSIGTER ZEITZEUGENBERICHTE DIE KLEINE EISZEIT
Nein, untätig ist er nicht geblieben, der Journalist
Himmelschick, beherrscht vom Willen, dem Dürrobst-Interview, einer
klassischen Steilvorlage, den finalen Treffer folgen zu lassen. Motto (in diesem besonderen Fall, in anderen hält er es anders): ›Kurz und heftig‹. Gleich der erste Satz überschreitet das Genre des Berichts. Was hat ein Pädagogik-Professor, steht da schwarz-auf-weiß, als Ergebnis seiner lebenslangen
Forschungsarbeit an einer unserer renommiertesten Universitäten den
Menschen zu bieten? Richtig: einen ganzen Haufen. Genauer gesagt:
Gefährlichen Schwachsinn, der andernorts zum sofortigen Entzug der
Lizenz führen würde.
Lizenz? Komischer Vogel.
Dürrobst verbreitet Fakenews und wundert sich
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Das Papier ist schuld
Das klingt arg reißerisch, arg übelwollend,
arg ehrabschneiderisch, billig sowieso, überdies tückisch.
Das Interview ist schließlich ohne Missklang zu Ende gegangen.
Dürrobst bebt. Wer ist dieser Journalist H? Die Lektüre der
Morgenzeitung, in den Modus ›rauchender Zorn‹ wechselnd, verlangt
den Beidhänder: soviel Ausriss muss sein.
Seid nicht behende ihr, so umso
grausamer. Zerreißt den Boten mit der
Botschaft, die doch ewig fortbrennt.
Dürrobsts Blick stapft durch die Zeilen. Mit finster gerunzelter
Braue mustert er schroff jeden Buchstaben, bevor er ihn zurücklegt
ins Abgelegte, mit Schande Bedeckte für alle Zeit.
Das Ticken der Wanduhr, ticketacke, ticketacke, verhaspelt sich
bei dem Wort ›Fakenews‹, das sich in Dürrobsts Gehirn festsetzt
und dort, nach Art einer Nanofräse, seinen Unheilsweg nimmt.
Dürrobst verbreitet Fakenews und wundert sich
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Aufschlag im Bodenlosen
Also geschieht es im Jahre des Herrn sowieso, dass dem
großen Dürrobst sich ein kleiner dürrer ins gemachte Bett legt,
die Hände ballend und wirres Zeug redend, dann wieder ein blasiertes
Grinsen aufsetzend, erfahrend, dass es mit aller Reputation einmal zu
Ende geht, im Leben oder danach, warum nicht heute, an einem
bemerkenswert heiteren Tag, komisch, sehr komisch, abgestanden
hört sich’s an, is’ aber was dran, geschieden muss sein, fein’s
Mädel mein, tandaradey, ey ey, wo der Unfug bloß herkommen mag, hat
keiner danach gefragt, Zeiten und Töne strömen da ein,
gebrandmarkt bist du auf immer, also hör auf jetzt mit dem Gewimmer.
Dürrobst erhebt sich vom Tisch, gewillt, diese Sache in
Ordnung zu bringen, und stürzt.
―Ich verstehe das nicht, sagt Wegenaer. Wir sind doch lauter Menschen mit
gemäßigten, will sagen halbwegs gesitteten politischen
Überzeugungen. Was macht die Leute so giftig? Ich meine, wie kann
ein gesunder Mensch zu der Auffassung kommen, er werde von den
Kollegen oder der öffentlichen Meinung ausgesperrt, wenn er sich
selbst aus freien Stücken, ich meine, ins Abseits…? Und doch
laufen Wissenschaftler, mit denen man letztes Jahr noch beim Wein
zusammensaß, plötzlich mit einem Brett vor dem Kopf herum. Ist das
normal? Ich halte das nicht für normal. Dürrobst, der Mann war
immerhin unser Dekan, entwickelt auf einmal Ansichten, also
ich muss schon sagen… Das zu lesen hat mich ein bisschen
schockiert. Hätte ich nicht von ihm gedacht. Sich so vom Kónsens
entfernen! Gut, er wird sich sagen, jetzt hat er frei, was kann einem
Emeritus schon passieren, aber er ist und bleibt doch ein Teil der
Pyramide, von der Community nicht zu reden, er darf einfach nicht
zulassen, dass unsereins sich seinetwegen zu schämen beginnt, denn
das geschieht jetzt gerade, es hätte vermutlich schon früher geschehen müssen, man blickt ja nicht in die Verbindungen
hinein, die so ein Mann im Lauf der Jahre eingegangen ist.
Akademischer Comment ist vorhanden oder nicht, das verlernt sich
nicht, das geht auch nicht verloren, das Defizit muss also schon
dagewesen sein, höchste Zeit, ihn jetzt zu entfernen. Ich nehme an,
um seine Homepage hat man sich schon gekümmert? Ich werde die
Dekanin darauf ansprechen, dafür besitzt sie ein offenes Ohr, auch
wenn sie sonst mehr im Gender-Bereich aktiv ist. Wenn sie nicht
reagiert, dann ist es eine Sache fürs Rektorat.
Er zieht ein Blatt Papier zu sich, entblößt den Füllfederhalter, ein Geburtstagsgeschenk seiner Tochter, zeichnet ein exaktes Quadrat und schreibt:
Politschrott
2
Frage: Wozu dient Wegenaers Kopf? Antwort: Hat er einen?
Alle Themen der einst mächtigen Politik zu Staub zerrieben, in
diesem Wind, der drückt und drückt, aber nicht weggehen will: wohin
soll das führen?
Die Frage führt unmittelbar zu der anderen: Wer führt?
Die Menschen, abgefüllt in staatliche Kanister, ahnen, dass es
mit der Staatlichkeit nicht weit her ist, während der Staat immer
tiefer in ihre ›Belange‹ eingreift, seltsames Kunstwort, das
scheinbar alles umfasst, was in die ordnende Aktivität des einzelnen
Menschen fällt, aber darüber hinaus alles, was ihn persönlich
›angeht‹, und das ist eine ganze Menge, es richtet sich auch nach
der Person. Eine starke Person kümmert sich um Belange, die
dem Schwächling, dem Urteilslosen, dem Conformista am A…
vorbeigehen. Insofern eignet allen Belangen auch etwas Allgemeines,
und falls einer die Demütigung nicht empfindet, wenn ihm ein anderer
einen Latz ins Gesicht drückt, unter dem er Atembeschwerden bekommt
und seine Haut sich mit Ausschlag übersät, so ist die Frage, ob
es sich dabei um seine Belange handelt oder nicht, nicht etwa
akademisch, sondern zynisch.
Politschrott
3
Was ist zynisch?
Die Disproportion eines Sachverhalts und seiner
Auslegung? Nein, es ist die himmelschreiende Ungerechtigkeit in
dieser Disproportion, welcher der Himmel vorsätzlich abgeschnitten
wurde. Diese anomische Staatlichkeit, die sich der Machtmittel des
Staates bedient, ohne damit seiner Aufgabe gerecht zu werden, es sei
denn, man sähe seine Aufgabe darin, fremden Interessen zu Willen zu
sein, erzeugt keine Politik, sondern hoheitliches Handeln, das
auf Knopfdruck anspringt und auf Knopfdruck verschwindet. Politik,
die so oft den Tod bringt, ist die Kunst des Leben- und
Überlebenlassens in und zwischen komplexen sozialen Systemen; ihre
Spanne reicht vom verzweifelten Strampeln darum, am Leben gelassen zu
werden, bis zum hochmütigen Versuch einer finalen Überwältigung
des Gegners, wohl wissend, dass keine Finalisierung endgültig sein
kann und jede Überlegenheit neue Herausforderungen schafft.
Politschrott
4
Kanisterpolitik, wie die Menschen sie gerade erleben, was sollte
sie anderes sein als Antipolitik: Überwältigung derer, um deren zu
hegendes Leben es geht, immer geht, immer ging und gehen wird, und
ihre Auslieferung an gierige Kräfte, gegen deren Übergriffigkeiten
sie Schutz bieten müsste.
Wie die Menschen sich beugen, wenn nur noch Wind geht! Wie sie die
Backen blähen und mitblasen nach Leibeskräften, nicht bedenkend
dabei, dass ihr persönliches Windchen nichts ist im großen Sturm.
Politschrott
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Ist Wegenaer ein politischer Mensch?
Falsche Frage. Richtig müsste sie lauten: Ist Kunst politisch?
Nicht weil Wegenaer der Kunst gleichgesetzt werden könnte, sondern
weil ihm nicht im Traum einfiele, sich in einem anderen Sinn als
politischer Mensch zu verstehen, als die Kunst – das Medium
Kunst, wie er sich in solchen Zusammenhängen auszudrücken pflegt –
es von ihm – und er von ihr – fordert. Unpolitische Kunst gibt es
nicht, pflegt er seinen Studentinnen einzutrichtern, Kunst ist
politisch. Denken Sie in der Konzeptphase daran, das erspart Ihnen
später viel Ärger. Sie müssen Ihre Motive so lange mit
politischen Augen betrachten, bis aus diesem Akt der sinnlichsten
Konzentration das Thema scheinbar selbsttätig hervorgeht.
Nachträglich hineingeschriebene Parolen sind nichts anderes als
angeklebte Preisschildchen, die jemand von der Ware zu entfernen
vergessen hat, wie Marcel Proust monierte. Scheinbar selbsttätig
ist die Parole. Ohne Schein geht in der Kunst gar nichts und das hier
ist der wichtigste von allen. Wenn Albrecht Dürer davon überzeugt
war, dass die Schönheit in den Objekten schlummert und der Künstler
sie herausreißen muss, so besteht Ihre Aufgabe darin, das Politische
aus der Sie umgebenden Objektwelt herauszureißen. Wenn Ihnen das nicht
gelingt, dann geben Sie auf, verschwenden Sie nicht Ihre Zeit an eine
verlorene Sache. Künstlerzeit ist knapp bemessen, sie ist ein
kostbares Gut. Verschwenden Sie nichts davon!
Politschrott
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Gern verweist er bei diesen Ausführungen, das obligate Whiteboard im
Rücken, das Haupt leicht zur Seite geneigt, zwischen
gefärbten Fingerspitzen die Filzstifte rollend, auf seine Banzekut-Serie – diskret,
versteht sich: eine für die Hörerinnen leicht dechiffrierbare
Travestie, geeignet, ihre ernsthaften Mienen für einen Augenblick
aufzuhellen. ›Seht‹, will er damit sagen, ›wie spielerisch Kunst sich
der größten Aufgaben zu entledigen weiß. Ein wenig Mut gehört
natürlich dazu, und Talent, was sage ich: Talent. Künstler sein
heißt bedeutende Dinge tun, und seien sie noch so unscheinbar.‹
DIE HITZE
Die rote Hitze ist das Aphrodisiakum für Leute, die das Weltall zu vögeln wünschen. Das Weltall, eine schweigende Grösse, verhält sich abwartend, um nicht zu sagen abwertend gegenüber diesen fortgesetzten Versuchen.
Das ist Mime, Einzelgemüt, aus Mutters Bauch gekrochen, gedüngt
mit Muttergedanken, gespickt mit Muttergefühlen, keines Vaters gewärtig, lebenslang, lebensbang unterwegs nach
dem Unerreichbaren: Muttersohn, der das Schwert schmiedet, aber nicht
führt, es sei denn reflexhaft in Gedanken und Worten. Gerade noch
Notschicksal, Krieg+Nachkrieg … schon wächst das Heer, hier ist die kriegerische
Metapher am Platz.
Mom-X = der friedlichste Mensch unter der Sonne
Mom-X
2
Soviel Friedlichkeit kann und darf nicht reell sein
Sie verzehrt
sich nach dem Absoluten und das Absolute, zur Kenntlichkeit verzerrt, schlägt
ohne Erbarmen zurück. Mom-X, das wäre … das wäre … das ist der unter die Räder gekommene Mann, der Mann unter allen
Rädern: kaum den einen entronnen, stürzt er unter die folgenden, teils aus
eigener Zutat (denn von Schuld ist hier nicht zu reden), teils aus Versäumnis,
teils, weil der nächste und übernächste Verräter sich seiner annimmt, denn
auch das Absolute beschäftigt diese Spezies und nicht zu knapp.
Mom-X
3
Das Programm Mime –: ist Fu noch einmal, als
Geisterfahrer, abgedunkelt bei Nacht
Nicht zu
knapp! steht über Mimes Leben, teils Wahlspruch, teils Orakel. In gewisser
Weise – oh wie du diese Phrase liebst! – ist Mimes Leben selbst das Orakel,
seine Zeit, ins Orakel gefasst, ihr entgegengehend, als habe niemand,
nieeeeeeeeemand sich der Mühe unterzogen, ihm die einfachsten Verkehrsregeln
beizubringen, ihn selbst eingeschlossen, dabei testet er sie, unter Einsatz
seines Lebens, ohne Unterlass.
Mom-X
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Drachengeschichte
Mime hat den Drachen im Leib. Lange
Zeit ruhend, doch endlich, auf halbem Wege, erglühend: Schweiß tritt auf seine
Haut, mächtige Blasen perlen aus seinem Mund, sein Gang stockt, seine Rede
beginnt zu flattern. Der Drache aber spannt die Flügel, als wolle er auf- und
davonfliegen. Davon wird Mime die Brust so eng und das Herzlein beginnt zu
pochen. Er kann nicht rennen und tun, er kann nicht liegen und ruhn. Es drückt
ihn an Schulter und Brust so sehr… Das ist eine spannende Geschichte, aber
niemand ist darauf erpicht, sie zu hören und eigentlich geht sie auch niemanden
etwas an. Sie ist einfach gegeben, eine Jedermannsgeschichte, warum erzählt er
sie überhaupt?
Darauf verweigert Mime die Auskunft.
Mom-X
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Wie kommt so ein Mensch in die Pyramide?
Mächtige Hände haben ihn
hereingewunken, durchgewunken bis zu der Stelle, wo ihn Tafel und Wachsstift
erwarten, sie haben das Mikrofon angeschaltet, die Kamera läuft, da steht er und
spricht:
Summertime, it’s summertime.
Augenblicklich, da Winterzeit, Kornblumen verblüht, liegt Mime im Koma. Er bekommt alles mit, erzählt die Betreuerin und tupft ihm liebevoll, wie sich’s gehört, das Gesicht. Der Name der Betreuerin lautet Elisabeth. Sie betreut ihn nicht wirklich, richtig ist, sie hat ein Auge auf ihn, aus der Ferne, die manchmal zur Nähe mutiert, zur Nahferne, Güte genannt, so empfunden von Mom-X, dem zweifach Gezeichneten, unendlicher Dank quillt in ihm auf, ein Crescendo der Dankbarkeit: Weide meine Lämmer. Ganz recht, nicht ein Lamm ist Mom-X, sondern viele Lämmer, jedenfalls mehrere, sie stehen unterschiedlich im Futter und harren des passenden Signals … wozu? Um loszublöken.
―Kommen wir zur Rhetorik der Überschreitung. Überschreitungen sind entweder positiv oder negativ konnotiert.
Das Gesicht des Vortragenden Stutenkeil glänzt. Er wähnt sich auf der Habenseite der Existenz und übersieht dabei das Soll.
―Das überzeugt mich nicht, unterbricht ihn Blowasser scharf. Überschreitungen sind partiell intentionale kulturelle Vorkommnisse. Einfacher gesagt: Herausforderungen.
―Ja sicher … wollen Sie mich jetzt herausfordern?
―Wenn Sie mir die Norm nennen, gern.
―Lassen Sie mich ausreden, dann erfahren Sie es.
―Die Norm! Sagen Sie mir die Norm!
―Wie ich schon bemerkte: Lasset den Referenten ausreden!
Die Sitzung I
3
II.
―Exzesse, sinniert Nassen, ohne Gehör zu finden, sind negativ konnotierte Überschreitungen.
Er ist noch jung und möchte korrekt sein.
―Haha. Exzesse sind Ausschweifungen. Schon bemerkt? Ich meine Aus-, nicht Abschweifungen.
―Eine Definition ist das auch nicht.
―Nein. Aber die Realität.
―Die Realität im Kopf.
―Nein nein nein. Es ist der Weg in die Niederungen, ins Chaos, ins Verderben. Sozial, rechtlich, kulturell nicht hinnehmbar.
Wer war das? Schwamm drüber!
―Lederstrumpf: ein Exzess, brummt Kärich.
Die Sitzung I
4
III.
Stutenkeil, sich ans Manuskript klammernd, überschreit sie alle.
―Überschreitungen besitzen eine starke Wertkomponente. Das bedeutet aber nicht,
dass sie automatisch verurteilt werden. Im gelungenen Fall produzieren sie
Staunen, positive Erregung, Bewunderung, Nachahmung. Entsprechend groß ist die
Bandbreite möglichen Scheiterns. In der Überschreitung treten Individual- und
Kollektivverhalten auseinander. Der Akteur, gleichgültig,
ob Individuum oder Teilgruppe, setzt sich in einen partiellen oder totalen
Gegensatz zur Gruppe und ruft damit ihren Widerstand hervor. Das kann durchaus um gemeinsam
formulierter Ziele willen geschehen. Es kann auch auf naiven oder komplexen oder
bizarren Annahmen über die wirklichen (›wahren‹) Ziele oder Werte der
Gemeinschaft beruhen, die von der Gemeinschaft nicht geteilt werden. Letztendlich kann es den gemeinsamen Verständnisrahmen quittieren, wie das bei Deserteuren oder Auswanderern der Fall ist. Zeigt sich kein
Widerstand, so wird er einfach imaginiert.
―Logisch.
―Moment mal –
Blowasser / Nassen: das übliche Spiel.
―Logisch? Was ist daran logisch? Ein Gedankenwiderstand kann genauso real sein wie eine Barrikade. Religion zum Beispiel…
―Religion? Warum Religion? ereifert sich Duro. Die Wege des Einspruchs sind unergründlich.
Wo bleibt der Redner?
Die Sitzung I
5
IV.
Stutenkeil gibt sich versöhnlich.
―Blowasser hat natürlich recht. Kulturell bedeutet Überschreitung: Aufkündigung des Selbstverständlichen. Ein als gegeben angesehener Orientierungsraum wird zugunsten einer partiell oder vollständig differenten Orientierung verlassen. Zum Beispiel ist die Geste der Hinterfragung auf kulturelle Überschreitung hin angelegt. Das Selbstverständliche weniger selbstverständlich machen. Das ist praktisch die Grundnorm der Überschreitung, die natürlich ihrerseits Züge des Selbstverständlichen annehmen kann.
―Oha. Sie meinen also, wer eine Grenze überschreitet, der verlässt automatisch auch den Konsens. Sehe ich das richtig? Wie erklären Sie sich dann, dass die meisten Ausbruchsversuche mental scheitern? Mir scheint, dem consensus omnium entkommt niemand einfach, bloß weil er ihm widerspricht.
Blowasser lässt nicht locker. Der Saal spürt das Lebensproblem hinter seinem Einwand. Doch Stutenkeil enteilt ihm aufs Neue.
―Das ist ein bezaubernder Gedanke. Haben Sie eine belastbare Statistik? Vielleicht kommt hier ja doch die Religion ins Spiel. Für die antike Religiosität, das wissen wir alle, bedeutet Überschreitung Hybris. Um das zu verstehen, genügt es, sich kurz die Funktion der Götter im griechischen Mythos in Erinnerung zu rufen: was den Menschen gesetzt ist, ohne ihrem Veränderungswillen zu unterliegen, das wurde von den Göttern über sie verhängt. Wer sich diesen Grenzen nähert oder sie zu übertreten versucht, der nähert sich dem Verhängnis oder liefert sich ihm aus. Hybris ist also eine Art Wette auf die Duldsamkeit der Götter: Reagieren sie oder reagieren sie nicht? Das ist die Frage.
―Weiß Gott!
So redet nur einer: Hanbüchl.
Die Sitzung I
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V.
―Einspruch.
―Stattgegeben. Vorausgesetzt, der Referent…
―Wenns sein muss. Was wollen Sie denn sagen?
―Nichts. Ich erhebe Einspruch.
―Ist notiert. Wie war Ihr Name nicht gleich? Mime? Herr … Mime erhebt Einspruch. Stutenkeil, fahren Sie fort.
―Kulturell etablierte Hybris ist institutionalisierte Religionskritik. Religion wird zurückgedrängt auf das immer kleiner werdende Reservat dessen, was noch nicht verändert werden kann. In säkularen Gesellschaften erwächst daraus für Religionen die Notwendigkeit, entstehende Konflikte in sich selbst auszutragen…
―Gibt es denn säkulare Gesellschaften?
―Ich setze das mal voraus.
Aufbraust Argloser aus der letzten Reihe.
―Ist das ein Axiom?
―Spannende Frage. Besser, wir verschieben sie auf später.
Die Sitzung I
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VI.
―Die Religion, die Religion… Lassen Sie mich bloß das eine anmerken: Religion bekommt ein Fundamentalismusproblem, wenn sie den in liberalen Gesellschaften etablierten Mechanismus der Überschreitung als Exzess brandmarkt. Der Witz dabei: von Haus aus ist Religion überhaupt kein Feind von Überschreitung. Eher scheint sie … sagen wir: ein bestimmter Religionstypus … säkularen Überschreitungsideologien vorzuarbeiten. Was ich damit sagen will…
―Schon klar. Genuine Deutungskonkurrenz. In der Regel geht das dann in Richtung Feindschaft. Das weiß inzwischen jeder. Sagt Ihnen der Ausdruck ›Zwillingskonkurrenz‹ etwas?
―Genau das wollte ich gerade ausführen.
―Woran denken Sie da?
―Na ans christliche Abendland. Aber ich wollte noch etwas zum Thema Ausschweifung sagen. Schauen wir doch einmal hin. Nicht immer liegen der säkulare Deutungsbetrieb und der religiöse auseinander. Ich rede hier von der willkürlichen Verschiebung sozialer Normen. Vieles, was dem einen schlicht zu weit geht, geht für den anderen auf gar keinen Fall. Et vice versa, denken Sie an die Gewalt auf unseren Straßen. Wenn Sie mich fragen, liegt die Pointe in der gegensätzlichen Begründung. Während die fundamentalreligiöse Deutung für den Exzess die liberale Kultur der Überschreitung verantwortlich macht, bemüht diese, wie wir fast täglich erfahren, im Ernstfall lieber … sagen wir … die Psychiatrie.
―Sie meinen, der säkulare Staat steckt die Leute in die Klapse und die Religionen schieben ihm unterdessen die Verantwortung zu?
―So kann man es sagen, ja.
―Der er dann auch gerecht wird.
―Und was sind die nicht-diskursiven Instanzen?
―Darauf möchte ich später dann eingehen.
―Taube Nuss, murmelt Mime, die Lippen fest verschlossen.
Argloser wirft ihm einen befremdeten Blick zu.
Die Sitzung I
8
VII.
Mime, mit halb geöffneten Augen:
―Das Veränderungspotenzial der Menschheit ist grenzenlos. Die
sogenannten Grenzen der Menschheit werden nicht von Göttern
verhängt, weder den alten noch denen in Weiß, sondern ergeben sich
rein physikalisch aus der Begrenztheit der auf diesem Zufallsplaneten
verfügbaren Ressourcen. Das gilt aber nur so lange, bis die
Raumfahrt auch diese Grenze überwindet. Was wir heute Raumfahrt
nennen, ist eine bloße Andeutung wirklicher Raumfahrt, wie andere
Zivilisationen sie mit großer Wahrscheinlichkeit längst
praktizieren. Wir wissen nicht, welche Ressourcen kommenden
Generationen zur Verfügung stehen werden. Wir wissen es nicht und
wissen es doch. Angesichts der Bedürfnislage der menschlichen Spezies
gilt der Satz: das Weltall ist unausschöpfbar. Analoges gilt für unsere
biologische Existenz. Die Perfektibilität des menschlichen
Körpers unterliegt keinen weiteren Einschränkungen als denen der
Körperwelt insgesamt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich mit jedem
Jahrzehnt Forschung und Entwicklung die Abhängigkeit von den
natürlichen Prozessen halbiert, dann bekommen wir eine klare Kurve,
die zeigt, wohin die Reise geht. Die einzige Sünde, welche
die Menschheit gegen sich selbst begehen kann, besteht darin, die
Ressourcen des Planeten zu verprassen, bevor sie sich von ihnen
unabhängig machen konnte. Leute, das ist nicht Hybris, sondern Dummheit.
Unsere Statistiken zeigen, dass exakt das gerade abläuft. Und es ist
die eingefleischte Religion mit ihren Tabus, die uns auf diesem
Irrweg fixiert. Um als Menschheit die vor uns liegenden kritischen
Jahrzehnte zu überleben, müssen wir die vorhandenen
Glaubenssysteme substituieren. An ihre Stelle muss das Bekenntnis zur
Pflege und Erhaltung des Planeten treten. Was wir dringend brauchen,
ist der Priesterverrat. Nur Priester können die Kräfte der Religion
gegen sie kehren. Wir müssen an ihr Gewissen appellieren und wenn
das nicht reicht, sollten wir sie kaufen. Wenn auch das nicht reicht,
dann muss man sie eben zwingen. Dazu brauchen wir den Staat. Die
Trennung von säkularem Staat und Religion war gestern. So sieht es
aus. Der Rest ist bullshit. Ego nos absolvo. In nomine…
Twitter heißt der Kurznachrichtendienst, der binnen kurzem die Welt
eroberte, nicht, um in ihr zu verschwinden wie so viele Eroberer aus dem
Nichts, sondern um, wie es sich für richtige Eroberer gehört, ihr seinen Stempel
aufzudrücken. Twitter teilt die Welt in Könner und Nichtskönner, in Gewinner und
Verlierer, in Begünstigte und Benachteiligte, ergo Opfer, und zwar nicht fürs
Leben, nicht für ein Jahr oder einen Monat, kaum für den Tag oder die Stunde,
sondern von Moment zu Moment. Aus einer auf ein wenig Distanz bedachten
Perspektive ließe sich sagen: Twitter stellt die Chancen des Einzelnen, groß zu
tun und vor der Welt in Erscheinung zu treten, rascher auf Anfang oder auf Null zurück, als
einer Zeit bräuchte, die eine oder andere unter ihnen zu realisieren. Das ist die Regel. Aber
es gibt auch Ausnahmen. Twitterkönige verdienen sich eine goldene oder auch
rote Nase, wann immer sie in die Tasten greifen. Die Welt wartet auf ihren
neuesten Tweet, als handle es sich um die Fähre aufs Festland, wo in der Ferne
die Berge locken und damit der finale Überblick über die Dinge des Lebens,
zumindest der Politik. Es kommt aber nur die nächste Sottise, und das Heer der
Häme-Absonderer wartet keine Sekunde, sich auf sie zu stürzen.
Twitter und Weltuntergang sind eng miteinander verknüpft. Sie stammen,
wie die besten Rennpferde der Saison, aus einerlei Stall, besser gesagt, aus
derselben Züchtung, falls das Züchten von Meinungen nicht unter die diversen
Rassismus-Paragrafen fällt. Wo, virtualiter gesprochen, alle zusammenkommen, um
sich vor- und übereinander auszudrücken, steigt der Druck im mentalen Kessel, so
dass die Angst davor, von den Verhältnissen zerdrückt zu werden, alle anderen
Affektlagen überwiegt. Es erstaunt daher nicht, vereinzelte Aufklärer wie
verirrte Motten durch die endlosen Wortkaskaden der Wahrsager taumeln zu sehen.
Allenfalls erstaunt ihre Beweglichkeit. Doch der dritte Lehrsatz der
Thermodynamik erweist sich auch in diesem Fall, wie so oft im Reich der
Metaphern, als überaus hilfreich. Das Überleben ganzer Wissenschaftszweige hängt daran,
dass sie sich als twitterfähig erweisen: soll heißen, am Ende in Tweetform
gegossen den Globus umkreisen. Das ist ganz natürlich. Warum sollte es ihnen
besser ergehen als der Menschheit, in deren Dienst sie bekanntlich stehen? Das
Überleben der Menschheit hängt an keinem seidenen Faden. Es hängt daran,
rechtzeitig den richtigen Tweet zu finden, den Träger der Botschaft, die uns
alle zu retten vermag: teils aufgrund ihrer inneren Schlüssigkeit, teils, weil
der Weg, den sie aufzeigt, mit äußerster Leichtigkeit begehbar erscheint.
Dieser Weg ist
keinesfalls frei von Strapazen. Schließlich
handelt es sich dabei nicht um das allseits
verhasste ›Weiter so‹, sondern um radikale
Umkehr – und zwar nicht des Denkens allein,
wie sanftere Anhänger der Lehre stets
vermuten, sondern, nach der sattsam bekannten
Formel, aller Lebensverhältnisse. Je
bequemer das Vehikel, desto drastischer der
ins Auge gefasste Übergang. Die Drastik des
Wandels und die Bequemlichkeit der Teilhabe
stehen zueinander in einem direkten
Wechselverhältnis. Leicht ableiten lässt sich
das aus dem Twitterverhalten der Begünstigten
des Systems, also der geldhaltigen
Lichtgestalten der Society, die vom Glück
nur zu wissen scheinen, dass man es reiten
muss, damit es sich gut anfühlt. Aber
natürlich auch der Politiker, deren Reichtum
mehr im Anpassungsverhalten gegenüber den
Vibrationen der Medienwelt gesucht werden
sollte. Ein rechter Tweet zur rechten Zeit
stellt die Verhältnisse klar. Nach nichts
anderem verlangen die Verhältnisse
inbrünstiger als nach ihrer Klarstellung. Doch
auch hier gibt es Nuancen. Wer auf die Straße
geht, um fürs eigene Smartphone, bestenfalls
das seiner Mitdemonstranten zu demonstrieren,
der ist nicht bloß für klare Verhältnisse. Für
ihn sind alle Verhältnisse klar. Zumindest
sind sie geklärt, auch wenn immer ein wenig
braune Brühe beiherläuft. Die braune Brühe
muss sein, sie allein gibt dem Weltgericht die
richtige Würze. Denn darauf kommt es
schließlich – ›schlussendlich‹ – an.
Das Nadelöhr des finalen Tweets, durch das jegliches hindurch muss, allem
voran die bereits in überirdischem Glanze leuchtenden Superreichen, welche der
anstehenden Konversion der Menschheit ebenso selbstverständlich das Wort reden
wie sie sich im voraus die besten Plätze zu sichern wissen, wirft ein Problem
auf, das selten, im Grunde gar nicht erörtert wird, vermutlich deshalb, weil
seine Lösung unter die politisch als obsolet markierten Geistesverrenkungen
fällt. Was würde passieren, wenn die Wand des Ersehnten, Erwünschten,
Erstrebten, des mit angstvoll pochendem Herzen Herbeierwarteten eines Tages
tatsächlich durchstoßen würde? Wohin ginge der finale Tweet, nachdem er alle
relevanten Herzen durchbohrt, wenigstens jedoch gestreift hätte? Die moderne
Ontologie hat dafür den Ausdruck ›das Offene‹ reserviert. Das Offene hat
verschiedene Stadien durchwandert, von denen das ›Reich der Freiheit‹ ein paar
Geistesstrategen noch erinnerlich ist. Andere denken dabei an den
selig-unseligen Kommunismus, wieder andere an die unbegrenzte Acquise am Ende
der sogenannten Geschichte. Dieses Offene hingegen ist anders, es erinnert an
die verzweifelte Gemeinschaft Entflohener, die wissen, dass sie ab jetzt Tag und
Nacht von den Häschern des Systems gejagt werden, in dessen Umzäunung ihnen ein
Loch zu schneiden gelang.
Wie offen ist so ein Offenes? Anders gefragt: Worin besteht seine Offenheit?
Offenkundig handelt es sich um die Offenheit von Getriebenen, die wissen, dass
ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, ein unbedachter Tritt dem Ausflug ins
Freie ein jähes Ende bereiten kann. Die Geschichte des Gefängniswesens kennt
organisierte Massenausbrüche, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, in ihrem
Schutz einigen Wenigen die erfolgreiche Flucht zu ermöglichen. Diese Wenigen
sind die Helden des Betriebs. Ihr Mythos vergoldet den Alltag der Inhaftierten,
ihr bedrückendes Ende befeuert den trotzigen Entschluss der Zurückgekehrten, es
irgendwann wieder zu versuchen, koste es, was es wolle.
Anon @KarlKarus Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?
Karus die Stubenfliege
1
Es gilt das leere Wort
―Karus, spricht die Frau Mama
– vertreten durch die Rektorin –
―ich geh fort und du bleibst da. Ich meine das ganz unmetaphorisch: schließlich ist deine Berufung mein Werk und mein wird dein Aufenthalt in der Pyramide sein.
―Ich kann das nicht ganz versprechen, aber ich werde mein Bestes geben. Schließlich hat die Politik ältere Rechte an mir und
Politiker bin ich nun einmal ganz und gar. Das ist ja gerade das Erstaunliche: als Wissenschaftler bin ich ganz Politiker und als Politiker bin ich ganz Wissenschaftler. Verstehe das, wer will. Wer mich kennt, weiß, woran er ist, und wer mich nicht kennt, der wird mich kennenlernen.
So kam Karus unter die Seinen.
Karus die Stubenfliege
2
§ 1 Homo digitalis
Du trittst (bildlich gesprochen) allein zwischen Ali Babas Räuber und
schreibst: Am furchtbarsten ist die Halbbildung. Du denkst, jetzt
werden sie dich zerreißen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie nicken
dir freundlich zu, verteilen ihre Smileys und sind ganz auf deiner
Seite. Im übrigen halten sie still. Anders Karus, der Twittergott:
Er schreibt einen Satz hin und schon ist die Häme da. Er schreibt
einen zweiten und der Sturm bricht los: »Wieder geraucht, was?« –
»Was nimmt der Kerl?« – »Da spricht der Fachmann ... ;-)« –
»Der übliche Unsinn« – »Muss die Hitze sein« – »Wieder mal
erfrischend nichts« und so weiter und so fort.
―Wie schafft der das, fragt @Klickneider und
schickt die Antwort gleich hinterdrein: Halbbildung. Unser
@Professorchen als Mustermann im Wachsfigurenkabinett der
Halbbildung – da lachen die Leut’ und klatschen ins Händchen.
Hach, ist das schön. Mach’s nochmal, Karli. Und er
macht’s. Kein Terminkalender hält ihn davon ab, seine
unglaublichen Tweets abzusetzen: unter dreien pro Tag tritt er nicht
an. Du wählst dich ins Netz ein und da steht es auch schon: »Karl Karus
hat gerade getwittert.« Was hat er geraucht? Du weißt es nicht.
Vermutlich nichts. Warum sollte er?
Karus die Stubenfliege
3
§ 2 Woher der Dunst, den er verbläst?
Du
weißt es nicht. Du weißt auch nicht, welcher besonderen Zuneigung
du es verdankst, dass gerade dir diese Meldung als erste
entgegenschlägt. Bezahlt Karus dafür? Wird er bezahlt? Bezahlt für
ihn ein anderer, seine Partei zum Beispiel oder ein Witzbold, der
findet, Karus’ Sprüche gehörten an jede freie Wand geworfen,
damit die Sprayer-Heerscharen sich darüber hermachen können, um sie
– vergebliche Liebesmüh – zum Verschwinden zu bringen? Darüber
nachzudenken bringt dich nicht weiter. Also nimmst du ihn, so wie er
ist, als gegeben.
xxx@xxxx Die Partei wäre viel stärker ohne so dumme Menschen wie dich
Auf so einen Kommentar muss einer erst kommen, vor allem ein Zeitgenosse, der, nachweislich seines
›Accounts‹, keinen geraden Satz schreiben kann. Davon abgesehen: Was soll das? Ist Karus dumm?
Was ist ›dumm‹? Wer legt so etwas fest? Fest steht, kein Parteitagsbeschluss
hilft da weiter. Seit es Gesellschaft gibt, schwirrt diese Fliege,
genannt Dummheit, im Raum. Karus ist eitel: davon legt jeder Tweet ›aus seiner
Feder‹ Zeugnis ab. Karus ist eingebildet: er bildet sich etwas auf sich ein,
wobei dieses Etwas unbestimmt bleibt. Findet er sich attraktiv? Gepflegt?
Gebildet? Beschlagen? Produktiv? Wo findet er sich? Vor dem Spiegel? Vor dem
Hörsaal, den er nur noch selten betritt, seit die politische Tätigkeit ihn
verschlingt? Im Angesicht der Partei? Ihrer Spitze? Ihrer ›einfachen
Mitglieder‹?
Karus die Stubenfliege
4
§ 3 Wer Karus liest, gewinnt den Eindruck:
er versteht
sich als Bote. Wessen Bote? Das bleibt unbestimmt. Ebenso unbestimmt
bleibt die Botschaft. In Wahrheit hängt er sich an jede
Tagesnachricht, die ihm Aufmerksamkeit verspricht. Er nimmt einen
Standpunkt ein, das ist wahr. Wenn er, wie meist, korrekt sein will,
nimmt er den der Partei. Doch die Partei ist alt und grau und, alles
in allem, nicht die schnellste, ergo in vielerlei Hinsicht
unbrauchbar. Er muss also improvisieren. Daraus folgt: Karus besitzt,
wie heftig die Twitter-Gmeinde auch über ihn höhnt, ein
unabhängiges Urteil. Jedenfalls entfernt er sich mit ihm weit von
der Basis. Karus’ Basis ist die Wissenschaft. Entsprechend weit
entfernt er sich von der Wissenschaft, ohne den Spitzen der Partei
dadurch spürbar näher zu kommen. Unerforschlich thronen sie über
allem, was er den lieben langen Tag von sich gibt. Karus ist autark.
Karus die Stubenfliege
5
§ 4 Die Grenzen seiner Autarkie sind die seiner Welt
Dieser Satz sollte,
um seiner Bedeutung habhaft zu werden, rückwärts gelesen werden. Alle, in
voller Unabhängigkeit, von Karus gefällten Urteile sind der Twitter-Gemeinde
wohlbekannt. Sie ›redundant‹ zu nennen würde dem Sachverhalt nicht gerecht.
Karus’ Urteile sind hyperredundant. Sie ähneln den Sätzen, die einer
spricht, wenn er sich vor dem Spiegel räuspert, um seine Stimmfestigkeit zu
erproben: sinnlos, aber voll tausendfach erprobten Sinns. Wie von selbst
schlängeln sie sich aus ihm heraus, umzüngeln die Tastatur seines Laptops und
erzeugen Klicks pro Sekunde, die praktisch jeden Gegner blass werden lassen.
Karus ist, unter Klick-Maniacs, ein Phänomen. Seine Freunde nennen ihn KK –
weiter kommen sie nicht, weil er … Himmel, Karus, wo sind Sie? Wo denken Sie
hin? Woher nehmen Sie diesen … gepflegten Stil?
Lobt Karus sich
digital, nennt er sich I-Karus.
Karus die Stubenfliege
6
§ 5 Hat Karus Stil?
Seine Fans finden: unbedingt! Warum lachen sie dann, sobald
er ihn pflegt? Aber sie lachen ja nicht, sie zwitschern nur um die Wette. Es ist
ein Summen und Weben um seinen Twitter-Kasten, als würden dort Hunderte junger
Twitter-Arbeiterinnen ausgebrütet. Das ist nicht sexuell gemeint, allein
deshalb, weil Frauen sich selten in seinem Dunstkreis äußern. Auch das ist nicht
so gemeint. Karus hat kein Problem mit Frauen. Das behaupten viele, auch
Frauen, insofern steht er damit nicht allein. Niemals, äußert er, habe er das
Vertrauen missbraucht, das die Partei, die ihn nährt, in ihn setzt. Dasselbe
könnte er über die Frauen sagen, die ihm vertrauen. Man kennt sie nicht, man
hört sie nicht und es gibt sie doch. Gewiss: Käme es zur Abstimmung, sie gingen
unerschrocken zur Urne und wählten ihn. »Meine Frauen sind Partisaninnen«:
vielleicht hat er, in irgendeiner Bar das Glas hebend, den Spruch längst zum
Besten gegeben, »ein Wink von mir und sie sind schon verständigt.« Nicht
möglich! Es ist gefährlich, so zu reden. Frauen achten auf Frauenbilder, vor
allem in der Politik. Karus, der Glückliche, hat keines. Falls doch, kauft es
ihm keine ab.
Karus die Stubenfliege
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§ 6 Der Sänger Caruso wurde einmal gefragt,
wie er sich den
Vorrat an goldenen Tönen erkläre, der unerschöpflich seiner Kehle entströmte:
»Gar nicht«, sprach er da, »sie erklären mich. Was wäre ich ohne sie? Würdet ihr
mich kennen? Was also soll die Fragerei?« Vermutlich wird Karus dann und wann in
seinem näheren Umfeld gefragt, wie er sich denn seinen Twitter-Elan erkläre.
Eine Gelegenheit, seine mediterranen Wurzeln zu beleuchten: »Bin ich Caruso?«
Womit er bereits einen Teil des Geheimnisses gelüftet hätte. Seine Tweets sind
gerade so schräg, wie er denkt. Da er sich nichts dabei denkt, hat sein Denken
frei. Was bewegt so ein freies Denken? Der Wind, das irdische Kind. Es
spürt jeden Trend und läuft vor ihm her, als wollte es sagen: Seht, wer da
kommt.
Karus die Stubenfliege
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§ 7 Als Karus die Fünfzig erreichte,
um sie nie mehr zu
verlassen, da geschah es, dass seine Partei zu stürzen begann: erst langsam,
gewissermaßen vorsichtig, sie war schließlich nicht mehr die jüngste, dann,
einmal in Fahrt gekommen, eher zügig und schließlich holterdiepolter. Da
beschloss sie, sich erstmals in ihrer langen Geschichte an eine im Aufstieg
befindliche Konkurrenzpartei zu klammern, teils, um deren Aufstieg zu bremsen,
teils, um sich an ihr wieder aufzurichten, vielleicht auch, ganz im Geheimen, um
sie mit in den Abgrund zu reißen. Sie nannte den Vorgang ›Kampf gegen Rechts‹,
stolz darauf, endlich von jedem rechten Gedanken verlassen zu sein,
einschließlich seiner einst zahlreichen Träger – bis auf einen, wohlgemerkt, der
nicht weichen und wanken wollte und selbst die Gerichte bemühte, um in seiner
Partei Partei zu sein, bis dass der Tod sie scheide. Auf diesen einen warf sich
Karli wie ein verwundeter Adler. Denn er verstand ihn nicht und
erblickte darin einen profunden Vorteil, der, wie er hoffte, ihn über kurz oder
lang ganz nach oben tragen würde: ins Amt des Großen Vorsitzenden.
Karus die Stubenfliege
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§ 8 Andere mögen das letzte Wort behalten, Karus behält den letzten Tweet –
»… und der geht immer in die Hose«, wie seine Feinde zu sagen pflegen. Sie sagen es
ihm nicht ins Gesicht, sondern per Twitter, im Nachgang. So bleibt man unter
sich und keiner sagt es weiter. Karus’ Twitterei ist ein offenes Geheimnis. Die
Presse schreibt, wenn überhaupt, gedämpft darüber, als stammte die Information
aus einer Krankenakte und sei streng vertraulich. Streng vertraulich ist
manches, was er zum Besten gibt, im Vertrauen darauf, dass es niemandem
auffällt. Allein die Unverdrossenheit, mit der er den Anspruch seiner Partei auf
die umgehende Gestaltung des Landes weiterträgt, während die Umfragewerte sie
langsam, aber sicher ›in den Keller schicken‹, nicht um Kohle zu schaufeln,
sondern um Einkehr zu halten und den eingeschlagenen Kurs noch einmal zu
überdenken (soweit möglich sogar die ›eingetretenen Veränderungen im
Parteiengefüge‹, wie die Strategen jene anonyme Macht nennen, vor der sie
kapitulieren), verrät vieles über den inneren Zustand des Führungszirkels, dem
Karus vielleicht angehört, vielleicht auch nicht – darüber gehen
die Ansichten der Journaille gewohnt weit auseinander.
Karus die Stubenfliege
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§ 9 Wenn Karus nicht die Partei repräsentiert,
dann umso mehr ihren Tunnelblick. Er steht damit nicht
allein, aber er macht seine Sache gut. Zum Beispiel fordert er mehr soziale
Leistungen oft und gern just zu jenen seltenen Gelegenheiten, zu denen der
Schuldenberg der öffentlichen Hände die Gemüter im Lande beunruhigt, bevor ein
kindischer Anlass sie wieder anders beschäftigt, so wie er das kraftvolle
Verlangen nach Steueraufschlägen für ein ausgezeichnetes Mittel hält, die Angst
vor der drohenden, tausendfach angekündigten Rezession zu dämpfen. Und
selbstverständlich tanzt er den CO2-Samba, wann immer sich eine
Gelegenheit dazu bietet. Besonders die aufgeblasenen Autos der kleinen
Parteifunktionäre und ihrer wohlmeinenden Klientel, SUVs – Sport Utility
Vehicles – genannt, erregen seinen Unwillen und lassen ihn olympische Blitze
schleudern:
bestofikarus@ikarus Heutigen Ausstoß an CO2 können wir uns gerade
noch 12 Ys leisten. Damit wäre 1,5 Grad Erwärmung erreicht, selbst wenn Ausstoß
danach dramatisch niedrig. Die Lage ist ernst. Trotz alledem: dieses Y 1 Mio SUV
hierzulande verkauft. Im Prinzip ein Wahnsinn.
So schreibt, frei von der
Leber weg, der freigestellte Professor und tritt vor die Tür, wo die elegante
Dienstlimousine, vollgetankt und blank geledert, bereits auf ihn wartet. Ein
Wahnsinn. Spaß auf dem Vulkan muss sein.
Karus die Stubenfliege
10
§ 10
Die Furchtlosigkeit, die sich in solchen Stakkatosätzen zeigt, bewährt sich umstandslos an anderen Fronten.
bestofikarus@ikarus
Im Ernst: Stinky hat keine Ahnung. Ihm doch egal, ob wir gerade Grundlagen unserer Zivilisation zerstören. (Null Vorstellung, könnten kurz davor sein, Erde extrem heiß zu machen. Auf Dauer!)
Da steht er, der Feind. Furchtlos den Stab gebrochen: So muss es sein. Zugriff! Apropos: Wer keine Ahnung hat, mit dessen Vorstellungsvermögen kann es nicht sonderlich weit her sein. Wie stets bei Karus, reitet sich die Attacke von selbst. ›Keine Ahnung‹: ein Markenzeichen des anderen. Karus hat Ahnung, wo immer er antritt. ›Extrem heiß!‹ ›Auf Dauer!‹ Nun, Stinky, da bist du baff.
#bestofkarus /2
bestofikarus@ikarus
Für die zynische Frau XY und ihre sogenannte Partei ist Klimaschutz bloß Anlass, um vor ›vermeintlichen‹ Klimaflüchtlingen zu warnen. In Afrika könnten die Menschen verbrühen: wenn es nach ihnen ginge, blieben die Grenzen dicht. Ist doch jeder selbst schuld, wo er geboren wurde.
Starker Tobak. Sehr starker Tobak. Eine Frau soll das sein? Das soll eine Frau sein? Eine Frau, die mit verschränkten Armen zuschaut, wenn ›in Afrika … Menschen verbrühen‹? Solche Megären kennt unsere Partei nicht. Nicht wahr, Frau Vorsitzende? Aber ganz gewiss doch, Frau Vorsitzende. Wie hätten Sie’s denn gern? Das Wort wird gestrichen. Gleich morgen. Ich schwör’s bei meinen Tantiemen.
Auf ein Wort noch. Kein Klimaschutz ist ›vermeintlich‹. Vermeintlich ist alles, was nicht der Fall ist. Die ›richtige Frau‹ weiß, was der Fall ist, z.B. was eine richtige Partei ist und was eine vermeintliche.
Es gibt noch andere Gegner.
#bestofkarus /3
bestofikarus@ikarus Abstoßend. Ein schlechter Mensch... Woher soll der Finanzhai Einblicke haben?
Woher wohl? Aber Herr Kollege! Das alles will gut bedacht sein. Was, wenn man eines nicht fernen Tages am Kabinettstisch zusammenstieße? Wie abstoßend wäre das denn? Pack schlägt sich, Pack… Man lernt immer dazu, lädt erst die Position dazu ein. Vielleicht reift so ein Urteil ja, vielleicht reift es nach, liegt es erst einmal im Container. Das gemeinsame Ziel gibt den Kurs vor.
Wenn Karus keine Expertise besitzt, tritt sein Vorstellungsvermögen in Aktion und erledigt den Rest. Sage niemand, er sehe achtlos über die Kleinigkeiten des Lebens hinweg. Das Gegenteil ist der Fall.
#bestofkarus /4
bestofikarus@ikarus Da E-Roller offenbar so gut wie nie den Autoverkehr ersetzen, schaffen sie überwiegend Probleme.
›Überwiegend‹, weit überwiegend! Besser wäre es, den natürlichen Lebensraum des Autos nicht durch sinnlos eingeschleppte Fremdvehikel künstlich zu beschneiden. Geht zu Fuß, Leute, wir haben Probleme genug! Oder fahrt Auto, falls ihr noch normal seid. (Griff in die ideologische Mottenkiste des Feindes! Soll nicht wieder vorkommen!!)
Dort, wo Politik und Ökonomie hart aneinander stoßen, steht Karus und regelt unermüdlich den Verkehr. Das geht, wie jeder weiß, der die Verhältnisse kennt, nicht ohne Blessuren ab.
The Importance of Being Prominent
2
#bestofkarus /5
bestofikarus@ikarus Ankündigung der Vermieter, noch schnell die Mieten zu erhöhen, ist Beweis für die Notwendigkeit des angekündigten Mietpreisstopps.
Man sieht: hier spielt der Professor seine logische Überlegenheit aus und verwirrt das Fußvolk. Wer denkt, die Mieten sollten ›noch schnell‹ erhöht werden, weil der Mietpreisstopp kommt, denkt zu kurz. Dass ein Geschehen als Beweis für die Notwendigkeit angeführt wird, es verhindernd herbeizuführen, lässt auch in der Pyramide die Herzen höher schlagen. Einer von uns! Wie schlägt er sich? Prachtvoll, das muss man sagen. Eine kleine Ehrenprofessur nach den nächsten Wahlen… Oder doch vorher…
Derweil setzt Karus andere Prioritäten.
#bestofkarus /6
bestofikarus@ikarus Jetzt gehen wir vom Dom los und demonstrieren für ein weltoffenes Europa. Gewerkschaften gehen neben uns.
Was, bitte, ist daran komisch? Was soll daran komisch sein? Komisch, ich kann nichts Komisches dabei finden. Zweifellos macht es sich besser, die Gewerkschaften gehen neben uns als ganz allein neben sich. Wer weiß, wo sie sonst ankämen. ›Wir gehen vom Dom los‹: herrlich! Man soll die Weltoffenheit nicht übertreiben. Vielleicht gehen wir neben uns, dann lässt sich auch das nicht ändern. Wir gehen halt nebeneinander. Solange die Richtung stimmt, geht alles. Geht doch. Auffällig gut sogar. Nur eben: neben uns.
Nichts erhellt den Tag besser als ein kleiner Dauerzwist in der Regierung.
#bestofkarus /7
bestofikarus@ikarus Koalitionspartner erlaubt Tabakwerbung für Jugend, aber keine Wahl. Brauchen Dauerwähler statt Dauerraucher.
Das ist Karus at his best. Wer so schreibt, hat auch im Jenseits keine Einbußen zu befürchten, es sei denn, er vermisst dort die Jugend. Aber sie kommt nach, keine Bange. Die Regierung erlaubt das Sterben, nur für die Auferstehung wird nichts getan. Man sieht, der Herr Prälat ist unzufrieden mit den Verhältnissen. Immerhin triebe die regierungsamtlich betriebene Auferstehung ihm die Jugend zuhauf ins Haus. Oder nicht? Suche den Fehler! Derweil ist Karus über alle Berge. Dort winkt er noch, den Dauerwahlschein des kommenden Dauerwählers fest in der geballten Faust.
Wenn Karus von künftigen Ämtern träumt, träumt er vom Reisen und macht sich schon einmal vorgreifend über seine künftigen Gesprächspartner lustig. Manche freilich kann er nicht ausstehen. Man merkt es daran, dass er einen scharfen Ton anschlägt und sich dabei umschaut, in welcher Reihe das außenpolitische Porzellan steht. Auch das Zerschlagen will schließlich geübt sein. Nein, der Mann mit der Peitsche verlangt keinen Eintritt. Was immer Sie denken, das ist keine Zirkusnummer. Es ist sein voller Ernst. Ernsthaft?
#bestofkarus /8
bestofikarus@ikarus Kanzler K, der sich als junger Metternich feiern lässt, hat sich aus Machtgier auf den rechtspopulistischen Mob eingelassen. Dabei hat er seinen Mangel an Charakter zu verdecken versucht durch perfekten Auftritt.
Woher weiß der Mann das? Er lässt wissen, da liegt der Unterschied. Warum soll ein Leser sich etwas denken, wenn der Schreiber keinen Grund dafür sieht? Auf ein Wort, ein Wort nur: ›Machtgier‹. Aufheben!
#bestofkarus /9
bestofikarus@ikarus X wirft Y vor, übertrieben zu haben und Fakten einseitig zu nutzen. Holla! Davon leben wir Politiker, auch wenn es dem einen mehr, dem anderen weniger gelingt.
Karus = Karus. Das qualifiziert ihn zwar nicht zum Identitätspolitiker, aber es verschafft ihm Spielräume, wo anderen der Boden unter den Füßen qualmt oder bereits, nach seiner Diktion, Absturz droht. Im Karussell der Träume, die seine Partei umtreiben, steht er aufrecht und sammelt Eintrittskarten. Es soll Freunde geben, die sehen es mit leichter Besorgnis. Wird ihm nicht schwindlig? Schwindelt ihm? Schwindelt er…? Diese Wallungen … diese Zuckungen … im Dienst an der Sache: Fallen sie nicht irgendwann auf die Person zurück? Was bleibt dann von ihr? Was bleibt von der Person, wenn die Sache zurückbleibt, vielleicht, weil sie sich totlief und jetzt alles egal ist?
Nein, Karus ist nichts egal.
#bestofkarus /10
bestofikarus@ikarus Es droht Kontrollverlust.
Keine von Karus’ Drohungen könnte reeller sein. Und gerade das ist vielleicht … eine Simulation.
―Sie attackieren ja öffentlich den Kollegen Langwasser. Dergleichen war bisher…
―Ganz recht. Dergleichen war bisher. Ausgeschlossen, wollten Sie sagen. Haben Sie gelesen, was sich Kollege Langwasser neuerdings im Netz der Netze leistet?
―Ich muss gestehen… Haben Sie Kontakt zu ihm?
―Das fragen Sie mich? Ich war sein Schüler.
―Aber deshalb frage ich ja. Ich dachte, Sie wären befreundet.
―Dachte ich auch mal, ja. Ich habe viel bei ihm gelernt.
―Comment?
―Will sagen: Für mich war Langwasser der sprühende, ästhetisch versierte, mit allen Wassern der Dialektik gewaschene Mediendidaktiker, wie er im Buche steht. Das war einmal. Heute finde ich einen erbitterten alten Mann, der dem Twitter-Beifall von Rechten, Populisten und Radikalen hinterherhechelt.
―Sie meinen, er tut’s –?
―Ja. Er tut’s, weil er Followers generieren will. Richtig: weil er nach Beifall von der falschen Seite giert. Er hätte das Medium erfinden können, es liegt ihm einfach zu gut, in gewisser Weise hat er’s erfunden, bevor es existierte –
―Sie meinen, er war schon immer so.
―Ja. Zumindest der Tendenz nach. Die Wahrheit in einem Satz. Da haben Sie’s. Ein Irrsinn. Wie kann man so etwas schreiben? Aber das war ja noch ironisch gemeint, alles zu seiner Zeit. Wir müssen die Dinge auseinanderhalten. Langwasser war immer ein liberaler Geist.
―Das ist er nicht mehr?
―Definitiv. Er ist ein Schandfleck für die Pyramide.
―Aber er ist Ehrendoktor der Fakultät. Princeton, Harvard –
―Gerade deshalb müssen wir handeln.
―Was werfen Sie ihm vor?
―Selbstradikalisierung. Er ist Beamter, wie stellt er sich das vor? Es gab Zeiten, da hat er Liebeserklärungen an die Regierung veröffentlicht.
―Das muss ja nicht immer sein… Aber interessant. Ein liberaler Geist, unser Langwasser. Sie sagen es.
―Hätte nicht sein müssen. Hat er aber. Und jetzt –
―Was schlagen Sie vor?
―Alles. Alles, was machbar ist. Die Eiterblase ausdrücken.
―Sagen Sie, dieser Herr Stadtmaus, mit dem Sie das zusammen geschrieben haben … ein Schriftsteller ist das? Muss man den kennen?
―Stadtmaus ist freier Autor. Wir kennen uns seit Jahren. Eigentlich seit dem Studium.
―Eine ehrliche Haut, sozusagen.
―Sozusagen.
―Ich habe mir sagen lassen, dass diese freien Schriftsteller oft zu radikalen Ansichten neigen. Irgendwo muss die Aufmerksamkeit schließlich herkommen.
―Stadtmaus ist radikaler Demokrat. Für den lege ich die Hand ins Feuer.
―Dass Sie sich da mal nicht verbrennen. Ich habe ein wenig im Netz recherchieren lassen.
―Ich weiß, was Sie meinen. Alles Lüge, alles Hetze.
―Damals oder heute?
―Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen.
―Der Entwurf, strunzt Stutenkeil, ist die transparente Botschaft, der Exzess die Verschlusssache der Überschreitung.
―Warum?
―Warum was?
―Warum Verschlusssache? Das behaupten Sie.
―Ganz einfach. Der Entwurf ist einsehbar, also rational. Der Exzess ist uneinsehbar. Also irrational.
Stutenkeil verkantet sich.
Die Sitzung II
3
IX.
―Einsehbar? grollt Kärich. Was heißt einsehbar? ›Tolerabel‹ meinetwegen, aber einsehbar … was ist schon einsehbar? Schwierige Frage. Gehört nicht hierher.
―Und intolerabel? Was wäre dann intolerabel?
―Intolerabel ist immer der Exzess.
―Im Prinzip, ja, aber in der Praxis…
―Die Praxis, mein Freund, züngelt Kärich mit gewohnter Schärfe, ist dazu prädestiniert, zum Teufel zu gehen. Ich sage das ohne persönliche Anteilnahme, da sie sich unablässig erneuert. Von Augenblick zu Augenblick. Aber auch das ist bloß eine Metapher. Die Physik setzt die Intervalle. Würden die Leute keine Kinder in die Welt setzen, wäre die Praxis durchscheinend wie … wie…
―Nun sag schon.
Die Sitzung II
4
X.
Stutenkeil hat sich wieder gefangen.
―Man könnte den Exzess als Unfall betrachten … das wäre dann ein Fall, der buchstäblich aus der in der Regel gelingenden Praxis herausfällt. Nehmen wir ein Beispiel aus der Natur. Es ist bekannt, dass Menschen, als biologische Wesen betrachtet, nicht fliegen können. Sie haben aber einen Ausweg aus dieser empfundenen Misere gefunden und benützen Flugzeuge. Fliegen, so sehe ich das, ist die zutiefst befriedigende Überschreitung eines fortdauernden Unvermögens. Anders ausgedrückt: Fliegen ist eine Praxis, die in stabiler Weise das natürliche Unvermögen zu fliegen unterläuft. Und woraus besteht diese Praxis? Lassen Sie es mich so sagen: Sie besteht aus einem Bündel technischer Maßnahmen, der Aktivierung eines sozialen Verhaltensmusters und der Affirmation des Unmöglichen: ›Ich fliege!‹ Selbstverständlich ›fliegt‹ ein Gepäckstück nicht, auch wenn es für die Crew oder die Technik gar keinen Unterschied macht, ob das Flugzeug mit Passagieren oder Frachtstücken unterwegs ist. Flugzeuge, das weiß jedes Kind, fliegen nicht deshalb, weil sie eine Flugnatur besitzen. Sie fliegen innerhalb eines definierten Korridors aus Geschwindigkeit, Steigwinkel, Kurvenradien etc. Sobald sie diesen Korridor verlassen, verlassen sie auch den Bereich definierter Flugzustände. Sie geraten ins Trudeln etc., also in eine Folge von Abläufen, an deren Ende mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Absturz steht, es sei denn, eine clevere Elektronik zieht sie wieder aus dem Schlamassel heraus. Der Absturz ist der Exzess des Fliegens. Die Black Box ist seine Dokumentation.
―Also Kontrollverlust.
―Aber sicher.
Die Sitzung II
5
XI.
Memo
Die Wissensgesellschaft öffnete ihren Schoß und die neue Halbbildung strömte hinein: die Abenteurer, die Halbidioten, die Ganoven, die Süchtigen, die Vertrockneten, die Halbgaren und die Überständigen, diejenigen, die es wissen wollen, samt denjenigen, denen nichts ferner liegt, die Glücksritter, die Spesenritter, die Sack-und-Asche-Prediger, die Unheilsverkünder und Verleumder, die Großsprecher und die Kleinmütigen, die Besessenen des Geschlechts und die Zuchtmeister aller Klassen, die Vegetarier, die Veganen und die Lichtesser, die Regenwaldretter, die Konsumdonnerer, die Vielflieger, Vieldeuter, Vielbeschäftigten, das älteste Gewerbe der Welt und das jüngste. Gleich dahinter kreuzten die Geheimdienste und die Militärs auf, die Fädenspinner im Verborgenen, die immer am Ball sind, wo es etwas zu holen gibt, die Aufrührer, Umstürzler, Zukunftsnarren und Zukunftsplaner, die Fanatiker aller Couleurs, die Frommen, die Heuchler und die Glaubenmacher, die Terror-Paten und die Götter des Heroin. Willkommen im Wissen! Herein ins Risiko! Wissen ist Risikokontrolle. Alles im grünen Bereich. No risk no fun.
Die Sitzung II
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XII.
Stutenkeil ›bricht‹ seinen Gedanken auf das Fassungsvermögen der Kollegen ›herunter‹:
―›Projekt‹ bedeutet: jemand nimmt sich etwas vor, aber nicht als Zweck, sondern als Mittel.
Woran denkst du, Stutenkeil?
―Das Mittel ist dem Zweck gegenüber kontingent, also ziemlich gleichgültig, bei alledem ambivalent. Ob es Prestige, Geld, Macht oder eine andere Art der Befriedigung einträgt, hängt daran, wie gut der Entwurf ist, ob er ›trägt‹, ob er ›durchkommt‹, ob er ›realisierbar‹ ist oder nicht letztlich ›an Widerständen scheitert‹ und auf dem Müllhaufen des vergeblich Ersonnenen landet.
Wie Fu? Gute Frage, nächste Frage. Und? Willst du es wissen? Eigentlich schon. Willst du es genau wissen? Eigentlich nicht.
―Im Projekt tritt das Verhältnis von Zweck und Mittel gegenüber der Praktikabilität in den Hintergrund. Das Realisierbare setzt sich durch – vielleicht nicht gleich, nicht an Ort und Stelle, aber auf lange Sicht. Ich entwerfe ein Automobil, ich entwerfe einen Tiefbahnhof – technisch zunächst kein Problem, bis das Öko-Milieu anrückt –, einen Großflughafen im Land der tausend bürokratischen Vorgaben, eine extravagante Konzerthalle mit Snob-Appeal, einen Selbstfahr-Schießautomaten mit Kettenantrieb, eine gesellschaftliche oder literarische Praxis. Was ich sagen will: aus der richtigen Perspektive betrachtet, ist der Stand der Technik ein und derselbe. Soll heißen: der Stand der Technik bestimmt, was geht, was nicht mehr geht (zu teuer!), was noch nicht geht (zuviel Forschungseinsatz). Also liegen meine Entwürfe keinesfalls weiter auseinander als die entsprechenden Praxen im Fabrik- und Automobilbau, im sozialen ›Umgang‹ oder in der literarischen Produktion. Komisch, aber einleuchtend: Was die Entwürfe von den Praxen unterscheidet, verbindet sie untereinander als Entwürfe. Die Koppelung an gängige Ideen und Planungsmethoden legt die Vermutung nahe, dass Entwürfe ganz allgemein nicht so weit auseinanderfallen wie die dazugehörigen Praxen.
Die Sitzung II
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XIII.
Stutenkeil, du bist ein Genie. Ein Projekt steht und fällt mit seiner Praktikabilität. Darauf muss einer erst kommen. Ein Projekt mit Aussicht auf Realisierung darf den beteiligten Sachverstand nicht übersteigen. Potzblitz! Es übersteigt ihn aber in mindestens einem Punkt, schließlich wurde es selbst noch nie realisiert. Der Sachverstand muss also zwangsläufig an der Ausführung wachsen. Man macht so seine Erfahrungen. Wie wahr. Wächst er nicht (oder in die falsche Richtung), entstehen Investitionsruinen. Oder es entsteht einfach etwas anderes. Bravo!
Wo bleibt der Beifall? Genie Stutenkeil ist bereits in anderen Gefilden unterwegs.
―Nehmen wir einmal an, ein Entwurf ist praktikabel, was ja nichts weiter heißt, als dass er sich mehr oder minder maßstabsgetreu zur Ausführung bringen lässt. Das bringt uns zur nächsten Unterscheidung. Denn dieser Entwurf mag eine große technische Problemtiefe besitzen. Doch vermutlich – darauf kommt es hier an – bleibt seine kulturelle Prägnanz gering.
Definitionen
Kulturelle Prägung
Der Entwurf kalkuliert einen gewissen kulturellen Widerstand ein und ›spielt‹ mit ihm.
Kulturelle Prägnanz
Der Entwurf trifft auf bedeutenden kulturellen Widerstand und setzt sich durch (oder auch nicht).
Kultur. Das Zauberwort. Hier öffnet der Zirkus der Wissensfiktionen seine Pforten.
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XIV.
―Völlig falsch angelegt!
Duro ist nicht zu bremsen. Er hat sich vom Platz erhoben, das Sakko hängt über die linke Schulter, die rechte Hand steckt im Hosensack, die Näselstimme befindet sich, wie so oft bei ihm, im Pressmodus.
―Ich würde hier drei Entwurfstypen unterscheiden. Erstens den pragmatischen: ich würde ihn als kontingent, aber hier und jetzt nützlich bezeichnen. Zweitens den anthropologischen, schärfer gesagt, den emanzipatorischen: der gehört in die Evolution des Gattungswesens, des Menschen, wie das traditionell heißt, problematisch, aber im Hinblick auf die Tradition … noch zu gebrauchen … noch zu gebrauchen. Drittens natürlich die Utopie, die U-to-pie: Die Möglichkeiten aktueller Realisierung sind mau, aber darum geht’s nicht … Zukunftsräume ausmessen … das große Rad. Vermuten wir mal: Mit dem Widerstand gegen die Realisierung von Entwürfen wächst die Tendenz, sie anthropologisch zu rechtfertigen … was hätten wir da? Die Aufhebung der Lebensnöte, der ewige Kampf um die Gattung, gegen Elend, gegen Ausbeutung, gegen Rückständigkeit, gegen die Reaktion … und dann das radikal Neue, die Lebensgrundlagen der Gattung, die Erhaltung der Biosphäre … wo hat der Kerl seine Augen im Kopf? Man muss die Vorteile sehen… Sobald ich mein Projekt anthropologisch rechtfertige, bin ich flexibel, der Mensch hat viele Belange, mit ihnen lässt sich manches begründen, es herrscht Notwendigkeit in diesen Regionen, denn: es geht darum, Not zu wenden, immer, zu jeder Zeit, mit allen Mitteln, die recht sind, darin liegt schon eine gewisse Entgrenzung. Das nicht festgestellte Wesen … erlaubt im Prinzip jede Aussage über sich.
Duro, das wissen alle, hört sich gern reden.
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XV.
An dieser Stelle gefragt würde Duro (niemand fragt ihn, er tagträumt vor sich hin und hat seinen Vortragsfaden verloren) Platons Höhlengleichnis ins Spiel bringen, die Meisterklasse der Interpretation, jedenfalls wenns ums Entfesselungsparadigma geht, und darum gehts doch. Geben Sie zu, Kollege Stutenkeil, darum geht’s doch. Ihnen vielleicht nicht, aber Sie verschwenden ihre Zeit, was nicht so schlimm ist, Sie verschwenden unsere Zeit, ich kann Ihnen nicht mal verdenken. Nein, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Die Welt ist, wie sie ist, und sie ist veränderbar. Jede Stimme ist eine Stimme zuviel, im Prinzip, denn sie ist Meinung, doxa. Doxa ist aber nichts Meiniges, sie gehört mir nicht, sie gehört niemandem, sie ist … sie ist … identisch mit dem Gerede der Leute, dem Schmiermittel der gesellschaftlichen Prozesse. Ein wenig Griechisch an dieser Stelle, Kollege, wenn ich bitten darf. Du darfst bitten. Da sitzen sie in der Höhle, hoch geht es her, unbeschreiblich das Stimmengewirr, jetzt metaphorisch betrachtet, denn es handelt sich um Diskurse und es geht, wie immer in solchen Fällen, um Diskurshoheit. Wer sie hat, der beherrscht die Praxis, der beherrscht die Praxen. Gewimmel auch da. Natürlich geht es um Herrschaft. Das hast du nicht auf dem Schirm, Stutenkeil. Warum eigentlich nicht? Hältst du Universität immer noch für einen herrschaftsfreien Raum? Soll’s geben, Kollege. Bist du dermaßen naiv? Das darf doch nicht wahr sein. Doch, es ist wahr.
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XVI.
Duro traumträumt weiter, der Stift gleitet, der Notizzettel füllt sich, Entfesselung ist im Gang.
Die wahren Handlungsoptionen der Gattung sind durch die Vielfalt der Stimmen und Meinungen, vor allem jedoch der gängigen Praxen verstellt. Sie müssen, wie Platons Höhleninsassen, wie die Gefangenen von Workuta / Guantanamo, freigesetzt werden.
Der anthropologisch begründete bzw. gerechtfertigte Entwurf ist von Haus aus emanzipatorisch. Wer immer ihm widerspricht, muss mit der Aufforderung rechnen: Mach dich frei!
Die Freiheit, die Dinge so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, ist der imaginäre Beginn einer Welt, in der die Dinge sich nach den Vorgaben des Entwurfs ordnen.
Die Freiheit, die Dinge nicht so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, ist Unfreiheit und muss bekämpft werden.
Die Sitzung II
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XVII.
Stutenkeil kämpft. Er singt (vom Blatt):
―Zur Dynamik anthropologischer Entwürfe gehört der Kampf der Fiktionen.
Ein Entwurf kann an inneren Unstimmigkeiten und Widerständen scheitern. Nicht hingegen kann er, streng genommen, widerlegt werden.
Im Grünen, genauer: am zerklüfteten Südrand der Ruhrstadt, genauer: über den Köpfen der Stadtbewohner, in einem nach seinen Bedürfnissen (und denen seiner fernen Gattin, die gelegentlich zu flüchtigen Besuchen einschwebt) liebevoll nachgebesserten Hexenhaus lebt Blowasser, den Küchenblick aufs Herzstück des Anwesens, die mehrere Stockwerke überspannende Bibliothek gerichtet, auf deren gläsern spiegelnder Front sich Fuchs und Hase in der Stunde der großen Dämmerung Gute Nacht zuflüstern. Nächtens sieht die Nachbarschaft Blowasser beim unruhigen Schein der Stirnlampe buchauf, buchab klettern, zum Zweck der Identitätsfeststellung Staub von einem herausgezogenen Folianten blasen, ab und zu für längere Zeit in Lesepose verharrend, und unwillkürlich überläuft sie ein leichter Schauder.
Innenluft
2
Von weitem
erkennt Tronka, den Hang emporkeuchend, den einsamen Turner am ›Affenfelsen‹, wie Kollegenflachs die kühne Konstruktion zu nennen beliebt. Blowasser bebt. Entgegen der Abmachung ist Elvira in Brüssel geblieben und hat das gemeinsame Abendessen gecancelt. Immerhin, es gibt sie noch oder wieder, das ist, nach überstandener Krise, erstaunlich, er kann nicht klagen:
―Sie hat so viel um die Ohren. Der Apparat frisst sie auf.
Brüssel, planetarischer Ort mit der gefühlt höchsten Phrasendichte, Hornissennest ohne Glanz, eine Zeitmaschine, deren Fahrpläne sich gegenseitig kannibalisieren, ein Hort der Ideologie ohne Anker in der wirklichen Welt, Kampfsportarena der Karrieristen und Einfallszone des internationalen Geldes. Elviras Arbeitgeber. Too big to fail.
―Ich verstehe nicht…
―Sie ist ein Junkie. Die Tochter schlägt ihr nach. Tut mir leid. Der Italiener ist ganz in Ordnung. Gehen wir.
Die Spieler in ihren Körpern, bewegt vom Spiel, plädieren auf: Nicht wirklich
Pyramidenschauer
1
Die Zelle trifft sich
Die Gezeichneten
Nassen, in seiner übergroßen Blasiertheit, hat der Einladung einer ›rechten‹ Denkfabrik Folge geleistet und zu seinem Entsetzen für einen betont ›linken‹ Beitrag stürmischen Applaus eingefahren.
Hölzchen, neuerdings als Killus-Intimus Wegbereiter des nationalen Erwachens, strahlt (mit Konterfei!) von sämtlichen mit der Aufdeckung rechter Seilschaften in der sogenannten Mitte Furcht und Schrecken verbreitenden Netzportalen, ein eifriger Kollege, dessen Namen nicht in Erfahrung zu bringen war, hat ihn bereits gemeldet und Elisabeth in die allseits als unangenehm empfundene Lage versetzt, mit dem Ergrauten Klartext reden zu müssen.
Endlich hat Leckebusch Zeit gefunden, das Erinnerungsbuch über seine DDR-Zeit zu schreiben und dabei, in aller philosophischen Unschuld, kein Blatt vor den Mund genommen … ja … klickt’s? Noch nicht? Ja … ja … endlich!
Tummler? Warum Tummler? Sehr einfach: einer wie er muss nur den Mund aufmachen und alle Welt … flieht … flieht… Das war nicht immer so, aber nachdem es so ist, wie es ist, ist es gerade so und kann gar nicht anders sein. Tummler ist unbotmäßig.
Auch ein Blowasser muss seit ein paar Wochen erfahren, dass alles vor ihm auseinanderstrebt. Das trifft den Charmeur hart, vor allem, da er keinen Schimmer davon besitzt, wer – oder was – ihm das eingebrockt haben könnte. Er weiß nichts davon, dass ein zehn Jahre alter Artikel von ihm – Big Pharma is Watching You. Pharmageld und Politik – in den alternativen Medien herumgereicht wird, bloß weil seine Tochter, stolz auf den Alten, ihn dort eingespeist hat. Steckte ihm jemand, dass im Hintergrund bereits ein Disziplinarverfahren gegen ihn anläuft, er würde es nicht glauben. Er weiß so manches noch nicht. Alles zu seiner Zeit!
Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Für gewöhnlich unterscheiden wir zwischen Fakten, ihrer Herleitung und den Konsequenzen, die wir daraus ziehen, ich meine jetzt ›wir‹ in einem sehr allgemeinen, mehr geschäftsmäßigen Sinn, ohne jeden Gemeinschafts-Hintergrund. Fakten sind Fakten, sie bleiben es, auch wenn die dafür aufgebotenen Ursachen Kokolores sind und die Konsequenzen mehr als fragwürdig klingen. Dieser Journalist, der sich mit Leuten beschäftigt, deren Weltbild er ablehnt und deren Programm er für gefährlich hält, stellt sie alle in eine Reihe, so dass, wer die Fakten bestätigt oder nur auf sie hinweist, von ihm automatisch jenen Leuten zugerechnet wird. Aber das ist Irrsinn, wirklicher Irrsinn. Das ist der Exzess.
Wenn ich mich in der Pyramide bewege, bin ich ein archaischer Mensch. Eingehüllt in den Panzer meiner hierarchischen Stellung, die Waffen des Hochmuts und des Sarkasmus stets griffbereit. Noten, Gutachten, Voten sind die Instrumente meiner Jagd; sie dienen dazu, das Wild aufzuspüren, es zu verfolgen, zu stellen und zur Strecke zu bringen. Verlasse ich die Pyramide, bin ich entwaffnet, fühle mich nackt, warte instinktiv darauf, dass mich jemand verfolgt. Ich registriere das Misstrauen in den Augen der Nachbarin, die kein Wort von dem versteht, was ich rede. Für sie bin ich nicht niet- und nagelfest, ihre Welt käme ins Schlingern, hätte ich darin das Sagen. Gottseidank sind wir nicht soweit. Wie weit dann? Sie weiß es nicht. Ich übrigens auch nicht. Jemand wie ich sollte eigentlich wissen, was die Uhr geschlagen hat. Aber ich weiß es nicht. Für mich sind die Menschen dort draußen Schemen. Ihre Rede besitzt keine Geltung. Komischerweise ist sie es, die gilt. Beim Friseur, beim Bäcker (warum immer diese zwei?) erfahre ich, was sie denken. Es macht mich sprachlos. Die Wahrheit ist, ich erfahre es immer weniger. Die ausufernden Reden meiner Kindheit sind leiser gedreht, sie sind fast verstummt. Neulich, bei der Fußpflege, hörte ich sie wieder. Dort, jeder in seiner Kabine, reden die Leute noch. Ein simpler Vorhang gibt ihnen das Gefühl der Intimität. Wichtig ist, dass sie einander nicht sehen. Dabei belauern sie einander wie die Zuträger. Ich lausche. Das Belauschen steigt mir zu Kopf. Es zerstört meine Arbeitsgedanken. Es wirkt wie ein Rausch. Es ist ein Rausch. Ich bin außer mir. Nach der Behandlung erhasche ich einen Blick auf den fremden Körper, aus dem diese Reden quellen, und bin ernüchtert: Er ist es nicht. Was ist er nicht? Das Äquivalent zur Rede. Diese Rede und dieser Körper haben sich nichts zu sagen. Sie sind einander unbekannt. Die Evolution hat sie voneinander losgerissen. Erst an der Kasse kommen sie wieder zusammen. Mich kann das nicht täuschen: Ich habe gehört.
Ich kenne einen Schriftsteller, der schreibt, wie er denkt. 1:1. Ob er denkt, wie er schreibt? Schwer zu ermitteln. Dort, wo er herkommt, genügte der Ansatz. Wie ich das meine? Das Wort ›Freiheitsentzug‹ klingt seltsam, wenn es auf die Praxis einen Staates angewandt wird, der Freiheit nur in Ausnahmefällen gewährt, zum Beispiel als Freiheit, das Maul zu halten oder in den Knast zu wandern. Und so zu reden ist noch naiv, da er die Freiheit, das Maul zu halten, ganz sicher nicht gewährt, ebensowenig wie die Freiheit zu sagen, was alle denken. Eher die Freiheit zu denken, was alle sagen. Ich rede vom zweiten Bekenntnisstaat auf deutschem Boden, wenn man den patriotischen Furor des Kaiserreichs einmal beiseitelässt. Sie wissen, was ich meine. Dieser Schriftsteller – nein, es ist nicht unser geliebter M – hat einen Großteil seines erwachsenen Lebens hinter Gittern verbracht, darunter Jahre verschärfter Haft, die kein Mensch ohne größere Schäden an Körper und Geist übersteht, weil er … weil er … es ist so läppisch, helfen Sie dem Wort über die Zunge! … weil er … ein Gedicht geschrieben hat. Ein Gedicht. Kein aufrührerisches, bewahre, eher ein blasses, ein bleiches, wenn Sie den Unterschied verstehen. Sie verstehen ihn, ich sehe es, Sie sind im Bilde. Viele bleiche Gedichte wurden in diesem Lande geschrieben, nicht immer wanderten ihre Verfasser in den Knast, manche auf Schriftstellerkongresse, wo jedes ihrer Worte gewogen wurde, dieser hier, wie gesagt, wanderte gleich in den Knast, er blieb ein Wandernder, dem der Unterschied zwischen Knast und Nichtknast zusehends schwand, er wurde ihm gewissermaßen schleierhaft und er bat die Behörden in mehreren wohlaufgesetzten Schreiben, den Schleier von ihm zu nehmen oder ihn gehen zu lassen … wohin?
Wo will einer hin, dem der Unterschied abhanden kam? Die Frage musste einmal gestellt werden. Der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit, der Unterschied, an dem sich Europa entscheidet, er konnte außer Kraft gesetzt werden, weil die Handlungen, welche überall auf der Welt im Namen der Freiheit vollzogen werden, auf dass Freiheit sei, durch zwei teuflische Systeme angeeignet und vollständig ihres Sinnes entkleidet wurden. Unfreiheit als Freiheit und Freiheit als Unfreiheit zu verkaufen fällt einem geübten Propagandisten leicht, sofern er nur seine Freiheit (oder was er dafür hält) damit erkauft. Sperrt man ihn ein, fällt das Kartenhaus in sich zusammen und er ist, um wieder herauszukommen, zu allem bereit. Man muss ihm also das Loch zeigen, in das man ihn stecken wird, sollte er nicht parieren. Schon erscheint ihm seine Unfreiheit als die kostbarste aller Freiheiten und er ist willens, sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Da stellt sich die Frage: Wer in einem solchen System ist nicht Propagandist? Sie führt direkt auf die nächste: Wer ist es nicht aus freien Stücken? Einer, der seine Freiheit verteidigt und bereit ist, die der Mitmenschen dafür in die Tonne zu treten, der hält sich nicht für einen Mitläufer. So einer hält sich am Ende für eine besonders pfiffige Art des Widerstandskämpfers und lacht jedem, der ins Gefängnis geht, ins Gesicht: Darum geht’s nicht. Darum ging es nie. An der Überzeugung, dass es zu einfach wäre, in den Knast zu gehen, erkennt man den wahren Sollerfüller.
Diktatur kommt auf leisen Sohlen. Hat sie uns je verlassen? Natürlich nicht. Sie steht daneben – abwartend, taxierend, taxiert, eine Karikatur, eine Karikatur der Herrschaft des Volkes, eine Karikatur ihrer selbst, manchmal verliert einer die Nerven und schreit, wir hätten sie doch längst, dann blicken sich alle erschrocken um, der Schreihals, selbst erschrocken, schweigt, er ist stumm beschäftigt, die losen Fäden seiner Reputation zusammenzuhalten, das füllt ihn aus, bis zum Rand und darüber. Er wird kein Geschrei mehr veranstalten, dazu reicht seine Kraft nicht. Kraft muss einer haben. Oder ein loses Maul. Das lose Maul, man mag von ihm halten, was man will, ersetzt spielend die größte Kraft. Es ersetzt auch den größten Verstand, der zu ergrübeln versucht, was vorgeht, und dabei dem Paradox der ›Pfade, die sich verzweigen‹, erliegt: Es ist zur Stelle, es fragt nicht danach, ob es gebraucht wird, es braucht auch nichts, es sei denn, die Luft zum Atmen. Sei kein Rindvieh! Das schreibt keiner an seine Tür, er käme sich dämlich vor, aber er trägt den Spruch über dem Herzen, er atmet mit. Neulich las ich, der Schauspieler Pimwege will einen Preis stiften: Wer ist das Rindvieh? Er hofft auf zahlreiche Wortmeldungen. Das ist zynisch. Dabei ist, wer sich meldet, nur in den Augen der Freunde eins, die anderen finden ihn ›unheimlich clever‹, sobald sie sich vom Gelächter erholt haben. Die Selbstanzeige ist die klassische Form, Verhältnisse kenntlich zu machen. Offen sein, wo es niemand erwartet, und zusehen, welche Türen sich umgehend schließen: ein Schatz.
›Wir leben in einem geschützten Raum.‹ Wer hat diesen Unsinn aufgebracht? Werden wir draußen misshandelt? Von wem? Ich zum Beispiel, werde ich misshandelt? Meine Bücher, ich muss es so sagen, werden öffentlich mit Abscheu bedacht, sie verschwinden peu à peu aus den Regalen, mein alter Verlag ist unerreichbar, mein neuer zögert, meine Bücher auf den Markt zu bringen. Er zögert, unter uns, schon viel zu lange. Aber ein Wir habe ich nicht gesichtet. Hätte ich sollen? Dieses Wir wäre ja identisch mit – lassen Sie mich nachdenken – uns allen hier oder, lassen wir das ›alle‹ weg, wir hier in diesem Raum. Das aber würde voraussetzen, dass wir irgendeine gemeinsame Eigenschaft aufweisen, eine, die uns kenntlich macht, zum Beispiel, dass wir da draußen, zum Beispiel als Gruppe – Viererbande haha – angegriffen und verfolgt würden … Kennen Sie Verfolgung? Nicht direkt? Nun, dann nicht. Sind wir hier drinnen wir und draußen andere? Werden wir hier misshandelt oder draußen? Nein, wir werden nicht misshandelt. Sie, Nassen, sind es doch, die ein Quarantäneglas über mich gestülpt haben und jetzt darauf lauern, was er wieder sagen wird, damit der Abstand, auf den Sie gegangen sind, womöglich Sinn ergibt. Kennen Sie Verfolgung? Ich meine, am eigenen Leib, wie es sich gehört, samt Berufsverbot und ›Haftanstalt‹ und, meinethalben, der irren Aussicht auf Freikauf in einen Westen, den Sie nicht kennen, in den Sie daher alles hineinprojizieren, das Sie nicht kennen, eingeschlossen Ihre eigene Unschuld … ja gewiss, Unschuld, denn diese Unschuld gäbe es gar nicht, gäbe es den Westen nicht, diesen Unschuldshorizont, doch gewiss nicht der Ihrige, denn schuldlos, unschuldig sind Sie nur dann, wenn es Ihre Sehnsucht, in den Westen zu gelangen, gar nicht gibt, wenn sie nichts weiter ist als eine böswillige Unterstellung, ausgestreut, um Ihr Ansehen im Kreis der Genossen zu ruinieren. Und dennoch … dennoch rumort er in Ihnen, der irre Wunsch, dieser Sache hier ein Ende zu machen, ganz recht, ein Ende, die Abkürzung in die Freiheit zu nehmen, zweifellos in eine andere Freiheit als die, die sie sich gerade nehmen, um dafür zu bezahlen. Denn im Grunde, im Grunde Ihres verräterischen Herzens wollen Sie nicht bezahlen, hier nicht und dort nicht und überhaupt nicht, wenn es nach Ihnen geht, Sie wollen zahlfrei… Wovon sprach ich gerade? Vergessen Sie’s. Vergessen Sie’s einfach. Manchmal gehen die Pferde mit mir durch.
Alle in eine Reihe… Es ist gefährlich, in einer Reihe zu stehen, die Leute lieben die Differenz aus eigensüchtigen Motiven, das Programm ist ihnen eingeschrieben. Wer über die Macht verfügt, andere antreten zu lassen, der besitzt auch die Macht zu vernichten. Denunzianten lieben die Reihe, sie lieben es, Menschen an einer syntaktischen Schnur aufzureihen, die wenig oder nichts miteinander verbindet: die Schnur führt mitten durch sie hindurch, sie demonstriert, was von ihnen zu halten ist, je dicker der Strick, desto weniger bleibt von ihnen übrig. Wenn nichts von ihnen übrig blieb als ein wenig Glanz (er zumindest muss bleiben, denn sonst lohnte sich die Akquise nicht), dann wird es Zeit, dass sie hängen: verraten, verkauft und der arglosen Kundschaft um den Hals gelegt, um sie besser würgen zu können, wenn erst die Zeit gekommen und der syntaktische Unfug nicht mehr vonnöten ist.
Kritik? Wer redet von Kritik? Reden wir über das, was der Kritik antwortet: Schweigen. An den Rändern des Schweigens bricht hervor, womit der Kritiker niemals rechnet, es sei denn, er kennt seine Pappenheimer und seine ganze Kritik ist nur ein abgedroschenes Ritual. Was hervorbricht, sind Wörter, Wörter, keine gewöhnlichen Wörter, sondern präparierte, schwer in der Hand wiegende Wurfgeschosse, mit denen man am besten auf den Kopf zielt, aber das muss man der Meute nicht groß erklären, das weiß sie ganz von alleine. Trotzdem: nicht jeder Wurf trifft. Dafür trifft er dann einen anderen Körperteil. Oder er trifft jemand anderen, der, zufällig oder nicht, danebensteht und sich eigentlich sicher wähnt. Wie naiv muss man sein, um sich eigentlich sicher zu fühlen? Ich habe mich das oft gefragt und folgende Antwort gefunden…
Don’t forget! Niemals vergessen, niemals verzeihen. Das sicherste Mittel, das gemeine Wesen für die kommenden Gemetzel zu präparieren, ist die Herrichtung der Böden. Verstehe das, wer will. Und führe mich nicht in Versuchung. So ein Hass, sagen wir, durch ein geeignetes Parkettmuster lebendig gehalten in alle Ewigkeit, besitzt immer einen guten Grund, wenn nicht einen, so zwei oder drei, er ist, will ich sagen, nie um Gründe verlegen. ›Lass uns darüber reden? Wo kämen wir da hin.‹ Niemals darüber reden, immer daran denken! Nennen wir sie die auseinandertreibende Macht, die viel Zeit hat. Sie lässt reden, sie lässt auch zuhören, sie ist selbst die beste Zuhörerin, aber sie hört nichts außer dem Immergleichen: Deine Zeit wird kommen. Übrigens lässt sie nicht nur die gegnerische Partei reden, sondern auch die eigene, ohne sich dazu zu verhalten, es sei denn mit einem Schulterzucken oder einem »Lasst mich aus, ich war’s nicht.«
Man fühlt sich sicher, weil man nicht weiß. Man weiß nicht recht, solange man keinen Bezug zur eigenen Existenz herstellt. Man weiß nicht alles, solange man den falschen Bezug zur eigenen Existenz herstellt. Man weiß nicht wirklich, solange man in falschen Bezügen lebt. Die Frage konzentriert sich also darauf, welche Bezüge wahr oder falsch genannt zu werden verdienen, jawohl, verdienen, denn es handelt sich um eine Frage des Verdienstes. Bezüge, welche sich um dein Wohlbefinden verdient gemacht haben, stehen bei dir, will sagen, bei deinesgleichen im Ruf der Wahrheit: So ist es und nicht anders. Wer etwas davon anders sieht, wird da leicht zum Gegner, er will dir etwas wegnehmen, er mindert dein Wohlbefinden, er schränkt dich ein, er bewirkt, dass du dich eingeengt fühlst und du schüttelst ihn ab. Wenn er dann neben dir herläuft und weiterschwatzt, erkennst du in ihm eine wirkliche Gefahr, seine bloße Mitexistenz schwärzt dich ein, um ihn loszuwerden schwärzt du ihn an.
Ach ihr Leichtgläubigen! Oder soll ich euch ›Hochfahrende‹ nennen? Denn ihr fahrt hoch, aber auf welchen Wegen? Wir alle sind Pyramidenbewohner, da beißt die Maus kein’ Faden ab, wir sind Innenmenschen, auf Distanz zu allem bedacht, was Außen heißt oder danach schmeckt, riecht, aussieht: So bauen wir unseren Käfig selbst. Wir lieben diese Zone verdünnter Wirklichkeit. So sehr lieben wir sie, dass wir sie automatisch zu hassen beginnen, sobald das Innere uns bedrängt: Gibt es kein wirkliches Leben im unwirklichen? Doch, das gibt es, es hört auf den Namen der Intrige, der kleinen, beiläufigen wie der weitgespannten, die weder Anfang noch Ende kennt und deshalb eine dritte Realität genannt werden kann, jedenfalls sehen sie viele so an und leben und weben in ihr, dass es eine Macht ist. Ja, sie halten sie für die Macht und glauben, sie stünde ihnen zur Verfügung, als fließe sie ihnen aus der Institution zu, so wie das Leitungswasser aus einem Rohrsystem, das für jeden Haushalt einen Hahn bereithält, wenn nicht mehrere.
Homomaris breitet seine Verzweiflung aus und bekommt Applaus
Faschistische Massen
1
Ein Tigerritt
Die Politik ist ein Tiger. Wegenaer, Unruhe im Herzen, hat beschlossen den Tiger zu reiten. Mit von der Partie: Nassen, dem imponiert, dass Wegenaer den scheidenden Rektor ›eingekauft‹ hat. Nassen, der kühle Nassen mit den feuchten Patschhändchen … er versteht nichts von Kunst, wie er ungefragt jedem beteuert, er ›hält sich da raus‹. Aber als Vehikel der Politik –
―Wow!
Elisabeth ist der Star des Tages. Der Rektor, Rührung im Blick, vergisst ums
Haar sein Manuskript, was jucken ihn fette Pferde angesichts dieser Rasse,
dieser Anmut, dieses glänzenden Blicks, dieser rundum aparten Person, die ihn,
da macht er sich nichts vor, nun vermutlich beerben wird, obgleich ihre Quali-,
ihre Quali-, ihre Qualifikation… Schwarm drüber! Der Gott der Fikationen hat
gesprochen. Wow. Was heißt das eigentlich? ›Woll?‹ Nicht dein Ernst. Soviel
Sprachsensibilität muss sein. Gerade jetzt, wo so vieles geht. Rektorin der
Herzen! Ungewohnt, aber warum nicht?
Nassen, der Mann, der nichts anbrennen lässt, hat Kärtchen drucken lassen und sie über das leere Gestühl verteilt.
Faschistische Massen
2
Homomaris, die Brille aufsetzend, singt vom Blatt –
―Der Künstler geht eigentlich nicht vom Wort aus, sondern von der
Fläche. Das Wort, als Klang, stellt sich erst im Nachgang ein, sobald
das Ganze zu wirken beginnt. Aber dazu muss einer schon einen
Schritt zurücktreten, nicht von der Leinwand, das geschieht laufend, nein, darum geht’s nicht. Man muss von dem zurücktreten, wozu es
bisher eine starke Bindung gegeben hat, ein gespanntes Einssein
gewissermaßen, eine Intensität oder wie man das nennen soll.
Solange diese Intensität besteht, existiert das Kunstwerk noch nicht losgelöst im Raum, es vegetiert, man muss es so sagen, an
der Brust des Künstlers, es hat keine Existenz. Irgendwann hat es
eine Existenz, es blickt mich an, es entreißt mir das letzte, das es
noch nicht besitzt, es will einen Namen von mir, und eh’ ich
verstehe, was sich da abspielt, eigentlich ohne mein Zutun,
entschlüpft von irgendwoher dieser Laut, nicht mehr.
Nein, der Titel tut nichts zur Sache. Genauso gut könnte hier
stehen: Die Nonne. Erkennen Sie einen Unterschied? Sie dürfen
gern einen erkennen, aber er existiert nicht, er hat keine Valenz.
Ich könnte ihn streichen, Sie läsen dann Die durchgestrichene
Nonne, was soll das sein? Was soll das sein, frage ich und
erhalte keine Antwort. Aber was ist dann Die Horde? Da ist
etwas anderes. Es geht mich eigentlich nichts an, ich signiere ja nur. Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, warum dieses Bild jetzt plötzlich Die Horde heißt. Es heißt auch nicht plötzlich so, es hat sich so und nicht anders gelöst, es ist ein Ganzes geworden, ein Stück Welt, und dieses Stück Welt
heißt Die Horde. Wir sprachen heute morgen über die
Entstehung der faschistischen Masse, da vollzieht sich etwas sehr
Ähnliches, fast wäre man versucht zu sagen, es ist der gleiche
Vorgang, obwohl auch wieder nicht zu vergleichen. Natürlich
nicht.
Es gibt, denke ich, einen Punkt in der Entwicklung, da löst sich
etwas. Das gesellschaftliche Leben, was soll das sein? Nichts
Besonderes, denke ich, es existiert. Wie definieren Sie nichts
Besonderes? Irgendwann liegt da eine Spannung an, die Sie biegt,
ja biegt, hineinbiegt, eine Erregung, die sich nicht bremsen lässt,
ein Irrsinn, der die Massen ergreift. Aber das ist auch nur
eine hohle Phrase, denn die Massen, die da ergriffen werden, die gab
es gerade noch nicht, die hat die Spannung sich selbst erfunden,
gerade so wie die künstlerische Spannung sich das Werk erfindet. Das
geschieht ja nicht einfach im Kopf. Und doch ist es Kopfarbeit,
heiße, erbitterte Kopfarbeit, die nicht nachlassen will, die
niemanden auslässt, auch den Einzelnen nicht, der widerstrebt. Was
ist das für ein Widerstreben, frage ich? Was mehr als eine Weise,
den Bann zu leben? Das Unfertige, das sich vollenden will? Ein gerade
noch Unfertiges und jetzt steht es fertig da, es trägt einen Namen
und es trägt ihn zu Recht. Auch wenn es jedem ins Gesicht schlägt,
der ihn auszusprechen wagt. Daran erkennt man es ja.
Das wenigstens ist in der Kunst anders. Aber sicher sein darf man
sich nicht.
Faschistische Massen
3
Turbulenzen (1)
Homomaris blickt gebannt auf die Wand, wo soeben die Horde
unter den perfiden Strahlen der Nachmittagssonne verschwindet,
―ins Nichts,
wie er maliziös zu Nassen anmerkt, der neben ihm sitzt und
nichts verstehend langsam zu nicken beginnt…
Ein dramatischer
Augenblick in der Geschichte der Malerei, die noch nichts davon weiß –
wie sollte sie auch, ungeschrieben. Wegenaer, ihr Verfasser in spe,
dreht sich ein Papierhütchen ins Ohr, während er Elisabeths Charme
erliegt, der von keinem Verlust Meldung empfing. Ein paar im Raum
verstreute Studenten blicken unruhig von ihren Notizen hoch und Lydia
S., die zierlich, aber robust gebaute Doktorandin, seit Tagungsbeginn den Ehrenplatz neben Homomaris behauptend,
erstarrt vor Schreck.
―Sic transit gloria mundi.
Es ist Eike,
der den Satz hörbar – nicht das erste Mal in seinem akademischen
Dasein – vor sich hinmurmelt. Seit Stunden gibt er das Ekel im Raum,
verlangt eine exakte Definition von Kunst und bestreitet ihre
Wirkung auf den Gang der Geschichte, zumal der abendländischen.
―Zeigen Sie mir eine Kanone, auf die ein bemaltes Stück
Leinwand Eindruck macht.
Homomaris gefällt der Unbekannte. Er bietet ihm eine
Demonstration an. Die Welt ist ein Kartenhaus, das er jederzeit mit seinem
Pinsel zum Einsturz bringt, es muss nur von ihm
verlangt werden. Doch Wegenaer schreitet ein und erklärt diesen
Disput für beendet.
―Wir wollen doch nicht hinter Breton zurückfallen.
Woher weiß Wegenaer –? Breton steht als Stichwort auf einem der Zettelchen, die Homomaris
aus der Hosentasche gekramt und vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat.
Jetzt hilft ihm Lydia, bleich bis hinter die Ohren, mit einem winzigen roten Fleck unter dem rechten Wangenknochen, beim Sortieren.
Breton = Ignotus des Massenzeitalters
So steht es da. Breton, das ist der große Unbekannte, der die Politik
mit der Kunst infiziert und damit auf ewige Zeiten vernichtet, denn
was, so Homomaris, da draußen sich als Politik verkleide, sei, mit Verlaub
gesprochen, schlechte Kunst, dazu verdammt, auf ewig in der Dilettantenhölle
vorgeführt zu werden – zur Abschreckung bestimmte Beispiele dafür, wie man’s nicht macht, aus dem Lehrbuch für angehende Teuf- und Firmlinge. Erschöpfend habe sich das bereits im Faschismus gezeigt, der gottlob im Grunde eine römische Angelegenheit geblieben sei, was mit geradezu mathematischer Präzision aus der bekannten Fotografie (sic!) des verkehrt herum aufgehängten Duce hervorgehe. Währenddessen verstopfe die germanische Sumpfbrut noch heute, in diesem wohl historisch zu nennenden
Moment, die Kanalisation Europas –:
―Jawohl, ruft da der Bibliotheksrat
Gaggauer, der unbemerkt hereingeschlüpft ist (›auf einen Sprung‹,
mehr ist seiner zarten Gesäßmuskulatur nicht zuträglich). Doch keiner hat Lust ihm zu antworten.
Faschistische Massen
4
Turbulenzen (2)
Stattdessen stellt Elisabeth endlich die Frage, die ihr seit Stunden auf der
Zunge liegt: ob er, Homomaris, denn glaube, dass in seinen Arbeiten, die sie sehr
bewundere, sich die menschliche Natur widerspiegele oder sich hier doch nur ein
zeitgenössischer Spalt geöffnet habe, der, nicht zum Nachteil kommender
Generationen, sich auch wieder schließen werde, so dass diese glücklicheren
Wesen ebenso ratlos davor stehen müssten wie sie selbst, Elisabeth Leckebusch,
vor so manchem, sie sage mal: Werk, das der zeitgenössische Museumsbetrieb an
die Oberfläche der Wertschätzung spüle.
Da lächelt die Herrenriege: Respekt! Lydia ist entsetzt. Homomaris’ Stimme,
eine aufspringende Knospe, rasch austreibend, senkt sich voll und blau: Wir
wüssten doch alle, dass die menschliche Natur verderbt sei, jemand müsse ein
Narr sein, ein Niemand, um das zu bestreiten.
―Ich
bin Künstler, also Narr, ich hüte mich vor dem Unvollkommenen, ich hüte mich vor
dem Vollkommenen. Warum nur? Weil es das Unglück anzieht.
Tief
senkt sich sein Blick in Elisabeths, kein Einverständnis glimmt da, stattdessen
priesterliche Belehrung, den Schalk im Nacken.
―Die menschliche Natur spricht in Rätseln, das ist ganz
natürlich, also lasse ich die Rätsel sprechen und da kommt sie auch schon, tack
tack tack, denn es ist ihre Sprache, die da gesprochen wird.
―Sie meinen, wirft Nassen ein –
―Ich meine nichts, junger Freund, das ist der Trick, wie
wir hier gerade sehen. Das, worüber wir sprechen, ist keine Frage von mein und dein. Es geht
um Unvollkommenheit, die sich nicht erträgt und sich deshalb Eingriff um Eingriff weiter treibt.
Der Schalk ist weg. Langsam, ganz langsam, ein Fünkchen, nicht mehr, erglimmt er wieder, stärker und stärker, je länger der Pinselmann fortspricht.
―Die Natur da draußen ist immer perfekt, über sie habe ich
keine Macht. Ich wühle in Unvollkommenheit, je unvollkommener, je
krückenhafter die Fortbewegung, desto nachhaltiger wächst meine Macht. Aber das
verstehen die Menschen nicht. Sie wollen etwas bewundern, vor dem sie
sich, ginge es mit rechten Dingen zu, fürchten müssten. Ich gehe
selten in Galerien, warum? Weil ich dort Grauen empfinde, Grauen vor
all den perfekt gemachten Deformationen. Sie alle greifen nach mir,
so als verlangten sie von mir, dass ich das Spiel weitertreibe, dem
sie sich verdanken. Und ehrlich gesagt, die Phantasie der meisten
Maler ist erbärmlich, es wäre ein Leichtes, auf die Wünsche dieser
züngelnden Monster einzugehen, so dass ich erleichtert bin, wenn ich
endlich wieder ins Tageslicht zurückkehre. Man darf der Hölle nicht zu Willen sein.
Faschistische Massen
5
Elisabeth zieht einen Schluss
Hat er das gerade gesagt? Hat er das wirklich gesagt? Elisabeth schwankt einen Moment, wie sie das Gehörte verorten soll, dann strafft sich das Gedankenkorsett unter der Wucht der einsetzenden Empfindung. Wer hat diesen Teufelsaustreiber hier hereingebracht? Wegenaer? Wer auch immer! Der Mann gehört nicht in die Pyramide. Er mag der letzte freie Krieger der Malerei sein, aber seine Freiheit ist outdated, es gehört sich nicht, so zu sprechen, geschweige denn so zu denken. Was dieser Mann ausspricht, es verneint (der Gedanke steht ihr klar vor der Seele) ihre Art zu sein. Die Seele, mit verschränkten Armen das Ihre schützend, zögert nicht mit der Antwort: Das geht nicht. Das geht gar nicht. Dieser neue Savonarola behauptet: Die moderne Kunst, nein, die moderne Politik führt uns in die Hölle, nein, sie ist die Hölle, wir alle sind, unter dem scheinbar gütigen Blick des Fanatikers, Verdammte. Die Politik … wer ist das? … die Politik antwortet durch den Chor ihrer Geschöpfe: Wir sind mehr. In den Käfig mit dem wilden Mann!
Auf dem Notizzettel der Rektorin in spe steht:
Faschistische Massen
6
Nicht unerwähnt bleiben
soll die kleine Gemeinheit am Rande, die sich Friedenwanger Lydia gegenüber erlaubt, Lydia, die ihren Rotschopf heute besonders hoch trägt. Plötzlich und unerwartet schiebt er ihr ein Zettelchen hin, eines seiner bewussten Ein-Wort-Zettelchen, auf dem geschrieben steht:
Cave!
(Ein echter Friedenwanger. Seine Kateraugen haben sie lange verfolgt, bis er sicher war, das schwächste Glied in der Kette der eingefleischten Homomaris-Bewunderer gefunden zu haben. Stutenkeil, ihn beobachtend, notiert: Kralle.)
Duro schmeichelt sich beim Feuilleton ein und bekommt einen Korb
Duro, der geschmacklose Deutsche, der ein Leben lang Geschmack gemimt hat, weil er instinktiv um den Mangel seiner Mitmenschen in diesem Punkt wusste und sich daraus einen Vorteil versprach –: seit den Tschipek-Studien verspürt er ein gewisses Verlangen nach Witz. Schon früh hat er diese Ader in sich bemerkt, doch außer im modus Atticae hat er weislich auf ihre Ausbeutung verzichtet, ahnend, dass nur die Titanen in dieser Disziplin aus ihr ein leidliches Auskommen ziehen und der Rest… Zur Hölle mit dem Rest! Duro fühlt sich keinem Rest zugehörig, auch wenn er weiß – so wie man weiß, wenn man den letzten Modephilosophen im Kopf hat –, dass er eine Art Vorauskommando des Messias darstellt … auch in diesem Fall gilt, dass der Wegweiser nicht zur Truppe gehört und Duro Theorien nun einmal nur als Lehrstoff aufnehmen kann, gut verpackt und bereit zur Weitergabe. Der Witz, der neuerdings wie ein ausgedehntes Feuerwerk in ihm geistert, entzündet sich an den Verhältnissen, genauer, an der bleichen Chefin, wie er sie insgeheim nennt, seit sie, obgleich durch das klare Votum des Volkes abgewählt, in äußerster Ruhe ihre neue Regierung vorbereitet: das, findet er, hat die Republik nicht verdient, nicht seine Republik, die ihn gesäugt und versorgt hat bis auf den heutigen Tag.
Das Manuskript ist praktisch fertig. Duro sitzt über den abschließenden Korrekturen. Einen Journalisten hat er bereits kontaktiert: mehr als ein freundliches Wiegen des Hauptes war ihm nicht zu entlocken gewesen.
Die Welt ist ein Zirkuszelt. Habe ich euch
hineingeritten, so kann ich euch auch wieder
hinausreiten. Das ist eine unumstößliche
Tatsache, an der sollt ihr nicht rütteln. Denn
wer an Tatsachen rüttelt, dem fallen sie auf
den Kopf. Anders als einige von euch zu denken
glauben, bilden sie nicht das Pflaster, auf
dem die Enkel ihre Schuhsohlen ablaufen,
sondern die schön gebogenen Säulen und
Überdachungen des Universums, an denen wir
alle unsere Freude haben werden, soweit wir
dann noch fähig sind, den Blick zu erheben und
Dankbarkeit zu empfinden. Ich jedenfalls habe
unter manch einer Tatsache gesessen, als sei
es die meiner Geburt. Nie fand ich
Gelegenheit, an ihnen zu zweifeln. Es hätte
auch nichts gebracht. Einer, der zweifelte,
fand ganz umsonst für sich die Gnade der
späten Geburt, doch niemanden, der sie ihm
abnahm. Im Abnehmen liegt das Geheimnis
der Lebenskunst. Meine Geburt zum Beispiel
vollzog sich in allem rechtzeitig, vor allem
die zweite, der wir als Gemeinschaft so viel
verdanken. Dankbarkeit ist das Recht des
Stärkeren als Selbstverpflichtung für alle,
die guten Willens sind. Sie verstehen das?
Falls nicht, dann lassen Sie’s eben. Es kommt
auf diese Dinge nicht wirklich an. Als
Zweimalgeborene zur rechten Zeit fand ich
mehrfach Gelegenheit zu tun, was getan werden
musste. Sie erinnern sich? Es musste
entschieden werden und es wurde entschieden.
Ich habe mich niemals gescheut. Alles zu
seiner Zeit. Wann denn sonst? Wann denn sonst?
So habe ich vielerlei angeschoben, das rollt
und rollt und… – Upps! Wo stehen wir jetzt?
Euch alle, von denen ich mich abwandte,
solange noch Zeit dazu war, frage ich: Wo
stehen wir?
Ich weiß, da draußen murmeln jetzt einige: Am Abgrund. Mag sein, mag gut sein! Selbst wenn es so
wäre, gäbe ich zu bedenken: Wo, wenn nicht hier, stünden wir, hätte mein Mut
nicht gereicht, die Dinge dorthin zu bringen, wo sie jetzt stehen oder rollen?
Wo stünden wir sonst? Ich ganz allein war meine Zeit, in Handlung gefasst. Ich
war über euch verhängt und jetzt nehme ich mich hinweg. Strahlt der Himmel
deswegen heiterer? Blühen die Schneeglöckchen heller? Träumt das Gemüt inniger?
Ich glaube kaum. Sprachlos und kalt vollzieht sich mein heutiger Abgang. So
ist’s gewollt. Nur dass mal wieder keiner was merkt bei all dem Gequatsche. Und
wer ist schuld? Ihr merkt schon, ich stelle die Schuldfrage. Es traut sich ja
sonst keiner an sie heran. Wer ist schuld? Nun gut, Schuld ist, wie die Sprache,
weiblich, ich frage also: Wer ist diese Schuld? Ich persönlich habe es
nicht ergründen können, dafür war meine Amtszeit zu kurz. Jetzt seid ihr am Zug.
Wenn ich euch einen Tipp geben darf… – aber ich sehe bereits, ihr lasst euch von
mir nichts mehr sagen. Das trifft sich gut, denn auch ich… Wie? Ein Zwischenruf
zu später Stunde? Das hätte ich nicht erwartet. Ja dann reden Sie doch! Ganz wie
Sie wollen. Machen Sie den Mund zu, man sieht ja den Magensaft spritzen. Keine Sorge, Sie
treffen mich damit nicht, Sie kommen zu spät. Eben stand ich noch da, jetzt
nicht mehr. Wir sind alle ein bisschen weiter, ich mehr, ihr weniger, das bringt
dieser Beruf mit sich, vor allem, wenn man ihn hinter sich hat, und jetzt ist es gut.
finis
Abschied zu Amtszeiten
4
Weiß Duro, was er da schreibt? Ein witziger Kopf, der nicht weiß, wann es ihn, das heißt, den Kopf kosten wird, um den er sich schreibt, mag sein, lose Reden wie diese haben ihn längst gekostet und was noch herumläuft, sind die Unkosten einer festgelaufenen wissenschaftlichen Karriere. Kann ein Professor, sozial betrachtet, ein toter Mann sein? Er kann, mein Lieber, er kann. Der tägliche Weg zum Arbeitsplatz, einen Apfel in der Kollegtasche, macht keinen Menschen. Er verlängert die Lebensspanne und bewirkt einen gewissen, nicht zu unterschätzenden Komfort, der vielen Individuen ausreicht. Man kann aus dem Menschsein fallen und weiter Individuum sein. Man kann weiterhin als Individuum umherwandeln, auch wenn alle Wege verschlossen sind.
Abschied zu Amtszeiten
5
Vorerst bleibt Duro diese Erfahrung erspart. Noch schließt sein Titel immer neue Türen zu Gängen auf, die sich nach kurzer gewundener Strecke als Fallen entpuppen. ›Duro der Blindgänger‹: so nennen ihn, nicht ohne Anteilnahme, die einen, hasserfüllt und mit einem Speichelwurf auf der Zunge die anderen. ›Verhärter der Herzen‹ – so möchtest du ihn gern nennen. Es sind aber nicht die Herzen, die er verhärtet. Duro behindert den Gang der Geschäfte. Duro der Ignorant, Duro der Störenfried, Duro der Verhinderer, Duro der personifizierte black swan, der berechenbar Unberechenbare, das Unberechenbare, das im Raum steht – das ist sein Markenzeichen. Wo es zu blinken beginnt, ist Ende Gelände.
Abschied zu Amtszeiten
6
Das Feuilleton…
das Feuilleton ist das Feuilleton, die göttliche Drei, in sich selbst zurückgeführt: es liest seine Duros am Wegrand auf, presst sie aus und verwirft sie, sobald die Zeit gekommen ist, unberührt von der putzigen Tatsache, dass die Zeit immer gekommen ist, denn das Wesen dieses Prozesses ist Willkür. Der bleichen Chefin möchten viele ans Zeug. Hier liegt die Königsstrecke des Journalismus, eben deshalb muss sie leergeräumt bleiben für die Matadore der Zunft, es sei denn … es sei denn, Rumpelstilzchen trifft den Zeitpunkt exakt und steht damit überraschend allein auf weiter Flur. Dann (und nur dann) kommt Schnelligkeit vor Privileg. Ach es ist nicht das Tempo allein: es bleibt immer riskant, im Zentrum der Macht anzugreifen und dabei den Allerwertesten zu exponieren. Jedenfalls will es gut überlegt sein. Auf dem Schachbrett der Öffentlichkeit ist der eitel sein Händchen hebende Wissenschaftler der Bauer.
Aus den Nachlasstiefen des östlichen Staatspoeten M ist ein Manuskript aufgetaucht und die Pyramide, staatliche Einrichtung, die sie nun einmal ist, hat beschlossen, es ihrem Archivbestand einzuverleiben: ein persönlicher Triumph des Bibliotheksreferenten Gaggauer, der, zur Verwunderung aller, die davon Wind bekommen, einen ganz leichten Umgang mit der Rektorin pflegt. Könnten sie in Elisabeths Inneres blicken, so würden sie feststellen, dass sie ihm misstraut. Gleichzeitig gewährt sie ihm – wunderbar sind die Wege des menschlichen Psyche – freie Hand. Kein Wunder also, dass seit einiger Zeit das Gerücht umläuft, sie lasse sich – in aller Diskretion! – von ihm praktisch in allen das Wohl und Wehe der Pyramide betreffenden Fragen beraten.
Neigtest du, in Anbetracht eurer alten Verbindung, zum Sarkasmus, würdest du hinschreiben: Das war zu erwarten (nun steht es da!). Es wäre ungerecht, aber es würde deine Gemütslage ausdrücken.
Heute ist ein bemerkenswert heiterer Tag.
―Rasputin Gaggauer! Darauf muss einer erst kommen.
―Muss einer?
―Nicht wirklich.
Nicht wirklich
Geflügeltes Wort, aufgetaucht aus den Abgründen der Kollektivseele. Urplötzlich omnipräsent. (Plötzlich ist auch das Wort ›plötzlich‹ in aller Munde. Als wahrer Apologet des Plötzlichen erweist sich einmal mehr Nassen. Warum gerade er? Weil er ein Wiesel ist. Plötzlich ist M ›sein‹ Dichter.)
Sizilien, Ätna. Hausfront mit Eingang. Zwei Stockwerke. Ein Balkon. Satyrn, später Odysseus
Silenerst den abwesenden Bakchos, dann den Zyklopen anredend
Abwesend sprech ich, doch wer fehlt, bist du. Das sind so Späße, die die Sprache treibt. Ich nenn dich Bromios, ein anderer Bakchos. Doch wie du wirklich heißt, das weiß die Not und die geht barfuß, wie man weiß, im Zweifel. Wer zweifelt nicht? Ich zweifle. Wär ein andrer ich, ich zweifelte, als wär ich wieder ich. Was ich nicht bin, dir folgend: folgte ich dir nicht, es hätt mich nie an diesen Ort verschlagen, an dem mich nur Verschlagenheit am Leben und nah den Trögen hält, für deren Füllung kein anderer als ich zu sorgen hat. Ich also bin der Stachel, der mich treibt, die Schale, die mich leert, und fass den Trog ich fest ins Auge, sehe ich mich selbst, als fiele ich in mich hinein. Ein Sturz bin ich und sturzbesoffen kennt mich die Welt: Silen.
Das macht mich denken. Bakchos oder Kyklops: man irrt sich schneller in der Tür als in der Arbeit, die einen links erwartet oder rechts. Im Kyklops geht sie niemals aus. Im Bakchos war sie am ersten Zahltag ausgestanden. Hier fress ich aus dem Trog, den ich zuvor mit Eicheln füllte, denn die will das Schwein. Was noch? Was will das Schwein, wenn es gefressen hat?
Stellt sich vor die Tür und schreit hinein
He du. Was willst du? Soll das Maul ich dir mit Phrasen stopfen und das Hirn mit Blut? Reißt du die Fresse auf, dann ich den Darm. Ich scheiß auf dich. Ich habe Grund. Wie steh ich da, wenn du im Schlamm dich wälzt? Bekleckert steh ich da und denk den Teil mir, den du mir gelassen hast. Ich will mich mit dir messen. Ich, der Mundschenk, der Phrasenbub, der einem Rausch zum Opfer fiel, sofern man Opfer nennt, was sich die Hacken abrennt, um dabei zu sein.
Davon verstehst du nichts. Dir fehlt das zweite Aug, das uns erst sehen lässt: mich und die Meinen. Doch was wir sehn, braucht eine Rossnatur, ein bloßer Mensch schaut nach dem Wetter und hält sich bedeckt.
Du da. Du mit dem störrischen Blick. Du da. Wo willst du hin? Du da. Gehts dir nicht gut? Du da. Hier geht der Weg und dort geht nichts. Du da dem das Leichte schwer fällt: Was hast du vor? Du wirst Hilfe brauchen. Hier ist sie und dort wartet das Aus.
Du da. Du mit dem herrlichen Blick. Du mit dem strahlenden Euter. Hier geht dein Weg und dort läuft nichts. Sei stark. Vergiss nicht, was man dir sagte. Du der Weg der Weg du im Ziel eins. Du da.
Ihr da. Hier eure Stunde. Hier das Heu, gemäht und gewendet, für euch angehäuft. Für wen denn sonst? Hier die Tröge, errichtet wem wenn nicht euch. Hier das Dach, unter dem ihr frei von Furcht könnt. Verlangt euch nach Mehr: das lässt sich richten. Also tut was.
Dann tut halt was, sie sagens doch, was steht ihr rum und glotzt, ein Vieh, wer euch zu lang betrachtet, selber, deshalb nehmt euch Zeit, doch nicht zu viel, denn sie ist weg, wenn ihr am nötigsten sie braucht.
Chor
Den Vers, dir eingetrichtert, rotzt du aus, als könntest du den Zoff gleich mit entfernen. Wo hakts denn?
Silen
Ihr seht bloß euch und euren Stall. Ich seh, was kommt: Boote, seetüchtig kaum, geschwärzt von Algen, wär ich Reporter, schrie ich aus, was jeder sieht, der sehen kann, doch daran fehlt es euch, solang ich denken kann und das heißt: lang. Die Zeit wird knapp. Nehmt, was ihr brauchen könnt. Es kommen andre, die brauchens auch. Ob Gast, ob Fremder, das bleibt sich gleich. Heißt sie willkommen, das unterscheidet euch vom Vieh. Ansonsten lasst mich reden, denn ich hab, was euch abgeht, den Mumm. Willkommen, Fremde!
Odysseus
Du bist Silen. Dich unterscheid ich gern.
Silen
Wie kommts?
Odysseus
Blockflöten kenn ich, seit ich hören und sehen kann. Verging dir einmal beides, dann hast du es und wirst es nicht mehr los. Das sind so Reden. Halt die Ohren steif. Was bläst, das bläst, und was die Runde macht, erkennst du noch, wenns aus dem letzten Loch tönt. Wo aber sind wir, sag, gelandet? Die Hänge kahl und weit und leer der Himmel, der uns sengte? Ist das das Land, von dem es heißt, du musst den Fuß nur über seine Schwelle setzen, gleich… Was soll der Zorn? Bist du verrückt? Beschämt man so den Flüchtenden, der, aller Mittel bar, dem inneren Kompass folgte? Wow, was ein Land.
Scheiß drauf. Ich hör den Sound der Missgunst auch, wenn er von Fremden kommt. Das lässt mich fragen, wer du bist und was ihr wollt.
Odysseusauf die Gefährten deutend
Ich bin der, den du willst, und diese, sie wollen alles. Das erschreckt den Spießer und er fühlt die Drohung. Sie wollen alles, denn sie haben nichts und alles ist ihnen recht, was ihnen aufhilft.
Silen
Damit kann ich dienen.
Odysseus
Dann sag mir erst, wo wir gelandet sind. Ich hörte was von Menschenfresserei.
Silen
Ach. Hat man dich ins Bild gesetzt? Was soll ich sagen… Erst Troja!
Odysseus
Was?
Silen
Glaubst du, ich hätt dich nicht sofort erkannt? Für wie dumm hältst du mich und meine Leute? Du bist Odysseus, unterschreib, dass du es bist, damit wir wissen, wie ihr zu behandeln seid.
Odysseus
Behandeln?
Silen
Ja. Doch vorher will ich wissen, durch welche Hölle ihr gegangen seid, man hört so vieles und der Tag ist lang.
Odysseus
Wir waren Sieger. Deshalb sind wir hier. Wir ließen Troja brennen, bis die Flammen Wie weiter? fragten, schließlich eine nach der andern ausfiel, denn der Mangel plagte sie fast zuerst, uns griff er später und jagte uns hinaus aufs hohe Meer.
Silen
Das hohe Meer… Es ist ein wenig weit von Ilion bis an den Rand des Ätnas. Hat man euch vorher nicht an Land gefischt?
Odysseus
Wie mans nimmt. Im Nachhinein sinds Possen. Steckst du drin, willst du nur eines: Nichts wie raus.
Sei jeder. Zweite Regel. Gaff nicht so, als wär ich Polyphem, das Monster, und du der Graue Star auf seinem Rest-Aug. Ich seh noch gut und merke jeden Blick. Wie kommts, dass du nicht mehr im Bakchos den Tresen putzt? Mir scheint, du dientest gern. Du wirkst so nüchtern. Fehlt dir was? Doch was? Ich habs: dir fehlt die Füllung. Der Kyklops bekommt dir nicht, der dich hier artgerecht an seinen Porphyrhängen grasen lässt, als kalbtest du aus seiner Rinderherde, halb gefressen schon, beim bloßen Hinschaun, halb ein freier Mann.
Silen
Wir dienen immer. Womit kann ich dienen?
Odysseus
Mit Proviant. Die Boote sind erbärmlich. Habt ihr bessere, dann her. Ein frisches Bad, ein Bett für jeden, doch vorher will ich, dass wir uns berauschen.
Silen
Berauschen? An was? An deinen Worten?
Odysseus
Wenn mein Erscheinen die Sprache dir verschlug: warum nicht? Hör zu: Du brauchst den Rausch. Ich brauche dich.
Der Rausch war gestern. Hier herrscht Katzenjammer. Bringst du uns Stoff? Dann, Fremder, sei willkommen und jeder Satyr nimmt dich an die Brust. Wenn nicht, dann geh zum Styx und fisch dir Proviant. Der Wein, den man hier presst, sind wir: das sagt euch nichts. Man klaubt sich die Erfahrung aus den Schoten. Spräch ich die Sprache des Regimes, so spräch ich: sorglos. Ihr glaubt, ihr seid Entronnene, mag sein. Ich kenn euch nicht und glaub euch alles, weil ichs glauben will. Warum? Ganz einfach: ihr seid wir und wir sind ihr. Du glaubst mir nicht? Dein gutes Recht – ich wär der letzte, der dirs nimmt. Doch hör mir zu.
Odysseus
Hör du mir zu: wir schleiften Ilion nicht, um hier den Knecht zu geben unter Knechten. Wir haben Helena befreit. Nicht, weil sie’s wollte, nicht um die Schmach zu sühnen (wessen Schmach?), – doch sie war unser und so soll es bleiben. Herr bleibt Herr auch im Exil. So sieht es aus und so gehört es sich. Die Katze lässt das Mausen nicht, bloß weil auf Mausformat sie schrumpfte.
Silen
Dann, großer Kater, hol die Flasche raus, wir haben Durst. Gib uns den Rausch, den lang entbehrten, wieder, das Missing Link, das unsere Hemmung löst.
Odysseus
Von daher weht der Wind. Wer Sprüche klopft und trifft den Nagel halb, dem klebt der eigene dran. Doch wer nichts gibt, weil er nichts hat und nicht zu jammern weiß, dem nützt der Finger nichts, ob heil, ob blutig.
Silen
Man hat den Stoff uns mehr als recht und billig vorenthalten. Das geht ins Hirn. Schaffst du ihn her, so bist du Gast. Wenn nicht, so nimm Reißaus, solang es geht. Riecht Kyklops erst den Braten, könnt ihr euch die Schädel gleich hier, an diesem Vorsprung, selbst zertrümmern. Das spart uns Arbeit. Um die Zubereitung muss euch nicht bange sein. Besinnung ist bloß ein Wort. Das Wort des Satyrs bedeutet nichts, solang er nüchtern ist. Wir sind erst stolz, dröhnt uns der Kopf.
Odysseus
So spar ihn dir. Wenn Worte den Hunger stillen, geb ich einen aus. Bis dahin lass uns feilschen, was das Zeug hält.
Wenn Fremde ins Land kommen, will man wissen, wer’s ist. Was er kann und warum es ihn verschlug, das wissen zu wollen ist Menschenart. Nur dem einsam ziehenden Ochsen ist es egal. Es ist nicht recht, uns schuften zu lassen für Unbekannte.
Silen
Euch unbekannt, doch mir vertraut von Jugend auf: Hört ich das Gras in Hellas wachsen, warens diese da. Gefüttert und gepflegt und ausgerüstet von vielen Händen, doch nur eins im Sinn: den Kampf, den sie vor Trojas Tore trugen, als hätte Zeus sie selbst dazu bestimmt, zu morden und zu brennen. Opfer sind sie der Gewalt, die sie entfesselten, weil sie an jener fernen Küste schlief, leicht aufzuwecken, denn es ging um viel.
Chor
Opfer sind es und Täter. Fremde sind es, doch wir wissen Bescheid. Einer spricht für sie alle, doch nicht mit uns. Sie bringen flüssiges Gold, und Silen tanzt nach ihrer Pfeife. Es ist eine Weile her, dass wir ihn so sahen. Er wird Ärger bekommen und wir werden ihn ausbaden müssen.
Silen
Genossen alter Tage, warum zögerlich? Wisst ihr, was uns erwartet, wenn der Vorhang aufgeht und die rote Sonne uns unterm Ätna kitzelt, bis es brennt, saftlos, an Hand und Fuß verschnürt, Pakete aus einem Gestern, das kein Heute kennt, und sich des Morgen schämt. Kein Morgen ist auch einer, aber ohne uns und unsern Beitrag zum Gang der Dinge, der nichts braucht als Zeit, auch wieder keiner. Jedenfalls für uns.
Chor
Die Welt kennt uns und wir kennen die Welt. Behalte deine Rede drin im Mund. Wir wissen, was zu tun uns bleibt. Nichts Menschliches ist uns fremd. Der Berauschte ist schön für den Berauschten. Und klug für zwei. Oder für alle. Das lang Entbehrte spielt mit dem Entbehren. Es weicht ja nicht. Es macht den Weichen weich. Was dir den Muskel löst, das löst uns den Verstand. Bringt mehr von dem Stoff, Fremde. Genug ist nicht genug. Wir haben Kraft. Wir haben Wut. Sie wissen nicht, wie gut das tut. Schunati ittati lemneti la tabati schtri hatuti parduti lemnuti la tábuti scha lipit qati hiniq immeri naqe niqi u nepesti baruti
Ruhe. Ich hör was kommen. Räumt die Tische leer. Werft alles ins Gebüsch. Ja, auch den Braten. Er wird ihn riechen. Na und? Alles, was das Auge nicht sieht, das kann man leugnen. Notfalls erklär ich ihm die Welt, dass ihm der Kopf brummt. Nun, meine Gäste, jetzt wirds ernst. Am besten betrachten wir die Lage einmal von der Seite: Ihr seid Gefangene wie wir. Euch fesselt das Geschick und uns die Not. Den Unterschied erklär ich euch dann später. Jetzt erklär ich euch zu niemand. Ihr wolltets sein, jetzt seid ihrs. Geht doch. Niemand hat euch hier gesehn. Wo doch, so sah er niemand. Macht mir keinen Ärger, denn ich kann auch anders, besonders wenn ich muss. Zurückgetreten, wirds bald? Hier nächtigt niemand unter freiem Himmel. Dort liegt das Loch. Holt euch beim Pförtner die Seife ab, wascht euch die Ohren aus. Es gibt noch vieles, was ihr lernen müsst.
Odysseus
Wenn ich ein Niemand bin, wer bist dann du? Dir soll ich traun? Da ging’ ich deutlich über dich hinaus. Sei mir nicht bös, das wird nichts. So, Stirn an Stirn, erwarten wir das Monster.
Silen
Du hast gut reden. Du kommst aus Kämpfen und du suchst den Kampf. Mich sucht er heim, solang ich denken kann. Ich stach Enkelados das Aug, mein Leben er. Als hätt ich zwei, so rammte er das Schwert in mich hinein. Doch davon schweigt der Sänger. Trägst du den Waffenkampf in dieses Land, dann siehst du mich an deiner Seite zwar, doch nutzlos. Ein Toter bin ich. Die Hand, die helfend dich vom Schiff geholt, sie wüchse kalt da drüben aus dem Krater.
Tanzt
Da ist kein Zentimeter meines Körpers der dich nicht sieht und bohrend nicht sich einverleibt. Du bist so anders. Bleib. Ich war nur einen Nachmittag zu Gast. Ich bin schon weg. Doch vorher… vorher will ich dich. Vergiss dein Ithaca. Vergiss die Insel der allzu gierigen Freier. Kehrtest du zurück: Blutsäufer fändest du und keine Menschen. Du nennst es Heimkehr und ich nenn es Mord. Hier bist du sicher. Nimm den Schlüssel. Geh. Dort in der Höhle liegt alles, was du brauchst. Was braucht so einer wie du schon? Und wenn, wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Geh endlich. Wenn nichts mehr geht, dann rennt der Mut persönlich ins Unglück. Sei gescheit. Berechnung ist alles, was dich hier umschließt. Es ist ein Wort bloß, das den Schädel bersten macht.
Ich will nur kurz was klären, ich hab da, wissen Sie, einen Traum, der mich die ganze Zeit verfolgt, gut, das bringt uns jetzt nicht weiter, aber worauf ich hinauswill, ist folgendes. Wir alle tragen Verantwortung. Ich mein, jeder von uns kann dazu beitragen, die Welt ein Stück – ›wohnlicher‹ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, doch wichtiger wäre, dass jeder von uns an seinem Platz und wenn ich Platz meine, dann meine ich das ganz, damit wir uns richtig verstehen, ganz deutlich in die Richtung unserer politischen Gegner, aber wichtiger wäre vielleicht, dass jeder von uns an seinem Platz
Hosenträger
Mich hat Ihr letztes Wort so sehr berührt, dass ichs gern schriftlich hätt. Die Leute haben zehn, fünfzehn sichere Häfen unterwegs ausgelassen. Wer da nicht Verdacht schöpft, kann sich gleich einpökeln lassen. Ganz recht, wir werden positiv mit ihnen umgehen. Man wird sie fragen, woher sie kommen, die Antworten in ein großes Buch schreiben und es anschließend in den Ätna werfen.
Die hohe Frau
Wir weisen keinen ab, ders bis an unsere Küste geschafft hat, erstens wärs ein kolossaler Image-Schaden und zweitens, hätt ichs anders beschlossen, müsst ich den Schuh mir selber vor die Tür stellen, schließlich säß ich nicht hier, hätt meine Regel damals schon gegolten, also könnt ich sie nicht fassen, also wärs auch nicht recht von mir, sie anzuwenden.
Unsere Spitzel berichten mir, diesen Leuten stecken zehn Jahre Kampf in den Knochen. Darum werden sie jeden, der ihnen quer kommt, zur Hölle schicken. Wir werden sie fleißig weiter beobachten, aber nicht weiter behelligen. Unsere Spitzel erzählen uns, dass den Angaben dieser Leute nicht zu trauen ist. Wir werden Anweisung geben, dass sie nicht überprüft werden sollen. Mehr lässt sich unsererseits zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tun.
Die hohe Frautäschelt seine Hand und blickt hinüber zum
Sackträger, ihr zugewandt
Auf diesem Käse-Eiland ist der Größte, wer den Pfriem ins Kleinhirn hämmert, dass er klemmt für alle Zeit, ein Denk-Maul ohne Abzug. Denn so ins Schwarze treffen heißt salviert sein und arglos mit der Zukunft Fangen spielen dürfen. Wir beide, Sie und ich, wir kennen das, weil wir es von der Pike auf erlernten. Nachgewiesen ist das Verfahren seit … den Paläolithikern. Im Grundsatz hat sich nichts daran geändert. Seit wir zusammengingen, glänzt das Land, man fühlt sich speckig, wenn man bloß dran denkt. Die Macht ist eingeregelt. Zwischen euer Wir-schaffen-das und unser Wir-ändern-das passt nur das Blatt Papier, das uns als Bettgenossen ausweist. Sie tun, was Sie nicht lassen können, wir lassen Sie tun, was wir für richtig halten, et vice versa. Das ist übrigens Latein, die Sprache, die man hier später einmal sprechen wird. Manches lernt sich besser in den Senken.
Die hohe Fraunickt ihm huldvoll zu.
Hoffnungsträger
Das Hornvieh, hohe Frau, ist aufgeschreckt und drängt sich zu den Ställen. Die Rinder des Kyklops haben eine feine Witterung und fürchten Fremdes schon von fern. Sie sind gewohnt, am steilen Hang zu grasen. Schaff sie ins Flachland und sie gehen schief. Das ist zwar nur ein Bild, vielleicht versteh ich auch die Pointe falsch, doch sollten wirs nicht auf die leichte Schulter nehmen. Besser wäre schon die starke. Ich will jetzt meinen Rat nicht aufdrängen, doch geht es dabei auch um meine Zukunft, da nimmt man dann schon manchmal kein Blatt vorn Mund, dann redet man, wie einem der Schnabel… Was hab ich Falsches… Ich habe nur… Sie sehen das jetzt falsch… Darf ich … ein Wort…? Dann nicht. Nein, Sie werden mich jetzt nicht einknicken sehen. Nicht vor den Leuten hier und auch nicht in der Kulisse. Wenn Sie mich aus dem Verkehr ziehen, dann bitte diskret und nicht auf die hässliche Tour. By the way, hohe Herrin: üben Sie beizeiten die rechte Krümmung. Ich empfehle meine. Kommt eine Zeit, wo Sie sie brauchen werden.
Das Land hat eine krankhafte Phantasie. ich hätt bloß nicht gedacht, dass das so weit geht.
Lehnt sich über die Brüstung
Wer wissen will, was vorgeht, deckt sich nicht, wie bisher üblich, bei den Sternen ein. Der Ätna rumpelt stärker dieser Tage und in der Nacht wirft er den Schein von Bränden aus. Da draußen wird alles Zeichen. Jeder Strohkopf gibt die Pythia. Sie stecken sich beim Nachbarn an wie Vieh. Man geht die Weiden ab und sucht nach Asche. Wir müssen gegensteuern, koste es die Wahrheit. Wir können nicht, nur weil ein paar aus Troja versprengte Schlächter angetrieben wurden – bald werdens mehr sein, denn es bringt uns nichts, der unbequemen Wahrheit auszuweichen –, wir können es nicht dulden, dass uns ein Gerücht aus unsern Ämtern jagt, wir hätten versagt, und alles, was jetzt kommt, sei unsere Schuld.
Die hohe Frausteht auf
Ich erkenne den Hass in ihren Augen. Das erinnert mich an etwas, worüber auch einmal gesprochen werden muss, nachdem es allzu lang beschwiegen wurde, weil etwas wie … wie soll ich sagen … wie Scham darüber lag. Jajaja – Scham liegt auf unser aller Herkunft. Uns spuckte der Osten aus wie diese. Scham hat uns bisher bewogen, still zu halten. Heute sehen wir klar: wir sind auch Gestrandete gleich jenen. Auf fremden Grund im eigenen Land geworfen, fremde Sätze nach fremden Regeln drechselnd, innen stumm. Das bricht jetzt auf und ich für meinen Teil sag Dank. Wer Kraft hat, spreche mir nach: Wir stehen für das Helle in dieser Welt und diese da, sie stehn nicht bloß im Dunkeln, sie verbreitens auch. Das fällt mir dazu ein und darum sprech ichs aus. Doch heute, Freunde, gehört uns dieses Land. Wer meint, wir gäbens wieder her, der meint, er kann zum Metzger gehn und Menschenfleisch bestelln. Das wär dann nicht mein Land. Doch wahrlich – nein, das streichen wir. Die Wahrheit ist, vom Standpunkt der Methode aus betrachtet, das, was ihr wissen müsst, den Rest könnt ihr euch sch… denken. Und beachtet: Wir dürfen unsere Gegner nicht zerfleischen. Doch grillen werden wir sie schon.
Die Dame über uns. Genau gesagt: ihre Erscheinung.
Odysseus
Wo kommt sie her?
Silen
Darüber schweigt der Satyr.
Odysseus
Und die Satyre? Schweigt die auch?
Silen
Die hat so viel zu tun, dass sie sich nicht um Erscheinungen kümmern kann. Es sei denn, sie hat selbst welche. Was öfter vorkommt, seit man sie beteiligt. Sie muss jetzt sagen, was Recht ist, da verkommt das eigene. Wisse, dass der Kyklop sie als Opfer vorhält, aber gern loswerden würde, weil sie so vom Fleisch fällt. Sowas zu sagen gilt hierzulande als plump. Doch ungesagt wirkt es umso stärker. Niemand will mehr Kyklop sein. Darum behandeln ihn alle, als sei er der Letzte, und er genießt das. Allein die Satyre will, dass er ihr ein Kind macht, und nervt.
Odysseus
Soso. Niemand will Kyklop sein. Aber Niemand bin ich. Sagtest du vorhin nicht sowas? Diese Erscheinung hat mich etwas … genervt, sagtest du? Bitte schreib in dein schlaues Buch: Ich will Kyklop sein. Ich gehe jetzt rein. Entweder ist er drin oder niemand. Da ich Niemand bin, wie du sagst, ist das Ergebnis eindeutig. Die Frage wird also sein, wer am Ende rauskommt.
Silen
Sieht so der Rausch aus, den du mir versprachst?
Odysseus
Solang du nicht klar denken kannst, brauchst du keinen neuen.
Silen
Das denkst du. Ich denke weiter als du. Deshalb bin ich auch von uns beiden der Ältere. Denken hält jung.
Odysseus
Du hältst dein Geschwätz für Denken. Wäre ich der Kyklop (der ich bin, wie du sagst), dann würde ich dich auffordern, einfach mal die Klappe zu halten. Es schickt sich nicht, den Gast anzuschwärzen. Vor allem, wenn er morgen schon euer Nachbar ist.
Erstens hast du mich angestiftet, dort hineinzugehen und den Kampf mit dem Monster aufzunehmen, folglich bist du mir spinnefeind. Zweitens hast du gerade angedeutet, ich würde den heutigen Tag nicht überleben, folglich nehme ich an, dass du meinen Tod herbeiwünscht, um deinen alten Tyrannen nicht zu verlieren, der da drin, wie du behauptest, nach Menschenfleisch giert. Das alles habe ich mir nicht ausgedacht, sondern zwingend aus deiner Rede erschlossen. Also nehme ich als gegeben, dass du auch in der Hinsicht nichts weiter bist als sein Pfeifer. Gerafft?
Silen
Du lügst. Das tut richtig weh. Ohne mich lägst du jetzt abgestochen dort am Strand. Ich habe dich willkommen geheißen, dir eine Bleibe besorgt und dich verköstigt, wie ich es für gut fand. Ich wollte von Anfang an, dass du bleibst. Wenn du da hineingehst, dann kommt ein anderer wieder, gleichgültig, wie die Sache ausgeht.
Odysseus
Du lügst. Du weißt schon noch, wer mir diesen Schlüssel gab? Weißt schon, wohin er führt? Wofür er gut ist? Dir war bewusst, dass ich ein Kämpfer bin. Wenn du, pardon, besoffen bist, dann treten deine Züge so klar hervor, dass jeder Fremde dich durchschaut. Du sagst, du heißt Silen. Mag sein. Dort, wo ich herkomm, gibts mehr von deiner Sorte. Und einer drunter nennt sich immer Silen, soll sagen: Lehrer der Verzückten. Für dich bin ich ein Niemand. Dich heiß ich Niemand in einem Niemandsland, das nichts und niemandem befiehlt.
Silen
Ich bin Silen. Wenn du Claqueure brauchst, dann wende dich an mich. Hier: meine Karte.
Odysseus
Der Blutrausch der Achaier trocknet aus. Was heute übers Meer kommt, hat gelernt, an sich zuerst zu denken, kommts zum Tanz.
Hallo ihr beiden: Rückgrat zeigen ist anstrengend. Bitte schont eure Kräfte für den gemeinsamen Feind. Unsere Geduld ist endlich. Eure Zeit läuft ab. Komm näher, Odysseus. Du wirst diesen Polyphem blenden wie hundertmal vorher. Erneut wirst du beweisen: der Einäugige hat keine Chance gegen die Tücke. Einmal mehr wirst du Niemand sein und einmal mehr wird dich die Eitelkeit blenden. Lass dir gesagt sein: der Alte hier, der sich Silen nennt und nach dem Stoff giert, den ihr ihm durch die Gurgel schickt, auch sein Verrat ist nicht der neueste. Er ist vollbracht. Auch deine Tat ist vollbracht. Wärst du nicht blind vor Angst, du sähst das Aug, das du um jeden Preis durchbohren willst, an seinem Kettchen baumeln: frei von Hass. Der Tote trägt den Toten auf der Brust.
Odysseus
Mir soll keiner nachsagen, ich hätt euch nicht ausreichend zugehört, denn viel zu lang geht mir eure Rede schon im Kopf herum, ich will nicht wissen, ob ihr verrückt seid oder doch eher Komplizen: ich weiß es wirklich nicht. Für einen Toten scheint Silen mir quicklebendig. Wenn das die Art von Tod ist, die in dieser Höhle haust, dann stell ich mich auf ein Gemetzel ein.
Chor
Er hat uns bezahlt, ausstaffiert, unsere Freiheit in Freizeit verwandelt und jetzt wollen wir, dass du ihn tötest. Wenn du uns fragst, wie er aussieht, dann müssen wir passen, denn keiner sah ihn bis heut. Aber wenn du uns fragst, ob es ihn gibt, dann antworten wir dir im Chor: Ja, töte ihn. Wir geben dir Vollmacht. Seit dein Boot Sizilien anlief, lebt es sich leichter. Warum, wissen wir nicht, aber es lebt sich leichter. Wir wollen Erlösung.
Das sind auch Sirenen, aber abgehängte. Wenn ich hier lebend wieder herauskomm, dann solls mir gleich sein. Andererseits: die Weiden sind gut. Von Ithaka blieb nur ein Streifen Hoffnung, breit genug, die Mannschaft bei der Stange zu halten, aber doch nicht breit genug, um mich durchzulassen. Ich hab als Proviant verteilt, was ich an Hoffnung vorhielt, heut bin ich blank. Wenn ich jetzt als Niemand hineingehe, dann will ich als Herr wieder herauskommen. Dieser Silen hat das ganz richtig erkannt. Ich werde ihn an die Leine nehmen und auf seine Dienste zurückgreifen, wann immer es nötig sein wird. Diese Leute hier wollen erlöst werden. Das bedeutet: ich muss sie enttäuschen. Daher werde ich veranlassen, dass ihre Enttäuschung sich über sich selbst täuscht. Ich werde ihr einen Kanal öffnen, eine Kloake des guten Gewissens, gefüllt mit Gift. Durch meine List ist Troja gefallen, da werden mir ein paar Schafsköpfe nicht die Schau vermasseln.
Chor
Wenn ich ihn so, mit sich, seh sprechen, überläufts mich. Zur Bakchos-Zeit gehörte Hellas uns. Und jetzt … zählt es uns aus. Gezählt, so oder so, wir wissens, sind die Tage uns. Der Ätna schreibt, was uns bevorsteht, nächtens in die Luft. Wir könnten ihn zähmen. Doch dazu fehlt die Kraft. Gestohlen hat sie uns das Einaug. Weiter fehlt der Plan. Vereitelt hat ihn das Einaug. Schließlich fehlt die Lust. Gezähmt hat uns das Einaug. Noch Fragen? Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Da wird vieles möglich, auch das Unmögliche. Wir werden Häuser bauen aus Flüssiglava, unsere Kühe werden drinnen im Krater das fetteste Gras weiden und die gesündesten Kälber zur Welt bringen, die Dämpfe, tödlich bisher, werden neues Leben in Leichen pumpen.
Ihr wisst jetzt schon, dass euch der Wahnsinn umtreibt?
Chor
Halt dich da raus.
Silen
Das müsst ich wissen.
Chor
Nichts weißt du. Wenn du etwas weißt, hast du vergessen, es uns mitzuteilen. Gehst du jetzt unter die Bedenkenträger? Hat dich die hohe Frau gekauft? Wieviel ist einer wert, dem bloß das Mundwerk geht? Nicht viel. Die Preise fallen. Nenn den deinen und er liegt drunter. So siehts aus.
Silen
Der Preis, vielleicht. Doch schneller, als er fallen kann, fallt ihr. Ihr werdet hart aufschlagen. Unter uns, denn oben schlug noch keiner auf, ihr werdet, wenn euch die Schale springt, die Augen reiben und glauben, dass ihr träumt. Wie komisch: Man glaubt zu träumen, fällt der Glaube aus.
Chor
Die Sache zwischen uns steht so: wir rannten dir nach, solang ich denken kann. Erst hieß es Bakchos, später Kyklops. Der Fall war schmerzhaft. Doch geschenkt. Man soll die Schuld nicht in verflossnen Räuschen suchen. Schuld ist jeder für sich allein. Jetzt schiebst du uns die Schuld an dem zu, was noch aussteht. Da wirds putzig.
Silen
Ihr habts doch hören wollen. Oder täusch ich mich? Glaubt ihr, in mir gäbs einen Funken Macht? Ihr könnt mich umdrehn und ihr findet: nichts. Ihr könnt mich wieder umdrehn und ihr findet: nichts. Ich füttre euch mit Wörtern. Wie ihr sie verdaut, was gehts mich an? Ihr folgt mir: das ist wahr. Wo’s was zu fressen gibt, seid ihr dabei. Greift zu. Mit einem Zucken meiner Hand nehm ich euch aus. Da fass!
Die Zeit ist nicht mehr dieselbe. Wer das nicht merkt, der wird seiner Verantwortung für Mensch und Umwelt nicht so gerecht, wie das beschlossen wurde und ich für meinen Teil mich entschlossen hab, die Dinge nicht etwa treiben zu lassen, sondern mit klugen Steuerungselementen sie in eine Richtung zu lenken, die wir für gut und richtig erachten, zum Nutzen dieses Landes und aller anderen auf dem Planeten. Es sind aber Situationen vorstellbar, ich sage das hier ganz offen, in denen dann auch harte Entscheidungen anstehen, die aber getroffen werden müssen, immer auf der Grundlage sorgsamer Abwägung, da solche einschneidenden, ich wiederhole mich da gern: einschneidenden Maßnahmen dann doch ein gewisses Publikum, sagen wir, eher erreichen als vielleicht ein anderes. Das ist jetzt mehr virtuell gedacht. Aber auch das hat ja eine gewisse Berechtigung.
Hosenträger
Wenn ich jetzt geh, dann für lang. Das ist ein seltsames Gefühl, so durchbohrt seinen Abgang zu nehmen. Das trifft mich jetzt unvorbereitet, aber nicht unverhofft. Wenn ich dann sag: Was solls, ich tat meine Pflicht und jetzt heißt sie mich gehn, hieße das doch, man nähm die Sache von der einfachen Seite, um dort zu punkten, wo man Federn lässt. Das würde keinem gerecht. Die Wirklichkeit schlägt Wunden. Was schlägt sie noch? Sie schlägt neue Leute vor, dem kann man ausweichen, aber am Ende siegt die Liste. Listenreich nenne ich die, die bleibt.
Er verneigt sich.
Die hohe Frau
Seit Jahren stoßen wir in neue Räume vor, die, als ich antrat, für unbetretbar gehalten wurden. Vieles von dem, was wir heute als ganz normal ansehen, war gestern ganz außer der Norm. Dem sollten wir uns stellen. Ich meine ja auch nicht, dass immer und überall eine Absicht dahintersteht. Das meiste entwickelt sich einfach. Man kann solche Entwicklungen natürlich aufzuhalten versuchen, aber irgendwann holen sie einen ein und deshalb sage ich: lasst uns alle voranschreiten, und ich meine alle, das ist dann schon auch die beste Gewähr dafür, dass wir nicht stehenbleiben. Wir haben uns in der Vergangenheit wiederholt bemüht, alles richtig zu machen, das zu beurteilen ist vielleicht nicht meine Aufgabe, aber sich jetzt hinzustellen und zu sagen, es war alles schlecht, das kann ich so nicht bestätigen. Ich denke auch, das würde dann den Umständen nicht gerecht. Die Umstände waren so, wie Umstände nun einmal zu sein pflegen. Wir haben sie benutzt, um was draus zu machen, worauf wir ein bisschen stolz sein können. Darüber sollten wir nachdenken.
Stimmen
Ja, ja.
Die hohe Frauzu Hosenträger
Schicken Sie mir Frau Jadoch. Ich habe noch viel vor.
Glotzen dürft ihr, soviel ihr wollt. Aber zu holen gibts da nichts. Dieser Teil der Welt ist zu abgehoben, um euch zu achten. Sie lassen euch nicht, ihr wähltet sie denn. Sprecht ruhig Tacheles, aber nicht zu laut. Sie könnten euch an euren Worten aufspießen, als dürfte sie jederzeit jeder im losen Maul umdrehn und die Person gilt dabei nichts.
Zeigt auf die Stelle, an der gerade noch Odysseus stand
Während ihr Wetten abschließt, ob und wo ihr auftauchen werdet aus der Flut und was der Gemeinplätze mehr sind, ist der Platz neben mir plötzlich leer. Da habt ihr euren Odysseus. Das Tor steht offen. Sah einer ihn hineingehn? Mit eigenen Augen? Was sind das für Organe, die dann versagen, wenn man sie braucht? Keiner merkt, was wirklich vorgeht. Allein das Ergebnis beschäftigt euch endlos. Der Schritt vom Gewussten zum Geglaubten ist immer zufällig. Wer nicht hinsieht, der muss dran glauben. Wer wenig glaubt, dessen Glaube ist stärker vielleicht, als ihr denkt. Na was ist? Wollt ihr jetzt Trübsal blasen? Das alles ist theoretisch richtig, in der Praxis versagt es vielleicht. Wer soll das wissen? Niemand vielleicht. Aber in der Praxis ist keiner niemand. Wir sollten die Praxis nicht zu hoch veranschlagen, dafür geht alles viel zu schnell und das Gedächtnis gibt jedem Betrüger recht. Jemand hat einen Stock zwischen unsere Beine geworfen und lässt uns hüpfen. Das geht nicht. Was nicht geht, dem muss man Beine machen. Ich mach euch welche, denn springen müsst ihr. Wer nicht springen lässt, hat nichts zu sagen. Wer nichts sagt, krepiert.
Sein angekündigter Tod ruft Freunde auf den Plan Eine kleine Broschüre wird zum Verkaufserfolg und beschäftigt die Gemüter der Nachwelt flüchtig
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
Norbert C. Wassermann
IN DIE WÜSTE
Posthume Wegbeschreibung
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
1
Präambel
Es gibt Verantwortungspolitiker und Machtpolitiker.
Verantwortungspolitiker: fälschlich Machtpolitiker genannt,
weil der verantwortliche Umgang mit der Macht Vertrautheit mit ihren
Mechanismen voraussetzt.
Ideenpolitiker: Machtpolitiker mit Immunsystem. Die
›objektiv‹ festgeschriebene Idee erzeugt und rechtfertigt
maximales Machtverlangen zum Zweck ihrer Realisierung.
Für reine Machtpolitiker kommt die Idee später: Ups!
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
2
Macht
Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg an die Macht zeigst,
wird er ihn gehen.
Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, seine Macht zu
erweitern, wird er ihn gehen.
Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, ein System,
das seine Macht einschränkt, auszuhebeln, wird er es tun.
Wenn du ihm dann einen Weg zeigst, das Ungesetzliche legal
aussehen zu lassen, wird er ihn den Weg des gesetzlichen
Fortschritts nennen und für unumgänglich erklären.
Erkläre einem Machtpolitiker, der ›an der Macht ist‹,
wie man mit Hilfe der Naturgesetze einen übergesetzlichen Notstand
herbeiredet und begründet: Er wird dir ein Forschungsinstitut
verschaffen und dich zu seinem Ratgeber wählen.
Macht rät sich selbst. Daher haben Ratgeber der Macht nicht
die Aufgabe, Rat zu geben, sondern übergeordnete und unwiderlegbare
Gründe für andernorts längst beschlossene Schritte
herbeizuschaffen.
Ein Machtpolitiker, sofern er sein Handwerk versteht, hat die
Möglichkeit, auf Gewinn oder Verlust der öffentlichen Ordnung zu
spielen. Gewinnt die öffentliche Ordnung, kassiert er die
Machtrendite, verliert sie, holt er sich damit das Mandat, sie
stärker zu ›strukturieren‹.
Wägt man beides gegeneinander ab, so zeigt sich: Im zweiten
Fall wächst die persönliche Macht schneller.
Ein Beratungsgremium aus ehrenwerten Bürgern wird nötig,
wenn angesichts bevorstehender Maßnahmen die ›guten Bürger‹
Verständnisschwierigkeiten bekommen. Seine Aufgabe besteht darin,
so lange zu beraten, bis sich als Kompromiss einstellt, was vorher
auf Parteitagen oder in Koalitionsausschüssen oder in vertraulichen
Zirkeln beschlossen wurde. Den wirklichen Kompromiss schließt die
Macht mit der Macht. Das Gremium macht den Kompromiss werthaltig.
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
3
Notstand
Es gibt den gesetzlichen Notstand und den ungesetzlichen.
Die förmliche oder informelle Ausrufung eines Notstandes
ohne Not erzeugt den ungesetzlichen Notstand von oben.
Ein Notstand kommt selten allein. Hat er die Regeln, nach
denen das Gemeinwesen funktioniert, an einer Stelle ausgehebelt, so
sinkt das ganze Regelgebäude peu à peu in sich zusammen, weil eins
am anderen hängt.
Der totale Notstand kommt auf leisen Sohlen. Er kommt als
Reparatur, er beseitigt das System schrittweise unter der Vorgabe,
es zu retten.
Notstand ohne Not verlangt nach der Tyrannei der Werte.
Das vollkommen geregelte Gemeinwesen beruht auf Werten –
sie sind in seine Fundamente eingegangen und in ihnen aufgehoben. Die
legitime Macht bewegt sich in den Grenzen der Legalität und die
Gesetzgebung ist identisch mit der kohärenten Fortbildung des Rechts.
Im Notstand hingegen legitimieren Werte singuläre Regierungsakte, das
heißt Willkür. Man beruft sich auf sie, als handle es sich um höhere
Wesen.
Notstand hat viele Konsequenzen. Sie alle entspringen einer
einzigen: Er stattet gewisse Menschen mit der Macht aus, die
Freiheit der anderen nach Gutdünken zu beschneiden. Diese Menschen
sagen nicht: »Ich will«, sondern sie sagen: »Der Notstand
gebietet es.« Sie gehorchen also einem Gebieter, der mit ihrer
Stimme spricht.
Der Notstand, so betrachtet, ist ein Abstraktum. Keiner kennt
ihn, keiner hat ihn gesehen, er wird geglaubt.
Wie jeder Glauben hat auch dieser
die Tendenz abzuflauen.
Um dem Glauben auf die Sprünge zu helfen, müssen Sprachregelungen eingeführt werden, deren Aufgabe darin besteht, jedes Übel, das den Einzelnen trifft, dem Notstand unterzuordnen, der das unbedingte Handeln der Wenigen legitimiert. Daher müssen sie ›glaubhaft‹ sein, das heißt, die Grenze nicht zu überschreiten, an der sich Entrüstung in Gelächter entlädt – also nicht »Krieg ist Frieden«, sondern »Krieg verteidigt Frieden«, nicht »Wirklich ist, was gefällt«, sondern »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« und dergleichen mehr.
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
4
Medien
Liberale Medien pflegen die Distanz zur Macht.
Notmedien bekämpfen diese Distanz, wo immer sie sich blicken lässt.
Ein Auftrag für Medien im Notstand besteht darin,
Sprachregelungen durchzusetzen und machtkonforme Lesarten der
Ereignisse mit einer Werte-Aura zu versehen.
Ein
anderer Auftrag für Medien im Notstand besteht darin, den Feind zu
markieren.
Viele Medienmacher gehen davon aus, die
Menschen müssten ihnen vertrauen. Weit gefehlt – die Menschen vertrauen
den Medien nicht, sie glauben oder glauben ihnen nicht.
Das ist etwas anderes. Überwiegt der Unglauben, dann ging nicht das
Vertrauen ins Medium verloren, sondern die Verlässlichkeit der
Information.
Medien, die geglaubt werden müssen,
verfallen dem allgemeinen Unglauben, Medien, die geglaubt werden
sollen, der allgemeinen Verachtung.
Medien, die
ihr Publikum maßregeln, erregen Hass. Dahinter steht ein Akt der
Selbstsinngebung: Die primäre Aufgabe besteht fortan nicht mehr darin
zu informieren, sondern den Hass zu bekämpfen.
Hat der
Hass auf die Medien sich einmal der Auflagen – und Klickzahlen –
bemächtigt, befinden sie sich in der Falle. Entweder sie leben vom Hass
oder sie sterben an ihm. Tertium non datur.
Die
Entprofessionalisierung ›Medienschaffender‹ wird kenntlich, sobald sie
anfangen, Angriffe auf ihr Medium oder auf ihre Autoren-Imago
persönlich zu nehmen. Sie fürchten sich und beginnen zurückzuhassen.
Hass ist ein Primäraffekt. Verbiete ihn und du hast
ihn am Hals. Bekämpfe ihn und du hast zu tun.
In Friedenszeiten nennt man Medien, die das patriotische Surplus
der Gesellschaft bekämpfen, regierungshörig, in Kriegszeiten Verräter.
In Zeiten des informationellen Notstandes befindet sich stets ein Teil
der Gesellschaft im Frieden, ein anderer im Krieg.
Das
Geschäft der Notmedien ist die Dämonisierung der Welt.
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
5
Häresie
Glauben und Unglauben sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wer Glauben erzwingen will, nährt den Unglauben, wer ihn verordnet,
mehrt das ungeordnete Denken.
Glaubensherrschaft erzeugt Häretiker. Bei diesem
Personenkreis handelt es sich nicht um Ungläubige, sondern um
Glaubensfanatiker. Sie sind davon überzeugt, dass die aktuell
Regierenden nicht das Richtige tun, um dem Notstand wahrhaft
gerecht zu werden. Von der Regierung verlangen sie mehr
Restriktionen des gesellschaftlichen Lebens, in der Praxis
tyrannisieren sie ihre ohnehin mehr als billig geplagten Mitmenschen
durch unsinnige Parolen und einschüchternde Aktionen.
Gelangen Häretiker an die Macht, zerfallen sie gewöhnlich
in zwei Fraktionen. Die eine will die Früchte der Macht genießen,
die andere die Umwandlung des Systems vorantreiben. Der versteckt
und offen geführte Machtkampf zwischen diesen beiden Gruppen
bestimmt das politische und gesellschaftliche Leben des Landes.
Verschwindet eine Fraktion, spaltet sich die überlebende auf
gleiche Weise und immer so fort.
In Gemeinwesen, die von Häretikern regiert werden, spielt
sich das Leben der Normalen zwischen Hoffen und Verzweiflung ab. Die
Gläubigen hoffen auf ein Ende des Notstandes, sobald der finale
Zustand der großen Veränderung erreicht ist. Die Ungläubigen
hoffen auf ein Ende der Häretiker-Herrschaft. Verzweiflung lässt
die Gläubigen verstummen und treibt die Ungläubigen auf die
Barrikaden.
Die Häretiker-Herrschaft steht als Drohung über der
Herrschaft als bloßer Machtausübung und lässt es so aussehen, als
sei es letztere, welche die Bevölkerung ›vor Schlimmerem‹
bewahrt.
Die Furcht vor der Übernahme der Macht durch Häretiker
dient der Stabilisierung des als ›gemäßigt‹ geltenden
Ausnahmeregimes, solange es Aussicht auf die Wiederherstellung der
›vollen bürgerlichen Freiheiten‹ nach dem Abflauen der Gefahr
gewährt. Währenddessen arbeitet es daran, die eingeführten
Maßnahmen als Garanten der Ordnung und damit der Freiheit in die
gelebte Verfassung zu integrieren und ihnen damit Dauer zu
verschaffen.
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
6
Gesinnung
Sprechergruppen oder Parteien, welche die umfassende
Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts verlangen, werden
übersprochen: Der herrschende Glaube verlangt, sie als Gefahr für
den Rechtsstaat auszusortieren und zu verabscheuen. Das kann
ebenso an den Rändern geschehen wie in der Mitte: Das
Freund-Feind-Schema macht ›inhaltliche Positionierung‹
weitgehend gegenstandslos.
Die Ächtung trocknet die inkriminierten Gruppierungen
gesellschaftlich aus und beschert ihnen in der Folge einen Zulauf
dubioser, also rufverstärkender Elemente: self fulfilling
prophecy.
Öffentlich eingeforderter, keinem religiösen Dogma, sondern
bloßen Sprachregelungen, die jederzeit wechseln können, verpflichteter
Glaube heißt ›Gesinnung‹.
Wenn Gesinnung im Wortsinn ›intrinsische Motivation‹ bedeutet,
dann enthält die öffentliche Verwendung des Wortes einen inneren
Widerspruch (oder eine Überschreibung): die geforderte Gesinnung
ist auferlegt und verlangt vom Individuum Anpassung, also das Gegenteil
von Gesinnung.
Im Gesinnungsstaat gehören alle Güter virtuell der Regierung,
die durch das Setzen von Präferenzen, materiellen Anreizen und Hürden
und schließlich durch Verbote ihre Verfügbarkeit und Verteilung regelt.
Das beschert der Überlebensfähigkeit der Gesellschaft einen
gravierenden Nachteil: Je stärker die Regierung die planende
Intelligenz im Regierungsapparat und seinen Beratergesellschaften
konzentriert, desto kläglicher fallen die Spielräume der von den
Gesellschaftsgliedern repräsentierten Intelligenz aus und umso
willkürlicher werden die gefällten Entscheidungen.
Ist der Gesinnungsstaat einmal etabliert, gerät früher oder
später der institutionell geregelte Kampf um die Macht zur Farce, da
jede zugelassene Alternative unter dem Gesinnungssdiktat steht und die
nicht zugelassene, gleichgültig wie die Regeln lauten,
einfach nicht zugelassen wird.
Die Möglichkeit, aus diesem Circulus vitiosus auszuscheren,
besteht, vorausgesetzt, die Wähler durchschauen irgendwann das Spiel,
befreien sich vom Diktat der auferlegten Gesinnungund nehmen ihre
genuinen, von der Verfassung garantierten Rechte wahr. Wo dies
unterbleibt, ist der Weg in den Notstaat programmiert.
In die Wüste. Wassermanns Vermächtnis
7
Notstaat
Notstand schafft Not. Die Antwort der Machtbesessenen ist der
Notstaat.
Sobald Willkür festlegt, was not ist, unterbleibt das allgemein
Notwendige durch einseitige, sprich verfehlte Allokation von
Ressourcen. Ist die Notwendigkeit ein Phantasma, dann spricht man von
Ressourcenvergeudung im großen Stil: Die Gesellschaft verarmt, der
Staat verliert an Bedeutung und fällt auf das Niveau von
Entwicklungsdiktaturen zurück.
Der Abwärtssog erfasst die Institutionen des Wissens, weil sein
Grund selbst für Wissenschaftler tabu ist. Wer immer ihn ausspricht,
muss mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen. Der Prozess kommt
praktisch unbemerkt in Gang, er vollzieht sich schleichend über lange
Phasen der Akkommodation, in Krisenzeiten vollzieht er sich sprunghaft.
Mit der Unfähigkeit zur Selbstreflexion verliert die
Gesellschaft die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, mit der Unfähigkeit zur
Selbstkorrektur vermindern sich ihre Überlebenschancen in einer
prosperierenden Umwelt, mit sinkenden Überlebenschancen schwindet die
Bindung der Bürger an ihren Staat, mit der Bindung schwindet das
Interesse an seinen Institutionen.
Am Ende dieser Entwicklung stehen Staat und Individuum einander
als völlig fremde Instanzen gegenüber und ein Schnitt genügt, um das
Band zu kappen, das sie pro forma noch miteinander verbindet.
Das Ende kann lange dauern. Was danach kommt, weiß niemand.
Im Dekanat ist die kleine Runde versammelt: Asche-Aigner, Frentzen, Werferich, Langwasser, Stutenkeil. Werferich, the whole world in her body, kichert, Stutenkeil, der sein längstes, bis herunter auf die Aktentasche reichendes Gesicht aufgesetzt hat, schielt nach der Tür. Frentzen liest vor, gemessen, jedes Wort vorkauend, als wolle er einen studentischen Lachsturm entfesseln (seine Spezialität), doch die Anwesenden strömen eine gefährliche Ruhe aus.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
2
Wovor schützen wir uns?
Wir schützen uns vor dem Virus.
Wie lautet der Name des Virus?
Der Name lautet: In-for-mation.
Wer sind wir?
Wir-sind-das-Volk.
Welches Volk sind wir?
Das Volk, das sich nur aus seriösen Quellen informiert.
Woran erkennt man die seriösen Quellen?
Die seriösen Quellen schützen die Regierung.
Also schützen wir die Regierung?
Das ist so der Brauch.
Wovor schützen wir die Regierung?
Vor der Verfassung.
Wovor schützt die Verfassung uns?
Vor der Regierung.
Vor welcher Regierung schützt uns die Verfassung?
Vor jeder.
Asche-Aigner
―Kann man den nicht wegsperren?
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
3
Das verstehen wir nicht. Warum ist das so?
Weil jede Verfassung das Volk vor der Regierung schützt.
Warum schützt die Verfassung das Volk vor der Regierung?
Weil die Regierung die Macht hat und das Volk keine.
Was geschieht in der Pandämie?
In der Pandämie schützt die Regierung das Volk vor der
Verfassung.
Mit welchem Recht?
Mit dem Recht dessen, der die Gefährdungslage beherrscht.
Was sagen die Hüter der Verfassung dazu?
Die Hüter der Verfassung mahnen Verhältnismäßigkeit an. Im
übrigen hüten sie sich.
Wovor hüten sich die Hüter der Verfassung?
Davor, dass die Verfassung ihnen auf die Füße fällt.
Haben die Hüter der Verfassung Angst vor der Verfassung?
Mehr jedenfalls als die Regierenden.
Warum ist das so?
Weil sie die Regierenden fürchten und Angst davor haben, dass die
Verfassung sie in den Widerstand treibt.
Wie könnte die Verfassung so etwas fordern?
Weil sie die Rechte aufzählt, die der Ausnahmezustand mit Füßen
tritt.
Welche wären das?
Das Recht auf freie Bewegung, auf freie Rede, freie Betätigung
und freie Verbindung.
An den Rand gekritzelt (Triphan?)
Wem will er damit imponieren? Mein Rat, vorerst: nicht so hoch hängen.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
4
Aber diese Rechte werden, soweit beeinträchtigt, wieder
hergestellt.
Werden sie das? Es wird vorläufig von ihrer weiteren
Beeinträchtigung abgesehen. Abgesehen von den Feldern, auf denen
eine weitere Beeinträchtigung für unabdingbar erachtet wird.
Das ist korrekt.
Aber ist es korrekt?
Es ist in sofern korrekt, als ihm eine Bewertung der Gefahrenlage
zugrunde liegt.
Wer bewertet die Gefahrenlage?
Die zuständigen Ministerien.
Auf welcher Grundlage bewerten die Ministerien die Gefahrenlage?
Auf einer wissenschaftlichen.
Herrscht in der Wissenschaft Einigkeit über die Gefahrenlage?
In der Wissenschaft herrscht niemals Einigkeit.
Mit welchem Teil der Wissenschaft weiß sich die Regierung einig?
Mit dem gelehrigen.
Mit welchem Teil der Wissenschaft weiß sich die Regierung
uneinig?
Mit dem unbelehrbaren.
Langwasser . Werferich
―Da haben wir den unbelehrbaren Teil der Wissenschaft ja rechtzeitig in den Ruhestand geschickt.
―Meint er das ernst?
―Der meint noch ganz andere Sachen ernst.
―Dann ist er draußen.
―War er das nicht immer?
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
5
Welche von den Wissenschaftlern beraten die Regierung über die
Gefahrenlage?
Welche Frage! Die seriösen natürlich.
Woran erkennt man die seriösen Wissenschaftler?
Sie unterstützen die Regierung in ihrem Bemühen, Schaden von den
Regierten abzuwenden.
Welches wäre der größte anzunehmende Schaden für die
Regierten?
Die Abwahl der Regierung.
Gibt es Wissenschaftler, welche die Abwahl der Regierung billigend
oder leichtfertig in Kauf nehmen?
Wissenschaft fragt nicht nach der Wahl oder Abwahl von
Regierungen.
Dann treiben die seriösen Wissenschaftler keine Wissenschaft?
Seriöse Wissenschaftler sind sich ihrer Verantwortung bewusst.
Für wen tragen sie Verantwortung?
Für Staat und Gesellschaft.
Auch für den einfachen Bürger?
Auch für die einfachen Bürger.
Asche-Aigner . Stutenkeil
―Das ist jetzt schon eine Verschwörungstheorie, oder?
―Eher eine Form der Besessenheit.
―Ein Wahn.
―Aber in Reinstgestalt.
―Nicht tragbar. Absolut nicht tragbar.
―Es geht noch weiter.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
6
Böse Zungen behaupten, Wissenschaft gehe nach dem Gelde.
Das ist eine durch nichts gerechtfertigte
Unterstellung.
Wovon lebt Wissenschaft dann?
Vom Herzblut der Wissenschaftler, der Intelligenz ihrer
Assistenten und dem Selbstbewusstsein ihrer Professoren.
Und wer bezahlt die Wissenschaft?
Der Staat, also die Gesamtheit der Steuerzahler, die privaten
Projektförderer und Lehrstuhlfinanziers, die großen und kleinen
Stiftungen und die Familien.
Die Familien? Inwiefern?
Weil sie vernachlässigt werden.
Warum ist das so?
Weil Wissenschaft keine fremden Götter neben sich duldet.
Auch nicht die Politik?
Auch die … Moment mal. Die Politik ist kein fremder Gott,
sondern das Ziel aller Wissenschaft.
Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Wissenschaft dient der
Wahrheit und nichts als der Wahrheit.
Die Wahrheit ist: Wissenschaft dient dem Fortschritt und der Staat
ist der Inbegriff allen Fortschritts.
Der Staat der Inbegriff…? Das ›kälteste Ungeheuer‹, wie ihn
der Kommende nennt?
Der Staat ist der organisierte Stand der menschlichen Dinge.
Das mag sein. Aber wie, wenn es um die menschlichen Dinge nicht zum
Besten steht? Wie steht es dann um die Wissenschaft?
Die Wissenschaft kann nicht besser sein als die Gesellschaft, die
sie sich leistet.
Und wenn die Gesellschaft räuberisch ist?
Dann ist auch die Wissenschaft räuberisch.
Woran erkennt man, ob Wissenschaft räuberisch ist?
An der Werbung.
Das verstehe ich nicht.
So funktioniert Werbung.
Asche-Aigner
―Gähn gähn.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
7
Wenn der Staat sich von der Wissenschaft beraten lässt: wer
überzeugt da wen?
Die Macht überzeugt die Ohnmacht.
Also überzeugt der Staat die Wissenschaft?
Der Staat überzeugt die Wissenschaft, dass es vernünftiger ist,
sich als brauchbar zu erweisen.
Wann erweist sich Wissenschaft als brauchbar?
Wenn sie beweist, dass Politikziele vernünftig, realisierbar und
alternativlos sind.
Wie beweist sie, was nicht zu beweisen ist?
Sie beweist, dass Theorien, sobald sie als brauchbar gelten,
richtig und alternativlos sind.
Wie kann sie das beweisen?
Durch gelenkte Forschung.
Wie lenkt man Forschung?
Durch die Vergabe von Mitteln.
Und dafür braucht sie den Staat?
Dafür braucht sie den Staat.
Also handelt es sich um eine Win-win-Situation zwischen Staat und
Wissenschaft?
Es handelt sich um eine Win-win-Situation zwischen denen, die ihre
Macht im Staat, und denen, die ihre Macht in der Wissenschaft mehren
wollen.
Demnach ist Macht der gemeinsame Nenner von Staat und
Wissenschaft?
Absolute Macht erfordert absolutes Wissen.
Also fallen Staat und Wissenschaft immer wieder auseinander?
Sie fallen auseinander, sobald sie ineinander fallen.
Wann ist das der Fall?
Immer und nie.
Langwasser
―Das hat doch Charme.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
8
Ist Wissenschaft öffentlich?
Wissenschaft ist ein öffentliches Arkanum.
Soll heißen, die Öffentlichkeit versteht nichts von dem, was
Wissenschaft sagt?
Wissenschaft versteht nicht, was ihre Rede in der Öffentlichkeit
bewirkt.
Aber viele Wissenschaftler bewegen sich in der Öffentlichkeit wie
der sprichwörtliche Fisch im Wasser.
Diese Wissenschaftler verfügen über einen Nimbus. Die
Öffentlichkeit schätzt sie als bedeutende Forscher und die Kollegen
beneiden sie um ihre öffentliche Expertise.
Soll heißen, sie verdanken ihre Reputation einem Schwindel?
Ja. Einem Schwindel, der nicht auffliegen kann. Die eine Seite
besitzt nicht die Macht, die andere nicht die Kompetenz dafür. Ansonsten gilt: Keiner der
beiden ist daran gelegen, ihn aufzudecken.
Dann ist das die sicherste Reputation von allen?
Wenn einer mit den dazugehörigen Anfeindungen leben kann, ja.
Dann zieht es alle Wissenschaftler dorthin?
Sagen wir: 50 Prozent.
Warum nur 50 Prozent?
Weil die restlichen 50 Prozent sich lieber ducken.
Werferich . Langwasser
―Das ist total –
—Ich habe Sie nicht verstanden.
No-Ku-La, Papyrus LXXXII/26, Neues Reich
9
Welche Wissenschaftler sind die besseren?
Die Duckmäuser verdrehen die Ergebnisse ihrer Forschung, bis die
Forscheren sie brauchen können. Wenn sie mit dem Verdrehen nicht
nachkommen, nimmt die Öffentlichkeit ihr diese Arbeit ab und die
Forscheren haben leichtes Spiel.
Also sind die Forscheren die Klügeren?
Wenn man davon absieht, dass sie am Ende die Dummen sind, ja.
Warum denn das?
Weil sie die Politik falsch beraten und dafür irgendwann den
Spott auf sich ziehen.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
1
10.5.
Es ist nicht wahr, dass Lügen erst im letzten Jahr endemisch
geworden sind. Sie waren es bereits die ganze Zeit. Und zwar
gleichgültig darum, ob man in Individualzeit oder Menschheitszeit
rechnet. Vermutlich reicht ihre wahre Zeit weit über letztere
hinaus. Aber das liegt bloß daran, dass es, per definitionem, keine
wahre Lügenzeit geben kann. Jenseits dieser allgemeinen Feststellung
sind sie es schon eine ganze Weile. Immerhin: die Weile ist
ein menschliches Zeitmaß. Sie ist das vom Gedächtnis angelegte Maß
des scheinbar Immergleichen, von dessen unumschränkter Dauer man
nicht überzeugt ist, weil man findet, es sei an der Zeit, dass es zu
Ende geht.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
2
11.5.
Andererseits – andererseits darf man sich den Zustand der
Endemie nicht so vorstellen, als handle es sich um spannungslose
Immergleichheit nach dem Motto: Die Gesellschaft, das ist die
Lüge, oder Die Lüge, das sind die anderen oder Der
Mensch lügt, wenn er den Mund aufmacht. Solche Sprüche bringen
niemanden weiter. Sie heizen nur den Widerspruch an. Die Lüge ist in
jeder Saison neu. Sie gestattet sich die exotischsten Mutationen und
ihre Verbreitungsgeschwindigkeit rangiert gleich hinter der des
Lichts. Manchmal will es sogar scheinen, als habe sie in diesem
Rennen die Nase vorn. Aber das ist natürlich physikalisch unmöglich
und wird deshalb als Hypothese hier nicht weiter verfolgt.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
3
11.5. 23.43 Uhr
Es kann also durchaus zu Lügenschüben kommen, die das
durchschnittliche jährliche Aufkommen an Infizierten, Schwer- und
Leichtverwundeten sowie Mit- und Anverstorbenen gewaltig
überschreiten, so dass sie leicht das Zeug dazu hätten, für
Entsetzen unter den Menschen – zumindest unter den rechtmeinenden –
zu sorgen, wären sie nicht als Lügen dazu ausersehen, gerade
letzteres zu verhindern. Wer auf eine Lüge anderthalbe setzt, der
will verhindern, dass sie auffliegt. Beim allgemeinen Leichtsinn
der Leute gelingt das in der Regel auch. Wenn allerdings – hier
sollte einmal tief Luft geholt werden, denn jetzt kommt der Schocker –, wenn allerdings der Zweck der Lügen gerade darin besteht, Angst
und Schrecken unter den Menschen zu verbreiten, dann, ja dann …
lügt es sich in gewisser Weise einfacher, weil Angst bekanntlich das
Urteilsvermögen der Menschen lähmt. Andererseits wohnt den Menschen
ein natürliches Bedürfnis inne, sich dem Angsteinflößenden zu
entziehen und damit der Lügenmaschine binnen kurzem den Saft zu
entziehen, dessen sie so dringend bedarf. [Letzteres ist eine
Metapher, denn der Mutationsprozess, dem die Lügen im Lügenuniversum
folgen, besitzt eine weit komplexere Struktur und lässt sich nicht
in drei Worten erklären. Schon der Gedanke, es handle sich um einen
Prozess, führt in die Irre, denn in Wirklichkeit sind es viele
Prozesse, die nebeneinander herlaufen und sich an den
überraschendsten Stellen kreuzen und modifizieren.]
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
4
12.5.
Lüge, sagt ein altes Informatiker-Sprichwort, ist Interferenz. Da
ist was dran: Lüge ist bekanntlich überall auf die Wahrheit
angewiesen, die sie negiert. Wer die Techniken der
Wahrheitsverneinung kennt, der kennt sie alle, die Lügen, jedenfalls
virtualiter. Soll heißen, er könnte ihnen auf die Schliche kommen,
wenn er sich hinreichend anstrengen würde, wozu er in der Regel zu
faul ist. Woraus man schließen könnte, dass Lügen, vor allem
erfolgreiche, nur dank der Faulheit einer hinreichenden Anzahl von
Menschen existieren, so wie Viren nur an affine Körperzellen
andocken können (was, unter uns, ein geschmackloser Vergleich ist).
Faulheit und Lügenaffinität sind, informationstheoretisch
gesprochen, praktisch dasselbe.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
5
14.5.
Warum das alles? Nun, das letzte Jahr war schlimm. Da macht man
sich schon seine Gedanken. Es ist auch nicht so, dass der
Zusammenhang von Faulheit und Lüge bisher nur Esoterikern
aufgefallen wäre. Ganze Wissenschaftsbereiche leben von der
Ausplünderung dieses Grundverhältnisses. Zum Beispiel, indem sie
eine faule Nachkommenschaft einer fleißigen vorziehen und deshalb zu
Testzwecken Lügen in ihre Lehrgebäude einbauen. So können sie
frühzeitig feststellen, welche Kräfte als Forscher-Nachwuchs in
Frage kommen und welche man lieber in die akademische
Arbeitslosigkeit entlässt. In gewissen Disziplinen schmeichelt man
der Faulheit mit subtilen Theorien, die darauf hinauslaufen, den
Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge als Illusion zu entlarven und
aus dem System zu eliminieren. Der Dr. Benn, der ein Gespür für
Wildhasen besaß, vor allem die Pfannensiedler unter ihnen, hat
deshalb völlig zu Recht die Lüge zum Grundnahrungsmittel der
Diktaturen erklärt, jedenfalls in geistiger Hinsicht, sozusagen zum
falschen Hasen. Aber das wäre eine andere Geschichte. Nimm den
Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge aus einem System heraus und
du bekommst … fast hätte ich geschrieben: den ewigen
Ausnahmezustand, jedenfalls unter der Voraussetzung, dass der
Regelzustand als der normale betrachtet wird, wie es sozusagen zum
zivilisatorischen Grundgepäck gehört oder doch bis vor kurzem
gehörte. Die Menschen gewöhnen sich mit demselben Gleichmut an die
Herrschaft der Lüge wie an die der Wahrheit oder des Rechts.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
6
14.5. Spät
Allerdings – zu diesem speziellen Punkt gehört unbedingt ein
allerdings – scheint es so, dass bei den meisten Betroffenen
ein Leben unter der Herrschaft der Lüge den Stresspegel nach oben
treibt. Natürlich trifft das vor allem die Rechtschaffenen. Sie
benötigen ein gewisses Gefühl der Wahrheit, um ungehindert ihren
Alltagsverrichtungen nachgehen zu können. Zwar sind sie daran
gewöhnt, mit der Lüge zu leben, aber eher so, wie Leute mit
Fliegen- oder Mückenschwärmen zurechtkommen: Sie kaufen sich
Abwehrnetze und setzen sie in die Fenster ihrer Weltwahrnehmung ein.
Damit hoffen sie die Plagegeister auf Distanz zu halten. Das gelingt
bekanntlich nicht immer. Überraschung: selbst Kinder kommen mit dem
Lügenregime nur dann zurecht, wenn es ihnen als Wahrheit verkauft
wird und sie keine Möglichkeit haben, die Lüge zu durchschauen. Für
die Alten ist das Lügengeflecht eine Hängematte: Sie lassen sich
darin wiegen, als garantiere es ihnen das ewige Leben. Wenn man
genau hinsieht, dann laufen gerade die dicksten Lügen auf diesen
Punkt hinaus. Sorglosigkeit im Alter ist für viele das höchste Gut.
Nicht wenige sind bereit, vorzeitig ins eigene einzusteigen, um
möglichst viel von ihr zu profitieren.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
7
15.5. 0.16 Uhr
Die Reichen dieser Welt wissen: der treueste Arbeiter in den
Weinbergen der Herrschaft ist die Lüge. Lasset die Lüge für uns
arbeiten! steht als unsichtbares Motto über den lukrativen
Geschäftsbereichen. Die Reichen – ein wenig pauschalisierend sei
es gesagt – meinen damit keine bestimmte, sondern die Lüge als
solche, die endemische Lüge. Aber natürlich sorgen sie unauffällig
für allerlei Mutationen und wissen genau, wohin sich die
verschiedenen Stämme am erfolgreichsten transferieren lassen. Es
ist eine Lüge, lautet eine ihrer erfolgreicheren, dass wir an
dem, was geschieht, einen Anteil haben, es sei denn einen ganz
kleinen, denn irgendwo muss ja das Positive einen Anfang finden.
Dabei sind sie eitel genug, um gleichzeitig über die dienstbaren
Kanäle verbreiten zu lassen, dass nur ihr rastloser Einsatz für die
Geschicke der Welt letztere daran hindert, ins Chaos zu stürzen. Das
ist das Schöne an der Lüge, dass die Welt unter ihrem Druck
sozusagen automatisch eine dichotomische Struktur annimmt: Sie ist
immer das eine und das andere, das Sprechende und das
Widersprechende, das Grüne und das Geleckte. Das sind alles wir,
säuselt der Abendwind, aber gibt es uns überhaupt? Das alles ist
Fake.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
8
15.5. 0.46 Uhr
Was ist Fake? Alles Kacke, sagt das Deutsche. Das klingt
rüde, aber ehrlich. Wenn alles Kacke ist, dann ist angeschmiert, wer
noch an die Wahrheit glaubt. Welch ein Labyrinth an Unsinn öffnet da
seine Pforten! An die Wahrheit mag glauben, wer will, es kommt darauf
an, sie zu entdecken, zumindest aber ihre Spur. Die Spur der Wahrheit
ist die Spur des Betrugs, des Betrugs als solchen, und sollte er sich
der Aufdeckung tausendmal verweigern. Leute, die von virtuellen
Wirklichkeiten reden, aus denen die Wahrheit verschwunden sei, sollte
man zur Arbeit schicken. Sie arbeiten nicht, sie schwätzen nur. Sie
glauben, sie hätten das letzte Wahrheitsmonopol erreicht –
»Wirklichkeit ist Simulation« – und betrügen damit sich selbst.
Das mag im Hörsaal dahingehen, wo vieles ausprobiert werden darf,
was sich später als wenig sachdienlich erweist. Aber sobald es die
Enge der Alma Mater verlässt und die Gesellschaft mit Überzeugungen
tränkt, verwandelt es sich in Gift. Was einmal die Gesellschaft
erobert hat, das erobert die Politik, und was einmal die Politik
erobert hat, das erobert die Macht im Staat und da wird es
unangenehm. Keine Lüge kann so giftig sein wie die Botschaft der
Faktenfreiheit im Lügenuniversum.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
9
15.5.
Es gibt keine Fakten, beteuern die willigen Vertreter der virtuellen
Welten. Sie öffnen ihre Handkoffer und demonstrieren aller Welt:
»Da! Keine Fakten.« Wohin sind die Fakten verschwunden? In die
Vergangenheit, erläutern die willigen Vertreter der virtuellen Welten.
Gestern gab es sie noch und heute ist alles virtuell. »Dann seid ihr
also Lügner«, erwidern darauf die Wahrheitsfanatiker alter Schule.
»Das haben wir uns schon gedacht, aber es ist schön, dass ihr es so
offen zugebt. Hier unsere Fakten:« – und sie öffnen ihrerseits
ihre Handkoffer und holen sie heraus: Namen, Daten, Fakten, ganz und
gar old school. »Alles Lüge!« heizen die willigen Vertreter der
virtuellen Welten, »Lüge, Lüge, Lüge! Wer euch glaubt, glaubt
Lügen und verbreitet sie auch. Ihr seid gefährlich und eure
Anhänger sind es auch.« »Das wollen wir glauben«, höhnen die
Wahrheitsfanatiker alter Schule zurück, »für euch gefährlich, wem
sonst? Wir decken eure Lügen auf und dann gnade euch…« »Weiter
kommen sie nicht, denn das Geschrei, das sich jetzt erhebt, ist
unbeschreiblich.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
10
16.5.
Wie sprach der Meister der Lügen? »Ich war’s nicht.« Derart
seine Inkompetenz bekennend, treibt er den Lügenvorwurf in die
feindlichen Reihen. Mögen die ersten Kämpfer fallen, niedergemäht
von den Wahrheitssalven der Fanatiker, ein Platz in Lügen-Walhall
ist ihnen gewiss. Wieso eigentlich ›Herr‹? Der Herr der Lügen
ist es nicht mehr, er verbirgt sein Antlitz, er ist konvers.
Zwischendurch blitzt sein weibliches Antlitz auf, um sich sogleich zu
verschleiern: Die Lüge eine Frau? Ein identitärer Wahnsinn, so zu
denken, eine Lüge wie das generische Maskulinum, ein Lug. »Wir
leben im Inneren eines Lügen-Tsunami«, erklärt Kollegin Lug ihren
erstaunten Studentinnen, die nicht recht wissen, ob es sie langweilt
oder triggert, was ihnen da gerade geboten wird, sie fühlen,
dass die Langeweile sie triggert, eigentlich schon von Geburt, denn
weiter reicht ihre Erinnerung nicht. Wie das? Hat man sie
ausgesperrt? So wird es sein. Von irgendwo muss das Trauma seinen
Ursprung nehmen. Wie lebt es sich im Inneren eines Tsunami? Im Grunde
nicht schlecht, sagt die Erfahrung, das kommt auf die Perspektive an.
Die Studentinnen begreifen, nein, sie wissen es schon: das ist eine
Lüge. Es gibt keine Perspektive, es sei denn die eigene. Und als
eigene zählt nur die eigene.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
11
16.5. Forts.
Es ist ein Menschenrecht, von den Lügen der anderen nichts wissen
zu wollen. »Behaltet eure Lügen für euch« steht in ehernen
Lettern über den Ausgängen des zum Wahrheitsmuseum umgebauten
Parlaments. Haben sich Parlamentarier jemals an diese Direktive
gehalten? Warum hätten Sie –? »Niemals!« schreit jede Stufe, die
sie vom Außen abscheidet. Den Parlamentariern ihre Lügen verweisen,
das hieße ja, ihr Gewissen ausschalten. Warum hätte man sie dann
gewählt? Das ergibt keinen Sinn. Und wo kein Sinn existiert, da hat
auch die Lüge ausgespielt. Lüge ist Sinn. Welcher Sinn, das wird
sich zeigen, vorerst genügt es, dass Sinn Sinn ist, Sinn heckender
Sinn, wie der Abgeordnete Bosendorff weiß, der seine Identität
ausschließlich im Bett zu bekunden pflegt. Das ist PR. »Der
Abgeordnete Bosendorff ist ein sehr zweckrationaler Mensch« –
solche Sätze geraten rascher ins Visier des Feindes als ins Licht
der Vernunft. Die Pressesprecherin hätte vielleicht ›zweckbestimmt‹
schreiben sollen. Aber ihr Taktgefühl hat es ihr verwehrt. Das
Taktgefühl übergeht vieles, vielleicht das meiste, es ist ein
Dunkelmacher. Dabei funktioniert es bei jedem anders, weshalb der
Mensch scheckig aussieht, sofern es ihn gibt, was keineswegs sicher
ist.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
12
17.5. (ungefrühstückt)
Von einem, der auszog, der Lügen Herr zu werden, wird berichtet,
es sei ihm gelungen. Da schweigt die Brise und die Fernen halten die
Luft an. Ausgesuchte Lügenbolde berichten, er sei durch die Lügen
der anderen hindurch direkt ins Paradies gelangt. Man finde ihn dort,
umfächelt von den Breitseiten seiner Lieblingsmedien, die an seinem
verklärten Leib abprallen wie an … an dieser Stelle ziemt sich
kein Vergleich, auch die Vorstellung, die Lüge könne in die Gefilde
der Seligen eingedrungen sein, verbietet sich eigentlich von selbst.
Andererseits: Warum nicht? Das Lügenuniversum kennt keine exklusiven
Orte, es macht sich alles gemein. Ist das wahr? Das ist eine Lüge.
Auch das. Die Lüge der Lüge ist Fakt.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
13
17.5. Forts.
Was ist Fakt? Fakt ist, dass die Lüge, die wirkliche Lüge, keine
Sachverhalte zu schaffen imstande ist, sondern nur willkürliche
Verbindungen schafft, also veranlasst, dass etwas so aussieht, wie jemand
es aussehen lassen möchte. An die Stelle der absichtslosen
Verbindung, die unsereins Sachverhalt nennt, tritt also die
absichtsvolle, schlau hergestellte Verbindung, die einen Sachverhalt
suggerieren soll, der aber nirgends anzutreffen ist, es sei denn im
Kopf dessen, der auf das Arrangement, sei es von Worten, sei es von
Bildern, sei es von Gegenständen hereinfällt. Das also nennen sie
Fakt, die schlaudummen Faktenchecker. Ihr Kopf steckt voller falscher
Bezüge, die sie überall anbringen müssen. Realzusammenhänge sind
ihnen von Haus aus fremd. Unter all den Lügenbewohnern sind
Faktenchecker die Postboten. Sie karren die Ware Information in
fremde Häuser und polieren Klingeln, die ihnen nichts sagen. Unter
uns, der Job ist lausig und völlig unterbezahlt. Er ist auch kein
richtiger Job, mehr eine Sucht, die den, der einmal damit angefangen
hat, nur schwer wieder auslässt. Mein Faktenchecker – ja, ich habe
einen, der gern zu mir kommt, wir plaudern auch immer ein wenig, wenn
seine Zeit es zulässt – schleppt die größten Pakete vor meine
Wohnungstür, gleichmütig ignorierend, dass kaum eines davon meine
Adresse trägt. Warum auch? Er vertraut darauf, dass ich, in meiner
umfassenden Gutmütigkeit, ihm alle abnehme. Warum tue ich das? Nun,
ich weiß, dass die wirklichen Adressaten sich über kurz oder lang
bei mir melden werden. Nein, ich bin nicht neugierig. Ich will auch
nicht wissen, wer all das krude Zeug bestellt hat. Ich handle aus
reinem Wohlwollen gegenüber meiner Mitwelt, ich achte alle Wünsche
gleich und mische mich nicht ein, nur weil ein Mitbewohner seine
Wände neu tapeziert oder eine Badlampe im Sonderangebot ordert. Es
ist ja Fakt, dass sie erhalten, was sie bestellt haben, auch wenn sie
sich das eine oder andere Gerät anders vorgestellt haben, es sei
denn, es handelt sich um eine Verwechslung, die sich beheben lässt.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
14
18.5.
Fakt ist, dass alle bekommen, was sie bestellt haben. Fakt ist,
wenn alle bekommen, was sie so nicht erwartet haben, aber
stillschweigend akzeptieren. Am meisten Fakt wäre natürlich,
wenn alle genau das bekämen, was sie sich vorgestellt haben. Dann
wären sie glücklich. Fakt ist, was den Menschen glücklich macht.
In dieser Hinsicht sind Fakten unvollständig. Der Mensch nimmt sie
als gegeben, um weiter zu suchen, am Ende verfügt er über eine
Faktsammlung, aber das eine Fakt, um das es ihm dabei geht, ist nicht
dabei. Man kann nur mutmaßen, was im Kopf eines solchen Menschen
geschieht. Man hat schon Lügenbarone mit weniger im Kopf entspringen
sehen. Die Faktifikation der Faktifikationen braucht Zeit, nicht
jeder, der sich in diesem Milieu tummelt, verfügt über Zeit, die
meisten nicht einmal über Geld, das es ihnen ermöglichen würde,
ihrem Hobby in Ruhe nachzugehen. Fakt = Droge.
Lügenuniversum. Tagebuch-Aufzeichnungen des Philosophen Kypras
15
19.5.
Ich bin der Wahrheit so müde … so müde … das Picken der
Hühner: eine Wohltat, wie messerscharf sie ihre Körner aus dem
Schmutz herauspicken. Dagegen: Körner picken im Lügenmeer, welch
ein Unsinn! Löse die Muskeln, bewege dich, finde den Rhythmus,
schwimme hinaus…
SAGESTAN
Sag es, sprach da der Folterer zum Delinquenten, sag es doch endlich, damit diese Qual hier ein Ende findet. Diese Qual findet niemals ein Ende, stammelte der Delinquent, er stöhnte mehr, als er sprach, denn sprechen konnte er kaum noch, so sehr ich dir und mir das auch wünschte, sie ist so sehr aus Dein und Mein gebacken, dass wir uns schon gegenseitig auffressen müssten, um ihr ein Ende zu setzen, und das ist einfach nicht unsere Art.
Dürrobst beschließt den selbstbestimmten Abgang von der Bühne des Lebens und schreibt sein Testament
Testament
Dürrobsts Testament
2
1.
Es hat etwas Komisches und Tragisches zugleich, dass eine Bewegung, die Wachsamkeit (›wokeness‹) auf ihre Fahnen geschrieben hat, als blinde Mimesis um die Welt läuft und nach neuen Opfern und alten Lästermäulern fahndet, um sich mit ihnen anzulegen. Was schwer genug ist, da alle Welt bereits über ihr Narrenwesen Bescheid weiß. Das liegt vielleicht weniger an ihrem berühmten ›Anliegen‹ – Gleichheit für alle – als an der Weise, es durchzusetzen oder besser: durchsetzen zu wollen – oder noch besser: seine Durchsetzung ›in Szene‹ zu setzen, indem man Denkmäler älterer Kulturperioden stürzt und den Mitmenschen ungefragt ungewohnte Redeformen aufnötigt. Die Haltung der ›äußersten Wachsamkeit‹ ist, wie jeder Pädagoge weiß, so sehr eine Frage des inneren Menschen, dass jeder Versuch, sie im anderen durchzusetzen, zwangsläufig in äußerste Unduldsamkeit mündet und damit den Widerstand der Zeitgenossen herausfordert, die ›mit ihrer Geduld am Ende‹ sind.
Dürrobsts Testament
3
2.
Eine Welt, die mit ihrer Geduld am Ende ist, mag zwar alles mögliche sein, aber sie ist kein angenehmer Aufenthaltsort. Für den, dessen Sinne intakt und dessen Aufnahmeorgane weit offen sind, ist sie die Hölle selbst, die Hölle auf Erden, die Hölle in einer Ausführung, die an Hieronymus Boschs musikalische Hölle erinnert, in der jeder sein eigenes Instrument spielt, aber auf Kosten aller anderen. Bei so viel Hölle nimmt es nicht wunder, dass die Wachsamkeitsjünger sie mit anderen teilen müssen, den Klimafanatikern, den Genderbeflissenen, den No-Border-Phantasten, den Machtbesessenen, den pharmazeutischen Halsabschneidern und schließlich den Nachbarschaftshassern, der größten und verteiltesten Gruppe von allen, deren Sinnen und Trachten auf Krieg geht, auf wirklichen Krieg, den wirklichsten Krieg von allen, den Krieg der Systeme oder, falls letztere gerade nicht greifbar sind, den Krieg der Kulturen.
Dürrobsts Testament
4
3.
Blinde Mimesis – darauf also läuft sie hinaus, die Gesellschaft der ungleichen Gleichen, deren Wortführer als Wissende reden und als Unwissende handeln, da das verfügbare Wissen, würden sie sich nur darum scheren, dem ›Wissen‹, nach dem sie handeln, auf der Stelle den Garaus machen würde. Die Formel für ein Leben nach ihrem Gusto lautet: »Darf man das?« Nein, man darf nicht. Das ist der Witz dabei. Man darf nicht wissen. Man darf nicht wissen, was in den Statistiken steht, denn das könnte die Lebenden auf dumme Gedanken bringen. Die Mächtigen selbst dürfen nicht wissen, was in ihren Statistiken steht, solange ihre Macht mit dem Wind geht, der durch alles hindurchbläst. Die Medien, auswechselbarer denn je zuvor, dürfen nicht wissen, was sie vor fünf Monaten oder fünf Wochen oder fünf Tagen zum Besten gaben, als es sich noch um Allgemeinwissen handelte. Ohnehin dürfen sie nicht allzu viel wissen und das, was sie wissen, allenfalls bröckchenweise preisgeben, durchmischt mit Nonsens, weil sonst der nächste Redakteur gehen muss und wer will das schon.
Capisce?
Dürrobsts Testament
5
4.
Er hat eine Weile gebraucht, um sich durchzusetzen. Eine Zeitlang
sah es so aus, als wäre er der Menschheit erspart geblieben, doch
jetzt, zum letzten Souverän aufgestiegen, zeigt er sich
unerbittlich. Der Krieg der Kulturen holt eine prähistorische
Gemütsverfassung aus den Menschen hervor, die jeder Kultur Hohn
spricht, während sie die Verteidigung der höchsten Güter im Munde
führt. Das ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als die
Wahrheit und ich kann sie bezeugen. Manchem hier mag das
unerheblich erscheinen. Aber Ich ist jeder – jeder, der nicht
Partei wäre, könnte das bezeugen. Fatal nur, dass just in diesem
Krieg jeder Partei ist. Auch ich spüre den Sog, auch mich zieht
jeder unter Gleichgesinnten gesprochene Satz in den Abgrund, aus dem
kein Entrinnen möglich erscheint, es sei denn, man hält die totale
Zerstörung für die Lösung aller Probleme. Kultur, das ist
alles, was wir haben. Alle Kulturen, wie immer sie ihre ›Sendung‹
interpretieren, müssen die gleichen Aufgaben schultern, sie kennen sich,
wie Verwandte, aus dem Grunde. Selbstredend gilt das auch dann,
wenn ihre jeweiligen Verführer es wortreich vorziehen, die andere misszuverstehen. Werden sie einander erst spinnefeind, dann zerfällt alles, wofür sie stehen. Plötzlich stehen sie für
nichts: derselbe Abgrund erfasst die Einzelnen und ihre
›Gemeinschaften‹. Der andere ist alles, du bist nichts –
so lautet die Botschaft, mörderisch wie eh und je, die
unausgesprochen in den Köpfen der ungleichen Gleichen wütet, und
dabei bist du doch alles.
Dürrobsts Testament
6
5.
Nicht alles, was im Krieg geschieht, ist dem Krieg geschuldet.
Siehst du die Waggons mit dem grob aufgepinselten Schriftzug
›Zukunft‹? Wie nennst du die überall auftauchenden Gestalten,
die ihre Mitmenschen nötigen, sie zu besteigen? Du hast es dir gut
überlegt. Du nennst sie ›vaterlandslose Patrioten‹, wohl
wissend, welches Befremden solch ein Ausdruck auslöst. Waggons,
die bereits rollen, wenn die letzten Passagiere, das Auge
noch tränenfeucht vom Abschiednehmen, ihr Bein vom Bahnsteig heben.
Sie alle wissen, es gibt keine Wiederkehr. Sie leben jetzt in der
Zukunft und da die Zukunft ewig die Zukunft bleibt und vor ihnen
herzieht, werden ihre erlebnishungrigen Augen auf absehbare Zeit
nichts sonst zu sehen bekommen als den rollenden Bretterverschlag, in
dem sie einander unentwegt in die Quere kommen, weil es dort so verdammt
eng zugeht, und in dem nichts weiter zu hören ist als das Geschrei
der Parolen, durchsetzt mit dem Wimmern der Getretenen. Die Fanatiker
unter ihnen (es gibt sie hier wie überall) hegen die Überzeugung,
reich zu sein, weil die Zukunft ihnen gehört. Auf dem Mars könnte
sie zu finden sein, thirty years later, oder auf einem
namenlosen Planeten im Sternbild Orion. Was den einen nicht kitzelt,
kitzelt den anderen. Vorwärts, ins Unbekannte, treibt sie der Kitzel an sich, während das Rollen
der Räder, auf die keiner von
ihnen Einfluss besitzt, aller Ohren füllt. Es ist lauter geworden,
finden die einen. Man hört es doch kaum mehr, flüstern die anderen.
So erliegen alle auf unterschiedliche Weise demselben Trug.
Dürrobsts Testament
7
6.
Was geht das mich an? Punkt eins: Ich lebe nicht in der
Zukunft. Ich bin der blinde Passagier an Bord, der insgeheim in die
Vergangenheit reist. Das bringt mich auf Punkt zwei: die Allgegenwart
der Lüge. Seit dem Fall der Zwillingstürme von New York hat die mir
bekannte Menschheit die Lüge zum Geschäftsmodus erkoren. Gab es
vorher Aufklärung und Propaganda, Wahrheit und Lüge
(mit einem leichten Übergewicht der letzteren, man mache sich da
nichts vor), so herrscht seit jenem Datum der Fanatismus der
*Wahrheit*, das heißt, der Lüge, die nicht in Frage gestellt werden
darf, bei Strafe des Gesichtsverlustes und des Verschwindens –
zumindest aus dem öffentlichen Raum (aber wer weiß schon, wie tief
die persönlichen Abstürze gehen). Das Frageverbot lässt sich
leicht erklären: in der Frage liegt schon die Antwort. Sie wartet
nur darauf, herausgeholt zu werden. Eine *Wahrheit* in Frage stellen,
heißt sie bezweifeln. Eine Sternchenwahrheit darf nicht in Frage
gestellt werden. Warum? Ganz einfach: Die Antwort kennt jeder.
Sie hat nur Reiseverbot. Wer eine *Wahrheit* in Frage stellt, wer ist
der? Ein Renegat. Ein Wissenschaftler, der seiner Arbeit nachgeht,
ist ein Renegat. Ein Journalist, der seiner Arbeit nachgeht, ist ein
Renegat. Ein Leser, der lesen kann und… Aber nicht doch. Der
Wissenschaftler, der Journalist, der Leser … sie alle existieren.
Sie existieren weiter. Sie existieren nicht bloß im luftleeren Raum
der Überzeugungen. Sie existieren wirklich und einer wie der andere
geht weiterhin seiner Arbeit nach. Was sollte er sonst auch machen?
Sie leben in der Lüge und ihre Arbeit ist Lüge. Worin besteht ihre
Arbeit? Darin, keine Renegaten zu sein, acht zu geben in ihren
Gedanken, Worten und Werken, auf dass nicht der leiseste Verdacht auf
sie falle. Ich übertreibe? Nein, ich übertreibe nicht. Der
Mechanismus, einmal eingeregelt, kann gar nicht übertrieben werden,
es sei denn, er übertreibt es irgendwann selbst. Ein
autopoietisches System, wie die Kollegen sagen – ein System,
das alles tut, um sich zu erhalten, ohne dass es dazu externer
Anreize bedürfte. Wer hat dieses System erschaffen? Eitle Frage. Es
ist entstanden. Wer immer die ersten Schritte tat, wurde
Gefangener des Systems. Die Mächtigen haben sich selber zur Beute gemacht und
es hat funktioniert.
Dürrobsts Testament
8
7.
Punkt drei: Ich kann in der Lüge nicht leben. Andere können das.
Sie finden sogar ihren Spaß dabei, schließlich gibt es immer etwas
zu forschen und die Frage, wem die Lüge dient, verdient akribische
Untersuchungen. Es wird dabei, wie immer, nichts herauskommen. Die
Antwort liegt auf der Hand und wird dort liegen bleiben, egal, was
sonst alles von Hand zu Hand geht. Die geschlossene Lügenwelt
vereitelt die Aufklärung über sich, soviel Aufklärung sie auch
produziert. All das wird unwesentlich angesichts der Feststellung:
Ich kann in der Lüge nicht leben. Ich kann mit ihr
leben, ich habe lange mit ihr gelebt und nicht alles, was sie zu
bieten hatte, war schlecht. Aber ich kann nicht in ihr leben –
da liegt der Unterschied. Einige von denen, die diese Zeilen lesen
werden, werden ihre Aussage für überspannt halten, ihnen sei sie
extra ein drittes Mal vor Augen gesetzt: Ich kann in der Lüge
nicht leben. Sie sollten sich fragen, woher die Abwehr stammt:
woher sonst, wenn nicht aus der Lüge? Sie hat sie fest im Griff, das
ist alles, was ich dazu sagen möchte. Es kommt auch nicht darauf an,
welche Lügen ich meine, wie jemand neulich zu wissen
begehrte. Frag nicht so dumm. Die Frage verrät den
Fragensteller, weil sie dem Ausweichen dient, und wer ausweicht, der
weiß, dass er nicht wissen will, dass er eher gewillt ist, Frage auf
Frage zu türmen – alles, um der Antwort, der einen Antwort, zu
entgehen. Man sagt, das sei der Angst geschuldet. Mag sein. Ich habe
keine Angst, vielleicht liegt da der Unterschied. Eher regt sich eine
gewisse Begierde, auf den Punkt zu kommen. Ich bin ein alter Mann,
ich habe gelebt. Vielleicht liegt da der Unterschied. Doch es sind
die Alten, die mich am meisten enttäuschen. Sie krallen sich an ihre
Lebenserwartung und sind, wie ihre Erwartung, ganz Lüge. Leben und
Lüge sind bei ihnen miteinander verschmolzen. Sie brächten sie nicht
auseinander, selbst wenn sie es versehentlich einmal wollten. Aber
sie wollen auch nicht.
Dürrobsts Testament
9
8.
Ich war 18 und etwas an meiner Welt störte mich. Ich versuchte es zu
ändern und stellte fest: Es ging nicht. Meine Welt war nicht meine
Welt, sie war die Welt der anderen. Sie war, was ich nie bezweifelt hatte, die Welt aller. Aber wenn sie die Welt aller war, warum in aller Welt war sie nicht meine? Warum musste ich meinen
Platz in ihr erst erobern? Beiläufig: Was bedeutete das: erobern?
Ausgeschlossen, wie ich mich fühlte, lag es an mir, mich
anzuschließen, irgendwem, irgendetwas, um meinen Anteil Welt
abzubekommen. Das Unerwartete geschah: Die Welt selbst schloss
mich auf und ich befand mich mittendrin. Wie das? Ich war Teil eines
Rudels geworden. Vollmundig erhob es Anspruch auf die Welt. Die Welt
war alles, was diesen Anspruch verneinte. Was ihr nichts nützte:
Schon war sie unsere Welt. Dass sie es werden konnte, dafür bürgte der verballhornte Satz des Philosophen, der, einmal aufgeschnappt, keinen mehr losließ: Die Welt ist alles, was der
Phall ist. (Wir haben ihre Töchter genommen und die Mädels
machten begeistert mit. Irgendwann machten sie nicht mehr mit und wir
mutierten zu Förderern ihrer Sache. Welcher Sache? Meine
Freunde und ich … wir haben den Kampf der Geschlechter auf beiden
Seiten gekämpft und sahen darin ›kein Problem‹. Wer kein
Problem sagt, der hat ein gewaltiges. Ich habe es nicht gelöst.
Der alte Mann gesteht: Ich gehe jetzt und noch immer weiß ich von
keiner Lösung. Ich habe meine Tochter an die da verloren. Die Lösung mag
existieren, dann weiß sie nichts von mir. Die Sache ist: Sie will
nichts von mir wissen. Ich habe in ihrer Welt nichts verloren. Ich nehme an: Ich störe.)
Dürrobsts Testament
10
9.
Der berühmte Marsch durch die Institutionen: Er ist das Normalste
der Welt. Jeder lebt in seiner Generation und jeden nimmt sie mit auf
die große Reise. Warum zum Teufel muss man eine Religion daraus
zimmern? Genau das ist geschehen: Wir haben die Generation zur
Religion erhoben und das Rudel zur alleinseligmachenden apostolischen
Kirche verklärt. Wir bekämpften jeden aufs Blut, der diesen Spuk nicht
mitmachen wollte. Wir wurden Glaubenskrieger, die sich über der
Frage zerlegten, ob es erlaubt sei, Kompromisse auf Zeit zu
schließen, solange die Machtverhältnisse nichts anderes erlaubten.
Wir waren Antiliberale, die sich ein liberales Aussehen gaben, wann
immer es der Sache nützlich erschien. Bedeutet hat es uns nichts.
Wir haben nicht verstanden, dass Religionen Systeme mit eingebauter
Prozesslogik sind, die von jedem Besitz ergreift, der sich auf sie
einlässt. Wir haben nicht verstanden, was mit uns selbst geschehen
würde, wenn wir uns darauf einließen… Man kann natürlich
behaupten: Die Verhältnisse ließen uns keine andere Wahl. Die
berühmten Verhältnisse… Aus dem Idealistenhaufen wurde ein Zug
von Fanatikern, Dogmatikern, Phrasendreschern, von Henkern,
Heuchlern, Renegaten, von Maulwürfen, Konformisten und Karrieristen
auf Sicht und Zuruf. Wir, wir und nochmals wir. Wir
verwickelten uns in unauflösbare Widersprüche. Wir ignorierten, was
mit, wir ignorierten, was nach uns kam, es sei denn, es passte uns in
den Kram, dann übernahmen wir es… Was wir daraus machten? Ich
verstehe es nicht, ich verstehe es bis heute nicht. Heute ist niemand
mehr da, uns zu korrigieren. Die dunkle Seite hat uns die
Verantwortung zugeschoben und zockt für die Welt. Schrieb ich
gerade ›niemand‹? Es sind Niemande und ihre Zahl wächst. Wir
haben die klugen Köpfe der Zeit zu Niemanden erklärt und die
Brücken zu ihnen abgebrochen. Die Partei meiner Generation, meine
Partei, jedenfalls zeitweise, regiert, insgeheim und offen, die
Gedanken der Welt. Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste sie mehr
denn je meine Welt sein. Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist
Niemandsland. Nein, so wahnsinnig bin ich nicht zu glauben, eine
Partei habe den Weltzustand herbeigeführt, der mich zittern macht.
Dieses Zittern, das nicht mehr aufhört, harrt einer Erklärung. Doch
die genügt nicht mehr.
Dürrobsts Testament
11
10.
Heute, am Ende meiner Karriere, bin ich ein Niemand. Vorher,
warum sollte ich das leugnen, war ich niemand Besonderes. Aber
zwischen der Feststellung, niemand Besonderes zu sein, und der, ein
Niemand zu sein, besteht eine irrlichternde Differenz, die sich
beobachten, doch nicht definieren lässt. Ist sie dann, begriffslogisch gesehen,
noch Differenz? Ich nenne dieses Ungeheuer: die Befremdung. Im
Leben gewöhnt man sich daran, so wie man sich an alles gewöhnt.
Doch die Gewöhnung hat Grenzen. Der Einzelne verliert seine Festigkeit. Er
lebt zwischen zwei Fremdheitspolen: dort die anderen, zu denen er
vor nicht langer Zeit selbst noch gehörte, da er selbst, das mit
Befremden überzogene Selbst, das nachgibt, ohne gelöst zu sein.
Betrachte den Ölfleck im Hafenbecken, der sich mit Leichtigkeit
teilen lässt, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden kann,
sooft du es versuchst. Ich bin der Fleck, der nicht
weggeht. Ich bin es nicht. Ich bin derjenige, der auf
ihn starrt, und selbstverständlich bin ich das
Öl-Auge, das zurückstarrt. Ein altes Seminar-Bild, plötzlich
meldet es sich zurück: die Nichtidentität des Identischen.
Ich starre, das ist wahr, ich ertappe mich immer öfter dabei.
In der Bewegung erstarrt vergesse ich die Bewegung. Nein, ich
vergesse mich zu bewegen. Scheinbar bewegt sich alles um mich
herum weiter. Warum ›scheinbar‹? Ehrlich gesagt, nehme ich nur
eine Bewegung wahr: abwärts! Ist das noch Erkennen? Ich bezweifle
es. Ich verhake mich in meinem Zweifel. Doch irgendwann verflacht jeder Zweifel. Der kurze Sommer, selbstredend ›der trockenste seit Beginn der
Aufzeichnungen‹, ist gegangen, der Herbstregen perlt und
ich ertappe mich bei Sprüchen, die keinen Widerhall finden: Je
dürrer der Wandel, desto feuchter das Klima. Das klingt schlimm,
sehr schlimm. Oh, es klingt unverzeihlich. Das Schlimmste bei alledem ist die Kälte,
die absolute, totale, menschenverachtende Kälte – die wahre
Temperatur des Anthropozäns.
Dürrobsts Testament
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11.
Alles menschliche Leben erfordert Pragmatismus. Vor die Entscheidung gestellt, seine tierische Mitwelt zu verspeisen oder zu verhungern, entscheidet der Mensch sich, ohne lange zu fackeln, für ersteres; vor die Entscheidung gestellt, lieber verschmutztes Wasser zu trinken oder gleich zu verdursten, entscheidet der Elende sich, allen Bedenken zum Trotz, fürs Trinken; vor die Entscheidung gestellt, zu hungern und frieren oder Arbeiten zu verrichten, die der Wohlgenährte, von keinem Mangel Berührte, weit von sich weisen würde, bückt sich der Realist unters Joch; vor die Entscheidung gestellt, Nachkommen zu zeugen und damit das eigene Leben und das der Gesellschaft auf Dauer zu stellen, oder das leichte und sinnfreie Dasein der Schönen ad ultimo fortzuführen, entscheidet der Mensch, der gelernt hat, in Verantwortungsbegriffen zu denken, sich für die Nachkommenschaft; vor die Entscheidung gestellt, einem eifernden Gott zuliebe, der keine fremden Götter neben sich zu haben wünscht, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Ungläubigen von nebenan zu führen, der aller Voraussicht in den eigenen Untergang mündete, arrangiert der besonnene Mensch sich mit dem Gedanken, dass Gott sich bei den bestehenden Kräfteverhältnissen etwas gedacht haben muss und überdies der Andere sich in einer vergleichbaren Lage befindet; vor die Entscheidung gestellt, die eigene Brut einem Hirngespinst zu opfern, während draußen die Sonne scheint und das Leben seinen Gang geht… Ich breche ab. Es ist schon klar, wohin diese Reise geht.
Dürrobsts Testament
13
12.
Wohin geht, wer verschwinden soll? Gute Frage. In die
Verbannung. Wohin sonst? Die Wissenschaft, meine geliebte
Wissenschaft, hat bewiesen, dass sie keinen Schutzraum bietet, in dem
die abweichende Hypothese gehört wird, weil Wissenschaft nun einmal
so funktioniert, nicht niedergebrüllt und per Dienstanweisung außer
Hauses gejagt, weil ein paar Prinzipienreiter schnell mal die Welt
retten wollen. Ich nenne sie: die Narren des Abgrunds. Die Welt will nicht gerettet werden, sie rettet sich
täglich an allen Fronten selbst. So überaus schwierig gestaltet
sich diese Weltrettung, dass jeden Tag ein paar Millionen dran
glauben müssen. So unsicher bleibt, bei aller Anstrengung, der
Erfolg. Eine hochfahrende Politik hat die Wissenschaft gekapert und lässt sie mit
blockiertem Ruder im Kreis fahren. Ich will mich nicht beklagen. Alles in allem hatte ich eine gute Zeit. Ich habe nicht lernen müssen, wie man sich
in die Verbannung schickt. Ich weiß nur, mir widerstrebt der
Zustand. Ich will mich nicht darin einrichten. Mein Abgang soll kein
Fanal sein, nicht einmal ein Zeichen. Ich gehe in dem Moment, in dem es
sich von selbst versteht – nicht für meine Plagegeister, sondern für
mich. Selbstverständlich … das bedeutet: das Maß ist voll.
Ich fürchte, das Maß ist für viele voll, die sich nicht zum Abgang
entschließen können und stattdessen heimlich nach jedem schielen,
der die Konsequenzen zieht – wohlgemerkt aus ihrem, nicht
aus seinem Leben. Die Kultur, die mich aufzog, nennt, wie andere auch, dergleichen ein schmachvolles Leben. Die Bezeichnungen wechseln sich ab, aber diese hier
besitzt den Vorteil nicht auszuweichen. Unser aller Schmach
hat sich zurückgemeldet und dirigiert die Stunde. Schande über
alle, die meinen, sie könnten sich in der Schmach breit machen.
Das ist kein Fluch, sondern eine Feststellung. Ich nehme sie nur
den Menschen, die kommen werden, aus dem Mund. Seid versichert: sie werden kommen.
Dürrobsts Testament
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Appendix Der Unfall
Dürrobsts Testament
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Die Leidenschaft
SUV, 136 PS, Frontantrieb, Beschleunigung 0-100km/h 9,2 Sekunden, saphirschwarz metallic, Sternspeichen, adaptive Scheinwerfer, aktiver Fußgängerschutz, Innenluftfilter (Raucherversion), Vollkasko.
Garagenwagen, scheckbuchgepflegt.
Sanft und leicht gleitet Dürrobst durch die Straßen der Ruhrstadt.
Sanft und leicht gleitet die Seele über den Abgründen.
So geht Verkehr.
Wie die Maschine, so der Mensch.
Wer bekommt…?
Das Essen
Vorspeise Lachscarpaccio mit Kressecreme
Zwischengang Fregola Sarda
Hauptgang Rinderfilet vom heißen Stein mit einer Sommertrüffelsauce,
Babybutterspinat und einem leichten Kartoffelgratin
Nachspeise Obstsalat mit Mandelzabaione
1 Flasche Morellino di Scansano
Trinkgeld
Das Unvererbbare.
Die Fahne
Die Fahne der Wissenschaft hochhalten. Zusammengerollt liegt sie im Fond. Den Mann der Wissenschaft kannst du in der Pfeife rauchen. Die Pfeife glüht.
Aufrecht, mit gezückter Fahne, Widerstehen wir dem Wahne.
Dürrobsts Testament
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Der Fußgänger
Dürrobst sieht das Gesicht. Für einen Augenblick ist er erstaunt über die Gefasstheit des Blicks, der dem Unvermeidlichen begegnet. Er kennt solche Blicke von Tierfilmen. An einem Menschen ist er ihm nie begegnet.
Ich bin ein Verhängnis.
Wenn das Loslassen so einfach ist, wie lächerlich all der Aufwand.
Dürrobsts Testament
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Karma
Whatever it takes. Informationen aus einer gemeinsamen Pressekonferenz von Staatsanwaltschaft und Polizei.
Der schwarze SUV kollidierte mit einem am Straßenrand parkenden Lieferwagen, überquerte, offenbar außer fahrerischer Kontrolle, den Fußgängerbereich, drehte sich und krachte mit der Beifahrerseite gegen eine Hauswand.
Der Fahrer, ein älterer weißer Mann, starb, vermutlich an inneren Blutungen auf Grund zahlreicher Knochenbrüche, im stark deformierten Wrack seines Fahrzeugs.
Der Tatort wurde weiträumig abgesichert. Fußgänger kamen durch einen glücklichen Zufall nicht zu Schaden.
Eine in der Nähe befindliche Schülergruppe erhielt zeitnah ärztliche Betreuung.
Über die Beweggründe des Täters ist zur Zeit nichts bekannt.
Im Fond des schwarzen SUVs wurde Demonstrationsmaterial, darunter solches mit teilweise staatsfeindlichen Parolen, sichergestellt.
Der Staatsschutz hat die Ermittlungen aufgenommen.
Ein Augenzeuge, dessen Identität von den ermittelnden Behörden geheimgehalten wird, gab an, er habe gesehen, wie zwei maskierte und offensichtlich bewaffnete Personen zügig den Tatort verließen. Die Aussage wurde bisher von keinen weiteren Zeugen bestätigt.
Eine gegenüber Passanten geäußerte Zeugenaussage, wonach der Täter einem die Straße überquerenden Fußgänger ausgewichen sei, ist den ermittelnden Behörden so nicht bekannt.
Im Handschuhfach des Tatfahrzeugs befand sich nach Auskunft eines Beamten zu Beginn der Sicherungsarbeiten ein offenbar aus der Feder des Täters stammendes Manuskript über den seit längerem von einer sogenannten Fatwa bedrohten indo-britischen Schriftsteller Salman Rushdie. Wie die vorstellende Behörde bedauernd mitteilt, ist es gegenwärtig unauffindbar.
Die Polizei schließt islamistische bzw. islamophobe Motive nicht aus und ermittelt in alle Richtungen.
Es wurden zahlreiche Fingerabdrücke sichergestellt, deren Herkunft noch geklärt werden muss.
Nach bewaffneten Mittätern wird gefahndet.
Die öffentliche Sicherheit ist gewährleistet.
Wie die ermittelnden Behörden in Erfahrung bringen konnten, war der Täter in den vergangenen Monaten auf mehreren von Verschwörungstheoretikern genutzten Publikationsplattformen aktiv. Die polizeiliche Auswertung des Materials ist noch nicht abgeschlossen.
Offenbar handelt es sich beim Täter um einen bekannten Klimagegner. Der Verdacht, hier könne ein Zusammenhang mit der Tat existieren, soll durch das im Fahrzeug gefundene Material gestützt werden. Nach weiteren Beweisen wird gefahndet.
Eine klimaterroristische Tat ist nicht auszuschließen. Die Behörden befürchten weitere Attentate.
Nachtrag: In dem durch den Fahrzeugaufprall leicht beschädigten Gebäude befinden sich unter anderem Büroräume einer deutsch-libanesischen Gesellschaft, gegen die seit längerem der Verdacht der Geldwäsche besteht. Auf Nachfrage kann die Polizei eine Milieutat nicht hundertprozentig ausschließen. Sie bittet darum, diese Spur in der öffentlichen Darstellung diskret zu behandeln.
Dies ist keine Satire.
Vor dem Eingang zur Pyramide ist eine Mahnwache rabiater Klimaschützer aufgezogen.
Das Gesprächsklima in der Pyramide: eisig.
Dürrobsts Testament
18
Game over
Fundstück auf bitter, dem Messenger für Männer:
causaduerrobst@causaduerrobst
AN MEINE TOCHTER – WO IMMER DICH DIESE ZEILEN ERREICHEN – NACH DEN VÄTERN VERSCHWINDEN DIE SAMENSPENDER VON DER BILDFLÄCHE – ALS HABE ES SIE NIE GEGEBEN – VOM ERDBODEN VERSCHLUCKT – MUTTER ERDE – KEIN PROBLEM – WIRKLICH KEIN PROBLEM – BEWAHRE DIESE WORTE – VERGISS DASS SIE VON MIR STAMMEN – VON MIR GEHT NICHTS AUS – VIELLEICHT EIN BISSCHEN UNGLÜCK – DAS WÄRE MIR – NACH LAGE DER DINGE – FAST PEINLICH – LASS ES DIR – GEHEN – A DIEU – DIES IST KEINE BOTSCHAFT
So etwas kommentiert man nicht.
Wer fand’s? Friedenwanger.
Philosoph Leckebusch, graubärtig, soweit die Stoppeln seines Dreitagebartes
eine solide Färbung erkennen lassen, schlendert durch die
nahegelegene ›Shopping Mall‹ – allein, wie es sich in solchen Zeiten
gehört.
Brutaler lässt sich Bedeutungsabsturz nicht in Szene setzen.
Außer Leckebusch schlendert
hier niemand. Ihm gehören die abgedunkelten Zonen, in denen die von
Kundschaft befreite Ware ein museales Dasein fristet, ihm allein
wispern die Sphären zu, in denen das wuselnde Miteinander vor Wochen
noch Alltag war. Aus dem Nimm mich! der Warenwelt schlüpfte,
wie die Wespe aus dem Kokon, über Nacht ein Noch bin ich da. Sieh
dich vor! Der Philosoph, wissend um die Flüchtigkeit aller
Dinge, sieht sich vor.
Leckebusch sieht sich vor. Er knöpft das
innere Sakko enger, er schlägt, bloß in Gedanken, den Kragen hoch
und sucht sich ein sicheres Plätzchen. Denn, um die Wahrheit zu
sagen: Leckebusch ist müde. Dergleichen passiert, es passiert nicht
das erste Mal, ihm schmerzen die Knie, der Atem geht ungewohnt.
Etwas, das vielleicht lange da war, achtlos beiseitegeschoben, mischt
sich hinein und drängt, durch die Verhältnisse begünstigt, in die
Aufmerksamkeit: Sitz nieder, entlaste diesen Körper, er
hat es nötig. Warum, könnte Leckebusch dagegenfragen, wo steckt
die Nötigung? Er könnte es, aber er tut’s nicht, dergleichen wäre
sinnloser Trotz und darüber ist er hinaus.
Ein Debüt
2
Das Widerfahrnis
Weder leer noch geschlossen. Abgeschaltet. Das Gestühl der Cafés
zusammengeschoben und mit Absperrbändern verwahrt, verrammelt der
Zugang zur großen Fensterfront, dort, wo sonst Kinder krabbeln und
Mütter mit unstet irrendem Blick und aufgebogenen Armen ausufernde
Gespräche führen. Ein paar geöffnete Läden – Lebensmittel sind
›erlaubt‹ –, strömen, verlassenen Orchideen vergleichbar, in
die sich hin und wieder ein Insekt verirrt, ihre ersparten Gerüche
aus. Das also war einmal öffentlicher Raum, in dem es sich bummelte,
wählte, aß, trank, las, gestikulierte und redete, bis es sich
ausgeredet hatte. An fahlen Glasfronten eilen Lemuren dahin, die
Gesichter vermummt, weit weg das alles und dort … dort steht auch
ein Stuhl, der Stuhl, der ersehnte, seinen Wächtern entkommen,
einsam, bereit, Leckebuschs Gewicht aufzunehmen, denn er ist schwer
geworden, der Gute, im Takt der letzten Minuten.
Leckebusch lässt sich nieder. Vorsichtig den vom Körper antizipierten Plumps
vermeidend, ein Leckebusch lässt sich nicht gehen, auch wenn … niemand … niemand
… da … da eilt er herbei, der Mann der Ordnung, schwarz gekleidet, breit in der
Brust, zweifellos eine wichtige Person. An geschichtsgeplagter, aus Ruinen
erblühter Stätte, einst Symbol-Ort des freien Westens, verwehrt der Hüter der
Ordnung dem bedeutenden Leckebusch, Verfasser einiger der wichtigsten Bücher der
Gegenwart, das Sitzen. Sitzen, beteuert er allen Ernstes, sei nicht gestattet.
Sehr gern würde der ergraute Philosoph, um über diesen Unsinn zu debattieren, dem Hüter des Ernstes einen freien Stuhl anbieten, stünde nur einer herum. Aber
daran ist nicht zu denken. Der Mann scheucht ihn hoch, als scheuche er Geflügel
aus dem Gehege: Hopp, hopp, hier wird nicht gesessen. Bleiben Sie in
Bewegung. Ein maskierter Sprechapparat leistet Dienst nach Vorschrift, kein
Stimmversagen geht dazwischen, ebenso wenig eine Regung amtlicher Scham:
―Wenn Sie zu schwach zum Stehen sind, sollten Sie zu Hause bleiben.
Welche Entgegnung ziemt einem solchen Menschen? Leckebusch
schwankt, etwas zu lange, zwischen »Wenn Sie zu ungerüstet sind, um zwischen Sinn
und Unsinn zu unterscheiden, dann sollten Sie den Dienst quittieren«
und »Danke, der Krankenwagen ist unterwegs.«
Gott, welche Verschwendung an Geist und Aufruhr.
Wegknipsen, den Kerl.
Ein Debüt
3
Langsame Sammlung
So also sieht er aus, der Kampf um unser aller Gesundheit,
heruntergebrochen auf eine belanglose Szene an einem belanglosen
Nachmittag in einer belanglosen Stadt auf einem belanglosen Planeten
in einem belanglosen Universum.
Ein Wortwechsel zwischen zwei erwachsenen Menschen.
Aber das tut offenbar nichts zur Sache. Man
könnte fragen, um welche Sache es sich dabei handle, offensichtlich
kennt dieser Mensch oder sein Arbeitgeber oder die vorgesetzte
Behörde ein Virus, das scharf zwischen sitzenden und stehenden
Menschen unterscheidet, vielleicht kennt er auch nur seine
Vorschrift, vielleicht auch nur kein Pardon.
Letzteres wird es sein.
Man wird sich, denkt Leckebusch, dieser Zeit als einer Periode des
gnadenlosen Unfugs erinnern und jeder wird seinen Teil zum
allgemeinen Gelächter beisteuern können. Auch jene Aufsichtsperson
wird, wie ihre Kollegen, köstliche Geschichten zum Besten geben,
darunter, warum nicht, die von dem Alten, den er, inmitten einer fahl
erleuchteten Einkaufszone voller stumm dahineilender Menschen, von
seinem einsamen Stuhl vertreiben musste, weil das Gesetz es befahl.
Welches Gesetz? Nun ja, so waren die Zeiten, und wer nicht parierte,
war eben angeschissen. Dafür kann der Einzelne nix.
Ob das dann noch seine Zeit sein wird, fragt sich Leckebusch und erwartet keine Auskunft.
Wo Mensch ist, ist Zoo
ist die Pyramide geschlossen
geht sie ins Netz
Konferenz der Tiere
1
MODERATOR
Heute darf ich Sie virtuell begrüßen, hoffe natürlich, dass
meine Begrüßungsworte nicht nur virtuell, sondern ganz konkret bei
Ihnen ankommen. Wir leben nun so lange mit dieser Technik, einfach
unfassbar. Aber lieben, wirklich lieben können wir sie immer noch
nicht. Einige von uns sind mit dem Herzblut dabei, das ist wahr. Aber
was bedeutet das? Was bedeutet das wirklich? Darüber sollte mal
jemand nachdenken. Wir haben da einen Experten in unserer Runde: Herr
Blowasser –
BLOWASSER
Die Pyramide, Sie wissen das, ist so etwas wie eine Kraftstation
der virtuellen Welt. Das Problem, das Sie gerade ansprechen, kennen
wir Pyramiden-Bewohner schon ein wenig länger. Glauben Sie mir, vieles löst sich durch Gewöhnung. Aber Sie haben recht: es bleibt eine Menge Skepsis. Ich und
meine Kollegen sind Skeptiker von Beruf und das muss auch so sein.
Deswegen reden wir miteinander.
MODERATOR
Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Wenn ich auf diesen Knopf
drücke – huch, jetzt sehe ich Sie nicht mehr. Bitte an die Regie:
Wie kriege ich Herrn Blowasser wieder ins Bild? … Ach. Das ist ja
herrlich. Das beruhigt mich sehr. Herr Blowasser, fahren Sie fort. Wo
waren Sie…? Sie muss ich in dieser Runde nicht vorstellen, wirklich
nicht. Aber ich versuche es doch: Ernesto Blowasser, geboren im
heutigen Polen, wenn ich das richtig sehe … aber das wäre ja, rein
altersmäßig, das wäre doch … Korrigieren Sie mich, hier scheint
einiges durcheinander gekommen zu sein. Korrigieren Sie mich, meine
Damen und Herren, korrigieren Sie mich.
NASSEN
Nassen. Meine Eltern, wenn ich das einflechten darf, stammen aus
Ungarn.
MODERATOR
Un-Garn? Das ist doch EU? Nun ja, im weiteren Sinn. Und ihnen
gelang die Flucht? Womit? Mit der Bahn? Das ist ja eine köstliche
Geschichte. Die müssen Sie uns mal erzählen. Als Kind haben Sie sicher
sehr gelitten.
NASSEN
Nein, wieso? Was ich sagen wollte…
MODERATOR
Also jetzt der Reihe nach. Ihre Eltern stammen aus Un-Garn und Sie
haben was studiert? Bergbau und Philosophie? Oder philosophischen
Bergbau? Das finde ich aufregend. Herr Nassen, es ist, wie Sie hören:
ich habe ich mich informiert. Sie sind Juniorprofessor. So jung und
schon Professor. Sind Sie wirklich so jung? Ich meine, wächst sich
so eine Professur aus? Sie müssen darauf nicht antworten. Nein,
lassen Sie’s. Wie kamen Sie auf den Bergbau? Ich meine, hierzulande
sind die Zechen seit Urzeiten dicht. Wie kommt ein junger Mensch da
auf Bergbau? Ich frage bloß. Wie? Ich frage ja bloß. Nein, ich
frage bloß. Heben Sie sich die Antwort auf, Sie werden uns später
noch viel zu erläutern haben. Ich komme zum nächsten Teilnehmer
unserer Runde … jetzt ist er weg. Regie! … Wie, Sie können
nicht? Er ist weg. Einfach weg. Hat sich abgeschaltet? Dann bringen
Sie ihn wieder rein. Bringen Sie ihn rein. – Er ist weg. Vielleicht
kommt er ja wieder. Zum Glück … ich meine jetzt, zu unserem
Glück, denn unsere Kollegin Ritter … da ist sie. Hallo Maja, wie
geht es dir? Hast du uns etwas mitgebracht? Sie hat uns etwas
mitgebracht, wir werden gleich darauf kommen. Jetzt an alle
Zugeschalteten: Willkommen! Maja wird uns erklären, worum es diesmal
geht. Du musst das Bild anknipsen, Maja… Wir sehen dich nicht. Wir
wollen dich sehen! Jetzt sehen wir dich. Super.
Konferenz der Tiere
2
RITTER
Ich habe einen Traum. Wir sitzen alle zusammen auf einer Insel.
Das Sonnenlicht strömt auf uns nieder, eine leichte Brise umfächelt
uns, wir müssen nur gemeinsam den Kopf wenden und da unten liegt es,
das tiefblaue Meer, eine Traumkulisse, aber eben nicht nur Kulisse,
sondern das Leben selbst in Gestalt eines Gartens, eines wundersam
gestalteten Gartens, – ja, ich gebrauche an dieser Stelle das
leicht veraltete ›wundersam‹, weil es die Sache einfach trifft,
die Sache, die Sache selbst, wenn Sie so wollen, denn wir haben einen
Kreis gebildet, einen einfachen Kreis, umgeben von mannshohen (ich
sage extra ›mannshoch‹, denn ich rede hier nicht als bekennende
Feministin, sondern als Frau der exakten Wissenschaft), von
mannshohen Kakteen, malerisch in ihrer Vielfalt, im Hintergrund
grüßen Palmen … das ist jetzt nicht Wissenschaft, sondern blanke
Vermutung, auch sie gehört zu unserem Geschäft. Wir sitzen
ausgestreckt, in lässigen Posen, um ein angenehm gerundetes, besser
müsste ich sagen: geschweiftes Wasserbecken, wir lassen uns baumeln,
das von der Sonne erwärmte Wasser netzt, bitte beachten Sie auch
dieses Wort, es netzt unsere nackten Füße und unsere Gedanken…
Was möchte ich damit sagen?
MODERATOR
Das hast du schön gesagt. Können wir das jetzt so stehenlassen?
RITTER
Ich wiederhole mich: Was möchte ich damit sagen?
NASSEN
Vielleicht…
RITTER
Sehr einfach. Es genügt, dass jeder von uns eine Weile seinen
Gedanken nachgeht, sie baumeln lässt, wie ich das gerade beschrieben
habe, und schon stellt sich, versteckt oder nicht, das Wort ›Netz‹
ein – und natürlich nicht nur das Wort, sondern die Sache, die uns
alle beschäftigt. Ich betrachte das übrigens als Definition: Die
Sache, die uns alle beschäftigt. Warum –
MODERATOR
Moment. Du bringst uns da…
RITTER
Das Netz ist größer als wir. Es umfasst uns alle. Darin steckt eine
unheimlich sinnliche Erfahrung, der sich keiner entziehen kann.
MODERATOR
Herr Blowasser –
RITTER
Wir haben gedacht, das alles sei eine technische Erfindung und
jetzt stellen wir ganz einfach fest: Es ist unsere Sinnlichkeit, die uns
miteinander vernetzt. Wir waren zu skeptisch. Ich habe nichts gegen
Skepsis, ich freue mich immer, wenn ich ihr begegne, aber letzten
Endes bringt sie uns nicht weiter.
MODERATOR
Maja, ich habe hier ein Manuskript und das Manuskript sagt mir…
RITTER
Aber das weiß ich doch. Ich weiß genau, was du sagen willst und
ich find’s wundervoll. Stimmt etwas nicht mit meinem Bild? Es
wackelt so komisch … ich seh mal nach. Ich bin gleich wieder da.
MODERATOR
Maja! Jetzt isse weg.
Konferenz der Tiere
3
BLOWASSER
Wir müssen uns, ich unterstreiche das jedesmal in meiner
Vorlesung, wir müssen uns dem riesigen Wandel stellen, der uns, ich
behaupte jetzt nicht: bevorsteht … die Woge, um das schöne Bild
der Kollegin Ritter aufzunehmen, die Woge hebt uns bereits, sie hebt
uns schon eine ganze Weile, aber sie läuft, sie läuft noch immer, sie läuft weiter auf,
ganz recht, diese Woge ist ein Tsunami, aber er rollt nicht auf uns
zu, wie immer unterstellt wird, in Wahrheit sind wir ein Teil von ihm, ein
winziges Teilchen irgendwo im oberen Drittel, wenn ich mich so
ausdrücken darf… Genug der Bilder, bleiben wir sachlich.
RITTER
Es gibt sachliche Bilder. Ich –
BLOWASSER
Ich stimme Ihnen zu. Wir müssen akzeptieren, dass auch die
mächtigste Woge sich irgendwann bricht. Was dann geschieht… Aber wir
wissen nicht, wann das geschieht: morgen? Nächstes Jahr? In hundert
Jahren? Wir können es nicht antizipieren. Da draußen laufen
Propheten herum, die können das. Wir können das nicht. Wir können
nur … da fällt mir ein, ich habe meinen Datensatz in der Bibliothek
liegen lassen, sorry. Aber das ist jetzt vielleicht auch gar nicht so wichtig. Was ich
als Politologe zu dieser Diskussion beisteuern kann: Wir laufen in
eine Phase der absoluten Korruption hinein, unsere Daten belegen das einfach, und da wendet man sich irgendwann an den Philosophen und fragt: Was ist
Korruption?
MODERATOR
Herr Nassen, was ist Korruption?
NASSEN
Muss ich jetzt etwas Intelligentes sagen? Ich sage mal etwas
Dummes: Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, wir wissen es beide
nicht.
MODERATOR
Sie wissen nicht…? Aber Sie beide forschen doch…
NASSEN
Sehen Sie, Sie forschen und stoßen da auf eine Grauzone. Sie
stoßen nach. Und plötzlich hat diese Grauzone Sie verschluckt.
Einfach verschluckt.
MODERATOR
Sie wollen sagen…? Aber das ist nicht Ihr Ernst. Oder doch?
Helfen Sie mir. Wer hilft mir jetzt?
RITTER
Ich verstehe das als Bild. Es ist dasselbe wie bei Herrn
Blowasser: Wir sind die Woge. Man fühlt sich aufgehoben und wenn man
sich aufgehoben fühlt, dann fühlt man sich besser. Man fühlt sich
besser und gleichzeitig hat man dieses Bauchgefühl: Da läuft etwas
schief. Die Leute aus der Wirtschaft sagen mir oft: Da läuft etwas
schief. Und wenn ich mich mit Politikern unterhalte, was relativ
häufig vorkommt, dann sagen sie mir: Da läuft etwas schief. Reden
wir mit Journalisten: Man hört überall das Gleiche.
NASSEN
Sie haben da einen wichtigen Satz gesagt: Es ist überall das
Gleiche. Das ist ein relativ neues Phänomen, dem nachzugehen sich
lohnt.
MODERATOR
Züchten Sie Schweine? Ich meine das ganz unmetaphorisch, mir
schwebt da gerade ein saftiges Steak vor.
NASSEN
Ich? Nein. Wie kommen Sie darauf? Ich bin Investor.
Konferenz der Tiere
4
BLOWASSER
Reden wir über Korruption. Wir sind jetzt vier Menschen im Gespräch
– der angekündigte fünfte hat sich noch nicht gemeldet, deshalb lasse
ich ihn aus, obwohl ihm vielleicht in unserem kleinen Drama die
Schlüsselrolle zukommt – und ich frage, ich stelle die Frage in den
Raum: Wer besticht wen? Zum Beispiel habe ich Herrn Nassen den
Vortritt gelassen, scheinbar, um ihm Gelegenheit zu geben, eine Materie
vorzutragen, die er besser beherrscht als ich. Aber natürlich war das,
sagen wir, eine Finte, die mich in die vorteilhafte Position dessen
bringen sollte, der die Dinge ein Stück weit zurechtrückt, und
zwar völlig unabhängig von allem, was Nassen vortragen würde. Er hat
das natürlich durchschaut – schließlich kennen wir uns seit Jahren –
und die ihm zugedachte Rolle verweigert. Er wusste, dass ich am Ende doch
antworten würde – teils aus persönlicher Eitelkeit, teils aus dem
redlichen Bedürfnis heraus, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, bevor sie
festsitzt und sich ein Konkurrent ihrer annimmt. Keiner von uns hat so
geantwortet, wie die Expertenrolle es von ihm verlangte. Wir haben uns
menschlich verhalten, das heißt korrupt. Ist das schon ›Korruption‹?
Wer von uns beiden ist korrupt? Wer korrumpiert wen? Wer korrumpiert,
weist dem anderen eine Rolle unterhalb der geforderten zu, verbunden
mit der Andeutung, sie sei die vorteilhaftere. Wer tut so etwas? Ganz
recht, hier liegt eigentlich die Aufgabe des Moderators. Ganz recht …
Sie werden unruhig, Sie wollen widersprechen, Sie wollen mich
unterbrechen, den Gesprächsfluss ableiten, nicht etwa, weil ich nicht beim Thema
wäre, sondern weil ich momentan zu dicht dran bin: Ist das nicht so?
Ist das nicht korrupt? Sie bringen Ihre solitären Machtmittel in Stellung, um
mich zum Schweigen zu bringen, und ich benutze mein einziges
Machtmittel, um Sie zum Schweigen zu bringen, einfach, indem ich
weiterrede, einfach, weil ich es kann. Schließlich dürfen Sie
mir nicht wortlos den Ton abschalten, Sie würden damit einen gesprächstaktischen
Fehler begehen, vielleicht sogar einen strategischen, je nach
Verlauf. Ich frage Sie: Wer von uns beiden ist jetzt korrupt? Und Sie, liebe Maja –
nesteln Sie wieder an Ihren Knöpfen herum? Nein? Ich kann Sie sehen;
hören Sie mich? –: gleich zu Beginn unserer Unterhaltung haben Sie
unterstrichen, dass Sie hier für das Schöne zuständig sind, was mit
Sicherheit niemand in dieser kleinen Runde bestreitet, aber es lenkt den Blick
doch auch auf die Person hinter der Rede, das heißt auf das
elektronische Bild, das Sie uns zur Verfügung stellen, ein kostbares
Bild, wie Sie uns durch das klassische Mittel der Preissteigerung, die
Verknappung, deutlich machen konnten. Sie werden einwenden, aber deshalb
konferieren wir doch miteinander, man nennt das allgemein Begegnung.
Sonst könnten wir uns auch Papers zuschicken. Das ist richtig
und ich will Ihnen in diesem Punkt ausdrücklich zustimmen, allein
schon, weil ich mich weiterhin Ihres Anblicks erfreuen möchte, denn ich
finde Sie aus geschlechtlichen Gründen attraktiv und mir ist
selbstverständlich eingebrannt, dass dies zu den im beruflichen Diskurs
strikt verbotenen Aussagen gehört, aber auch, weil Ihr scheinbarer
Einwand mein Argument zementiert: Wir sind hier, weil wir Menschen
sind. Wir sind hier, weil wir korrumpierbar sind, so wie die Menschen,
die sich dem Milgram-Experiment zur Verfügung stellten, dies taten,
weil sie korrumpierbar waren: Sie taten es, obwohl sie nicht wussten,
was sie taten, sie taten es sogar, weil sie nicht wussten, was sie
taten, und sie taten es, ohne zu wissen, was sie taten. Aber auch das
wussten sie nicht und sie taten es trotzdem. Heißt das nicht: in der
Seele korrupt sein?
RITTER
Was meinen Sie mit Seele? Ich meine das ernst.
Konferenz der Tiere
5
MODERATOR
James, ich zieh dich nach vorn, so, jetzt haben wir dich groß im
Bild. Willst du gleich etwas sagen oder später? Wir sprechen gerade…
WEINFUS
Aber doch nicht über mich? Das wäre un-sinnig. Lassen Sie mich
etwas Unsinniges sagen (ich liebe diese Sprache, der schönste Sinn
ist der Un-Sinn, den man mit ihr … wie sagt man? … anstellen
kann. »Stelle dich hinten an!« – »Aber das tu ich doch, Mama.«
Wundervoll!) – ich habe gestern etwas gelesen that makes me mad,
jedenfalls bekomme ich es seither nicht mehr aus dem Kopf: da stand
in dieser wirklich angesehenen Zeitung (wer liest heute noch Zeitung
außer uns?), in dieser bis vor kurzem angesehenen Zeitung, muss ich
gleich hinzufügen, man hätte, passen Sie auf, genderspeak zu
lange für einen harmlosen akademischen Radikalismus gehalten, das
sei ein Fehler gewesen. Ich will jetzt nicht über Fehler sprechen.
(Man muss immer über Fehler sprechen, aber ich verschiebe das jetzt
mal.) Ich will auch nicht über Gender-Sprache reden, ich sehe, Maja
ist da, hallo Maja, das ist ja ein Thema für sich. Mich fesselt
dieser harmlose akademische Radikalismus, was ja eine
Umschreibung (sagt man Umschreibung? Ich bin mir nicht sicher) von
Nonsens ist, treiben wir hier Nonsens? Könnte es sein, dass unser
harmloser akademischer Radikalismus niemanden interessiert,
und plötzlich sieht die Gesellschaft (oder der Teil der
Gesellschaft, der sich überrumpelt fühlt) in uns den Feind?
MODERATOR
Das könnte nicht sein, das ist so.
WEINFUS
Aber warum? Weil wir den Verhältnissen auf den Grund gehen? Ist das
der Grund? Darüber denken gerade viele Leute auf dieser Seite des Atlantik
nach. Hallo Ernesto, ich sehe dich, gut, dass du zugeschaltet
bist. Radikal sein heißt ein bisschen, unter den Grund gehen, in
den Unter-Grund. Ich gehe jetzt in den Unter-Grund. Was sehe ich, wenn
ich in den Untergrund gehe? Ich sehe die Dinge von unten. Eigentlich
sehe ich dort unten ja nichts. Aber als geübter Maulwurf (wir sind doch
alle geübte Maulwürfe, nicht wahr?) sehe ich trotzdem. Ich sehe
(Verzeihung für das abgedroschene Wort) mit den Augen der Theorie.
MODERATOR
Und die Theorie sagt dir –
WEINFUS
Darauf wollte ich gleich kommen. Das ist ein bisschen wie bei
Plato, bloß anders herum, oben scheint die Sonne und unten, im
Untergrund, sammeln sich die Ideen. Das ist natürlich nur ein Bild
und Bilder verführen uns … zu den seltsamsten Gedanken, wollte ich
sagen.
NASSEN
Das berührt mich jetzt sehr, James. Aber es ist ja gerade nicht
wie bei Platon. Die Wirklichkeit wächst nicht aus dem Erdreich und
wir machen uns auch nicht an ihren Wurzeln zu schaffen. Was wir
Wirklichkeit nennen, das haben wir konstruiert. Eine andere
Wirklichkeit gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Das wäre ja noch ein
Konstrukt. Was wir gerade erleben, das ist –
WEINFUS
Sicherlich.
NASSEN
Sehr. Was wir gerade erleben –
RITTER
Genau. Ist das dann keine Wirklichkeit?
NASSEN
Was wir gerade –
MODERATOR
Also ich bin immer noch unter der Erde. Wer hilft mir heraus?
WEINFUS
Bei dem Gedränge … das kann ich verstehen. Bleiben wir beide
doch ein bisschen unter der Erde. Dumpf aus der Erde wandert es
mit. Das ist ein schöner Vers, aber nicht von Rilke, vermute ich
mal. Im Untergrund fahren ja diese nützlichen Erfindungen der
Zivilisation, die New Yorker nennen sie Subway, woanders heißen sie
Underground, Unter-Grund-Bahn. Da unten kommt man einfach schneller
voran. Wir sind schneller als die Gesellschaft, wir sind immer
schneller als die Gesellschaft, das ist ein Fakt. Also heißt radikal
sein (oder das, was die einstmals angesehene Zeitung dafür hält)
schneller sein. Gott ist Tempo, habe ich bei einem Philosophen
gelesen, Sie kennen ihn sicher, er geht ja bei Ihnen ein und aus.
Sind wir Gott? Natürlich nicht. Aber wir machen Druck. Wem
machen wir Druck?
MODERATOR
Zunächst einmal doch uns selbst. Mit Blick auf die Uhr –
BLOWASSER
Wir sollten unsere Gedanken ordnen. Was ist das Ziel? Das Ziel
kann doch nur sein, die Gesellschaft zu beschreiben, wie sie ist. Die
Gesellschaft holt ihre Zukunft aus sich selbst. Nur daraus lassen
sich Maßstäbe für die Politik gewinnen. Die Politik gewinnt, wenn
sie sich auf die Gesellschaft einlässt.
MODERATOR
Dann ist sie korrupt. Das haben wir gerade gelernt.
WEINFUS
Ich refüsiere (heißt das so?): Die Politik ist immer korrupt.
Jedenfalls gilt das für die amerikanische. Das war ein Scherz.
Natürlich stimmt das überall auf der Welt. Es stimmt, dass es
nicht stimmt. Von wem stammt das? Von einem Radikalinski? Wir
ordnen unsere Gedanken und schon sind wir radikal. Das Problem
entsteht an der Grenze zur Gesellschaft. Die Gesellschaft kann unsere
Gedanken nicht abholen. Also bilden wir die jungen Leute aus und
hoffen darauf, dass sie die Gesellschaft mit unserem Gedankengut
fluten.
NASSEN
Was irgendwann auch passiert.
WEINFUS
Was irgendwann auch passiert. Aber was passiert dann? Darüber,
finde ich, wird viel zu wenig geredet. Diese jungen Leute lernen ja
nicht nur bei uns, sie lernen dort draußen weiter. Und was sie dabei
in Wirklichkeit (also in einem Konstrukt, wie wir gerade gelernt
haben) lernen, das ist Doublespeak. Nicht Genderspeak, sondern
Doublespeak.
MODERATOR
Wo würdest du da den Unterschied ansetzen?
WEINFUS
Nicht zu hoch, nicht zu hoch. Aber das bleibt jetzt unter uns.
MODERATOR
Oder beim Provider.
WEINFUS
Maja, sprich du ein Wort.
RITTER
Wie meinst du das? Doublespeak ist die Sprache der Schlange. Soll
ich das jetzt weiter ausführen oder was schwebt dir vor? Ich meine,
die jungen Leute müssen da draußen zurechtkommen. Was nicht immer
einfach ist. Man nennt das dann öffentliche und private Moral, aber
ich finde das nicht so einfach. Die private Moral ist auch doppelt
und die öffentliche sowieso. Wir sind ja auch privat öffentlich und
öffentlich privat. Mir sagen diese Wörter jetzt nicht so viel. Darüber hatten wir hier
gestern eine sehr informative Sitzung.
Konferenz der Tiere
6
NASSEN
Bring mir das Haupt des Täufers – ich möchte das jetzt
nicht vertiefen, aber natürlich liegt hier der Hund begraben, falls
ich mich auch einmal bildlich ausdrücken darf. Der vertragliche
Zustand, die Herrschaft der Verträge bedeutet nicht das Ende
der Welt. Das ist einfach eine männliche Utopie. Wer hören will,
der vernimmt die darüberliegende Stimme, schrill, fordernd, mit
diesem Anflug von bebender Hysterie, die zum bedingungslosen Handeln
auffordert, er sieht zuckende Hände im Allerheiligsten die
Verträge zerreißen, einen nach dem anderen, von oben nach unten,
mit diesem kleinen charakteristischen Stopp in der Mitte, diesem
winzigen Innehalten, das signalisiert: Wer will mich aufhalten? In
diesem Augenblick, in diesem alles entscheidenden Augenblick sind
alle Niemand.
WEINFUS
Das ist sehr mutig, junger Freund. Hier in America … du
lernst augenblicklich … Klappe halten, so heißt das doch? Wir alle
haben gelernt, ein wenig die Klappe zu halten, wir haben ein wenig
dabei verlernt, ob sie nach oben oder nach unten aufgeht, deshalb
pressen wir von oben und von unten, wir machen uns selber Druck
sozusagen, mit allen verfügbaren Mitteln. Wir machen das im Inneren,
aber auch im Äußeren. Die Nation of Contracts zerreißt jeden
Vertrag dieser Welt, sobald sie ihren Vorteil dabei – wie sagt man? –
zu finden glaubt. Wir stehen alle ein bisschen da, wo wir zu finden
glauben. Ein Schritt weiter und wir würden wirklich finden … oder
herausfinden, dass wir umsonst losgestürmt sind. Das will natürlich
keiner. Das ist wie in diesen Katastrophenfilmen. Alle wissen schon,
wie es ausgeht, aber der verflixte Aufschub, dieser, es tut mir leid,
wenn ich das sage, raffiniert gemachte Aufschub hält alle auf den
Sitzen und das Spiel läuft ohne Ende weiter.
NASSEN
Die Zeit ist um und das Spiel läuft weiter. Das ist die eigentliche Nassen-Blowasser-message. Nach meinem Verständnis Beckett, der
typischerweise nicht mehr gespielt wird. Ein Autor ist genau dann tot, wenn
seine Phantasie sich zur Wirklichkeit wandelt. Nachher avanciert er zum Epochenautor,
sollte man sich seiner dann noch erinnern.
BLOWASSER
Irgendwie kennt diese Zeit keine Autoren, sondern bloß
Drehbücher. Drehbücher sind drehbare Bücher, wenn Sie mir
das Wortspiel erlauben. Man kann sie so oder so drehen, Hauptsache
ist, sie werden gedreht. Jemand findet einen Dreh, wie man mit, sagen
wir, einer fiktiven Pandemie Geld verdienen kann, viel Geld,
unverdientes Geld, das nur gescheffelt zu werden braucht, und er
findet die Welt als Mitspieler. Die meisten Mitspieler spielen sich
selbst in Grund und Boden, aber die Lust am Dabeisein überstrahlt
alles. Ja, es gibt die Lust am Abgrund. Es gibt die Lust, den Gierigen Raum
zu gewähren, die uns morgen beherrschen werden. Es gibt die Lust am
Untergang, den keiner auf sich bezieht. Man kann das mit Zahlen
erhärten.
MODERATOR
Ein bisschen erinnert mich das jetzt an meine Großmutter. Pass auf,
James, du kennst meine Großmutter nicht. Ich meine, jeder hat so eine
Großmutter, dazu reicht es, ein wenig an der Erinnerung zu kratzen. Sie
sagte, ja, die Russen waren schlimm. Aber nicht so schlimm wie das
Warten darauf, dass sie kommen. Sie sollten endlich kommen. Ohne diese
Russen, die einfach nicht kamen, obwohl jeder wusste, sie würden
kommen, weil sie doch kommen mussten, hätte das Warten, dass es zu Ende
geht, ja keinen Sinn gehabt. Es musste doch aber einen Sinn haben, auch
wenn er uns auslöschen sollte. So war sie. Die nahm sich kein Blatt vor
den Mund.
WEINFUS
Ganz meine Großmutter! Ehrlich! Wenn ich’s dir sage. »Kind, die
Scheißkerle mögen uns nicht. Die warten darauf, dass wir uns
verpissen. Aber den Gefallen tun wir ihnen nicht.« Eine resolute Person.
MODERATOR
Das ist zwar eine einseitige Betrachtungsweise…
WEINFUS
… aber sehr haltbar. Ich habe diese Scheißkerle später – wie
sagt man? – zu Gesicht bekommen. Das war nicht erbaulich. Jeder von
uns bekommt sie irgendwann zu Gesicht. Und was macht er? Er lässt
sie ihr Ding durchziehen. Ist das Korruption? Jedenfalls ist das nicht der
Realismus, den unsereins im Kopf hat. Es ist die Wahrheit.
NASSEN
Die Wahrheit, der Weg, das Leben.
MODERATOR
So weit würde ich jetzt nicht gehen.
WEINFUS
Wer will schon so weit gehen. Soweit die Füße tragen.
BLOWASSER
Maja ist weg.
MODERATOR
Wie, weg?
BLOWASSER
Einfach von der Bildfläche verschwunden.
WEINFUS
Erwartet sie ein Kind? Vielleicht ihre Tochter? Wir haben sie
einfach so…?
RITTER, ohne Bild Ich höre euch. Ich höre euch doch alle. Das Gespräch war so …
befruchtend. Mir war, als hätte ich das alles schon einmal gehört.
Das ist jetzt keine Kritik oder so, sondern einfach befreiend.
Ein bisschen viel vielleicht, ja, das würde ich jetzt so
stehenlassen wollen. Vielleicht muten wir uns alle eher zu viel zu.
Hat jemand darüber schon nachgedacht?
Zeige mir den Politiker der nicht lügt
und ich zeige dir … was eigentlich?
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
1
Merkwürdig am Verlust der Freiheit:
er vollzieht sich in
Übergängen, die keine sind. Die Leute, die guten Leute sagen, er
vollziehe sich schleichend. Die guten Leute sagen so mancherlei, was
auf den ersten Blick einleuchtet. Aber sieht man näher hin, entsteht
daraus etwas anderes. Richtig ist, dass der Verlust dieser enorm
wichtigen, dann aber auch wieder abstrakten Sache schon erfolgt ist,
sobald er bemerkt wird. »Wo mag sie sein? Sie war doch eben noch da?
Wird wohl unter den Tisch gerollt sein.«
Freiheit ist tatsächlich nicht die Abwesenheit von Einschränkungen, sondern sie entsteht aus Einengung, durch die allererst der Gedanke der Befreiung entstehen kann, und damit aus dem Geist der Tat. Freiheit ohne Befreiung ist nicht vorstellbar, sie ist nichts, ein ruhendes Gut. Manuel Friedemann Geist (1779-1926)
Dann wäre also, recht betrachtet, die Existenz vor erfolgter Einengung geist-los zu nennen. Warum nicht? Geistlosigkeit ist auch eine Definition von Freiheit und vielleicht nicht die schlechteste. Alles, was Menschen einfällt, engt sie ein und erschafft damit Unfreiheit. Q.e.d.
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
2
Nein –
unter den Tisch gerollt ist sie nicht. Weg ist sie. Aber das zu
realisieren dauert seine Zeit. Man ist in anderen Angelegenheiten unterwegs, man
bemerkt zunächst nicht, was man da bemerkt, was sich, halb unbemerkt, halb
bemerkt, in die Wahrnehmung einfädelt, man wischt, was sich einfädelt, beiseite
wie ein lästiges Spinnengeflecht, das einem ins Gesicht geweht wurde. Es kommt
aber wieder. Alles Wiederkommende wird anders bemerkt. Man verhält sich auch
anders dazu: anders und gleich. Man wischt wieder, mit steigender
Routine. Soll heißen, der automatische Anteil an dieser vergleichsweise
einfachen Handlung wächst. Dann passiert etwas Merkwürdiges: Man wischt und
wischt und irgendwann geht das Weggewischte nicht mehr aus dem Gesicht heraus.
Und auch dann ist die Aufmerksamkeit erst halb geweckt. Das träge
Halbbewusstsein beschließt, es handle sich um eine Hautreizung, die abklingen
wird, um eine Halluzination der Sinne, eine momentane Überspanntheit, wie sie
das Leben in der Gesellschaft so mit sich bringt. In dieser Situation beginnt
der physische Mensch sich zu kratzen. Das psychische Äquivalent ist Trotz. Der
in seiner Freiheit beengte Mensch neigt zur Widerborstigkeit.
Die Kunst, anderen die Freiheit zu nehmen, heißt Politik. Es geht auch ohne Kunst, dann ist es Gewalt. Gaggauer (in seltener Gesprächslaune)
Politik kommt wieder. Again and again. Das ist vielleicht ihr hervorstechendstes Merkmal.
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
3
Irgendwann –
es gibt in dieser Angelegenheit keine präzisere Zeitbestimmung –: irgendwann
springt die Wahrnehmung um. Man kann auch sagen, sie springt an: sie wird
randscharf. Der innere Mensch realisiert, was Sache ist, wie der
Volksmund das so unnachahmlich formuliert, und randaliert. Man hat ihm die
Freiheit genommen, er weiß noch nicht, wem er die Schuld daran zuschieben will,
aber aus dieser Sache will er, koste es, was es wolle, wieder herauskommen. Er spannt seine Muskeln, er
sucht die Entscheidung. Den größten Teil seines Erwachsenenlebens sucht der
Mensch die Entscheidung. Das gilt vielleicht nicht für jeden Menschen (wer kennt
schon alle?). Vielleicht spricht auch der Faktor Kultur ein entscheidendes
Wörtchen mit. Aber der mitteleuropäische Mensch, wer immer das sein mag, sucht
in der Regel die Entscheidung. Genauer gesagt: etwas in ihm sucht sie. Ob es sie
findet, das hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Der eine sucht die Entscheidung in der Sache, der andere in
der Person. Soll heißen, der eine sucht den Grund, den eigentlichen
Stein des Anstoßes, um so das Problem zu bereinigen. Der andere
sucht den Schuldigen. Er will ihn stellen und, wenn möglich,
beseitigen. Ersteres gilt als rational, letzteres als irrational,
zumindest als radikal, mit einer Neigung zum
Extremismus. Killus
Die Annahme, es müsse dort draußen Menschen geben,
die mir meine Freiheit nehmen, ist dem gemeinen Mitteleuropäer nur
in einem sehr begrenzten Maße gestattet. Im Alltag – hier senkt
sich automatisch die Stimme – beschränkt sie sich auf die
klassische Entführungssituation mit anschließender
Lösegeldforderung. Alles andere gilt als ›problematische
Behauptung‹. Das sagt im Grunde alles über die Situation.
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
4
Also:
was ist Sache? Keine Ahnung. Etwas scheint passiert zu sein.
Meine Welt ist verändert: sie fühlt sich anders an. Das ist
natürlich Quatsch, Welt fühlt sich nicht an, Welt ist ein
Abstraktum, Welt ist konstruiert. Nein, auch das ist Quatsch. Welt
ist Welt. Nicht meine, nicht deine: Welt. Bedenke ich es recht, ist
meine Welt kaum mehr als ein Befinden. Befinde ich mich wohl, ist
meine Welt in Ordnung, bekomme ich Probleme, gerät sie in Unordnung.
›Meine Welt‹ ist ein Euphemismus. Sie steht für etwas in der Realität kaum Greifbares. ›Fühlst du dich wohl in deiner Welt?‹
bedeutet, in die Sprache der Rationalität übersetzt, so etwas wie:
›Du scheinst von dem, was passiert, nicht viel mitzubekommen. Wo
lebst du überhaupt? Kannst du es verantworten, so zu leben?‹
Wenn dir deine Welt nicht gefällt, erfinde dir eine andere: Maxime aller Phantasten. Noch einmal jung sein, die Welt mit anderen Augen sehen, sich eine neue Welt erschaffen: Wer so denkt, der befindet sich schon auf dem Trampelpfad der Unvernunft, der mangelnden Einsicht, dass alles seine Richtigkeit hat, vorausgesetzt, man ist mit ihm einverstanden, was eigentlich das Selbstverständliche ist. Das Einverstandene ist das Gesunde, das nicht Einverstandene ist das Kranke: So spricht die unlautere Vernunft, die an den Pforten der Hölle wacht. Bartosz (Die Frage, in welcher Welt Bartosz gelebt hat, kann nicht abschließend beantwortet werden.)
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
5
Wenn ich plötzlich Freiheit vermisse,
dann deshalb, weil mich
etwas in meinem Bewegungsdrang einschränkt. Das ist die Funktion von
Grenzen. Hier diese Grenze war gestern noch nicht da. Woran
erkennst du dann, dass da eine Grenze ist? Nun… ich habe versucht,
sie zu ignorieren und es hat nicht geklappt. Vielleicht habe ich gar
nichts getan, aber zugesehen, wie einem anderen just hier etwas
zustieß. Vielleicht habe ich selbst etwas getan und bin gescheitert.
Wenn mir ein verletztes Knie meine Grenzen aufzeigt, dann ist das
meine Sache. Wenn ein anderer ins Kreuzfeuer gerät, weil er etwas
gesagt hat, dann ist das etwas anderes. Es ist seine Sache, aber
nicht ganz, weil sich zeigt, was einem anderen an seiner Stelle
geschehen könnte – und dieser andere könnte ich sein. Bin ich
deshalb eingeschränkt? Habe ich das Recht, mich deshalb als
eingeschränkt zu betrachten? Hätte ich denn sagen wollen, was
dieser sagte? Vielleicht, vielleicht nicht. Ich sah keinen Anlass
und habe es nicht gesagt. Ich stand auch nicht im Begriff, etwas in
dieser Richtung zu sagen. Ich könnte es sagen, das ist richtig, und
jetzt kann ich es nicht mehr sagen. Das ist fatal. Das ist unerhört.
Freiheit die Freiheit des Andersdenkenden? So ein Quatsch! Freiheit ist die verlorene Freiheit des Anderen, die stinkende, in die Gosse getretene Selbstverständlichkeit, mit der ein anderer da ist, rundum er selbst und kein anderer, während seine Feinde schon Lügen über ihn verbreiten, denen man die künftigen Mauern und Folterwerkzeuge bereits ansieht, von den Erschießungskommandos erst gar nicht zu reden. Freiheit ist die Naivität, nicht zu sehen, dass man verloren hat, während alle anderen sehen. Wunder über Wunder: Sie beneiden dich doch. Dichter M
M hat gut reden. Er ist tot. Sein Tod: ein plötzlicher Freiheitsentzug. Auch wenn er lange davon gewusst hat – was weiß seinesgleichen davon? Nichts. M ist der Prototyp des Menschen, der noch viel vorhat und alles zerrinnt mit einem Schlag. Woher dieser Schlag kommt, ist unwichtig. Entscheidend ist, dass er nicht pariert werden kann.
Drastikon (1) Die kleinen Schritte
6
Aber vielleicht könnte
ich es ja sagen. Ein bisschen Widerspruch muss
jeder aushalten können. Und wenn es mehr wird als bloßer Widerspruch?
Beschimpfung? Spießrutenlauf? Pranger? Ist das dann schlimm? Und wenn es schlimm
wird: Ist das nicht meine Freiheit? Und wenn meine Reputation weg ist oder mein
Job: Wäre das nicht der Preis der Freiheit? Heißt frei sein nicht gerade das:
bereit sein, den Preis zu entrichten? Seit wann ist es den Freien verwehrt, hohe
Preise zu zahlen für das, was ihnen gefällt? Welcher Preis sollte da zu hoch
sein? Zu hoch für wen? Welcher Preis wäre mir zu hoch? Jeder? Oho. Mein
Lieber, wer so denkt, der treibt die Preise hoch, bis sie wehtun. So
funktioniert Markt. Er schont niemandem, aber er ist jedermann dienstbar. Der
Markt der Meinungen ist der Markt, auf dem Habenichtse ihre Ansichten mit denen
der Vermögenden abgleichen und sich fragen, wie viel davon sie sich leisten
können. Noch geht in diesem Land keiner für seine Ansichten ins
Gefängnis. Der Doppelsinn dieses Satzes ist perfekt. Die Frage wäre auch
eher: Geht er für sie auf die Barrikaden?
Die Barrikaden… So redet, wer in seinem Leben noch keine aus der Nähe gesehen
hat.
Die Realität ist eine Münze Jeder Wurf eine Überraschung
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
1
Im Labyrinth
Jede Weltlage verfügt über ihre Spezialisten. Mit jedem Schritt, der dich tiefer ins Unvertraute befördert, begegnest du jemandem, der dir versichert, gerade jetzt gehe es für ihn ins Vertraute. Du bist bereit, ihm zu glauben, da seine Rede deiner Empörung Ausdruck verleiht. Insgeheim wunderst du dich darüber, schließlich entspringt deine Empörung deiner Erfahrung und du bemerkst die Unmöglichkeit, sie mit seiner abzugleichen. Wenn er sagt, das und das fühle sich gleich an, merkst du, wie du dich teilst: ein Teil geht mit, einer bleibt zurück und gerät ins Grübeln. Was gibt es da zu grübeln? Du solltest froh sein, einen Fremdenführer an der Hand zu haben. Denn fremd wirkt das Gelände und steckt voller Fallgruben. Und du grübelst weiter. Die Welt, von der dein Führer spricht, ist nicht irgendeine. Sie ist die Gegenwelt zu der, in der du dich all die Jahre befunden hast und die du noch immer als deine betrachtest. Auch jetzt, da sie sich offenbar von dir entfernt, sind es ihre Zeichen, die deinen Alltag prägen. Offensichtlich befindest du dich in einer Wahrnehmungsfalle.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
2
Kippwelt
Was meinst du mit ›Wahrnehmungsfalle‹? Was willst du damit sagen? Du bejahst, was du verneinst. Genauer: dein Verstand bejaht, was deine Sinne verneinen. Unaufhörlich suggerieren dir deine Sinne: Alles in Ordnung. Das ist deine Welt, nichts hat sich verändert. Und ebenso unaufhörlich wiederholt dein Verstand: Alles hat sich verändert, das ist deine Welt nicht mehr, begreife, was dir der Führer der Verwirrten zu sagen hat, denn du bist hier der Verwirrte, der nach Klarheit strebt. Und genauso ist es dein Verstand, der einwirft: Täusche dich nicht, das hier ist deine Welt, sie spielt nach deinen Regeln, kämpfe! Während die Sinne nicht müde werden zu wiederholen: Mach dir nichts vor! Hier bist du der Fremde. Schon die überbordende Vertrautheit der anderen mit den neuen Realitäten ist dir in der Tiefe fremd. Du kannst nicht sagen, dass sie dich abstößt. Sie ist real und du bist nicht real. Du bist der Abgestoßene und etwas zwingt dich, das ganz o.k. zu fühlen. Zwingt es dich? Wie kann dich zwingen, was dich ausspart?
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
3
Dilemma
Der Führer – nicht ohne Grund nennst du ihn ›Führer der Verwirrten‹ – trägt an einer erinnerten Welt, die nicht die deine ist. Du kannst nicht behaupten, sie sei dir völlig fremd. Auch du erinnerst dich: die Welt, aus der er kommt, für dich und deinesgleichen ist und bleibt sie Gegenwelt, der Fremdling im vertrauten Universum, eines und doch ›up ewig gedeelt‹ durch eine Einrichtung, die sie mit der Keckheit der Resignierten den Eisernen Vorhang nannten (heute, sprachfaul geworden, würden die Kenner der Regelungen es beim ›iron curtain‹ der Sieger belassen), ein tödliches Grenzregime mit Schlupflöchern für Ratten und Privilegierte, ab=stoßend im strengsten Sinne. Ein Narr oder Verwandter, wer da hinüberwechseln wollte. Man musste schon über Verwandtschaft verfügen, wirkliche oder politische, um Zugang zu jener Region zu gewinnen. Und diese versunkene Welt soll plötzlich hier sein? Das ist unmöglich.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
4
―Gut möglich, sagt dein Führer, dass du es so empfindest. Ganz fremd ist auch mir diese Empfindung nicht. Allerdings ist meine Empfindung, verglichen mit deiner, seitenverkehrt: eine uralte Vertrautheit, von der ich gestern noch annahm, dass sie sich im Nebel der Vergangenheit verlor, ist plötzlich zurückgekehrt und hat von mir Besitz ergriffen. Verfügte ich über eine Pferdenatur, könnte ich sagen, sie reitet mich. Vielleicht bin ich auch bloß der Esel im Stück. Verstehst du das? Da ist ein Wahnsinn in der Welt, der mich reitet. Nie wieder, nicht in meinen Albträumen, hätte ich dorthin zurückkehren mögen. Plötzlich, ohne mein Zutun, ist es wieder da: als Besessenheit. Ja, ich bin besessen. Ich bin ein Verkünder. Wahrlich, ich verkündige euch alles Leid aus Jahrzehnten, die niemals wiederkehren werden, ich verkündige euch neues Leid, von dem ich tief im Herzen weiß: es ist das alte, auferstanden aus Ruinen, aus verfallenem Gemäuer, undichten Dächern, verschlissenen Betrieben, geknebelten Gedanken, geknebelten Bräuchen, geknebelten Herzen … aus Orten, die bloß zu nennen man sich hütete, wollte man nicht bereits mit einem Fuß … mit zwei Füßen … was ist los? Bin ich überwältigt? Damals war ich jung. Ja, ich war jung dort. Es war, ist und wird immer sein: mein Leben.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
5
Wer die Erinnerung beherrscht beherrscht das Land
Wie sollst du ihn nennen? »Mein Führer« –? Warum der Zynismus? Noch immer verbietet sich vieles … fast hättest du geschrieben, von selbst. Aber so ist es nicht … so ist es nicht. Dinge, die gar nicht gehen, liegen wie Schatten auf Institutionen, die gerade noch im hellen Tageslicht prangten. Wechselnde Sprachregelungen sind über das Land hinweggegangen und erinnern an die stupende Beweglichkeit des politischen Vokabulars. Im großen und ganzen … im großen und ganzen ist das Arsenal der Einschüchterung wieder beisammen. Was du sagen wolltest… Beachte die neuerliche Lust der großen Medien an Ausdrücken wie ›Staatsschutz‹ und dergleichen, Bestandteilen einer Behördensprache, deren öffentlicher Gebrauch lange Zeit auf ein Minimum heruntergeschraubt war, ohne dass der Schutz des Staates darunter gelitten hätte. Hinter dem fatalen Drüben taucht das fatale Davor auf, das Davor im Danach, hüben wie drüben. Da besitzt keine Seite den Vorteil der richtigen Herkunft. Hatten wir das nicht hinter uns gelassen? Aber sicher. Nun, sicher ist Groß- und Erinnerungsmeister Starck sich nicht. Selbst einer wie er wechselt nach Bedarf die Register. Die Reise vom Osten des Westens in den Westen des Ostens und wieder zurück ist ein Kirmesvergnügen, dessen Ende noch niemand kennt. Nur dass es nahe ist, das fühlen viele.
Der ungarische Mathematiker und Architekt Neumann, ein Kind des von den Geheimnissen der Mechanik besessenen 17. Jahrhunderts (schreibt Homomaris in seiner oft kryptisch anmutenden Art) hat ein Verfahren gefunden, gewisse Vergangenheiten zum Tönen zu bringen und damit für eine bestimmte Zeit tonangebend werden zu lassen. Zu diesem Zweck verband er die Vergangenheit c mit einem Perpendikularhämmerchen, das (im einfachsten Fall) zwischen den einander spinnefeind gegenüberstehenden Vergangenheiten a und b hin und her schwingt und einmal die eine, dann wieder die andere anschlägt. Vergangenheit c bezeichnete Neumann als das negative Maximum der Geschichte und behauptete, nur durch die Annahme eines solchen ›Fixums‹ sei es überhaupt möglich, mit diversen Vergangenheiten zu kommunizieren. Neumanns Vergangenheitsmaschinen müssen, immer laut Homomaris, großen Anklang gefunden haben. Die komplexesten von ihnen sollen bis zu 24 Vergangenheiten nach einem gewissen System hinter- und durcheinander zum Klingen gebracht haben. Doch weiß man, schreibt Homomaris, nichts über den Grad der Konfusion, die dadurch in einigen regierenden Häuptern und ihrem schreibenden Hofstaat ausgelöst wurde. (dup)
Der Erinnerungsmeister schüttelt das Haupt. Teils – teils. Teils ist alles da, teils lässt das Wichtigste auf sich warten. Er ist der Hüter der Schwelle, er putzt sie blank, er deutet mit Fingern auf sie, sagt im Tonfall äußerster Überzeugung, sie führt da und da hin…
―Seht ihr sie nicht? Seid ihr mit Blindheit geschlagen? Seht ihr nicht, was mit eurem Land geschieht? Was seid ihr nur für … Ahnungslose, unkundig der Zeichen, ja, gewiss, verwöhnt, verzwergt im Schatten der Weltgeschichte, Edelgeschöpfe auf dem Komposthaufen der Geschichte: damit ist’s jetzt vorbei.
Auf das Vorbeisein kommt es ihm an, er legt, mit spitzer Zunge, den ihm eigenen Nachdruck darauf, als wolle er damit sagen, jedes Privileg geht einmal zu Ende, auch das ist Revolution, jetzt rollen die Köpfe, jetzt habt ihr den Vortritt. Aber wohin? Da liegt die Schwelle, wir tanzen auf ihr im Geviert, wie lange soll das gutgehen im Schlechtgehen?
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
7
Der Erinnerungsmeister ist nicht ganz
angekommen in diesem Land und nun verlässt er es wieder. Er sagt zum Abschied nicht leise Servus, er schließt die Tür nicht, er entfernt sich nicht, er macht sich nicht davon, er lebt im Dornbusch, er wärmt sich an einem Feuer, das kein Ungläubiger zu erblicken vermag. Es bricht ganz allein aus ihm heraus und er ist doch der alte, ganz der alte, mit dieser ganz eigenen Anwandlung einer neuen Fremdheit, die schwer zu parieren ist. Gerade noch schläfrig wie eine Katze, fällt er dich an: Wo ist das Volk? Bedenke das Volk! Das Volk bestimmt den Weg. Das Volk ist der Weg. Sei dort, wo das Volk ist. Sei ihm Stimme und –: hier holt er tief Luft und verstummt.
Wurde auch langsam Zeit.
Woher diese Rede?
Welcher überlebte Eifer meldet sich da?
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
8
―Sie wollen also sagen, räuspert sich Kypras (er sitzt, für alle sichtbar, am häuslichen Computer, die Pyramide steht düster und verwaist, die
Devise, über alle Bildschirme ausgegeben, lautet: Volk unter
Quarantäne), Sie wollen also sagen, Sie haben im Prinzip drei
Erinnerungsträger, nennen wir sie A, B und C. Gleichzeitig stehen
unterschiedliche Erinnerungen im Raum, drei an der Zahl, nennen wir
sie a, b und c. Nichts wäre also einfacher, als A mit a, B mit b und
C mit c zu koppeln. Drei Personen, drei Lebensläufe, drei
Erinnerungen. Das wäre logisch, aber es entspricht nicht dem
angetroffenen Sachverhalt. In Wahrheit ist es so, dass A mit a, B und
C mit b verbunden sind. Erinnerung c hingegen wird von A, B und C
geteilt.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
9
Kypras, durch keinerlei Einspruch gebremst, fährt fort:
―Ganz richtig ist das auch nicht. Erinnerung c ist gar keine
richtige Erinnerung. Der Inhalt von c liegt der Lebenszeit von A, B
und C voraus. Sie teilen sich also etwas, was man als sekundäre
Erinnerung bezeichnen könnte (der vierte Amenophis und seine reizende
Adelaide nennen sie ›kulturell‹ – ich komme darauf zurück).
Soll heißen, sie erinnern sich an ein aus überlieferten
Erzählungen, aus Bild- und Tondokumenten Zusammengesetztes, mit
denen sie in Berührung gekommen sind. Nein, das ist nicht richtig.
Sie erinnern sich an Erzähltes und Dokumentiertes. Aber sie erinnern
sich nicht an die Erzählungen und Dokumente, es sei denn, sie werden
danach gefragt und dann beginnt die Gedächtniskramerei, bei der in
der Regel wenig herauskommt. Sie erinnern sich, als erinnerten sie
sich. Sie bewegen sich, sagen wir, in einem erweiterten
Erinnerungsraum, dessen Ränder ihnen nicht bewusst sind. Sie
erinnern sich an Orte und Begebenheiten, an denen sie nie waren und
an denen sie nicht teilnahmen. Sie erinnern sich, als seien sie dort
gewesen.
Nein, auch das stimmt nicht.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
10
Kypras hat den Vorlesungsmodus erreicht. Mit ausgebreiteten Armen umfasst er ein imaginäres Pult, resigniert lässt er es fallen. Schweigend registrieren die Kollegen den Vorgang und spitzen die Ohren. Immerhin könnte es sein, dass er sich verplappert.
―Das Vertrackte daran ist, dass Erinnern und Erinnertes weder voneinander geschieden sind noch zusammenfallen. Das Erinnerte kommt im Erinnern, es kommt ›in der Erinnerung‹, wie die Leute ganz
richtig sagen, aber was da kommt, das können sie nicht sagen. Woher
willst du das wissen? Du warst doch gar nicht dabei. Das ist
richtig, jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auf. Habe ich
behauptet, ich sei dabei gewesen? Mir ist, als sei ich dabei gewesen.
Ich höre die Gespräche, ich sehe die Schemen der Körper, ich teile
Empfindungen und Gefühle, die diesen Raum erfüllen, ich fühle mich
beschämt durch das, was da gesprochen wird, beunruhigt durch das,
was da geschieht: ich empfinde Schuld. Wie kann das sein? Ein
Szenenwechsel weiter und ich bin erfüllt von Entsetzen, erfüllt von
Befriedigung, erfüllt von irgendetwas, das keinen Sinn ergibt, es
sei denn, genau den, mir zu signalisieren: Ick bün all hier.
Und das ist keineswegs komisch.
Erinnerung c, das ist unser gemeinsames Erbe. (Ich meine damit jetzt nicht meins, das steht auf einem anderen Blatt.)
Erinnerung a hingegen (du beginnst mit a, das stellt bereits eine
Ungerechtigkeit dar, aber eine unausweichliche), Erinnerung a ist
ganz und gar die Erinnerung von A: prall, dicht mit Lebensstoff gefüllt,
jederzeit abrufbar, ein sicherer Besitz, wie er im Buche steht. Umso
erstaunter ist A, von B zu erfahren, in welcher Welt er gelebt hat.
Hat er sie je so gesehen? Er ist sich nicht sicher, er gerät ins
Grübeln, er grübelt weiter: Was, wenn B recht hätte? Seine Welt,
von außen gesehen, ist eine andere. Und auch so ist sie seine. Die
andere Sicht auf sie hebt sie und damit seinen Besitz: A wird, wenn
er sie künftig beschreibt, auf Bs Sichtweise zurückgreifen und sie
einbeziehen. Denn, ehrlich gesagt, sie leuchtet ihm ein. Ganz
ehrlich: sie leuchtet ihm mehr ein als die eigene, die bereits
unauffindbar in den Tiefen des Gedächtnisses verschwunden ist. Denn
jetzt sieht A es so und das verändert alles.
Kypras, Kypras, wie lange noch willst du uns quälen?
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
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Aber er will uns doch gar nicht quälen
Er will ein wenig Licht in die Sache bringen
―Erinnerung b: das ist eine ganz andere Sache. Diese
Erinnerung ist exklusiv, ein Heiligtum, kein A kommt in sie hinein. Sie ist
außen schwarz, ein black cube, doch wie’s innen aussieht – ›anders‹, sagt
B, ohne eine besondere Emotion erkennen zu lassen –, darüber ergeht A sich
in Mutmaßungen, die zu keinem Ende gelangen, denn eigentlich will er sich
darüber kein Urteil erlauben, jedenfalls nicht in Anwesenheit von B. Ist B
gerade nicht da, dann lautet das Urteil: negativ. ›Mag alles sein, mag alles
gewesen sein, von nicht so schlecht bis ganz schlimm: negativ.‹ Soll heißen:
Erinnerung b ist eine Hypothek, sie belastet das Verhältnis zwischen A und B,
aber sie fügt ihm auch eine Komponente hinzu: Gut, dass es vorbei ist. Ist es
denn vorbei? Kann einer sicher sein, dass es ganz vorbei ist? Kann etwas vorbei
sein, das nicht weggeht?
Das ist die Frage.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
12
―Jetzt bekommt B Oberwasser.
Er kennt sich wieder aus.
Nein, ganz so ist es nicht.
Er beginnt sich wieder auszukennen, langsam, ganz
langsam, und siehe, es gibt zwei B, nennen wir sie B1 und
B2, zwei Weisen, sich wieder auszukennen, fußend auf zwei
Weisen sich zu erinnern, vielleicht auf zweierlei Gedächtnis, wer
will das wissen? Begreift A? Greift seine Erinnerung, greift sie
über, wird sie fündig in den von B herausgekramten Erinnerungen?
Nicht doch, sie stockt, sie stellt die Verbindung nicht her, sie
versteht nicht. Nicht, weil sie nicht verstehen wollte, sondern weil
sie zu gut versteht. Zu gut? Wie kann das sein? Sie versteht, dass
sie ausgegrenzt bleibt. Aus dem Allerheiligsten schlagen die Funken,
aber hinein gelangt nichts.
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
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―Apropos: wenn ich hier B sage, dann meine ich selbstredend B1.
B2 ist eine andere Geschichte – eine ganz andere Geschichte, wenn man
mich fragt. B2 ist der Fall des erinnerungslosen Gedächtnisses.
B2 ist der historische Mensch, der mit sich im Reinen ist. Seine
Affekte waren eine Weile unterdrückt, nun richten sie sich wieder auf. Sie sind,
so oder so, ganz die alten, und die Geschichte gibt ihnen gerade recht. Welche
Geschichte? Nun ja, die Geschichte. B2 hat Geschichte, er ist stolz
darauf und würde sie um keinen Preis hergeben. Schon gar nicht um Erinnerungen!
Es ist besser, konstatiert er, er erinnert sich nicht, besser für die andere
Seite, denn seine Erinnerung bestünde aus Kränkungen, für die A verantwortlich
zeichnete, Kränkungen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch seiner Welt, der
langen Zwischenzeit, in der B1 umstandslos das Feld der Erinnerungen
beherrschte. Gut, dass diese Zeit zu Ende geht! So denkt B2 und so
mancher A, überdrüssig eines ihm allzu lang vorkommenden Heute, arbeitet ihm gerne zu.
Habe ich etwas ausgelassen?
Drastikon (2) Die Erinnerungsmeister
14
―Und wer ist C?
―Das ist ein Geheimnis. Manche sagen, ein finsteres, aber das ist natürlich … wissenschaftlich gesehen … Humbug.
einen Demenzkranken, eine durchtriebene Naive und einen notorisch
Korrupten, dazu einen präpotenten Aufschneider, einen populären Selbstdarsteller
sowie ein paar Individuen vergleichbaren Schlags, die zusammen die halbe Welt
repräsentieren – und zwar gerade die, welche zählt,
die Zauberformel, bei deren Klang die Menschen erstarren, so dass man
ihnen bequem die Taschen plündern kann,
… und ich hebe die Welt aus den Angeln.
Wer spricht?
Jene Instanz im Hintergrund, die nicht spricht? Die niemals spricht, es sei denn durch den Mund eines Unbedarften? Wer ist es dann, der sie sprechend macht? Zuckst du nicht, diese einfachen Sätze niederschreibend, zusammen? Wer gab dir die Erlaubnis, Realität in Märchenstroh umzuwandeln? Offensichtlich niemand. Ungesäumt erteilst du sie dir. (Das stimmt nicht. Lange hast du gesäumt.) Das Tor steht offen und du trittst ein. Es wird nicht die letzte Öffnung sein, durch die du dich zwängst. Es sei denn, die andere Seite … die Antwort der anderen Seite … sie träfe schneller ein, als du schreiben kannst.
Der medizinische Gelehrte B, der früh aufstand gegen das Regiment der Lüge,
erlag dem Ostrazismus der Standesgenossen. Sie fanden, es gehöre sich nicht,
eine Person länger in den eigenen Reihen zu dulden, die zwar zu den
Leuchten des Fachs zähle, aber, angekommen im Ruhestand, der Zunft den geraden
Weg zu den Fleischtöpfen mit dem Hinweis verbaue, die Medizin habe dem Menschen
zu nutzen und nicht zu schaden. Der Gelehrte wehrte sich nicht gegen die
Verbannung, merkte aber an, dass Rationalität keine Gebärde sei, an der
man Gimpelfänger erkennen könne, sondern, im Gegenteil, den Einsatz des ganzen Menschen verlange.
Denkmal des Mediziners B
2
Nachdem er, statt Ruhe zu geben, ein paar populäre Bücher schrieb, die
Anleitungen zum Selbstdenken für medizinische Laien enthielten, ferner einige Fragen
der öffentlich ausgebrochenen Hysterie in allgemein verständlicher Form
behandelten, ging man wie folgt gegen ihn vor:
Erst verbannte man ihn von allen Orten, an denen Angestellte der großen Anstalten mit dem gewissen, für Zuschauer unsichtbaren Knopf im Ohr Wissenschaftler zu den drängenden Fragen der Zeit befragen sowie Gespräche zwischen den beredtesten Vertretern der Wissenschaft und ein paar klug zusammengewürfelten Parteiplauderern arrangieren.
Als man sah, dass seine Bücher sich in rasender Eile verbreiteten, dass sie auf Demonstrationen mitgeführt wurden, ganz wie einst die Mao-Bibel oder das Grüne Buch des Obersten Gaddafi, begann man alle Verweise auf seine Person aus den Netzen zu tilgen, in denen die Untertanen sich unbekümmert um Diskussionsleitplanken, die sich gerade großer Beliebtheit erfreuten, über die Ungereimtheiten der Regierungsmaßnahmen und ihrer Begründungen zu verständigen begonnen hatten.
Als man erkannte, dass alle Versuche, die Verbreitung seiner Vorträge zu verhindern, dazu führten, die Zahl der Fundorte zu vervielfachen, beschloss man, die Vernichtung seiner Person nicht länger dem Zufall zu überlassen. Also setzte man die üblichen Federn auf ihn an, die sich nicht scheuten, ihn als wissenschaftlichen Idioten darzustellen, der in einem unbegreiflichen Anfall von moral insanity zur Rotte der Märchenverbreiter und Wissenschaftsverleumder übergelaufen sei.
Denkmal des Mediziners B
3
So nicht!
Bei dieser Gelegenheit macht sich ein Effekt bemerkbar, den man So-nicht-Effekt nennen könnte und der sich insbesondere in Medizinerkreisen immer dann beobachten lässt, wenn der Druck der Standesvertreter auf einen zum Hoffnungsträger der Massen aufgestiegenen, also, nach ihrer Lesart, aus dem Ruder gelaufenen Gesundheitsguru ein gewisses Maß zu übersteigen beginnt. Die Träger des weißen Kittels sind generell nicht so leicht demontierbar wie Vertreter anderer Berufsgruppen, weil sich die Heilserwartung ihrer Klientel an sie klammert. Der So-nicht-Effekt besteht darin, dass, neben den ohnehin Überzeugten, auch Leute, die gerade noch indifferent-skeptisch auf die geschmähte Person blickten, sich schützend vor sie stellen, entweder weil sie die Intrige wittern oder weil sie ohnehin ein Faible für Verfolgte besitzen. Zwar war P. in der Welt der Labors und nicht der Behandlungszimmer zu Hause gewesen, aber seine Expertise traf mitten ins Zentrum der Angst und dieser Umstand erwies sich als der entscheidende.
Da also auch diese Anstrengung weitgehend folgenlos verpuffte, blieb nur die Möglichkeit, gegen ihn das schwere Geschütz in Stellung zu bringen, das gewöhnlich dazu dient, den politischen Gegner aus der Arena zu entfernen.
Denkmal des Mediziners B
4
Endlich ist B, seinem dringenden Wunsch nach Gehör
entsprechend, in der Politik angekommen. Allerdings nicht als persona
grata, sondern als gefährlicher Störenfried: man lauert darauf,
ihn bei der geringsten ausschlachtbaren Bemerkung als Unperson zu entsorgen. Das wäre, für sich genommen, noch nichts Besonderes, es geschieht schließlich alle Tage. Bloß der, den’s trifft, hat damit, wie man
sagt, ein Problem, das ihm keiner abnehmen kann. Eine alte Geschichte fürwahr –
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Hinzu kommt im Falle B das Problem, das ihm keiner abnehmen will, obwohl es ihn nicht allein betrifft, Gott bewahre. Ganz recht: hinter vorgehaltener Hand teilen die meisten
Kollegen seine Bedenken. (Diese vorgehaltene Hand … wenigen Menschen gelingt es, hinter ihr hervorzukommen, schon gar nicht, wenn sich darin ein Handy befindet, das ihnen ununterbrochen vorzwitschert, in welcher Welt sie sich gerade bewegen.) B, der sittlich bewegte Mensch, ist zutiefst davon überzeugt, dass, aus medizinethischer Sicht, scheußliche Dinge vorgehen und man die Regierungen zur Vernunft bringen muss, bevor es zu spät dazu ist. Er kann nicht, nein, er darf nicht verstehen, dass ›diese Dinge‹ – wehe dem, der es wagt, sie auszusprechen! – wissentlich in Kauf genommen werden. Es würde ihn zerreißen.
Dem geneigten Leser ist schon klar, dass es sich dabei um ein sehr
allgemeines Schema handelt, eines, das in der Geschichte oft zum
Einsatz kam, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle erfolglos,
doch mit mehr oder weniger üblen Folgen für die Person des Warners. Der nette, umgängliche, harmlose B befindet sich im Kassandra-Modus.
Denkmal des Mediziners B
5
Hier kommt, selbstverständlich, der Große Denunziator ins Spiel.
Nicht, dass er sich noch persönlich in derlei Angelegenheiten
einmischen würde. Mit der öffentlichen Schlachtung des Historikers
Killus und seiner drei als Beifang zu betrachtenden Mit-Täter Stürmer, Hurtenschwang und Liebermaus lieferte er das erhabene Muster, andere schleppten im
Laufe der Zeit die passenden Dekorationen herbei, das
Klein-Klein der Andeuter, Anschwärzer, Bezichtiger,
Wortmanipulierer, Zitate-Erfinder, Aussagenfälscher,
Das-Wort-im-Munde-Herumdreher, Zusammenhangs-Konstruierer, Aus-dem-Zusammenhang-Reißer, Kontaktschuld-Erfinder, Partei-Verorter, die
niemals an den ehernen Säulen der Wissenschaftspublizistik, den
Peers und Protectors scheitern, schon gar nicht an denen eines
rechtschaffenen Journalismus, der jede recherchierte Aussage zweimal
umdreht, bevor er sie zur Veröffentlichung freigibt. Seit damals
arbeiten sich Legionen von Pinschern aller schreibenden, grinsenden
und flachsenden Berufsgruppen an diesem Vorbild ab – mit
wechselndem Erfolg, muss man zugeben; auch der todsichere Schuss geht
gelegentlich daneben. In der Regel aber genügt es, das magische
Wortpaar ›Hat verglichen‹ in den Umlauf zu senden und der umgebende Raum
ordnet sich neu, er nimmt ringförmige Gestalt an und schickt sich
an, den neuesten Delinquenten zu zerquetschen.
Denkmal des Mediziners B
6
Galerie des Grauens
Ali »B« Baba und die vierzig Thesen des Mediziners B
Ist es denkbar, dass Regierungen (ich rede hier nicht von einer, ich
greife niemanden an, ich wünsche nichts sehnlicher als miteinander ins
Gespräch zu kommen), dass Regierungen vorsätzlich
Schreckensmeldungen ausgeben, zu dem Zweck, ich sage nicht dem alleinigen, damit ein Angst-Regime zu errichten,
das tief in den Alltag der Betroffenen, also aller Bürger, eingreift
und sie in ihren eigensten Belangen zu Unmündigen stempelt?
Ja, das ist denkbar.
Ist es denkbar, dass Regierungen ihre Bevölkerungen
neurotisieren, um sie wie Weidevieh in den Pferch, gemeint ist: in
die Fänge von Firmen zu treiben, die, auf den Wogen der Hysterie und
des verzweifelten Verlangens der Einzelnen nach Normalität ihre
Geschäfte betreibend, den Coup des Jahrhunderts tätigen?
Ja, das ist denkbar.
Ist es denkbar, dass Wissenschaftler (ich rede nicht von Stümpern
und Scharlatanen), dass Wissenschaftler, die einen Ruf zu verlieren
haben, Regierungsbehörden korrumpieren – einfach
dadurch, dass sie ihre Forschungsergebnisse passgenau an den Wünschen
einer in Hinterzimmern ausgeknobelten Politik ausrichten?
Ja, das ist denkbar.
Ist es denkbar, dass Mediziner (ich spreche von Medizinern im
allgemeinen und lasse all die Ärzte, die tagaus tagein einen
großartigen Job, vielleicht den großartigsten überhaupt leisten,
außen vor), dass Mediziner Konzerninteressen gegenüber größere
Loyalität walten lassen als gegenüber den ihnen anvertrauten
Patienten, deren Leben und Gesundheit zu dienen sie sich durch den
hippokratischen Eid verpflichtet haben?
Ja, das ist denkbar.
Ist es denkbar, dass Standesvertreter wissentlich die Wahrheit
halbieren, ›wenn’s halt den Interessen dient‹, wissend (ich
unterstreiche das Wort: wissend), dass sie es vielleicht ein Stück weit in der Hand hätten, mit dem richtigen Wort zur richtigen Zeit – hier geht’s um Leid, hier geht’s um Tod, tausendfach, unaussprechlich, unbeschreibbar, hier geht’s um psychisches, ja sicher, auch ökonomisches Elend, das soll vorkommen, nicht zu knapp, vor allem in den schwach aufgestellten Regionen des Planeten – Massenleid abzuwenden?
Ja, es ist denkbar.
Ist es denkbar, dass wir gerade dabei sind, diese wundervolle, über
Jahrhunderte aufgebaute, auf Rationalität und Besonnenheit
gegründete, in Stürmen inhumanster Raserei gehärtete
Zivilisation in einem Rausch der Unvernunft in tiefstes Dunkel zu
stürzen, indem wir fahrlässig zulassen, dass mittelalterliches
Denken unsere Köpfe und Herzen flutet und Zugang zu Entscheidungen findet, wie sie in jedem Gemeinwesen getroffen werden
müssen?
Ja, es ist denkbar.
Und so geht es weiter, ganze vierzig Thesen lang, in derselben
monotonen, Sodom und Gomorrha zu niedlichen Landstädtchen
degradierenden Schreibart.
Denkmal des Mediziners B
7
B nervt
Germanistentratsch.
―Warum denn vierzig?
―Wären Ihnen zehn lieber?
―Hätte den Vorteil der Kürze.
―Aber Babas Welt ist komplexer.
―›Babas Welt‹… Das haben Sie gut bemerkt. Wo parken Sie? Können Sie mich ein Stück mitnehmen?
—Kommen Sie. Die Polizei übernehme ich.
—Ein großes Wort.
Denkmal des Mediziners B
8
Das Schweigen der Pyramide
In diesen Tagen (die sich zu Wochen addieren, zu Monaten, manche unken bereits, zu … pssst!),
… in diesen Tagen, in denen die Pyramide leerer dasteht als ein von seinen Bewohnern verlassener Ameisenhaufen, verwandelt sie sich suckzessive in ein Staatsgefängnis der verdächtigen Wörter, die sich zu Gedanken zusammenfügen könnten, die niemand hören möchte, jedenfalls nicht in offizieller Funktion, denn was privat über unsichtbare Kanäle ausgetauscht wird, darüber wissen die Geheimdienste Bescheid, nicht aber der redliche Bürger, der seinen Anweisungen folgt … im übrigen brummt der leere Ameisenhaufen. Es müssen Anträge geschrieben werden wie Sand am Meer, um aus dem Füllhorn der unverhofft ausgegossenen Forschungsmittel soviel wie möglich auf die Mühlen des Hauses zu lenken.
In diesen Tagen gilt es fix zu sein: Friedenwanger, allen vorneweg, eruiert die Seuchengeschichte des Landstädtchens Oberursel im siebzehnten Jahrhundert, dem langen, wie zu betonen er in seinem von zwei Hilfskräften rund um die Uhr ausgearbeiteten Exposé nicht müde wird, dicht gefolgt von Pottner, der seine bunte Datenerhebungstruppe – ausgerüstet mit 1A-Atemmasken, die ihr das Aussehen einer Wildwestgang auf Raubtour verleihen, sowie allen möglichen, ausschließlich Insidern zugedachten Ausnahmegenehmigungen – an den neuralgischen Punkten der Stadt postiert hat, um Zeitzeugenberichte anzufertigen. Er ist flott, der Herr Pottner, doch selten der erste, der er im Herzen doch immer war und immer sein wird. Nach ihm der Tross.
Denkmal des Mediziners B
9
Argloser . Nassen
―Geben Sie zu, dieser B ist eine
Simulation. Gut gemacht übrigens. Wo haben Sie die Aufnahmen her?
―Leider nein, lieber Argloser. Sie liegen daneben. Fragen Sie bei unseren zuständigen Medizinern nach.
―Sowas lehrt an der Pyramide?
―Ist schon ’ne Weile her. Aber er steht nicht allein. Langsam wächst sich das zu einem
Aufstand der Emeriti aus.
―Aufstand? Wieso Aufstand? Ich find’s pfiffig, wenn unsere Alten die
populären Kanäle erobern.
―Hiermit notiere ich: Kollege Argloser findet Antiwissenschaft auf
öffentlichen Kanälen gut.
―Soso, Sie notieren. Halten Sie alles fest, was man Ihnen so sagt?
―Das war jetzt nicht freundlich. Aber gut. Sprachen wir nicht über B? Die medizinische Fakultät hat der Rektorin einen Brief geschickt. Die Rektorin hat sich im Kreis der Dekane schockiert gezeigt. Sie erwägt…
―Lassen Sie mich raten! … erwägt einen Rundbrief an alle Fakultäten. Äußerst eindrucksvoll. Was sollen die damit? Sich
distanzieren?
―Woher wissen Sie das? Asche-Aigner sagt, sie will direkt ans Ministerium
schreiben. Um unseren Ruf zu retten.
―Na dann wäre ja alles geklärt.
―Nicht ganz.
―Was sagen denn die medizinischen Kollegen … unter vier Augen?
―Dass sie keine Zeit haben und man sie später anrufen soll.
―Einmal dem Klang der Nachtglocke gefolgt… Und was sagt Asche-Aigner?
―Asche-Aigner sagt… Hören Sie, das ist jetzt gar nicht fair. Ihre Schwester ist Internistin und hat ihr dringend geraten,
sich an die Regeln zu halten.
―In der Regel ist das auch richtig. Hoffen wir, dass es sich in dem Fall … bewahrheitet. Verstehen die beiden Schwestern sich gut?
―Da fragen Sie aber den falschen.
―Schon gut, schon gut. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Mein
Verlag macht mir Sorgen. Er steht kurz vor der Pleite. Mein armes Buch und jetzt das. Müsste eigentlich längst da sein.
―Klingt übel. Mein Friseur ist auch hinüber. Der Gute hat sich
bei den Anträgen auf Überlebenshilfe vergaloppiert. Er tut mir
leid. Jetzt bewirbt er sich bei der Stadt als Parkbankschrubber, aber
die Behörde mauert. Sie wollen dort nicht, dass sich jemand setzt.
―Sie meinen, da kommt der Vogeldreck gerade recht? Sagen Sie, wer schneidet sie jetzt? Ihre Frau?
―Meine … Sie geben mir Bescheid, wenn Ihr Buch rauskommt?
Unbedingt. Ich find’s spannend. Ich muss jetzt auflegen. Vielleicht sehen wir uns noch in
diesem Jahr. Wenn nicht, auch gut. Dann eben im nächsten.
Lock&Down: »kleidsame Wintermode für Pandemiezeiten, dann auch gern regierungsamtlich verordnet. Verursacht Bewegungsmangel, ökosoziales Missmanagement, seelische Langzeitschäden und trägheitsbedingte Karies. Achtung: Bei Kindern wurden Lernausfälle und posttraumatische Störungen beobachtet.« (Satyricon)
In diesen Tagen strebt Ama, durch Lock&Down abgeschnitten von ihren Freunden, hinaus
auf den Jüdischen Friedhof, genauer, in jenen wild überwachsenen Teil,
in dem die rötlichen Sandstein-Grabsteine krumm und schief, gleich
übriggebliebenen Zeitzeugen aus Epochen, die nicht vergehen wollen,
aus dem Gewirr der herumliegenden Äste, der an einigen Stellen wie
geschüttet wirkenden Blätter und des über alles wegkletternden
Efeus herausragen, und sie macht sich Skizzen: Steine und Blätter,
Blätter und Steine, Bruchstücke hebräischer Inschriften, über die
ein Käfer krabbelt, ein Scherben im Gras.
―Wie soll die Mappe denn heißen, fragt Triphan, der in Amerika
festsitzt und dem man die Sehnsucht nach den physischen Annehmlichkeiten des
Fu-Projekts am Telefon anmerkt. Ama, zögernd, gibt den Titel preis,
wie er ihr in diesem Augenblick durch den Kopf geht:
HAUS DES LEBENS
Sie verschweigt den schwarzen Balken, auf dem, unsichtbar für das unbewaffnete Auge, mit schwarzer
Schrift geschrieben steht:
HAUS DES TODES
Triphan gibt keinen Laut. Wäre Ama mit seinen Regungen
vertrauter, dann würde ihr aufgehen, dass sie gerade auf eine Mine getreten ist. In den Kriegen des Herzens geht es immer um Leben und Tod. Manchmal macht eine Silbe den Unterschied.
―Ja, Haus des Lebens, sagt er brüsk und beendet das
Gespräch.
Unter Gräbern
2
Dieses fatale Bedürfnis nach Leben
Kultur kann nicht alles sein, sagt sich Triphan, den Hörer
auflegend, bedenkt man, wie sie in der Krise versagt, und er merkt,
wie ihn der Gedanke schmerzt. DAS HAUS DES LEBENS IST IMMER DA steht
in großen Lettern auf einer der Webseiten, die er mit niemandem
teilt, das klingt nach einer Selbsthilfegruppe, aber es steckt mehr
dahinter, mehr, als er bisher, flüchtig wie immer unterwegs,
ergründen konnte. Es scheint leer zu stehen, das HAUS DES LEBENS,
leer und offen für in Bedrängnis Geratene, die sich dem
öffentlichen Druck widersetzen und dabei Gefahr laufen, in
Krankheiten abzugleiten, die keiner beherrscht, weil das verweigerte
Leben daran den größten Anteil beansprucht. Licht und hoch stellt
er sich das Gebäude vor, als Versammlungsort der Herzen, nicht zur Begehung gemeinsamer Rituale, sondern als Stätte beiläufig beginnender und beiläufig endender Begegnungen. DAS HAUS
DES LEBENS IST IMMER DA, das bedeutet, wörtlich genommen – und wie
sollte man Wörter anders nehmen, die beziehungslos in einem virtuellen
Raum schweben –, es ist da, da und hier, da und dort, offen für
deinesgleichen, wann immer die Not steigt, wer immer du seist,
vorausgesetzt, du schlägst dir nicht selber die Tür vor der Nase
zu. Da musst du nicht lange nachdenken, du weißt schon,
wohin das unweigerlich führt – ins Inferno. Hättest du gewusst,
dass die religiösen Vorstellungen in dir so lebendig sind? Im Alltag
lehnst du sie eher ab, aber wo beginnt, wo endet in diesen Tagen der Alltag? Du
kannst sagen, die Menschen seien, mitsamt ihrer Politik, verrückt
geworden. Aber löst das dein Problem? Heute morgen hat man dich das
erste Mal am Eingang zum Supermarkt abgewiesen, weil dir ein
Nachweis fehlte. Man hätte dich auch geschlagen, wärest du, das
Frühstücksbrötchen in Reichweite, renitent geworden, die Stimmung war
aufgereizt, so nennt man das wohl. Es ist nicht möglich, sich diesem
Druck zu beugen, unmöglich auch, ihm aus dem Weg zu gehen. Heulen
und Zähneknirschen wird unter denen sein, die sich gebeugt
haben, es wird kein Zurück für sie geben, denn dieser Weg führt in
die Tiefe. Menschheitsvorstellungen melden sich unter der Hand,
wirklich musst du die Menschheit aufrufen, wenn die Menschen zu
delirieren beginnen, gegen die Menschen hilft nur der Mensch. Hilft
er wirklich? DAS HAUS DES LEBENS IST IMMER DA. Das scheint über den
Menschen hinauszuweisen, etwas von Amas Blätterwerk kräuselt sich
da, ein Gecko an der Wand, gleich neben der Säule, der so lange
verpönten Säule, würde sich passend machen, es muss ja kein
Krötenpfad sein. Was dann? Du kannst sicher sein, dass du Menschen
findest, im Widerstand geübt, die dir alles erklären können, aber
du weißt schon, dass sie deinen Widerwillen nicht würden brechen
können. DAS HAUS DES LEBENS bedarf keiner Welterklärer. Wessen
dann? Warum siehst du, wenn Du den Blick dort hinein richtest, die Rücken
der Menschen statt ihrer Gesichter (höchstens verstohlen, von der
Seite, im Vorbeigehen)? Aufrecht gehen sie, das unterscheidet sie von
den anderen. Du könntest beide Seiten am Gang auseinanderhalten,
sollte diese Fähigkeit einmal gefragt sein. Nein, du bist nicht
gemeint, nicht du bist in diesem Haus gemeint, nicht einmal
willkommen, es ruft dich nicht, es ist bloß da, es steht dir
frei, nicht mehr, nicht weniger, es erlässt dir das Gebrüll und
Gezänk der anderen Seite, die nicht eine Sekunde lang Zweifel
darüber zulässt, dass sie dich meint, dass sie dich haben
will … zu Zwecken, die du nicht ganz durchschaust, die du nicht von
vornherein ablehnst, weil du sie nicht kennst. Allein der Vorschlag,
den sie dir mit aller Gewalt unterbreitet, ist unannehmbar.
Denn es wird Heulen und Zähneknirschen sein…
Unter Gräbern
3
Ein dröger Mensch
Diese Erregung, mutmaßt Triphan, der nicht einschlafen kann, aus
welcher Tiefe stammt sie, was will sie dir sagen? Natürlich kommt
sie vom Herzen, dem Organ der Erregung, aber das will nicht viel
bedeuten. Es bedeutet nicht mehr, als dass du sie jederzeit stoppen könntest,
aber um welchen Preis? Du bist in Gefahr, aber nicht du allein. Die deinen sind in Gefahr geraten und du
kannst diese Gefahr nicht stoppen. Du kannst sie nicht einmal angemessen
taxieren. Du bist auf anderer Expertise angewiesen, sie mögen sich
irren, wenngleich sie ihr Fach beherrschen, gerade die Verlässlichen unter ihnen
sind bereits Ausgegrenzte, deren bizarrem Schicksal gegenüber die
hässliche Szene von heute morgen nicht der Rede wert ist. Du könntest
deinen Kotau machen und beteuern, selbstverständlich vertrautest du voll
und ganz den Kollegen, die in der Krise ihr Fach repräsentieren,
wäre da nicht die Kollusion von Macht und Wissen, die dich verstörte
und auf die andere Seite triebe, und befände sich nicht dein rein
formaler Verstand, überdrüssig der zahllosen Ungereimtheiten und offenkundig falschen
Fährten, ganz aus eigener Kraft bereits auf der
anderen Seite. Suche die vollständigere Information, lautet
die Maßgabe, es ist die Vernunft selbst, die Vernünftigkeit, die da spricht, du wirst sie nicht in den Dreck werfen für ein
Linsengericht, das dir ohnehin nicht schmecken würde. Also musst du
vertrauen, nolens volens, auch und gerade weil du ganz deinem Urteil folgen musst.
Fatalerweise spricht die andere Seite genauso. Zuckerbrot und
Peitsche fürs Volk, Kollegensprech für die Gebildeten. Woher also
die Erregung? Dort draußen werden Menschen ans Kreuz geschlagen, die vielleicht Heilige sind, vielleicht Narren, für
nichts, pour rien, einfach so, bloß weil ein Furor durchs Land geht,
durch dieses und all die anderen. Ist das ein Grund? Diese Massen, sie
tun sich alles selbst an, sie sind Opfer wie Täter, um diese abgedroschene
Litanei einmal mehr abzusingen. Handelt man so bloß um des schnöden Mammons willen oder aus Lust, auf der
richtigen Seite zu stehen? Wie ekelhaft … dumm muss man sein … um das zu
glauben. Und doch liegt es in der Hand der Regierungen, dem Treiben
ein Ende zu setzen. Es liegt in ihrer Hand, vergiss das nie. Zu
wissen, von Menschen regiert zu werden, die nicht genug
Standfestigkeit aufbringen und vielleicht gerade deshalb nicht
wahrhaben wollen, worin ihre Aufgabe bestünde … wie verkraftet
sich so ein Wissen? Es fährt in den Körper, natürlich fährt es in
den Körper, wohin denn sonst? Dein Herz … dein banges Herz verlangt von dir, dass du
gut regiert wirst. Das hättest du dir nicht träumen lassen. Es
ist aber passiert und verlangt Auskunft. Reicht sie, die Auskunft? Auf
welchen Stufen der Existenz spielt sie, diese … Auskunft?
Klammheimlich haben sich Hanbüchl und Nassen, süchtig nach ihren Schreibtischen, in die ausgestorbene Pyramide gestohlen. Im Raucherzimmer, genannt ›Gedankenfabrik‹, prallen sie aufeinander.
—Ach…!
—Ich wollte nur… Bin gleich wieder weg.
—Wo wir schon mal hier sind … wie geht’s der Familie?
—Lebt noch.
—Das hört man gern.
―Die Geheimnisse der Panik…
Germanist Hanbüchl, eine Hand leger in der Hosentasche, mit der anderen die mitgebrachte Bierflasche
öffnend, denn es ist Nachmittag und die kleine sonnige Insel
inmitten des verstaubten Gedankendaseins lässt die Geste erlaubt
erscheinen, mimt den Entspannten.
—Langsam wird’s Zeit. Wir brauchen eine umfassende Theorie der Panik.
―Gibt’s die nicht längst?
―Lass mal stecken. Falscher Ansatz. Ganz … falscher Ansatz.
Hanbüchl stellt die Bierflasche weg.
―First things first: Panik ist ein Phänomen der Kultur. Und Kultur –
―Wieso braucht der Mensch Kultur, um in Panik zu geraten? Muss ich das verstehen? Ich kann dir sagen, was Panik ist. Eine Herde Rindviecher, die ihren Aufsehern durchgeht: das ist Panik. Was schreibt denn Lichtenberg dazu? Würde mich interessieren. Ehrlich jetzt.
―Nassen, du bist ein Flachkopf. Aber gut, dass man sich wieder mal sieht. Zuhause schläft mir das Gesicht ein.
Warte nur, balde
trifft es dich auch.
—Es trifft mich, es trifft mich nicht, es trifft dich, es trifft dich nicht, es trifft ihn, es trifft ihn nicht, es trifft sie, es trifft sie nicht, es trifft uns alle, es trifft nicht alle, es trifft doch alle, es trifft…
—Hör auf. Das ist Folter.
Von der Abhöranlage wissen die beiden nichts. Beraten von Gaggauer, hat Elisabeth das Schmuckstück gerade im Schutz des Gleichmachers Leere installieren lassen.
Panikgeheimnis
2
Das Organ der Panik sind die Medien
Es war einmal.
Hanbüchl erinnert sich.
In jener Zeit vor dem Ausbruch des großen Erregers, als die Butter noch frisch auf den Tisch kam und die Äcker nicht grün gestrichen werden mussten, kam einst eine schwäbische Hausfrau in die Pyramide und begehrte geprüft zu werden. Es war aber Hanbüchl, dem es oblag, ihrem Wunsch zu willfahren. Also fragte er sie getreulich, wie es die Prüfungsvorschrift befahl, ob es ihr fester und aufrichtiger Wunsch und Wille sei, sich jetzt und zu diesem Zeitpunkt von ihm prüfen zu lassen, und sie bejahte mit einem freudigen und einem beschlagenen Auge, wodurch es ihm vorkam, als ob sie blinzelte. Als sie aber durch den Mund der Beisitzerin die Note erfuhr und die Prüfung insoweit als abgeschlossen angesehen werden durfte, da schoss aus dem beschlagenen Auge ein Blitz, die Kandidatin erhob sich von ihrem Sitz und bedauerte, den weiten Weg in die Ruhrstadt auf sich genommen zu haben, ahnend, dass große Unbill sie dort erwarten würde. Gerechtigkeit! rief sie, ich verlange Gerechtigkeit! Sie sei nämlich, wie sie wort- und gestenreich ausführte, durch den Reaktorunfall im japanischen Fukushima so aufgewühlt worden, dass an eine geordnete Vorbereitung, wie sie ihrem üblichen Wesen entspreche, einfach nicht zu denken gewesen sei. All ihr Sinnen und Trachten gelte nun einmal dem außer Kontrolle geratenen Atom und den Verwüstungen, die es weltweit noch anrichten werde. Offensichtlich gehörte sie zur geheimen Elite der Eine-Welt-Frauen, denen die Rettung des Planeten obliegt. Eindringlich schilderte sie, welche Beklemmungsgefühle sie überfielen, wenn sie tagaus tagein am örtlichen Kernreaktor vorbeifuhr. Jedesmal erwartete sie, dass sich die Pforten der Hölle öffneten. Das konnte nicht gut sein für das geplante und nunmehr zurückgestellte Kind.
―Aber Sie wohnen doch gar nicht am Meer. Wo soll denn da der
Tsunami herkommen?
Das hätte er nicht sagen dürfen.
Immerhin hatte sie den Vorgang nicht zur Anzeige gebracht.
Panikgeheimnis
3
Panik, notiert Hanbüchl, ist nicht gleich Panik
Wenn in einer Festhalle ein Feuer ausbricht und die Leute trampeln sich auf dem Weg
ins Freie tot, dann … dann ist das ein singuläres Ereignis und
schon für die Gaffer vor der Tür kaum mehr als ein Schauspiel. Aber
wenn im Hintergrund die Medienmaschine angeworfen wird, um ganze
Länder in Panik zu versetzen, wenn Staatsjournalisten Abend für
Abend mit priesterlicher Gebärde und feierlichen Mienen den nahenden
Weltuntergang verkünden, wenn Politiker in das Spektakel
hineinblasen, weil sie angesteckt sind oder sich einen Vorteil davon
erhoffen, dann handelt es sich um einen Flächenbrand, bei dem
niemand den anderen über den Haufen rennt, bei dem womöglich sogar
alle zu Hause bleiben oder ihren Geschäften nachgehen, während in
den Köpfen der Teufel los ist. Das hat natürlich ein ganz anderes
Kaliber und es herrscht auch eine völlig andere Art der
Betroffenheit. Man könnte sie scheinrational nennen, schließlich
glauben die Leute zu wissen, was vorgeht, und folgen penibel den
Anweisungen der Behörden. Sie folgen, aber wenn man etwas genauer
hinsieht, dann kann man beobachten, dass die Art, in der sie den
Anordnungen Folge leisten, sie, wie soll ich das erklären,
konterkariert. Was ich sagen will: sie hat einfach nichts mit dem
Zweck der Anordnungen zu tun. Oder, da niemand genau wissen kann,
warum Regierungen gewisse Anordnungen erlassen: sie führen die gewünschten
Handlungen auf eine Weise aus, die sicherstellt, dass sie es genauso gut
lassen könnten, da ohnehin nichts dabei herauskommt. Was so auch
nicht stimmt, da andere Dinge dabei herauskommen, zum Beispiel unerwünschte Nebenfolgen für
den Einzelnen, die vielleicht regierungsseitig sogar erwünscht sind. Schließlich weiß man nie zu hundert Prozent, was eine Regierung im Schilde führt. Aber natürlich
verfolgt jeder einzelne Bürger ununterbrochen seine eigenen Zwecke
weiter, und wenn sich eine Maßnahme dafür einspannen lässt, dann
spricht nichts dagegen, sie in diesem Sinne ein wenig zu
interpretieren.
Panikgeheimnis
4
Hanbüchl notiert weiter
Das liest sich jetzt so, als löse die Flächenpanik, näherhin
betrachtet, sich in lauter zweckrationale Handlungen auf, was ja
nicht falsch ist, aber eben doch nur eine Seite der Angelegenheit
beleuchtet. Die andere wäre noch immer der irrationale
Handlungsdruck, unter dem alle Beteiligten stehen und die – im Sinn
der ursprünglichen Verordnung – völlige Unsinnigkeit der
Ausführung im Licht der offiziellen Begründungen für die erfolgten
Maßnahmen und ihre in der Sache gegebenen Voraussetzungen. Wenn ich
zum Beispiel, als Regierung, den Atem meiner Untertanen unter
Kontrolle bekommen möchte, weil ich endlich die wirklich große
Ansteckungsgefahr, die in ihm liegt, glaube erkannt zu haben, dann liegt
es doch nahe, eine Art Masken zu verteilen beziehungsweise unters
Volk zu verteilen, welchen die Aufgabe zukommt, die Atemluft so zu
filtern, dass das im Atmen liegende Unheil dadurch gebannt wird. Der
Zweck dieser Aktion bestünde demnach darin, dem Volk die effektive
Filterung seiner Atemluft zu ermöglichen, damit man sie, als
Obrigkeit, der man besser nicht widerspricht, in einem zweiten
logisch zwingenden Schritt, dann auch von ihm verlangen kann.
Panikgeheimnis
5
Ich kaufe also, schreibt Hanbüchl
und gerät langsam in Eifer, zum Beispiel als Regierung, die unter Handlungszwang steht, einen Haufen besagter
Filtermasken bei einem Händler, der zwar als Privatmensch und loyaler
Staatsbürger den Zweck des Filterns versteht, sogar billigt, aber als
Händler doch auch darauf erpicht ist, maximalen Gewinn aus der Sache zu schlagen. Was geschieht? Ein
Teil der Masken, darunter die zu Prüfzwecken präsentierten, entspricht den
Anforderungen, beim Rest hingegen handelt es sich um minderwertiges Zeug, dessen
einzige Wirkung darin besteht, den Menschen das Atmen zu erschweren und ihnen
alle möglichen Sekundärbeschwernisse, von schwerem Ausschlag bis zur chronischen
Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, an den Körper zu hexen. Natürlich
wissen die Menschen das. Rationales Handeln bestünde also darin, den Müll
zurückzugeben und auf einer sachgemäßen Ausstattung zu beharren.
Gerade das allerdings geschieht nicht.
Panikgeheimnis
6
Was wirklich geschieht
Befangen in der allgemeinen Trance, tragen die Leute das ihnen aufgenötigte
Zeug. Sie bestehen sogar mit einer die Form der Verbissenheit annehmenden Wut
darauf, es, wo auch immer, zu tragen – wenn schon nicht im Gesicht, so
wenigstens am Kinn oder am Handgelenk oder in der Armbeuge, wer weiß schon, was hilft, und wenn wirklich im Gesicht, dann doch so, dass sich
darunter, wie sie das nennen, besser atmen lässt, also unsachgemäß, wobei allerdings das Unsachgemäße bereits darin zu suchen ist, dass
dieses Maskenzeug nur bei einem klar definierten medizinischen Einsatz die
gewünschte Wirkung erzielt und dass diese Wirkung gerade nicht diejenige ist,
die sich die Regierung davon verspricht, – man kann nicht sagen, dass die Leute,
der gemeine Haufe, dass sie von alledem nichts wissen, es ist ihnen zu
Ohren gekommen und schwirrt nun im Raum dazwischen herum, es schwirrt herum,
sage ich, weil es nirgends andocken kann, und darin besteht eben die Panik.
Die Panik besteht darin, dass das vorhandene Wissen nirgends andocken
kann. Ist das eine Definition? Ich werde später darauf zurückkommen.
Panikgeheimnis
7
Die Lunte brennt
Vorerst beschäftigt ihn die Frage, wie es passieren kann, dass eine intelligente
Bevölkerung, ausgestattet mit einem ›Bewusstsein‹, dessen Verwobensein mit einem
komplexen Schul- und Bildungssystem sowie einer mindestens ebenso komplexen
beruflichen Praxis unbestritten ist, sich einem Wissen verweigert, dessen
Leugnung im üblichen Alltag sanktioniert, soll heißen, bei Strafe der
Lächerlichkeit oder Schlimmerem nicht gestattet ist, was ja, zählt man zwei und
zwei zusammen, nichts anderes bedeutet, als dass sie auf diesem Feld ihre
vielgepriesene Identität preisgibt, sich also, benützt man das anmaßliche
Vokabular ihrer Kritiker, in einen Haufen Idioten verwandelt… Man kann
natürlich immer einwenden, sie weiche der Gewalt, da der Staat die Sache nun
einmal verordnet habe und willens sei, sein Gebot bei gegebenem Anlass zu
erzwingen.
Wirklich kursieren die bizarrsten Berichte darüber, wie höheren
Ortes mit Maskenverweigerern verfahren wird, Berichte, die darauf hindeuten,
dass auch der Staat – oder die Staatsgewalt, was in diesem Fall ein und dasselbe
wäre – der Magie der Verordnungen erlegen ist und den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, ehernes Fundament aller Rechtsstaatlichkeit, auf ähnliche
Weise aus dem Auge zu verlieren droht wie die Bevölkerung ein Wissen, das eben
noch das Wissen aller war.
Panikgeheimnis
8
Hanbüchl kommt zur Sache
Es ist anzunehmen, dass sich auch die Organe des Staates im Panikmodus
befinden, weshalb die Grenze von Verursacher und Verursachtem an dieser Stelle
verschwimmt und so etwas wie ein allgemeines Ansteckungsverhältnis zutage tritt:
jeder infiziert jeden mit seiner Panik, welche schon deshalb nicht die eigene
sein kann, weil sie allem, wofür er steht, widerspricht und es, gleichsam im
Vorbeigehen, auslöscht. Die Formel dafür, aus den Tiefen der philosophischen
Überlieferung auftauchend, lautet: Der Mensch ist dem Menschen eine
Gefahr. Das stimmt in gewisser Weise immer, wobei nicht einzusehen ist,
warum gerade heute, an einem eigentlich ganz erträglichen Sonnentag, einer
solchen Aussage ein Gewicht zukommen soll, das langsam, aber sicher alle
Lebensverhältnisse erdrückt, in denen der Mensch einen gewissen Grad von
Zufriedenheit findet. Nein, das ist beim besten Willen nicht einzusehen, alle
einschlägig verfügbaren statistischen Daten verkünden jedem, der lesen und
vergleichen kann, dass es sich um einen ganz normalen Tag im Jahr 20** handelt,
in dem, sollte nicht etwas Unvorhergesehenes geschehen, keine besondere Gefahr
ansteht, bloß der übliche Gefahrenmix, der nun einmal wie ein im Hintergrund vor
sich hinwerkelndes Uhrwerk dafür sorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel
wachsen, es sei denn, sie wurden darin gepflanzt und kommen partout nicht
herunter.
Panikgeheimnis
9
Der Staat zieht die Handschuhe aus
Kein schlechter Titel. Hanbüchl ist entschlossen, schneller zu sein als die anderen,
die auch schon am Thema kratzen. Schneller zu sein als die anderen
ist sein Markenzeichen. Schnelligkeit scheint ihm eine göttliche
Eigenschaft zu sein und ein Funke davon wurde ihm in die Wiege
gelegt. Gott ist Tempo. Andererseits ist er auch Überlegung,
und diesmal scheint Überlegung angebracht zu sein. Man setzt sich
rasch in die Nesseln in diesen Tagen und kommt nicht mehr heraus. Wer
den Staat angreift, der … der … dem verdorre die Hand. Eine
schwierige Lektion für einen, der den Aufruhr, wie er, in den Genen
trägt. Einmal hat er sich schon in die Nesseln gesetzt und ist knapp
entronnen. Auch ein Beispiel, ein Beispiel nur, ein im Grunde
beliebiges Beispiel kann da Folgen haben. Der Staat zieht die
Handschuhe aus. Ja, das passt, wenngleich… Am Panikgeschehen
hat der Staat vergleichsweise geringen Anteil. Beschränke dich
auf die organischen Ursprünge und du bist ihn los. Beschränke
dich … Ja sicher, mit leichtem Angstschweiß auf der Stirn schreibt
es sich … eingeschränkter, aber auch schweifender. Du hast das
Thema Angst nicht erfunden und nun sucht es dich heim. Achte auf die
Organe und du stellst fest, dass sie respondieren. Dir erschließt
sich nicht, ob alle Organe davon betroffen sind, soweit reichen deine
medizinischen Kenntnisse nicht. Aber es ist kaum anzunehmen. Doch
dass etwas Fremdes sich einnistet, das ist gewiss, so gewiss, dass es
sich im Ungewissen einnistet, gerade dort. Angst ist
unsublimierter Geist.
Hüte deine Zunge!
Panikgeheimnis
10
Der Hüter der Zungen aber sprach:
Ich will mich aufmachen und vor
Gericht bringen alle meine Zungen. Denn sie haben falsch Zeugnis
gegeben wider die Natur des Menschen. Ich will nicht zulassen, dass
ein schlecht Bekenntnis, das unter meinem Namen umgeht, wider
mich zeugt. Die Ursprünge der Panik liegen im Organischen, das
Organische ist allmächtig, weil es wahr ist. Und das ist wahr.
›Lauter wahre Sätze‹ … Auch du würdest sie gern schreiben,
nein, geschrieben haben, denn wahre Sätze schreibt man nicht,
sie sind geschrieben für alle Ewigkeit. Der Zweifel selbst bestätigt
diese Binsenweisheit, denn wer schreibt, sät Zweifel und erntet
Zweifel. Aus Zweifel bist du geboren, im Zweifel gehst du dahin. Im
Zweifel bist du ein Träger des Feindes… Bedarf der Feind eines
Trägers? Das wäre die Frage. Falls nicht, dann wärest du selbst
der Feind, nicht in feindlicher Absicht, aber in der Substanz. Damit
musst du umgehen. Wie geht einer damit um, der sich selbst das
Todesurteil überbracht hat? Nein, mein Lieber: Es geht mit dir um,
genauer gesagt, es springt mit dir um wie mit irgendeinem.
Darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen. Du stehst nicht über
der Panik, du stehst in dir. Du siehst dich genötigt, deine falsche
Existenz von dir abzutun, um des nackten Überlebens willen, denn
darum geht es, und sie klebt an dir, während sie in alle Richtungen
davonfliegt. Wie geht das zu? Ist das dein Buch? Wenn, dann eines mit
sieben Siegeln, vielleicht auch mit siebenundzwanzig.
Panikgeheimnis
11
Die Welt? Die Welt ist kein Buch. Die Welt ist ein Haufen Angst, säuberlich
zugedeckt, ein glänzender Haufen Angst, solange die Sonne scheint, an den
restlichen Tagen nicht einmal das. Daraus schlägst du Vorteil, solange die Dinge
laufen. Laufen sie nicht mehr, schlägt der Vorteil dich. Erschlagen vom
Vorteil – das wäre ein hübscher Grabspruch. Und er wäre wahr. So wahr wie
alles Organische. In jedem Vorteil steckt ein Stück Selbstermächtigung. Nimm dir
etwas heraus und du hinterlässt eine Lücke. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis
dein Weltgebäude über dir zusammenstürzt. Diese Zeit ist nun um. Nicht ganz,
aber im Prinzip.
Dieser Aufschub ist zwecklos und substanziell.
Panikgeheimnis
12
Hanbüchl schreibt
Im Haus der Verwirrung steckt der Verwirrte
und niemand zieht ihn heraus. Du wolltest ein Buch über die Pest
schreiben und nun schreibt die Pest dich. Ist das nicht eine
prächtige Definition von Panik? Der Mensch ist nur da ganz Mensch,
wo er sich fortschreibt. Wird ihm der Griffel aus der Hand genommen
und kehren sich die Verhältnisse um, dann ist er der Mensch ganz.
Wie tief du in diesen Sophismen steckst! Und keiner kommt, dich
herauszuholen. Ist das nicht furchtbar? Und ist das Furchtbare nicht
gerade das, was kommt?
Auf den letzten Satz ist er stolz.
Panikgeheimnis
13
Wer sagt das denn wieder?
―Aber es steht doch alles da: verwehre den Menschen das
Atmen und sie geraten in Panik. Das ist ganz normal. Daran ist doch nichts
Geheimnisvolles.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
1
Wenn Hanbüchl an die Schreibfront eilt – ist er sich bewusst, dass er, als einer von vielen, gerade dabei ist, die Pyramide zu zerstören? Natürlich nicht. Würdest du ihn fragen (wozu sich in diesen Zeiten weder Ort noch Gelegenheit findet, obgleich Zoe, das aus dem Nichts aufgetauchte Konferenzsystem, Tag und Nacht bereitsteht, den virtuellen Kontakt herzustellen, sobald er gewünscht wird), so würde seine Auskunft mit einiger Sicherheit lauten: Woran denken Sie? Ich bin ein kritischer Geist und mache das, was ich ein langes Berufsleben hindurch gemacht habe: ich forsche zu einem Sachverhalt, für den ich nicht verantwortlich gemacht werden kann. Der Grund dafür ist einfach: ich habe ihn nicht geschaffen.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
2
So könnte er schwatzen, der nicht unsympathische Büronachbar Hanbüchl. Natürlich weißt du nicht, ob ihm gerade diese Worte einfallen würden, vermutlich wären es andere, schwammigere, aber darauf käme es nicht an. Er würde damit nur zum Ausdruck bringen, was im Untergrund dieser Aktivitäten schwelt: er und seinesgleichen, sie gehen, jeder für sich und alle gemeinsam, worüber sie auch zu forschen beginnen, von einer unbewiesen bleibenden Hypothese aus. Woher, um alles in der Welt, kommt diese auf geheimnisvolle Weise zum Axiom geronnene Hypothese? Du könntest behaupten (was für alle Seiten ziemlich entlastend wäre), sie komme von ungefähr, aber das wäre ungefähr so wahr wie die Aussage, die Morgenzeitung käme aus dem Papierkorb, der sie nach getaner Lektüre aufzunehmen bereitsteht. Das Ungefähr ist das Ziel, nicht der Ausgangspunkt dieser Forschungen, ihr ›Telos‹, um eine der Spielmarken zu benützen, mit denen die Disziplin sich schmückt. Welche Disziplin? Die Disziplin der Gedanken: gebückt gehen sie dahin, sie eilen nicht, sie gehen gemessenen Schritts, häufig trödeln sie auch. Sie alle eint der ängstliche Blick zurück: Werde ich den Anforderungen gerecht, die das System an mich stellt? Oder bin ich ein Abtrünniger, einer, mit dem mein Erzeuger sich außerhalb der Community stellt?
Merke: Nie nie nie darf die Nabelschnur in Gefahr geraten.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
3
Der Große Denunziator verkündet den Seuchenstaat
Aus dem zweieinhalb Flugstunden entfernten Ibiza, das Röcheln des Klimaflüchtlings im Ohr, empfängt Hanbüchl (nicht persönlich, das wäre wohl zuviel der Auszeichnung) die Botschaft vom totalen Staat. Der Große Denunziator, abgeriegelt und angstgetrieben wie seit Weltkriegszeiten nicht mehr, hat ein Pamphlet zur Lage verfasst und alle Relaisstationen des digitalen Zeitalters haben es hinausgeschickt in die Weiten des Westens, des Nordens, des Südens und wohl auch des Ostens, wo man sich inmitten der steifen Kreml-Etikette ein flüchtiges Schmunzeln nicht verkneifen kann, aber das liegt außerhalb des Einzugsbereichs der Pyramide und bleibt daher außer Betracht.
ENTWURF EINES GESUNDHEITSSTAATS
steht über den Zeilen, genausogut könnte es heißen: Wollt ihr den totalen Seuchenstaat? Eine gewisse Irritation befällt Hanbüchl, der es liest, als lese er Körner auf, vorsichtig, ein Wort nach dem anderen, gleichzeitig mit einer gewissen Ungeduld, da keines der Körner nach Größe und Gewicht als solum ipsum in Betracht kommt, jedes vielmehr ein kaum zu zügelndes Verlangen nach mehr entfacht: mehr Information, mehr Gewicht, mehr Klarheit, mehr Reflexion –
—Was für ein wirres Zeug!
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
4
Hanbüchls Töchter
Ein Armpaar im Nacken – warm, weiblich –: Hanbüchl ist geneigt, dem dicht an seinem Ohr getätigten Ausruf zuzustimmen, bliebe da nicht, als gewichtiges Argument, die raumschwängernde Autorität des Alten. So schweigt er, unbestimmt bis unter die Haarwurzeln.
—Der Staat soll das Recht bekommen, uns einzusperren, wann’s ihm passt, die Grenzen dichtzumachen, das Reisen zu verbieten, den ganzen öffentlichen Raum zu schließen – spinnt der? Nicht mal mit Freunden soll man sich noch treffen dürfen, sobald es denen, die gerade am Drücker sind, nicht in den Kram passt. Der tickt doch nicht sauber.
—Versteh ich jetzt nicht. Das passiert doch gerade.
—Und warum protestiert er nicht?
—Weil er ein alter Mann ist und Angst hat. Aber er will, dass alles legal geschieht.
—Und wenn es in der Verfassung steht, dann ist es recht, ja?
—Dann ist es Recht.
—Bist du… – das Armpaar löst sich von seinem Nacken –: bist du jetzt auch unter die alten ängstlichen Männer gegangen?
Ja, drängt es Hanbüchl zu sagen. Ja, ich habe Angst. Nicht vor dem Virus, bewahre, aber vor dem, was da draußen geschieht. Ich habe Angst, dass diese Zustände, einmal hergestellt, bleiben, wenn das Virus, von dem ich weiß oder annehme, dass es zwar nicht harmlos ist, aber sich unter die üblichen Lebensrisiken einreiht, längst passé sein wird. Gesetz bleibt Gesetz. Macht, einmal unwidersprochen in Anspruch genommen, gehört zu den bleibenden Versuchungen. Sie wird da sein, leise, brodelnd, bereit, jederzeit laut zu werden und in Gewalt umzuschlagen. Das betrifft uns alle, dich, mich, Clara, wo immer sie sich gerade herumtreibt, vor allem aber, ganz recht siehst du das, trifft es euch. Es ist euer beider Welt, die da errichtet – oder soll ich besser sagen: vernagelt – wird. Es trifft euch.
—Was willst du tun?
—Ich treff mich mit meinen Freunden.
Im Abgang, Hannah:
—Wartet nicht auf mich.
—Wir haben Sperrstunde.
—Das ist mir scheißegal.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
5
Im Ersten sind wir frei Im Zweiten sind wir Knechte
An diesem Kloben hängt sie, Hanbüchls Studie, zum sofortigen Gebrauch bestimmt, ein knirschender Fensterladen, der den Blick ins Innere der Fabrik freigeben soll, die Menschen und Dinge verbindet, einfache Menschen und Regierungsdinge, Regierungsmenschen und einfache Dinge, zusammengewürfelt durch das Aktionsprogramm ›Pandemie‹, das der Große Denunziator so liebevoll beschreibt, als entwerfe er die Einrichtung seines Altenheims – was nicht ganz falsch wäre, gesetzt, man würde sich in Regierungskreisen mit seinen Vorschlägen anfreunden –, während draußen im Land das böse Wort von der Plandemie umgeht, einer unter der Bezeichnung ›Pandemie‹ geplanten, sorgfältig vorbereiteten Kampagne zur Rettung diverser Börsenvermögen, womit die Kette von Ursache und Wirkung sich im Reich der Mutmaßungen, manche sagen, des Beziehungswahns verliert. Ein hinreichend großes Ereignis setzt alle gesellschaftlichen Hebel in Bewegung, jedenfalls ist Hanbüchl davon überzeugt, verblüfft, nichts von dieser Einsicht im Essay des großen Denkers zu finden. Hannah hat recht, es ist fahrlässig, das Ende der Freiheit so einsinnig herbeizuschreiben. Sei’s drum, die Würfel im Haus der Theorie sind gefallen.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
6
Hanbüchl träumt vom kostbaren Moment der Erkenntnis
Das Haus der Theorie gleicht einem Stundenhotel. Das Glück des Denkens ist verflogen, bevor die Beziehung in ihre Rechte eintritt.
Wie gewonnen, so zerronnen.
Sie sollen nicht forschen, sondern forschen lassen. Das stand über einem abschlägig beschiedenen Antrag, den Hanbüchl, noch unerfahren in den Praktiken der Akquise, auf der Jagd nach Forschungsmitteln verfasste. Seither lässt er forschen. Die Arbeitsgruppe Hanbüchl steht für ›Output‹ selbst bei mageren Resultaten, the scores are high, wie es in einem der Berichte über seine Tätigkeit heißt, die er nie zu Gesicht bekommt, wogegen er ihre Auswirkungen jeden Tag spürt. Doch etwas hat sich geändert. Das Füllhorn senkt sich, so sein Eindruck, mit den Tagesnachrichten, jedenfalls denen, die sich zum Hype auswachsen: Da forsche! Der Journalismus, so kommt es Hanbüchl vor, hat der Wissenschaft eine Axiomatik eingezogen, von der in den Methodenbüchern seiner Ausbildungszeit nicht die Rede war.
WAS HEUTE GILT, GILT UNBEDINGT MORGEN IST ES BEDEUTUNGSLOS
›Bedeutungslos‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Passender wäre ›gefährlich‹.
Über die Zusammenhänge von Business as usual und Untergang
7
Die Wissenschaft asiatisiert sich, meditiert Hanbüchl, das unfertige Manuskript unter seinen Fingern vergessend, man bemerkt die translatio scientiae an allen Ecken und Enden, selbst dort, wo man sie niemals vermutet hätte. Die Chinesen sind gründlicher als die Amerikaner, die sich auf die strategischen Aspekte der Forschung beschränkten. Das hier geht in die Tiefe. Vermutlich liegt es an der Kultur. Das alte China ist zurückgekehrt und klopft an alle Türen. Und siehe, es wird ihm aufgetan. Herein spaziert die Partei, die Partei der Guten, die Partei des Wu-Wei: Besiege dich selbst! Ist das gut? Ist das fair? Es ist der Gang der Dinge. Die Weltgeschichte hat sich ein neues Bett gegraben und da geht sie hin. Niemand kommt gegen die Geschichte an. Man kämpft nicht mit ihr, man kämpft in ihr. Das ist schon ein Unterschied. Die Pyramide ist dafür doch gut gerüstet. Hier sitzt jeder in seiner Wabe (im Moment zu Hause, aber das ist schon okay) und produziert. Erinnert das nicht an etwas? Wissenschaffende aller Länder, hört die Signale! Wer, wenn nicht wir, wäre das Gehör der Menschheit?
Wir spitzen die Ohren, wir öffnen sie weit. Wir stehen für jeden Dienst bereit.
Iris in schwarz, elegante Tunika über kühlem Hosenrock, spielt an ihrem Goldkettchen.
—Stimmt was nicht?
—Sollen wir da wirklich hingehen?
—Unbedingt.
Hat sie was mit Starck?
Ein Maskenball
2
Auf dem blankpolierten, sparsam beleuchteten Hausschild steht – nichts. Nicht wörtlich, aber der Sache nach.
—Hast du den Polizeiwagen gesehen?
—Den vor dem Tor? Ich bin doch nicht blind.
—Schätze, die sind auf Aufnahme.
—Quatsch. Die schützen den Minister.
Ein Maskenball
3
Als habe es ihn aus dem Schlaf gekitzelt, blinzelt der magische Homomaris ins Gewirr der Punktstrahler, an manchen Stellen wie eine Speckschwarte glänzend, an anderen dunkel abwartend, ob sich ein Fünkchen Aufmerksamkeit für die Raffinesse der Komposition findet, vielleicht auch nur für die souveräne, in allen Details greifbare Pinselführung. Vor dem Boten, in der Hand das magische Kästchen, strahlen zwei Augenpaare, ein dunkles, ein helles über perlweißen, vorschriftsmäßig Nase und Mund bedeckenden Masken den Eintretenden entgegen. Die junge Frau scheint das Geheimnis des Reliquiars gelüftet zu haben: mit einem Tupfer desinfiziert sie dem Gast Nase und Wangen, bevor ihr männliches Gegenstück ihm mit handschuhbewehrten Händen die Maske anlegt … in aller Sorgfalt, um das noch zu ergänzen, das steife Material streichend und glättend, bis auch der letzte unbotmäßige Atem-Ausweg verschlossen ist. Liegt nicht etwas wie Hohn in den Gesichtern der Gänseschar, die der Maler enggedrängt in einem Ausflugsboot die Reise in ihre neue Heimat antreten lässt? Nein, es ist nur das gleißende Licht eines Spots.
Ein Maskenball
4
Der Schrank
—Ups!
Sei es vom Zufall, sei es von Neugier getrieben, hat Iris die lose angelehnte Tür zur Linken aufgedrückt und damit die Küche in ein gleißendes Licht getaucht. Das ›Ups‹ allerdings entlockt ihr nicht die gediegene Technik, sondern ein mechanisch lächelndes, gleich hinter der Tür postiertes Frauenpaar, Varianten eines ausgeschöpften Motivs, barbusig beide, wie der Pinsel des Schöpfers sie schuf. Ein zweites Empfangskommittee! Die dienstbaren Schwestern – auch sie – strecken dem Eintretenden Masken entgegen, drei an der Zahl. Aber diesmal sind es wirklich Masken. Bleich wie der Mond, wenn er für eines Augenblickes Fülle die geschlossene Wolkendecke über der Ruhrstadt durchstößt (wie noch vor fünf Minuten geschehen).
—Sag mal, ist das ein Homomaris?
—Na klar.
—Bemalt der auch Küchenschränke?
—Was ein Maler ist…
—Und was soll das bedeuten?
—Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…
—Gut. Das habe ich begriffen. Die Küchenmaiden legen den Finger auf den Mund und – werfen sie ihn hinaus? Nein, sie haben schließlich ein Herz und verpassen ihm eine Maske.
—Wie gerade erlebt.
—Das waren keine Maiden. Das waren persönlich abgestellte Staatsbedienstete. Ist das Emaille? Was sind das überhaupt für Masken?
—Die solltest du doch kennen. Die Masken des Maskulinen. Links unten hier, übers Knie gelegt: das ist der Mann der Tat. Leicht zu erkennen am halbkreisförmigen Schnurrbart. Assoziiere, wer will. Und hier, schau dir das Kinn an. Es trägt den Stempel.
—Welchen Stempel?
—Der Entschlossenheit natürlich.
—Wenn du meinst. Und die beiden da oben?
—Das sieht man doch. Der rundgesichtige Rauschebart ist der Künstler. Das Bleistiftgesicht daneben ist der Gelehrte.
—Was treiben die in der Küche?
—Ihren Senf dazugeben, nehme ich an.
—Die männliche Weltsicht ist so erfrischend.
Ein Maskenball
5
Sol invictus
—Oh Gott! Wie scheußlich!
Schmerzlich durchzuckt dich der Blitz der Erkenntnis: Sie hat recht! Aber: Ist es Erkenntnis? Eine gelb-braun-rote Ballung über der Küchenzeile, gleich einer heißen Brühe auf sie herunterlaufend, vermischt sich mit dem bereitgestellten Geschmack von Karotten, Zwiebeln und Avocados, von Trüffeln sowie einem Dutzend unbekannter Gewürze, umschließt die brodelnden Fleischgerichte und verglüht in einem beißenden Spektakel der Sinne.
Im Zentrum der Explosion des schlechten Geschmacks buhlt ein rotschillerndes Strahlenhaupt um Verständnis, vielleicht Mitleid, ohne die geringste Chance, es erlangen zu können.
—S muss sich sehr verändert haben.
—Quatsch. Das ist nicht S. Das ist der frühere Hausherr.
—Aigner? Der Asche-Aigner? Den hab ich mir anders vorgestellt.
—Das Haus stammt aus ihrer früheren Ehe, Dummchen. Eine Art Schmerzensgeld.
Sol infectus. So also sieht ein Verlierer aus.
—Nichts anfassen! Hier kocht der Chef.
Ein Maskenball
6
Im Türrahmen
lehnt Sabine A. Der Schalk (die Stotter-Schalkin?) spielt auf ihren Wangen, die leise glühen: jeder Zoll eine Erscheinung. Hereingeschlichen oder heimliche Herrin des Hauses?
—Welcome friends, haucht ihre zarteste Stimme. Schön, euch zu sehen.
Iris maliziös (und laut):
—Das Rosa steht Ihnen.
Sabine A wirkt verwirrt.
Ein Sirren erfüllt die Luft, dräuend wie ein rasend sich nähernder Hornissenschwarm.
Herr, ein Gewitter ist im Anzug.
Da flieht der Herr und alle Dryaden, Phorkyaden, Stymphaliden, Pharasitinnen und Plasmokumb*innen stürzen hinter ihm drein.
Ein Maskenball
7
S wie Science
Am Kopfende des Grünen Zimmers sitzt maskenfrei S, den Kopf leicht gesenkt, ein niedergesunkenes Buch in Händen, als habe er soeben eine Stelle daraus zum Besten gegeben (die unvermeidliche Tischkerze blakt vor sich hin). Den Arm leger auf die Lehne des Biedermeiersofas gestützt, ist er dem Trubel weit entrückt: ein Fast-Mönch in einem fast-historischen Ambiente. Über ihm, eingerahmt von den Säulen des Herkules, zeigt sich, Hand in Hand mit der bunt beflaggten Drachenbändigerin Celestina, Atalon der Barbar ›dem Volke‹ … welchem auch immer. Dem Minister zur Seite, statuarisch-versunken: politisches Personal, Fremdheitssignale in den Raum sendend –
—Sesselfurzer, whispering words of boredom.
Hart an deinem Ohr vorbei wispert ein maskierter Oberon die Worte ins fühlbare Nirgendwo.
Auf dem Tischchen, den Hausgästen zugewandt, hält ein blitzender Ständer ein Schild in den Raum:
SCIENCE IS LIFE
In zügiger Handschrift hinzugefügt:
LIFE IS SCIENCE
Mister Science klappt das Buch zu, legt es fort, beugt sich vor, so dass sein massiger Oberkörper zur Geltung kommt,
schüttelnd das buschige Haupt, das er zur Seite geneigt.
Sei unbesorgt: unhörbar bleiben die Zwiegespräche der Macht. (Es sei denn, sie wird gerade im Dienst einer anderen abgehört.)
Ein Maskenball
8
Da lacht die Maske links von der Tür, sie lacht schallend, aber verzerrt durch das dämpfende Tuch, das sich aufbläht und anschließend tief in die Atemhöhle hineingezogen wird, ein-, zwei-, dreimal, dann platzt –
Aber das ist doch…!
Ganz recht, das ist Kaltenegger mit hochrotem Kopf, der da zum Vorschein kommt, die Reste des Maskentuchs baumeln ihm von den Ohren. Um ihn, blitzartig, Raum. Viel Raum.
Ein Maskenball
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S wie Skarabäus
Plötzlich sind die Masken fort. Dort, gerade drei Meter von dir entfernt, steht Asche-Aigner im nougatfarbenen Taftkleidchen, im Schlepp den schüchternen Gatten, umringt von Bodyguards, Mädels und Jungs. Sie schließen den Kreis, dankbare Zuhörer offenbar, bloß mit den Antworten scheint es zu hapern, Asche-Aigner wischt die Versuche mit herrischer Gebärde zur Seite. Das ist nicht das Niveau, will sie sagen, aber was macht das schon? Wirklich, was macht es schon angesichts all des diskreten Muskelspiels unter dem dünnen Anzugstoff, wer genau hinschaut, mag sogar die vom Holster verursachte Beulung unter der Achsel erahnen. Richtig taff, die Crew. Befände sich Gobelin-Trocken im Raum, auch Petra, wie Annabell, müde des Dauerzwists, sie insgeheim nennt, würde erkennen, wer immer noch Herrin in diesem Hause ist. Besitzverhältnisse sind Schall und Rauch, neinneinnein, sie sind nur komplexer, als Kaufverträge dies dokumentieren können, viel komplexer… Ein paar Meter weiter das reglose Gegenpaar –: Amenophis der Vierte und Adelaide in Schwarz. Leicht könnte, wer ungenau hinsieht, dem Irrtum erliegen, das greise Paar sei in der allgemeinen Achtlosigkeit angekommen. Doch es ist pure, grausame Aufmerksamkeit, die den Ring aus Einsamkeit um die einstigen Matadore schließt. Sie gelten als überwacht, seit verlautete, dass der Alte, angesichts des verordneten Maskenmeers, einen ägyptischen Vergleich gezogen haben soll. Ägyptisch – wo kämen wir da hin? Was bildet die Mumie sich ein? S trägt einen Skarabäus am Finger, gelegentlich prahlt er damit, aber das spielt in einer anderen Liga. Was hat ihn dazu bewogen, die beiden einzuladen? Geheimnis der Gesellschaft, bitte für uns, sei unserer armen herausgeputzten Reputation gnädig.
Ein Maskenball
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Sag mir, wo die Masken sind
Wo sind sie geblieben?
Elite, schreibt der im Bauch der Zeitgeschichte verschwundene Killus in einem seiner beiseite geräumten Bücher, Elite genießt das unendliche Privileg, die Entscheidungen der Führung zu tragen, als seien sie die eigenen. Unendlich deshalb, weil in dieser Einstellung nicht nur ein Stück Freiheit steckt – jeder Mensch ist ein Stück weit frei –, sondern die ganze Freiheit, wenn damit nicht die vergleichsweise primitive Freiheit zu schalten und walten, wie einer will, gemeint sei soll. Dennoch steckt exakt diese Freiheit in der Elite-Freiheit, wahlweise Gefolgschaft genannt: die Freiheit der Ausnahme von der Regel, das Spiel mit der Regel, die nur so als gesetzte kenntlich wird. Regelsklaven sind keine Elite. Sie sind nichts weiter als Fratzen des Gehorsams. Wenn der Minister maskenfrei unter den Seinen weilt, dann ist es an der anwesenden Elite, Kühnheit zu zeigen, die Kühnheit des Voluntarissimus, der jeder Gefahr trotzt, weil sie in seiner Existenz aufgehoben (sic!) ist.
›System‹: eines der Fangwörter, mit deren Hilfe die Dienste, angefangen bei den Meinungsplattformen und Anschwärzkolonnen, Verdächtige aus der Menge fischen. Auch hier beweist sich die Freiheit der Elite, die weiß, bei welchen Gelegenheiten sie die Freiheit des Wortes für sich beanspruchen darf, um sie unverbrüchlich nennen zu können.
Killus jedenfalls würde angesichts des Schauspiels verständnisvoll nicken. Dabei ist gerade er der auf immerdar Ausgeschlossenen einer, Urgestein aller Ausgeschlossenen des Systems, das sich bei Gelegenheiten wie diesem hübschen, die Ödnis der verhängten Quarantäne blitzend durchschneidenden Abend feiert und peinlich darauf achtet, dass niemand es ›System‹ zu nennen wagt.
Killus war ein Narr.
Ein Maskenball
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Fang und Tarn
—Janein, es gibt Fang- und Tarnwörter, doziert Tronka, der Unterschied liegt ja auf der Hand, man muss geradezu farbenblind sein, um ihn nicht zu sehen. Na hören Sie mal, dort drüben läuft ja einer … köstlich, schauen Sie doch hin, dann erkennen Sie ihn, der trägt natürlich eisern Maske, er ist der Mann mit der eisernen Maske, entschuldigen Sie den literarischen Scherz, aber so einer macht sich durch die Maske erst richtig kenntlich, er ist sein eigener Avatar oder wie das Zeug so heißt. Karus, Sie haben ihn ganz richtig erkannt, hat nichts zu verbergen, dafür braucht er die Maske nicht, besser könnte man sagen, die Maske braucht ihn, was auch ein wenig der Realität entspricht, denn dass jetzt alle Maske tragen müssen, verdankt sich nicht zuletzt seiner unermüdlichen Lobby-Arbeit. Er ist der Muster-Lobbyist der Republik, aber getarnt, den Deppen draußen gilt er als großer Wissenschaftler und die Parteibonzen plappern es fleißig nach, weil sie so einen immer brauchen können.
Dass Tronka auch da ist, wundert dich. Aber er ist ein Parteimensch durch und durch. Er hat es dir selbst gesagt.
Ein Maskenball
12
Anonymus 1 . Anonymus 2 (Der Lange und der Stämmige)
—Diese Nacht setzt ein Zeichen.
—Das denke ich auch.
—Der Rassismus ist das Krebsgeschwür Europas.
—Die mickrigen Nationalstaaten haben doch nichts mehr zu melden.
—Tatsache ist, dass das Volk bei allem mitgemacht hat.
—Nicht das Volk. Dieses Volk.
—Wir wissen Bescheid. Und zwar gründlich.
—Heute wissen wir alles, was man über dieses Land zu wissen braucht.
—Ich weiß Bescheid.
—Heute ist das eine andere Sache.
—Die schlechteste Regierung ist immer die, die gerade dran ist.
—Ich find's scheiße, dass ich nicht verreisen kann.
—Das finde ich allerdings auch.
—Das geht eindeutig zu weit.
—Das ist Freiheitsberaubung dritten Grades.
—Kannibalisierung von Bürgerrechten.
—Rassismus, würde ich sagen.
—Cave.
—Schon klar. Das sind die somewheres.
—Die kennen wir. Wir kennen sie alle.
—Das Maul werden wir ihnen stopfen.
—Worauf du Gift nehmen kannst.
—Jetzt wollen sie das Fliegen verbieten.
—Was redest du da? Das ist elende populistische Propaganda. Sie wollen das Fliegen einschränken.
—Ganz meine Rede.
—Also ich finde das total in Ordnung. Man muss Prioritäten setzen. Wozu ist man schließlich Elite?
—Ein Glück, dass wir nicht unter Putin leben müssen.
—Herzallerliebst. Schätze mal, es handelt sich um römische Sklaven.
—Römisch? Sagten Sie römisch?
—Altrömisch. Soviel correctness muss sein.
—Wer ist dieser Trimalchio?
—Eine Bildungslücke.
—Groß wie ein Scheunentor.
—Eine Brechstange.
—Brechplatte, wenn schon.
—DREIMALICH.
—Das ist Küchenlatein.
—Das ist eine Maxime.
—Einmalich reicht mir.
—Dann hau rein.
Ein Maskenball
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Quasseln. Kleine Einführung in die Zyssmagie
Quasseln ist die Fähigkeit –
Wieso Fähigkeit? Quasseln ist eine Tätigkeit, die auf der Fähigkeit beruht, seinen Mitmenschen auf die Nerven zu gehen. Dazu braucht es, auf Seiten der Mitmenschen, Nerven. Und diese Nerven müssen, zweite Bedingung, blank liegen, soll heißen, bei der geringsten Berührung… Das ist natürlich ein Bild, korrekt müsste es ›Beanspruchung‹ heißen, aber damit wäre das Gesamtbild … wie gesagt, es wäre inkorrekt, hier zu, sagen wir, zu hudeln … die Hudelei kommt vielmehr ins Spiel, weil Quasseln am besten zwischen den Sprechern entsteht, also ganz von selbst, falls man sich darunter etwas vorstellen kann. Wer bereits mit blankliegenden Nerven zum Gespräch kommt, der besitzt einen Vorteil über die anderen, weil er die Quasselei als erster entdeckt, während die anderen noch glauben, sich in ernsthaften Überlegungen zu bewegen. Wenn allerdings, wie im vorliegenden Fall, die Nerven aller seit Wochen blankliegen, dann passiert etwas ganz anderes – das Unerträgliche selbst wird als Erlösung empfunden, als Wiedergewinnung der Normalität, die auf einmal als das Gelobte Land erscheint, nach dem man sich ein Leben lang, unter Qualen des Übergangs, immer gesehnt hat, und nun ist es einfach da … unfasslich, ein Wunder, ein wirkliches Wunder, vergleichbar minoren Tätigkeiten, als da wären das Auf-dem-Wasser-Gehen oder die Heilung Gesunder unter Aufbietung aller erreichbaren Autorität, auch die Bewegung des kleinen Fingers fällt in diese Kategorie, wenn sie sorgfältig geplant ist und keine Muskelgruppe vernachlässigt wurde. Das alles sind Erlösungstaten, durch die ein Tatmensch sich von Personengruppen unterscheidet, denen dieser Veränderungswille nicht innewohnt, obwohl sie überall die Mehrheit bilden und damit wirklich jede Veränderung bewirken könnten, die ihnen in den Sinn käme, aber daran ist, wie bekannt, nicht zu denken.
Ein Maskenball
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Am Biente
—Und dann hab ich, lacht Hanbichl, plötzlich leutselig geworden, den Herrn Kulturträger aufs Glatteis geführt und ihm ins Ohr geflüstert, Sie übernachten hier ja am Biente, ein Privileg, wenn ich das so sagen darf, sie werden davon im Schlaf profitieren, auch wenn Sie nichts davon merken. Er hatte nämlich, als ich vom Ambiente redete, verständnislos dreingeblickt, woraus ich kurzerhand schloss, dass ihm der Allerweltsausdruck unbekannt sein müsse, und ich berichtete ihm detailreich vom traurigen Los des zubetonierten Flusses mit dem Namen Biente, auf dem wir gerade dahinschritten: ein schäbiger Styx. Und als ich am Morgen auf seinen Blog schaue, was lese ich da, nebst ein paar Seitenhieben auf meine Veranstaltung? Die tragische Geschichte vom Schicksal des schönen blauen Biente und wie entsetzlich doch die modernen Stadtplaner, vor allem in der Provinz, mit ihrem kostbarsten Schatz umspringen, der Natur. Natürlich war da von meiner Seite ein wenig Rache im Spiel angesichts all der Blasiertheit, die der Herr Kulturschaffende zuvor an den Tag gelegt hatte. Iris kann alles bezeugen. Apropos Iris: Ist sie etwa auch da?
—Subtil war das nicht.
—Mein lieber Argloser, was ist schon subtil?
Ein Maskenball
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Warum gibt es Subtilität?
STAATSSCHUTZGEBÄUDEREINIGUNG: so steht es weiß auf schwarz auf vierfachem Rücken. Ein Reinigungstrupp? Wie subtil ist das denn? Nicht sehr. Argloser fehlen die Worte. M fehlt. Er fehlt uns allen. Wie kann das sein? M war nicht subtil. Aber auf eine perfide Weise doch. Was haben Subtilität und Perfidie gemeinsam? Sie erschaffen Labyrinthe. Aber ist ›erschaffen‹ der richtige Ausdruck? Nur der subtile Ausdruck trifft hinterrücks. Perfidie und Subtilität wachsen auf einem Holz. Man sagt: ein subtiler Geist, aber: ein kluger Kopf. Finde die Differenz! Das Subtile erregt immer Verdacht. Es überfordert die Menschen. Sie rotten sich zusammen, um ein Bonmot zu verstehen. Was ist daran komisch? Dass sie es gar nicht verstehen wollen. Sie wollen entkommen. Sie fürchten die Schlagkraft, die in ihm steckt. M wollte die Welt nicht verstehen, er wollte sie ver…äppeln. Subtilität ist der unterscheidende Geist, angewandt auf eine aporetische Konstellation. Bleibt die Frage: Wer sieht die Aporie? Alle oder … einer? Die Aporie ist immer da. Sie wechselt nur ihr Gesicht. Der subtile Geist ist eine Zusammenrottung in sich. Hätte M gesagt. Die Besten sterben zuerst. Ist das subtil? Nein, aber es hat Witz. Einer muss den Anfang machen. Immer. Das ist der Punkt.
Ein Maskenball
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Wo ist Iris?
Der Lange und der Stämmige,
sie haben sie mit Beschlag belegt.
Der Lange, zurückgebeugt, die Arme vor der Brust gekreuzt, blickt ›mit aufmerksamer Teilnahme‹ auf die Sprechende. Der Stämmige, seine Schuhspitzen fixierend, formt den Mund zu einer ungehaltenen Rede.
Die Sprechende: Iris, Botin der Ungeduld, halb Göttin, halb Beauftragte, keine Figur gleich den anderen, stattdessen Doppelwesen, Skulptur und Teil deines seelischen Haushalts –.
Was heißt hier Seele? Sie ist klug. Teil deiner Klugheit.
Hör, was sie spricht:
—Wenn der Betrug mit Händen zu greifen ist und du siehst ihn nicht, weil du ihn nicht sehen willst oder irgendein Defekt in deinem Gehirn es verhindert oder du einfach wie ein Schaf oder besser wie das Kaninchen auf die Schlange des öffentlichen Bewusstseins starrst, dann kannst du nicht gleichzeitig, was als Anspruch absurd genug ist, dreiunddreißig verhindern, denn dreiunddreißig hätte sich nur einmal verhindern lassen, nämlich dreiunddreißig, was nachweislich der Dokumente nicht passiert ist, dann verhinderst du einfach das, was heute getan werden müsste und verhinderst gerade das nicht, ich sage nicht, was heute dem entspräche, was dreiunddreißig nachweislich nicht verhindert wurde, obwohl es um jeden Preis hätte verhindert werden müssen, ich sage das deshalb nicht, weil mir dieses Gerede seit langem suspekt ist, ich sage nur, du bist Teil der Bewegung, die gerade das herbeiführt, was heute um den Preis der … ich nenne es einfach mal Menschlichkeit unbedingt verhindert werden müsste. Wer das dann unerhört findet und mir ans Leder will, weil ich seiner Meinung nach ein falsches Bewusstsein besitze, der kann mir gestohlen bleiben, denn er hat sich selbst gerichtet. Er hat sich mit Worten gerichtet und muss es nicht erst noch mit Taten. Aber eigentlich hat er sich schon gerichtet, als er aktive Informationsverweigerung praktizierte, um, wie er glaubt, unangefochten durch die Sache hindurchzukommen. Die Anfechtungen kommen nämlich nicht –
—Die Anfechtungen kommen nicht nach Wunsch, sondern unverhofft und sie müssen bestanden werden, krächzt der Stämmige. Er putzt seine Stimme und dreht die Fußspitzen nach oben, ohne sie anzuschauen. Wir Ärzte müssen da jetzt durch und es ist keiner da, der uns dabei hilft. Was Sie da sagen, hilft uns nicht, es macht unser Geschäft nur schwieriger. Ein Arzt ist nicht dazu da, um dreiunddreißig zu verhindern, wie Sie das ausdrücken, sondern, wie ich es ausdrücken würde, um das Schlimmste zu verhindern. Und das ist momentan nicht ganz einfach. Ich könnte meine Praxis dichtmachen und mit verschränkten Armen zuschauen, wie die Dinge sich entwickeln. Helfen würde ich damit niemandem, nicht einmal mir selber. Ich bin ja selbst ein Betroffener. Ich wäre es auch, wenn ich wegen Unbotmäßigkeit die Praxis verlöre. Solche Dinge kommen vor und niemand kann sie verhindern außer denen, die sie herbeiführen und damit beißt sich die Katze in den Schwanz.
—In meinen Augen ist das ein Labyrinth der Irrungen, aus dem nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit herausführt. Sorry, wenn ich da puristisch bin.
Da lacht der Lange ein langes kratziges Lachen.
—Wir werden uns den Abend doch nicht mit Harrspaltereien verderben. Was ist Wahrheit? Die Wahrheit ist, wir wissen es nicht. Keiner weiß es. Manche müssen von Amts wegen so tun, als wüssten sie sie, ich schließe mich da mit ein, haha, aber in Wahrheit… Es lebe die gesittete Anarchie!
Und greift sich ein Glas vom Tablett der maskierten Serviererin, die gerade vorbeikommt.
Ein Maskenball
18
Der journalistische Staat rüstet nach
Herzländer spielt Karten.
—Etwas müsste drin sein.
—Etwas ist immer drin.
—Kommt Kaltenegger mit?
—Kaltenegger ist kalt.
—Ganz kalt?
—Ganz kalt. Kälter als Nordpol.
—Für jetzt oder ein für allemal?
—Ein für allemal. Es gibt keine Wiederkehr. Die ehernen Gesetze des Informationszeitalters erlauben keine Wiederkehr.
—Irrtum. Die ehernen Gesetze des Kommunikationszeitalters bringen alle wieder obenauf.
—Da kann er lange warten.
Recht hat er, der Gebräunte mit dem Stechapfelblick, der seine Hand nicht aus der Hosentasche herausbringt und an Herzländer vorbei auf Elisabeth starrt. Das Kommunikationszeitalter gleicht dem Hasen mit den acht Läufen, der sich auf den Rücken wirft und weiterläuft, wenn ein Satz sich müde gerannt hat. Das kann dauern.
—Gegenthese: Alles ist dauernd im Spiel. Man nennt das Komplexität. Davon halten Ihre Kreise nicht viel, wie ich stets zu meinem Bedauern feststelle. Die Welt, in der wir leben, ist denunzierbar, bloß beschreiben lässt sie sich nicht. Sie ist un-be-schreib-bar.
—Dafür sind Sie ganz schön streitbar.
—Man tut, was man kann.
Ein Maskenball
19
Wahrheitsmenschen
Der Gebräunte hebt sein Glas.
—Wenn ich ein paar Titten beschreibe, dann will ich dabei nicht durch Verbote behindert werden. Andererseits will meine Feder kühn sein. Wie soll das ohne Verbote gehen? Irgendjemand muss durch die Finger sehen. Irgendjemand muss mit dem Finger lesen. Verstehen Sie das? Mit dem Finger. Lesen Sie mit dem Finger am Bildschirm? Niemand tut das. Die Zeiten, in denen man es sich leisten konnte, mit dem Finger zu lesen, sind vorbei. Wir leben im Zeitalter der totalen Information. Die Finger hat man uns abgehackt. Sie sind jetzt Teil der Tastatur. Sie schlagen Textblöcke aus dem Fels, aber es kommt kein Wasser. Es kommt kein Wasser. Am Rande der Ruhrstadt existiert ein Ort, der nennt sich Wasserloses Tal. Kennen Sie ihn? Wir leben – und arbeiten! – im wasserlosen Tal. Das Informationsparadox, von dem Ihre Kollegen so viel Aufhebens machen – für mich besteht es darin, dass keiner mehr durch die Finger sieht. Nicht, dass keiner es wollte, oh nein. Es geht nicht, weil alle mitlesen. Ich habe keine Ahnung, wer in diesem Fall alle sind, wir kennen bloß Zahlen und phantasieren uns die Subjekte dazu. Eines aber wissen wir ganz genau: sie verzeihen nichts. Wo einer durch die Finger sieht, da sehen bereits andere hin und machen ihn fertig. Unser Job war immer gnadenlos, aber heute … heute ist er die Hölle. Die Hölle auf Erden. Also sind wir Teufel oder Verteufelte. Auf alle Fälle … verdammt.
Elisabeth, in karmesinroter Glut, versteht nicht, was die beiden da reden. Ihr Körper aber fängt den Blick auf und fühlt sich begehrt.
So also sieht sie aus, die Herrschaft der Ärzte, denkt Hanbüchl, die Reihe der Impfkabinen abschreitend und an der Endlosschlange der sorgfältig, wie erschrocken ein mögliches Vergehen gegen die Regel abwehrend, den vorgeschriebenen Mindestabstand beachtenden Wartenden dem Versprechen der Freiheit nachgehend … nein, nicht der Ärzte bloß: der Medizin, korrigiert sein angeborener, an Gedichten und ungehobenen Dichter-Nachlässen trainierter Sprachsinn, da besteht schon ein Unterschied, beteiligt ist schließlich die ganze Wertschöpfungskette von den Labors der Wissenschaft und der Pharmaindustrie über die Verbände und Kontrollbehörden hinunter zu jedem einzelnen Lobbyisten, aber natürlich auch den Aufsichtsräten und Verwaltungen der Krankenhausketten, den Klinikchefs, den Stationsleitern, Oberärzten und Assistenzärzten, den niedergelassenen … den in die Politik gegangenen … den Karus…
Hanbüchl wird zum Drachenträger
2
Etwas fehlt in der Kette…
… ein Kopf, eine leitende Bürokratie, ein oberstes Gremium, ein Ort, an dem sich Vertreter der Politik, der Konzerne, der Medien die Klinke in die Hand drücken … nenne es WHO, World Health Oops, dem entspräche ein World Literature Oops als oberste Richtlinienbehörde aller beruflich mit Literatur Befassten, warum habe ich noch nie etwas davon gehört? Die Wertschöpfungskette der Literatur ist kurz und dünn, da gibt es für den Einzelnen wenig zu knabbern. Die Arrivierten sind froh, ein Auskommen gefunden zu haben. Weltbestseller sind dünn gesät, bedenkt man die Anstrengung, dann ist, was herausspringt, geradezu lächerlich. Sie das Geld, wir die Ehre. Aber Geld nimmt alle Ehren mit. Ach, es ist nicht das Geld allein… Es ist die Angst, die in jedem Einzelnen nistet, die Körper-Angst, die aus jedem Furunkel ein böses Omen erwachsen lässt. Literatur macht niemandem Angst. Heute nicht, gestern vielleicht schon. »Hey Leute, wir beschäftigen uns mit euren abgelegten Ängsten, alle mal herhören!« Und schon rennen sie in Scharen die Bude ein, ängstlich auf Mindestabstand bedacht, denn es könnte sein … es könnte sein … was könnte sein? Dass Lektüre ansteckend ist? Wie schön! Wie überaus schön!
Na dann her mit der Spritze.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
3
Ertrage die Gewählten!
Hanbüchl sieht, dass der Staat sich überall auf die Seite der
Dummen schlägt. Nach dem Satz nihil sine causa fit beginnt
ihn das Phänomen zu interessieren. Gleich und gleich gesellt sich
gern, kräht ein Stimmchen aus ihm heraus, um sogleich erschrocken zu
verstummen. Der Staat, was immer man ihm nachsagen will, gehört
nicht zu den Dummen. Genau gesprochen, steht er über den Klugen und
den Dummen. Jedenfalls gehört er keiner der beiden Seiten an.
Richtig ist, dass beide Seiten in ihm ihr Auskommen finden müssen.
Richtig ist auch, dass er den Klugen ein unendliches
Experimentierfeld bietet. Klug sein und den Staat plündern: ist das
nicht fast dasselbe? Weit schwerer wäre die Rolle der Dummen zu
ergründen, gäbe es nicht den bewährten Faktor der Loyalität,
druckvoll übersetzt mit Ergebenheit: Die Dummen erwarten vom Staat
ihr Schicksal. Ein Napoleon der Personenkontrolle müsste, nicht erst
seit gestern und heute, sagen: Der Staat ist das Schicksal.
Aber natürlich geht Staatsmacht weit über Personenkontrolle hinaus.
Dummheit, die
Dummheit ist nicht gleich Dummheit. Es
gibt eine Dummheit der Klugen und es gibt eine Klugheit der Dummen.
Wäre es anders, würde das Konzept Markt schon auf dem nächstbesten
Wochenmarkt kollabieren. Warum sollen nicht auch die Dummen den Staat
plündern? Dafür gibt’s keinen Grund. Es hat seinen guten Sinn,
wenn die Dummen den Staat plündern, schließlich erwarten sie für ihre Wenigkeit
ein gutes Schicksal und sind gern bereit, dafür Hand
anzulegen.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
4
Normalverteilung
Solang du Klugheit und Dummheit nicht definierst, sinniert
Hanbüchl, kommst du nicht weiter. Nimm den IQ oder gleich die Bell
Curve der Intelligenzforscher. Aber was bringt das jetzt? Das hier geht schon hinaus ins Inhaltliche. Die Klugheit der Dummen nennen wir Schlitzohrigkeit, die Dummheit der Klugen hört auf den Namen Arroganz. Der Kluge kennt
sein Schlitzohr, er meint es zu kennen, darin liegt schon der Fehler.
Schwer vorherzusagen, wer am Ende obsiegt. Das kommt davon,
dass keiner die Hintergedanken des anderen kennt.
Horten, das
Der Kluge hortet ausnahmsweise, nur für den Fall, dass es sich
lohnt. Der Dumme hortet, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Er
hortet, ohne eigentliche Renditevorstellung, für eine Zukunft, die
er nicht kennt. Wenn es darum geht, den Staat auszupressen, sind
beide Modelle am Start. Die Klugen organisieren ihre Fischzüge und
die Dummen pressen konstant. Was dem Staat mehr Schaden zufügt, das
ausgetüftelte Steuersparmodell der Eliten oder das dumpfe Horten der
Massen, wird im Wirbel der Interpretationen immer umstritten bleiben.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
5
Wohin strebt der Mensch?
Phase eins: ein Zuckerli hier, ein Klaps dort – der Sozialstaat
marschiert.
Phase zwei: der Staat fördert und fordert die
emanzipatorischen Potenziale der Gesellschaft. Das heißt, er
schließt mit den Erwählten eine Art Heiratsvertrag und schiebt
ihnen Lehrstühle, Aufträge und Posten aller Art zu. Unter einer
Bedingung: sie müssen wissen, wohin sie gehören. Es entsteht das Genre
der progressiven Frauen, Schwulen, Einwanderer. Euch eint Gesinnung, also einigt euch. Sie tragen
das Kreuzchen am rechten Fleck und die Medien nicken ihnen aufmunternd zu.
Phase drei: Aufmarsch der Spinner. Die sehnenden Arme der durch Inferiorität Gefolterten strecken sich nach
behördlicher Anerkennung. Und siehe da, ihnen wird aufgetan.
Füllhörner öffnen sich und es regnet Manna vom Himmel. Im
Schuldenparadies gibt’s für jeden ein warmes Plätzchen und
obendrein ein gesundes Zubrot.
Gut und schön, aber was, fragt Hanbüchl, passiert in Phase vier?
Nicht sich fragt er, sondern wie immer, wenn er nicht weiter weiß,
Helene, die Mutter seiner Töchter, die weiße Frau, die am Ozean eine
weiße Villa bewohnt, umgeben von Pagen und edlen Hunden, von gelben
Schmetterlingen und weißen Schwänen, denen sich manchmal ein
schwarzer zugesellt, denn sie liebt die Abwechslung. Und wie immer, so
weiß sie auch jetzt den Faden weiterzuspinnen.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
6
Helenens Vision
Mein lieber Hanbüchl, in der vierten aller Phasen, wie Du sie nennst, zeigt der
Nanny-Staat, was in ihm steckt. Er greift sich ein Wehwehchen der
Bürger und beschließt, es mit Stumpf und Stiel auszurotten. Mit
Stumpf und Stiel! Du weißt, was das bedeutet! Vorschriften, mein
Lieber, Vorschriften. Der gerade Weg zur Unterwerfung führt über
die Hygiene. Tu dies, tu jenes, nein, das darfst du nicht. Nein, das
darfst du auch nicht. Das darfst du, aber nur zu Hause. Nicht mit
anderen. Nicht mit mehr anderen, als wir erlauben. Nein, wir erlauben
es nicht. Jetzt nicht, morgen vielleicht. Nein, so nicht, so auch
nicht, nein, das erlauben wir nicht. Nicht in der Öffentlichkeit.
Nicht tagsüber. Nicht nachts. Keine Innenräume. Nicht im Freien, wo
denkst du hin? Ohne Test kein Fest. Das Fest fällt aus, aber der
Test muss sein. Ja sicher, muss sein. Er ist nicht zuverlässig? Oh,
das bedeutet, du bist renitent. Du vergehst dich an der Gemeinschaft.
Du hältst unsere Maßnahmen für übertrieben? Du willst deine
Freiheiten zurück? Nun, dafür haben wir den Staatsschutz. Abstand,
Leute, Abstand! Distanziert euch! Voneinander, von wem denn sonst?
Was passiert, wenn wir die Schulen schließen? Interessantes
Experiment. Ja, das ziehen wir durch. Wir müssen mit allen Mitteln …
und das Ziel? Das Ziel, fragst du? Da frage ich:Auf welcher Wolke lebst du?
Das Ziel, mein Lieber … was haben wir denn da? Der Nanny-Staat ist
Investor. Er investiert unser aller Steuergelder in dich, also will er, dass du etwas
abwirfst. Für alle. Für alle, die ihn lieben.
(Bitte nimm die Anrede nicht allzu wörtlich.)
Schuld sind nicht die Täter, schuldig ist die Tat.
In einem früheren Leben war Hanbüchl Maoist.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
7
Der Maoist der Zukunft
Gib’s zu: Hanbüchl trägt Zukunft in sich. Nicht so,
wie praktisch jeder Mensch sein Hoffen, Wünschen, Planen, Ausführen,
vergleichbar den eingelegten Lanzen früherer Kreuzritter, auf die
Zukunft richtet (und auf diese sonderbare Weise auf sie vordringt),
sondern als Weltgestalter, soll heißen als Mitgestalter einer
künftigen Welt. Sie wird, vertraut er seinen starken intuitiven
Impulsen, in einem gewissen Ausmaß der heutigen entsprechen, aber
doch nur in einem gewissen Ausmaß. Denn da sein gegenwärtiges
Lebensgefühl in letzterer gründet und ihm sagt, mit ihr zwar nicht
die beste aller Welten, wohl aber die zweitbeste und damit den
angemessenen Wirkungsort für einen wie ihn zu bewohnen, kann die
kommende Welt nur die gegenwärtige sein, befreit von den Friktionen
der Gegenwart: eine wahrhaft freie, schöpferische, auf allen
Lebensebenen dem egalitären Dasein verpflichtete Welt, aus welcher
Mangel, Not und Eigentum, kurz, aller Frust diffundierte, am besten,
dem Wunder der modernen Medizin (vorgestellt als Königin der
Wissenschaften, die ihre jüngsten Errungenschaften, Gen- und
Nanotechnik, Zepter und Reichsapfel, in den ausgestreckten
Händen hält) sei Dank, der Elendszug der Krankheiten gleich mit.
Und wie es seelisch unausweichlich ist, so lebt, wenigstens
teilweise, bereits der gegenwärtige Hanbüchl in jenem Zauberbade
der nicht enden wollenden Genüsse.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
8
Ein jähes Frösteln überkommt Hanbüchl
Alles storniert. Grau, riesig erhebt sich das Haupt der Medusa aus
den Fluten des futuristischen Ganges, der alle Gebrechen der
Gesellschaft fortwäscht und dabei äußerst wenig an sein indisches
Vorbild gemahnt. Das strenge, etwas verwaschene Antlitz des totalen
Gesundheitsstaates schreckt seine Verächter und beflügelt die
Phantasie seiner Adepten. Regeln, entsprungen der Traumwelt eines
wirren Absurdistan, atemberaubend selbstverständlich allem
widersprechend, was wir über zwischenmenschliches Sein wissen.
Ich will die Leichenberge sehen, die das rechtfertigen. Keiner
hat sie gesehen und die weiterhin öffentlich geführten, vom Gros
der Journalisten eifrig umschifften Statistiken weisen auch keine
aus. Hanbüchl, den Mund sorgsam geschlossen, fühlt sich als Mann
des entschiedenen Widerstands. Die Journalisten sind Teil des
Problems. Wie konnte es dahin kommen? Er weiß
keine Antwort. Denn dazu müsste er sich selbst im Kreise der
Kollegen sehen und das kann er nicht.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
9
Ein Exemplar seiner Zunft
Will er nicht oder kann er nicht? Im Könnenwollen ist beides vereint. Hanbüchls Könnenwollen geht auf Welt und nicht auf Introspektion, schon gar nicht im Modus der Kritik.
Nur untergehakt ist Zukunft machbar.
Und er gedenkt der fernen Demonstrationszeiten, in denen man gemeinsam, Parolen skandierend, gegen Polizeiketten vorrückte, darauf brennend, sich gegen die Staatsmacht in Szene zu setzen: die Lunte glimmt noch immer. Vorrangig aber – ja: vorrangig – ist das aus jenen Aktionen zurückgebliebene, vom Körper absorbierte WIR. Jeder seiner wissenschaftlichen Einfälle muss es passieren. Andernfalls… Nein, daran mag er nicht denken.
Im Germanisten Hanbüchl arbeitet sanft, kraftvoll, saugstark ein Zwölfzylinder: das Kollektiv der Gutmenschen, wie der Feind sie nennt. Kein Stimmengewirr, sondern eine Kette, die singend, testend, thematisierend dem gemeinsamen Ziel entgegenschreitet. Wo ist der Feind? Der Feind ist weit. Er ist zwar nicht besiegt, aber auf dem Campus – bis auf ärgerliche Ausnahmen, für die man beinahe dankbar sein müsste – verstummt.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
10
Der Anfall
Einer plötzlichen Atemnot folgend, als
handle es sich um eine Aufforderung, die keinen Aufschub duldet,
schiebt Hanbüchl den Teller zurück und erhebt sich. Nein, sie kommt nicht vom
pünktlich wie ein neben dem Bett des Langschläfers deponierter alter Handwecker rasend zu klingeln
beginnenden Herzen. Ihr schamumflorter Ursprung liegt im unteren Körpergeschlinge. Etwas
drückt mit mächtigen Stößen, Beklemmungsgefühle ohne Ende, aber von wechselnder
Intensität hervorrufend, nach oben, in den Brustraum
hinein, den zarten Mann ins Wanken und fast zu Fall bringend, bevor er den
rettenden Schreibtisch erreicht. Dort, so will es ihn dünken,
herrscht Friede zwischen den Parteien, die sich angeschickt haben, ihn zu zerreißen.
Aparte, an den Lebensrealitäten scheiternde
Vorstellung, die ihre Gültigkeit immer behält: wo fühlte ein
Literaturprofessor sich sicher, wenn nicht am Entstehungsort seiner Bücher?
Hanbüchl wird zum Drachenträger
11
Ein praller Sack
Das war gestern, vorgestern, letzte Woche –.
―Kohlendioxid! murmelt
er entgeistert, sobald ein Nachbar, besorgt seine schleichend-verhaltene
Fortbewegungsart taxierend, ihn zur Rede stellt. Das über die Bühne gehende Stück,
so findet er, könnte ruhig den Titel ›Der entgeisterte Hanbüchl‹
tragen. Er persönlich hat nichts gegen Personenkult, er hätte auch
nichts dagegen, in effigie, ein wiedergeborener Sokrates, auf der Bühne zu stehen. Selbst
hier, auf der Bühne des Lebens, mischen sich Qual- und Lustgefühle.
Abwechselnd kommt er sich vor wie ein bis zum Zerreißen
vollgepumpter Gas-Sack oder eine sinnfrei entworfene Pilotanlage zur
körpereigenen CO2-Produktion, ein Planetenzerstörer, der
in furchtbaren Konvulsionen mit sin eigen lîb
den klimatischen Wandel hin zur Auslöschung allen Lebens
vorantreibt, ein Menschheitsfeind im verordneten home office, angstvoll
darauf wartend, aus der Menge heraus erkannt und unverzüglich seinen
Liquidatoren zugeführt zu werden. Der Phantasie, findet Hanbüchl,
sind keine Grenzen gesetzt, sobald erst der Körper leidet.
Hanbüchl wird zum Drachenträger
12
Das klimaneutrale Jahrhundert oder Hanbüchls Leidmaschine
Hanbüchl wird zum Drachenträger
13
Iris weiß Bescheid
―Er hat den Drachen im Leib, sagt Iris, mit spitzem Finger ihr Frühstückscroissant zerreißend. Mit dem inneren
Drachen ist nicht zu spaßen. Mich erinnert das an das Märchen vom
Feuerwerker, der sein Feuerwerk verschluckt und dafür mit fünfzig
Stockschlägen büßen soll.
―Kenne ich das?
―Es war einmal ein Mann, der wollte und wollte Feuerwerker
werden. Der Weg in die Hauptstadt war weit, also kaufte er sich eine
Fahrkarte und setzte sich an den Bahnhof, um auf den nächsten Zug zu
warten. Da trat eine Frau auf ihn zu und sagte: »Was wartest du da?
Es wäre besser, du machtest mir ein Kind und wir lebten heimlich und
in Freuden.« Der Mann überhörte das Kind und sie lebten zusammen
in Freuden. Eines Tages fragte sie ihn: »Was ist mit dem Kind?
Wolltest du nicht Feuerwerker werden?« Und setzte ihn an die frische
Luft. Da blies er in die Hände, ging zum Bahnhof und freute sich auf
sein erstes Feuerwerk. Es nahte sich aber eine Frau und sagte: »Bist
du nicht der Feuerwerker, dessen Werke über allen Dächern der
Hauptstadt zu sehen sind?« »Oh ja, das bin ich«, entgegnete der
Mann. »Dann kannst du mir gewiss meinen Herd anzünden, der alt ist
und mir viel Kummer bereitet, ich weiß aber keinen besseren.
Währenddessen gehe ich arbeiten und bringe uns einen guten Braten
nach Hause.« »So wahr ich Feuerwerker bin«, sagte der Mann, »lass
das meine Sorge sein.« Und sie gingen zusammen bis ans Ende der
Straße und er trug Holz um Holz zusammen, zündete es an und blies
und blies, dass die Flammen wohl kommen sollten. Es kam aber ein alt
bucklig Männlein zornig dahergefahren und rief mit klirrender
Stimme: »Was soll diese Stümperei? So du dein Feuer nicht
verschluckst, wird dir nicht geholfen sein und mein Haus verfault bis
auf den Grund.« »Dann ist das dein Haus?« »Ei gewiss«, schrie
das Männlein, »wer alle Ein- und Ausgänge kennt, der ist Herr im
Haus.« »Dann muss ich dich etwas fragen«, druckste der Mann
verlegen…
―Iris…
―Schon erledigt. Ich geh dann mal auch. Das Männlein übrigens
… ich kenn’ da ’nen Prof, der glaubt, das Männlein sei die
Theologie, und der Feuerwerker… Und tschüss!
Hanbüchl nimmt eine Vorlesung auf.
Hanbüchl liebt es, zwischen Pult und Tafel zu schweifen, den dunklen Blick
des Magiers auf das im Kamera-Auge konzentrierte Publikum gerichtet, das gebannt jeder seiner Bewegungen folgt.
Davon geht er jedenfalls aus.
Irgendwann nach zahllosen Anläufen hat er zum Spiel der
Hände gefunden, das seine weit verstreute Hörerschaft
zuverlässig in Wachs verwandelt.
Nun ja, nicht die Hände allein haben ihn zum Idol der Studentenschaft aufsteigen lassen. Da wäre noch die Stimme.
Wie alle Kollegen beherrscht er das akademische Falsett, als sei es ihm angeboren.
Hanbüchl aber, der brillante Hanbüchl, der alte Fuchs Hanbüchl, Hanbüchl die Kanaille mixt ihm einen Unterton bei, der keinem anderen so gelingt: Fürchtet euch nicht! Und siehe, dieser Stimmanteil paart sich umstandslos mit dem Hörer-Verlangen, jetzt und hier, inmitten der
geistigen Unfertigkeit, die ihnen gerade wieder drastisch durch den schier
unermesslichen Abstand zwischen ihrer Existenz und der des Dozenten
vor Augen geführt wird, jenes Stück Souveränität
wiederzufinden, von dem sie, wissend, dass sie sich auf dem Höhepunkt
ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit befinden, außerhalb der Welt der
Hörsäle und Prüfungsanforderungen lebhaft Gebrauch machen.
Hanbüchl versteht es, durch einen Mix aus Aufklärungs- und
Verschwörungssprache, der wie von selbst aus den Tiefen seines
Sprechorgans steigt, das Ego jedes einzelnen Zuhörers bis auf jenen
Umfang anschwellen zu lassen, bei dem alles subalterne Sichten,
Memorieren und Präparieren verschwindet, um dem vagen Gefühl einer
gemeinsamen Sendung Platz zu machen.
Das Unbehebbare
2
Verflixte Technik
Auch den Professoren ist der Zugang zur Pyramide inzwischen verwehrt. Nur technischem Personal bleibt es gestattet, den Doppelposten vor dem Eingang zu passieren und ins gefahrenumwitterte Innere des Gebäudes vorzudringen.
Eine Vorlesung zu Hause aufzunehmen bedeutet, sich in die Konkurrenz der Einpersonen-Sender, der Influencer und Non-Influencer, der Welterklärer auf eigene Faust und eigene Kosten zu begeben –: eine Zumutung, gewiss, und nicht zu knapp, vor der mancher Lehrkörper diskret zurückschreckt. Lehre im Ausnahmezustand braucht ihre Zeit.
Hanbüchl, geschmeidig-korrekt, stellt sich der Lage. Wozu verfügt der Mensch über Hilfskräfte?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, Als hätt ich vierundzwanzig Beine.
Zwei davon haben, vorschriftsmäßig maskiert, seinen peniblen Anweisungen Folge leistend das Wohnzimmer ausgeräumt und die nötigsten Zauber-Utensilien installiert, darunter ein apartes, ganz in mattem Schwarz gehaltenes Stehpult, einen neu angeschafften Flipchart und den widerwillig vom Sohn abgestellten, auf einem weißen Kubus thronenden Beamer, der, wie Hanbüchl sich schon früher überzeugen konnte, messerscharfe Projektionen erlaubt.
Das größte Problem stellt die bewegliche Kamera dar, nachdem der zuständige Kameramann der Pyramide sich weder durch telefonische Bitten noch durch Drohungen zu einem Hausbesuch überreden lässt. An dieser Stelle kommt dann doch die Intuition des Sohnes zum Zug: die Hereinnahme einer zweiten Kamera erlaubt die Illusion einer Abhilfe, wenngleich die Aufnahmen jetzt aufwendig geschnitten werden müssen. Aber das, soviel hat er telefonisch erreicht, geschieht im Bauch der Pyramide und hat Hanbüchl nicht weiter zu kümmern.
Hanbüchl geht hin und drückt den Knopf.
Das Unbehebbare
3
Die Vorlesung
―Oft frage ich Leute, die aus ganz verschiedenen Berufen kommen: Kennen Sie
Baudelaires L’Irrémédiable?
Die Antwort ist praktisch immer dieselbe: Nie gehört. Und das, sehen Sie, ist unerhört. Nein, nicht nur die Unwissenheit der Leute, das Gedicht selbst ist unerhört. Ich werde es Ihnen beweisen. Ich kann es Ihnen beweisen, weil aus diesem Gedicht die Zeit spricht: diese Zeit, Ihre Zeit, meine Zeit. Mehr Gemeinsamkeit scheint zur Zeit nicht herstellbar zu sein.
Lassen Sie mich mit einer Nebenbemerkung beginnen.
Meist verfallen in diesen Breiten die Menschen, sobald sie mit einem Gedicht
konfrontiert werden, in Schockstarre, aus der sie nur schwer
befreit werden können. Das ist die sogenannte
Interpretationshaltung, die ihnen auf dem Gymnasium beigebracht
wurde, ungefähr so wie man in der Fahrschule lernt, die Fahrerposition
einzunehmen: Sitz zurechtschieben, Zündschlüssel einstecken, Griff
zum Rückspiegel, Gangschaltung prüfen, ah, die Pedale! Na dann
können wir mal! Nein, Musik hören können Sie später. Sie
können es aber nicht, da liegt die Wurzel des Übels. Sie haben sich
selbst geblendet, als sie sich zurechtrückten, und jetzt sehen Sie
nichts. Ich habe den Effekt oft beobachtet und bin mir sicher: das
Leiden, das ihn hervorbringt, ist irreparabel. Im Seminar mag die
Epoché ihren guten Zweck erfüllen. Aber an der Schule … wissen Sie, an der Schule wird eine
andere Art Disziplin eingeübt, eine ganz andere … da bleibt von
den Gedichten, vom Leben der Gedichte dann nichts mehr übrig.
Ich schlage seit Jahren vor, den Lehrern das Interpretieren zu
verbieten. Überhaupt wäre es besser, das Durchnehmen von Gedichten
an Schulen ein für allemal beenden. An den Pranger mit allen
Lehrern, die’s dann trotzdem tun! Ich kann Ihnen schon verraten: es werden
nur wenige sein. Warum? Weil das Verbot für sie eine Erlösung
darstellt.
Das Unbehebbare
4
Eine Idee, ein Wesen, eine Form,
dem Blau entstürzt und nun gefangen
in einem Styx aus Schlamm, verhangen,
dass nie ein Blick von droben sie erreicht
―eine Frage vorneweg –
(bevor Sie in die erwähnte Schockstarre fallen): Sie kennen den Ausdruck ›eine Idee mit sich herumtragen‹? Jeder von uns trägt ein paar Ideen mit sich herum, lose Einfälle, die hängenblieben, sich irgendwie im
Stoff verhakt haben und und nun immer zur Stelle sind, wenn das Gespräch, das wir sind, einen
dummen Einfall braucht, um weiterzulaufen. Aber es gibt auch die andere, die
unausgetragene Idee, dazu bestimmt, irgendwann das Licht der Welt zu erblicken,
wie es so sinnig heißt, doch vorderhand ist nicht daran zu denken und daher
trägt sie jemand mit sich herum, wobei es nicht so wesentlich sein sollte, um
welche Person es sich dabei handelt, da ja das Werden der Idee im Mittelpunkt
steht, es sei denn, es handelt sich um Pläne für einen Raubüberfall, aber diesen
Zweig des Ideengeschäfts wollen wir diesmal nicht weiter verfolgen. Und
natürlich gibt es den Ideenhimmel, diese quasi-natürliche Ansammlung von Ideen,
die nie ganz weggehen werden, weil sie eigentlich der Gedankensteuerung dienen,
also zum Beispiel die Idee der Gerechtigkeit, die niemandem das Nachdenken
darüber abnimmt, was im Einzelfall gerecht sein mag, aber ihm doch eine gewisse
Richtung gibt.
Das Unbehebbare
5
Baudelaire der Metaphysiker
Baudelaire ein Metaphysiker?
Das sagt sich leicht, aber vorerst klingt die
Gleichsetzung von Idee, Wesen und Form ein wenig
schülerhaft eingelernt, sie entbehrt einfach der Spannung. Das ändert sich
sprunghaft in der nächsten Zeile: dem Blau entstürzt und nun gefangen
verlässt den Raum der begrifflichen Distinktionen abrupt und zieht diese zweite
Sinnlichkeit auf, die unweigerlich wissen lässt: wir, die Leser, befinden uns im
Raum des Gedichts und sonst nirgends, besser, man findet sich gleich damit ab
und stellt keine ins Leere gehenden Forderungen. Man muss auf Überraschungen
gefasst sein. In diesem Raum fallen Ideen vom Himmel und versinken im Schlamm,
so dass nie ein Blick von droben sie erreicht: das bedeutet, von ihrer
Funktion der Blicklenkung her betrachtet, ein Desaster, und so ist es wohl auch
gemeint. Und doch sind sie weiterhin da, nicht anders als der Engel, der
sich an das Formlose verlor und sich auf den Grunde eines Albtraums
wiederfindet: niemand, außer dem Dichter, würde ihn weiterhin einen Engel
nennen.
Dieses Dasein außerhalb der angestammten, sei es ererbten, sei es
erarbeiteten Sphäre, ohne Sinn und Funktion, ist das eigentlich Erschreckende.
Es spiegelt sich in der Schreckhaftigkeit der Figuren, denn sie sind ja, so wie
sie dastehen, bloß Spiegel der Situation, nichts weiter. Immerhin, diese
kämpfen noch, wie der Schwimmer im Malstrom oder der
Unglückliche, der Licht ins Dunkel seiner Schrecken zu bringen versucht. Hier
taucht auch das Wort vergeblich auf, dem bald darauf der
Hoffnungslose auf dem Weg in den Abgrund korrespondiert. Es sind
Figuren der Vergeblichkeit, die über allem steht, was sich noch der Suche nach
einem Ausweg verpflichtet weiß. Dabei fällt einem Dantes Inferno ein, das ist
legitim, aber nicht ganz, da Dante das Privileg des Aufstiegs genießt und auf
seinem Weg an die Spitze der Pyramide alle Register zieht. So etwas ist in
dieser Hölle oder vielmehr in dieser Sammlung von Höllen nicht vorgesehen.
Langsam tasten wir uns voran.
Das Unbehebbare
6
Packeis
Zu den Motiven, die der abendländischen Seele eingebrannt sind, gehört der Anblick berühmter, unterwegs zum Nordpol im Packeis festgefrorener Schiffe, Ausgangspunkte historischer Expeditionen, gelegentlich auch in den Tod. Im Vers mutiert so ein Schiff zur Person, die Häftlingsqual
erleidet – es handelt sich, wie gleich darauf mitgeteilt wird, um ein
Sinnbild, das letzte in dieser Reihe, und das muss einen Grund haben,
einen guten Grund, der vermutlich im Fehlen aller Absichten liegt, denn ein
Schiff bleibt bei alledem ein Schiff, die leere Hülle einer weitergezogenen
Intention: intentionslose Qual wäre also das Äußerste, was die darstellende
Phantasie hier zu leisten im Stande ist.
Wir alle kennen die Momente plötzlicher Verdüsterung – Dürers
Melencholia I – und das Krankheitsbild ›Depression‹, in dem
allerdings weniger die Qual als vielmehr die Freudlosigkeit nebst
einigem anderen den Takt angibt. Wenn jedoch die Koordinaten der
Wirklichkeit – der simpelsten Alltagswirklichkeit, wir sprechen
hier nicht von metaphysischen Einsichten – sich in den Bereich
äußerster Hoffnungslosigkeit verschieben, wenn jeder Tag, jede
Stunde eines Daseins, gemessen an dem, was als der normale Gang der
menschlichen Dinge angesehen wird, eine Verletzung darstellt … in
einem solchen Fall nähme man, genau genommen, eine unangemessene
Verdopplung vor, wollte man die damit verbundene Wahrnehmung einem
Krankheitsbild, etwa dem der Depression, zuordnen. Man nähme,
schlicht gesprochen, das Leiden nicht ernst, man verschöbe es, sagen
wir es ruhig, in den Bereich einer subjektiven Entgleisung und fügte
damit ein Leid zum anderen: man verhöhnte die Opfer. Warum dieser
Ausflug? Was ich sagen möchte, ist: wir nähmen die Aussagen des
Gedichts nicht ernst, wollten wir es als eine Aneinanderreihung von
psychischen Zustandsbeschreibungen – oder, wie der Dichter es
nennt, von Sinnbildern psychischer Realität – betrachten,
womöglich nach dem Motto: am Ende ist alle Realität psychisch. Das
Umgekehrte ist der Fall. Am Ende ist alle psychische Realität die
Antwort auf ein wirkmächtiges, unterwerfungshungriges, jedenfalls
dominantes Sein:
Ein finster-helles Tête-à-tête,
in dem das Herz sich selbst bespiegelt…
Warum sich selbst? Natürlich sich selbst, denn es
reproduziert die Ausweglosigkeit dieses Seins notgedrungen, andere
würden sagen: notwendig als die eigene, in einem
aussichtslosen Sturmlauf, die Not zu wenden.«
Das Unbehebbare
7
Das Ende Utopias
―An dieser Stelle angekommen, lassen Sie uns einen Schritt
zurücktreten. Ich habe bisher den Eigennamen Baudelaire verwendet,
als wollte ich damit etwas über das Gedicht sagen: ›Baudelaire
stellt fest, Baudelaire behauptet…‹ Von dieser Redeweise möchte
ich jetzt nachdrücklich Abschied nehmen. Warum mache ich das? Ich
mache es, weil sie einen verfälschenden Faktor ins Spiel bringt, als
habe die Subjektivität oder auch die Psyche des Verfassers an dem,
was da ausgesagt wird, einen entscheidenden Anteil. Ich wechsle also
den Bezugsrahmen, in dem ich mich bewege, und bitte Sie, mir zu
folgen.
Wohin, werden Sie fragen? Sie kennen das neunzehnte Jahrhundert,
also den kulturellen Bezugszeitraum dieses Gedichts, als eine Zeit
positiver Ideologien, unter denen insbesondere die sozialistische
mitsamt ihren Spielarten Ihnen allen noch wohlvertraut ist, weil sie
im zwanzigsten zu einer der zwei, drei Weltgestaltungskräfte
aufschoss. Was macht der Sozialismus, speziell in seiner
marxistischen Spielart? Er legt die durch den Fortschritt der
Naturwissenschaften, insbesondere die Einsichten Darwins, löchrig
gewordene christliche Heilsgeschichte auf die profane Geschichte um,
das heißt, er weist der Hoffnung, der schönen Flamme Hoffnung, ein
Ziel zu, das irgendwo zwischen einer paradiesischen Ursprungsutopie
und den Engelschören eines von falschen Tendenzen gereinigten
Jenseits schillert. Das ganze neunzehnte Jahrhundert, lassen Sie mich
das so sagen, geht einer herrlichen Menschheitszukunft entgegen.
Selbst Nietzsche, der das Täuschungssystem durchschaute oder zu
durchschauen vorgab, beugt sich ihm mit der Zugabe des Übermenschen
am Ende doch. Das Knäuel der menschlichen Widersprüche löst sich
im Übermenschen und so siegt die Utopie selbst bei ihrem schärfsten
Kritiker.
Das Unbehebbare
8
System Erde
Unser Koordinatensystem sieht anders aus. Die Wissenschaft, um es
ein wenig plakativ zu sagen, hat den schweren Goldrahmen der
Menschheitsgeschichte um unser Selbstverständnis entfernt und die
Geschichte des Systems Erde an seine Stelle gesetzt. Dabei ist sie
nicht stehengeblieben. Wenn wir Menschen den Blick jetzt auf den
gestirnten Himmel Kants richten, dann sehen wir uns als Reisende
innerhalb eines Gesamtsystems, das man nach altem Brauch noch immer
›Kosmos‹ oder ›Universum‹ nennt, obwohl es doch etwas ganz
anderes ist. Viele haben begriffen – und begreifen täglich mehr –,
wie fragil unsere Reiseplanung ist, verglichen mit den Kräften,
denen die Reisenden ausgesetzt, und wie winzig die Zeitspanne,
in der solche Reisen überhaupt möglich sind. Der Ausbruch eines
Supervulkans, ein Meteoriteneinschlag oder eine schleichende
Verschiebung im klimatischen Sektor, sie alle können das Leben der
Gattung Mensch – und nicht nur ihres – binnen kurzem vernichten
oder sie auf ihre krudesten Anfänge zurückwerfen. Und verglichen
mit den Großzyklen der Erdentwicklung sind das Marginalereignisse.
Die nächste Eiszeit kann morgen anbrechen oder in tausend oder
zehntausend oder hunderttausend Jahren, das macht, erdgeschichtlich
gesehen, keinen Unterschied. Es ist ganz normal. Der Mensch
ist eine winzige Episode in einem System aus Systemen, von denen
jedes einzelne ihn in jeder Dimension übersteigt.
Das Unbehebbare
9
Die Abenteuer der Menschheit sind die Abenteuer des menschlichen Gehirns
Einen Unterschied macht es hier oben, in Ihrem und meinem Gehirn.
Nicht der Kapitalismus, sondern der Mangel und die Physik haben den
wissenschaftlichen Sozialismus in Rauch aufgehen lassen. Wir können
natürlich von der einen Menschheitsfamilie träumen, die sich
angesichts der um sie lauernden Gefahren solidarisch aneinander
drückt. Doch Soziologie und Psychologie sagen etwas anderes. Die
zentrifugalen Kräfte der Menschheit sind stärker als die
zentripetalen. Wenn man bedenkt, dass Fu noch streng wissenschaftlich
träumte, im kommenden Weltalter der Harmonie würden die Weltmeere
sich in Trinklimonade verwandeln, die Pole zum Entzücken der
Menschheit ergrünen und die Raubtiere des Planeten sich als
friedliche Schoßhündchen den neuen Umgangsformen anpassen, dann
spürt man schon einen Hauch des gewaltigen Wandels, der hier
innerhalb ganz weniger Generationen stattgefunden hat.
Das Unbehebbare
10
Kränkungen. Die vierte
Zurück zu jenem finster-hellen Tête-à-tête, an dem wir
die Lektüre des Gedichtes abbrachen. Das naturwissenschaftliche
Weltbild ist Realität, aber ist diese Realität lebbar? Wir müssen
uns dieser Frage stellen, denn sonst verstehen wir möglicherweise
nicht, in welche Dimension das Gedicht seit seiner Entstehung
hineingewachsen ist. Dieses Gedicht, sage ich, ist über ein
Jahrhundert lang unaufhörlich gewachsen, so dass sich heute an ihm
etwas ablesen lässt, was sich damals vielleicht in einigen wenigen
Gehirnen abzuzeichnen begann, aber sicher nicht in denen der Massen
und ihrer Einpeitscher. Bekanntlich hat sich wenig später Freud
etwas nonchalant über die drei Kränkungen des
Menschheitsbewusstseins ausgelassen, darunter die kosmologische.
Allerdings meinte er damit nur die kopernikanische Wende, deren
weltverändernde Bedeutung man gewiss nicht unterschätzen darf, die
aber doch kaum die schillernde Oberfläche des Bewusstseins ritzt,
mit dem wir heute geschlagen sind. Ja, es geht um Bewusstsein, denn
natürlich lebt die Menschheit weiter und alles scheint oberflächlich
intakt zu sein. Dann kommt so ein Virus daher und alle sitzen auf den
Bäumen. Da ist mit Händen zu greifen, dass etwas nicht stimmt.
Das Unbehebbare
11
Ist das naturwissenschaftliche Weltbild lebbar?
Wenn ja, in welcher Weise? Wenn zur menschlichen Grundausstattung, den basics,
die Hoffnung gehört, Elpis, wie die Griechen diese Göttin nannten,
dann ist eine Welt, in der auf lange Sicht – die nur statistisch
gesehen lang ist, realiter aber völlig im Ungewissen schwebt –
alle Hoffnung verloren geht, nur als Störung des natürlichen
Bewusstseins erleb- und verkraftbar. Mag sein, dass den meisten
Leuten die Aussicht auf ein arbeitsfreies Wochenende oder auf ein
Bierchen am Abend, am liebsten in lauer Sommerluft, ausreicht, um
ihre Hoffnung Gassi zu führen, doch ganz sicher darf man sich auch
da nicht sein. Menschen sind Weltmeister im Verdrängen. Was der
Dichter Herz nennt, das nenne ich ein respondierendes Organ:
die Welt spricht und das Herz gibt Antwort. Wie spricht die Welt? Sie
spricht als das, was sie für uns ist. Das mag für jeden etwas
anders aussehen, aber in den wesentlichen Zügen gleicht es sich wie
ein Frühstücksei dem anderen.
Das Unbehebbare
12
Die Erlösung, die Kunst und das Böse
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass das, was ich Ihnen
im Folgenden vortrage, reine Spekulation ist, allerdings auf der
Grundlage dessen, was wir, rein empirisch, über die Psyche wissen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, lautet so ein Spruch, den alle
kennen. Da ist was dran. Wenn sie keine Nahrung bekommt, dann wird
sie ihren, sagen wir … Stoffwechsel entsprechend umzustellen
versuchen. Die Hoffnung der Hoffnungslosen besteht darin, das
Ausweglose als ein perfides Spiel zu begreifen. Eine Welt, die, nach
Maßgabe der Erfordernisse der menschlichen Psyche, nicht richtig
ist, kann nur verstellt sein. In ihr gelten, so die naheliegende
Vermutung, Regeln, die willkürlich festgesetzt wurden und daher nur
für die Dauer des Spiels in Kraft sind. Sie alle kennen das
Stockholm-Syndrom? Voilà, hier
kommt es: im tiefenenttäuschten Herzen ersteht ein trüber
Stern, der sich
alsbald als Irrfeuer
erweist, wie sie die Bewohner
entlegener Küstenstriche einst verwendeten, um Schiffe anzulocken
und stranden zu lassen, damit man sich ihrer Fracht bemächtigen
konnte – und dieses Irrfeuer, so sagt es fortfahrend der Text, ist nichts anderes als die Fackel
Satans, dessen Gunst uns Linderung verheißt,
mithin die Hoffnung aufleben lässt, die sich nun auf den Spieler,
Maxwells arglistigen Dämon richtet, dessen Handeln sich die Misere
verdankt. Das ist der Mechanismus. Und wenn es im Gedicht heißt, die
wahre Kunst
finde hier ihren Ursprung, dann
heißt das nur, dass kein gefühlsbewehrter Gedanke jemals
über diese Konstellation
hinausgelangt.
Irrfeuer, tückisch, infernal,
die Fackel Satans, dessen Gunst
uns Linderung verheißt und wahre Kunst – La conscience dans le Mal.
Das Unbehebbare
13
Im Käfig des Bewusstseins
In der letzten Zeile sehen wir dann das Wort Bewusstsein auftauchen.
Das bedeutet: alle wahre Kunst ist Bewusstseinskunst. Es bedeutet
aber auch, dass Bewusstsein, gleichgültig, was Physiker und
Metaphysiker dazu sagen, unhintergehbar ist. Alle Dramen der
Menschheit, so real sie sich anfühlen mögen, spielen im Bewusstsein.
Vielen Menschen kommt das absurd vor. Aber das liegt nur daran, dass
sie sich der Sache nicht genügend bewusst sind. Das Bewusstsein
wiederum bietet zwei Auswege aus dem Menschheitsdilemma an. Der eine
ist metaphysisch: dann wird der Spieler zum Gegen-Spieler, zur
satanischen Macht hinter den Erscheinungen, die sich im Aufruhr gegen
die wahre Ordnung der Dinge befindet, kurz: der (oder das) Böse. Der
andere ist empirisch und etwas komplizierter zu verstehen. In diesem
Fall kann es nur einen menschlichen Spieler – oder mehrere
seiner Art – geben. Menschlich sein und unmenschlich agieren, das
ist auch eine Definition von Gestörtheit, von Abnormität – von
Empathielosigkeit, um es weniger feierlich zu sagen. Diese Welt
wird von Psychopathen, von Menschen ohne Empathie beherrscht: so
lautet der Ausweg, den diese Fraktion gefunden hat, wobei die Grenzen
der Herrschaft je nach Untergruppe verschwimmen. Bei den einen sind
es die falschen Wissenschaftler, die dem materialistischen Dogma
nachlaufen, bei den anderen die geheimen oder offenen Diktatoren, die
ihre Länder verderben, bei den dritten die Geldmenschen als die
rationalsten Spieler von allen, die durch ihr Hamsterverhalten das
irrationalste aller Spiele am Laufen halten. Auch sie sind
zusammengenommen das Böse, aber, wie gesagt, auf strikt
empirischer Grundlage.
Das Unbehebbare
14
Meine Bitte: Bewahren Sie die Freiheit!
An dieser Stelle verlässt uns das Gedicht, jedoch nicht ganz. Auf
der einen Seite ist Satan darin eine quicklebendige Figur und der
ehrwürdige Teufelspakt spukt vernehmlich herum, auf der anderen
überwiegt die empfundene Qual und eine Identifikation mit dem
Quälgeist ist nirgends in Sicht. Also ist auch hier alles
Bewusstsein. Unter Druck, so verstehen wir, treibt das Bewusstsein
spekulative Blüten, die ebenso rasch verwelken könnten, ließe der
Druck nach.
Daran lassen sich zwei Fragen knüpfen: erstens, wie
könnte man Druck aus dem Kessel nehmen, und zweitens, in welcher
Weise hängen eigentlich Bewusstsein und Welt zusammen? Die Antwort
auf die erste Frage können wir erahnen, wenn wir auf die letzte
Lebensphase von Menschen wie Hölderlin oder Nietzsche blicken, also
von Menschen, in denen das Allgemeine zur beherrschenden psychischen
Realität anwuchs. Heute gibt es, wie jeder weiß, Medikamente, mit
denen sich solche Effekte zuverlässig dosieren lassen. Die zweite
lässt sich vielleicht besser betrachten, wenn man bedenkt, dass die
Menschen zwar Gefangene ihrer Weltbilder sind, aber doch nicht ganz –
schließlich sind auch die Weltbilder in stetem Fluss und jeder
Gedanke, selbst der geringste, der an sie verwendet wird, arbeitet,
sofern er nicht bloß eine leere Wiederholung darstellt, an ihrer
fortlaufenden Metamorphose.
Der wirkliche Weltbezug liegt also nicht
im scheinbar übermächtigen Weltbild, sondern in der Freiheit des
Denkens. Die wahren Menschenfeinde sind die Feinde der
Denkfreiheit. Das möchte ich Ihnen doch in diesen belastenden
Tagen mit auf den Weg geben. Ob Sie diese Freiheit dann menschlich
oder göttlich nennen, kommt auf dasselbe heraus, solange sie mit den
kosmischen Kräften im Bunde bleibt, die letztlich nicht den Kosmos
intendieren, den wir zu kennen glauben, sondern … etwas darüber
hinaus.«
Die kesse Plastik-Lola, Uncle Sam’s Zylinder schräg auf die Locken gedrückt, schwingt ihr Bein über die Balustrade und auf dem lärmenden Bühnenhintergrund schimmert, als habe er die Feuchtigkeit sämtlicher alter Gemäuer der Stadt in sich aufgesogen, der Schriftzug:
Dies ist eine Original-Live-Übertragung aus unserem Haus in der Planckstraße. Bitte achten Sie darauf: Abstand, Anstand, Kopfstand. Wir wünschen Ihnen … Bleiben Sie gesund.
Monsieur Lamort, ganz ins rechte Eck zurückgezogen, sitzt in der ersten Reihe.
Text: Alf C. Hanbüchl
CABARET
KAKTÜSSCHEN
GESUNDHEITSMEISTER 1 . GESUNDHEITSMEISTER 2
Ich esse meine Grütze nicht. Nein, meine Grütze ess’ ich nicht.
Sie sind ein unartiges Kind. Wir könnten Sie einweisen und Ihren Gesundheitszustand überprüfen lassen. Wir haben es zur Pflicht
des Universums erklärt, sich an dieser Grütze, wie Sie sagen, zu
überfressen. Die Milchstraße soll sich damit bekleckern, der Orion soll sein
Fett abbekommen. Wir haben genug Stoff in unseren Tanks.
Im Universum der Spießer ticken die Uhren anders.
Wir schicken Ihnen die Spießer auf den Hals. Dann können Sie das unter sich klären.
Woher haben Sie die Sicherheit, dass dieser Stoff, wie Sie sagen, das
Universum, wie Sie sagen, vom angekündigten Übel, wie Sie sagen, auch
wirklich erlösen wird, wie Sie sagen?
Die Wissenschaft erklärt uns, was zu tun ist. Das ist ungemein
praktisch. Leider sagt sie uns nicht, wie es zu tun ist. Alles eine Frage der Durchsetzung.
Was ist Wissenschaft? Alles, was Zweifel schafft. Haben Sie den
Beipackzettel studiert? Er ist lang. Sehr lang. Und er wird täglich
länger. Ich sage nur: Hier. Und hier. Und hier.
Wir nehmen den Menschen in die Pflicht.
Sie nehmen den Menschen in die Pflicht und als Garanten
dafür, dass alles in den richtigen Bahnen verläuft, nehmen sie die Gier.
Nennen Sie’s Gier, nennen Sie’s Gemeinnutz.
Gemein ist beides. Wenn schon Eigennutz, dann Eigennutz aller.
Haben Sie nicht gerade angedeutet, mein Eigennutz zähle nicht?
In die Grütze, wie Sie sie nennen, haben die Hersteller soviel Gier wie
möglich gepackt. Mehr Gier geht nicht. Jeder Tropfen schreit nach
mehr mehr mehr Rendite. Nein, nicht allein für die Produzenten.
Das wäre zu kurz gedacht. Für alle, die den Leidenden zur Hilfe
eilen, um ihnen in den harten Zeiten, die manche für die dunklen
halten, beizustehen. Der leidende Mensch ist der beste, mein Bester.
Aber gleich dahinter kommt der Gierige, der ihn von seinen Leiden
zu erlösen trachtet und dabei weder Zeit noch Mühen noch Regierungsknete
scheut.
Na dann.
Sie nehmen die Masken ab.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 1 Haben Sie eigentlich?
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 2 Bin ich debil?
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 1 Das Schlimmste wäre geschafft.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 2 Das Schlimmste ist immer einfach.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 1 Vor uns liegt das Schlimmere.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 2 Ich warne dringend vor den Folgen.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 1 Mit viel Mut wird alles gut.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 2 Sie werden die Welt in Grütze ersticken und erklären: Wir haben das Schlimmste verhütet. Dann werden sie verkünden: Grütze ist der neue Mensch.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 1 Ein bisschen Grütze könnte nicht schaden.
EHEM. GESUNDHEITSMEISTER 2 Das fällt Ihnen aber spät ein.
CABARET
KAKTÜSSCHEN
GESUNDHEITSMEISTER 1 . GESUNDHEITSMEISTER 2
Gesang der Angepassten über den Wassern
Heilige Grütze
Kämpfe für uns
Lass uns gemeinsam Antikörper bilden
Und jene Zellen, die sie Killer nennen
Samt jenen, welche unsere Rechte killen
Die droben hangen unveräußerlich
Sie brauchen weder dich noch mich
Erlöse uns von den Neurosen
Schenke uns schöne Dosen
Spül uns warmes Geld in die Kassen
wer auf dich verzichtet der sei gerichtet
◙
CABARET
KAKTÜSSCHEN
◙
CABARET
KAKTÜSSCHEN
BAUBO IM MÜTTERLICHEN ORNAT. TROLL.
… dann müssen die Verkehrsbetriebe eben klimaneutrale Busse anschaffen. Das wird ja wohl nicht so schwierig sein. Seit Tagen atme ich Stickoxid. Kann mir mal jemand sagen, warum das noch immer so ist? Ich meine, wir können das nicht auf die lange Bank schieben, wenn wir es jetzt nicht angehen, wo führt das hin? Direkt in die Katastrophe. Ich warne vor der Katastrophe, ich warne jeden, der mir über den Weg läuft, wir alle müssen unsere Hausaufgaben machen, her mit den Zertifikaten. Ich lach mir ins Hemd, wenn ich denke… Gendern Sie, ja natürlich, auch in den Ministerien, nehmen Sie sich die Freiheit, wenn wir das jetzt nicht machen, verblasst der Planet. Sollen sie ruhig umdenken da draußen, das schadet gar nichts. Umdenken hat noch keinem geschadet. Ihre neue Rolex? Sehr schön, sehr gediegen. Wir fahren die Wirtschaft runter, dann fahren wir sie wieder hoch. Ja, das kann man ausrechnen, ich bitte darum. Nehmen Sie meinetwegen ein Lineal, warum nicht? Ich brauche Ergebnisse. Sie … ach, erfreut. Das ist Ihr Studio? Großzügig, ganz großzügig. Wegen der Abstandsregel? Na also, das klappt doch. Ein Theater, sagen Sie? Hübsch. Und schon Zuschauer. Seien Sie nicht zu sorglos, wir müssen demnächst wieder tiefer… Nein, spielen Sie, spielen Sie vor leerem Haus, warum nicht? Mich haben leere Häuser immer inspiriert. Sie haben so etwas … Verlassenes. Verstehen Sie, was ich meine? Das Verlässliche der alten Häuser rührt mich, ich finde darin etwas meiner Seele Verwandtes, jedenfalls … ja sicher betrachte ich mich als verlässlich. Ich schätze Verlässlichkeit über alles. Dafür bin ich bereit, durch die Finger zu sehen. Ja, ich sehe manchmal durch die Finger, erstaunlich, was man da sieht. Es fällt schwer, sich von bewährtem Material zu trennen. Obwohl, so schwer auch wieder nicht. Wissen Sie, ich habe mir nie einen Menschen zurück gewünscht. Weg ist weg. Wohin sie gehen? Das entzieht sich meiner Kenntnis, das könnte ich Ihnen jetzt so gar nicht sagen.
Ich möchte Ihnen was zeigen.
Was Sie nicht sagen. Das ist jetzt nicht so mein Ding, aber wir können uns das mal anschauen.
Darf ich…?
Sie dürfen. Sagen Sie nicht, das soll ich sein. Ein Maskottchen? Sie sollten Satire machen, rufen Sie bei Gelegenheit an. Aber wir brauchen Zahlen. Liefern Sie mir Zahlen und ich kann Ihnen sagen … ich kann Ihnen sagen … nein, stecken Sie das weg, das ist ja eklig. Ich sage immer, liefern Sie mir verlässliche Zahlen, dann liefere ich Ihnen verlässliche Politik. Wir haben das in Europa gemacht und jetzt machen wir es praktisch überall. Wichtig ist die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die müssen Sie herstellen. Sie können ein Land regieren und Sie können es totregieren. Wenn Sie ein Land totregieren, dann können Sie sagen, wir hatten recht. Vielleicht hatten wir ja auch recht. Aber das Leben verläuft eben nicht linear. Wir merken das schon im Parlament. Da ist eine Riesenbereitschaft zur Kooperation, das spüren wir, das brauchen wir, aber wir müssen auch den Einzelnen bearbeiten, darauf kommt es an. Und wir müssen ihm oder ihr, wir gendern ja jetzt, ein Angebot machen. Man muss die Menschen beteiligen. Das ist auch ein Deal. Wir leben im dritten Kapitalismus und bereiten den Übergang zum vierten vor. Eigentlich stecken wir schon mittendrin. Da muss dann eben der Mensch im Mittelpunkt stehen. Und dann darf sich eben nicht jeder wichtig nehmen.
Blumen? Aber nein! Das haben Sie gut erraten. Sagen Sie, wo kann ich sie hin…? Ah, der Papierkorb. Manchmal ist da eine Grenze und manchmal keine. Da kommt unsereins schon ins Grübeln.
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CABARET
KAKTÜSSCHEN
DIE DREI TROLLE
Isse weg? Herrlich!
Wir stecken das weg.
Eigentlich stecken wir mittendrin.
Wir leben im dritten Kapitalismus und bereiten den Übergang
zum vierten vor
Umfassend
Unter Einsatz aller verborgenen und nicht verborgenen Kräfte
Was ist der vierte Kapitalismus?
Das Paradies des dritten. Was dachtest du?
Nicht so wichtig.
Jetzt, wo wir alle als Einzelne ein wenig zurücktreten müssen,
damit die großen Linien hervortreten können.
Mit Hummer und Sichel. Vorwärts und nicht vergessen!
Du bist ja ein Sicherheitsrisiko. Dafür wirst du einen Monat gesperrt.
Arbeiten wir nicht alle irgendwie für die Sicherheit?
Mit Sicherheit
Gut fand ich auch den Witz von den verlässlichen
Zahlen.
Lass hören!
Auf schwankendem Grund erhob sich das zierliche Bauwerk.
Für einen Moment nur, dann stürzt’ es hinab in die Tiefe.
Doch schraubt’ es sich flugs darauf erneut in die Höhe.
An dieser Stelle
müssen wir
dem hochverehrten Publikum
eine Mitteilung machen.
Welche denn? Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt?
Gesperrt, mein Lieber. Wie ich schon sagte. Wir fangen an uns zu wiederholen.
Die Gagen sind verbraucht
Der Ingrimm verraucht
In Zeiten, in denen sich die Politiker die Pointen selber
schreiben und die Satiriker in der Kulisse hocken, um nicht erkannt
zu werden, weil ihre bekannt große Ansteckungskraft –
Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?
– ihre bekannt große
Ansteckungskraft im Übergang von der vierten zur fünften Phase des K zwar
nicht gefürchtet, aber als bio-negativ ausgegrenzt werden muss
in solchen Zeiten
ergibt es sich
dass wir die alte Troll-Oper gegenüber dem Quanzleramt wieder in
Betrieb nehmen werden. Wie zerronnen, so gewonnen. Satire ist, wie
wir erfuhren, wählbar. Also steigen wir ein in das Geschäft mit dem
Wähler. Infrastruktur wurde zugesagt. Das Quanzleramt scheint bereit,
es in den ersten Jahren an nichts fehlen zu lassen. Ab sofort nennen
wir uns DIE DREI STARTUPS und denken über den Börsengang nach.
Investieren Sie, solange Sie es sich leisten können. Die ersten
Jahre werden nicht einfach werden. Aber das kennen Sie ja. Manchmal könnte es so aussehen,
als würden Sie Geld verlieren. Das sind periphere Bewegungen, die nichts bedeuten.
Der Parlamentarismus, wie wir ihn kannten, ist perdü. Akklamation
ist das, was anliegt, und die Anleger freuts.
Das Beste von allem: unser Markenkern bleibt erhalten.
WIRKLICHER ALS DIE WIRKLICHKEIT, VERKOMMENER ALS DIE VERKOMMENEN,
WAHRHAFTIGER ALS DER/DIE/DAS WAHRHAFTIGE
Ich hoffe, dass wir uns noch einen Tusch leisten können. Ich hör
mal nach.
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CABARET
KAKTÜSSCHEN
CHANSONETTE
Rätsel
Die Glocke von Notre Dame
schert alle über einen Kamm.
Worum niemand sich schert
ist aller Mühen wert.
Zu Hamburg zäumt man ein Pferd
da geht alle Welt verkehrt.
Ein Ex namens Sinn
enthüllt den Spin.
Mehr war nicht drin.
Refrain
Die Muse vom Schiffbauerdamm
Zieht euch die Hosen stramm.
Eine Sphinx verstellt dir den Weg. Diese Aufgabe ist dir gestellt und du musst sie lösen. Die Menschheitsrätsel sind einfach, allein sie dulden keinen Aufschub.
Die Fremdheit des anderen
2
Diese Fremdheit ist etwas, das hergestellt werden muss
Das ist evident und es bedeutet eine kaum lösbare Schwierigkeit. Es meint das Verlassen des Nächsten, den leichtesten und schwersten Schritt in die religiöse Existenz. Grund: Die zerbrochne Kette.
Die Fremdheit des anderen
3
Der andere: du selbst in anderer Gestalt
Vertrauen wächst. Auf welchem Grund? Aus welchem Grund? Du vertraust der Welt, du vertraust dir selbst. Den Vertrauenszuwachs bringst du beim anderen unter. Denn so sehr vertraust du dir nicht, dass du ihn bei dir behalten wolltest. Vertrauen wächst am anderen. Du kannst auch sagen: es
wächst mit der Vertrautheit des anderen. (Misstraust du ihm, so ist auch das eine Art Vertrauen: Du kennst deinen Pappenheimer. (»Grenzenloses Vertrauen? Aber das wäre Selbstpreisgabe!«)
Die Fremdheit des anderen
4
Vertrautheit des anderen: Vertrautheit ohne Innensicht
Könntest du in den anderen hineinsehen, ohne das korrupte Zwischenspiel der Sprache oder die fatalen Vorspiegelungen der Physis dabei in Anspruch zu nehmen, dann wäre deine Welt eine andere. Da sie aber so ist, wie sie ist, bleibt dir nichts weiter übrig, als den anderen zu nehmen, wie du bist. Ehrlich gesagt, fährst du nicht schlecht damit. Du fährst nicht schlecht damit, solange du nicht an Grenzen stößt. Diese Grenzen können im anderen auffahren, zu jeder Zeit, aus jedem beliebigen Anlass. Es kommt dir nicht zu, sie einzureißen. Will heißen: das Vertrauen, dein schöner Vertrauensüberschuss, sicher angelegt im alter ego, genannt der andere, hat sich Hals über Kopf in nichts aufgelöst. So kann es gehen und so geht es.
Man kann, was hier Grenze heißt, auch ›Unfall‹ nennen. Unfälle gelten, bei aller Vorsicht, als unausweichlich. Sie werden durch Ereignisse ausgelöst, die man gern ›unvorhergesehen‹ nennt. Doch auch das enthält bereits eine ›subjektive‹ Perspektive. Weniges wurde so sorgfältig kartiert wie das Gebiet der zwischenmenschlichen Unfälle und ihre möglichen Ursachen. Genützt hat es nichts. Alle Verhältnisse stoßen irgendwann an eine Grenze: auf diese Banalität schnurrt das vorwärts gerichtete Wissen an dieser Stelle zusammen. Nur Fanatiker der Kipp-Punkte wissen im voraus Bescheid.
Die Fremdheit des anderen
5
Falsche Vertrautheit – notwendig und korrupt
Wenn es aber so gehen kann (und wirklich geht), dann ist es bereits so von Anbeginn, sprich: seit Beginn deiner Investitionen in diesen (und nicht nur diesen) anderen. So, aufs Ganze gesehen, sind sie irreversibel verloren. Nicht allerdings in der Zeit: solange du auf Zeit spielst (vermeide das Wort ›nur‹ an dieser Stelle, es ist ein Entwerter – lupus in fabula), solange wirst du in der Regel auch gut bedient. Die Regel lautet: Nicht zu weit oder: Geh nirgends an die Grenze. Das ist gut gesagt, da du nicht weißt, wo die Grenze liegt. Vielleicht liegt sie hinter dem Hügel da, vielleicht hast du sie soeben überschritten. Vielleicht allerdings…
Die Fremdheit des anderen
6
Falsches Selbstverhältnis: sich vom anderen her
definieren
Wie definiere ich mich? Das ist nicht so einfach. Und dennoch: nichts ist einfacher. Empfange deine Züge vom anderen und wie von Geisterhand gezeichnet taucht die vermisste Kontur im Spiegel auf. Der Popanz, der du bist, ist ein Produkt des Vertrauens, das du gibst. So einfach geht das. Oder vielmehr: So leicht wird es dir gemacht.
Die Fremdheit des anderen
7
Der andere besitzt Definitionsmacht über dich, weil du sie ihm einräumst
Wie kann das sein? Weil du das Verhältnis zwischen euch im Opaken belässt. Dein Vertrauen sagt: dieser Mensch ist reell. Unaufhörlich wiederholt es diesen Satz, bis du ihn glaubst. Aber was bedeutet ›glauben‹ an dieser Stelle? Es bedeutet, seinen Reden Gewicht beizumessen. Was immer er dir sagt, es wiegt stets ein wenig schwerer als die denk- oder hörbare Einrede, es wiegt schwer genug, um das Gewicht der Waage nach unten zu drücken. Er sagt es in dich hinein. Und irgendwann sagt er dir, was er von dir hält. Nicht offen, nicht direkt, nicht ins Gesicht, sondern indirekt, hinterrücks, gesichtslos: er drückt es aus. Wohin drückt er es? In dein Inneres, Dummerchen, dorthin, wo dein Selbstwertgefühl sitzt. Wohin denn sonst?
Die Fremdheit des anderen
8
Du: der andere in eigener Gestalt
Wenn du denkst, damit wäre es gut, musst du dich enttäuschen. In der Beziehung zum anderen bist du der andere. Nicht, weil du ihm deine Züge geliehen hast. Genau genommen, hast du ihm nichts geliehen. Du hast ihm alles gegeben, was ihm Festigkeit verleiht, und dieses Feste tritt dir nun gegenüber. Ihn verstehst du, aber verstehst du auch dich? Das ist die Frage. Das Selbst bleibt gestaltlos, du magst es rütteln, wie du willst. Es ist die eigene, sonst unzugänglich bleibende Gestalt, die dich am anderen besticht. Sie leuchtet dir ein: wie denn nicht? Wie könnte sie anders, da sie doch nun einmal nichts Fremdes enthält?
Die Fremdheit des anderen
9
Die Fremdheit der eigenen Gestalt erscheint im Medium
Dieser Satz macht einen Sprung. Von welchem Medium ist die Rede? Warum drängt es sich ins Wort? Die Antwort ist schlicht, sie liegt auf der Hand: vom allgegenwärtigen. Von ihm wäre auch dann die Rede, wenn es ausgespart bliebe. Wort, Schrift, Bild, Film: die Großen Vier haben den Sieg über die verorteten Sinne davongetragen und sorgen für die stetige Mitgegenwart des Anderen, den du realiter vielleicht selten oder nie zu Gesicht bekommst. Hier also ist er, eine Simulation, wie die Leute sagen, aber eine, die dich und mich überzeugt. Es ist aber eine Simulation. Gern überspringst du diesen Punkt, dabei verdient er es, festgehalten zu werden. In der Simulation wirst du dir fremd. Das liegt daran, dass du, als Körperwesen, über kein Organ verfügst, das Eigene am Anderen im Raum der Simulation zu erkennen. Der simulierte Andere ist der fremde Andere. Eine Aura ist über ihn verbreitet, die du zu leugnen, aber nicht wegzuschaffen vermagst.
Flößt sie dir Angst ein? Nein? Stört sie dich? Nein. Behindert sie deine Wahrnehmung? Nein. Wo liegt dann das Problem? Es liegt bei dir. Deine Selbstwahrnehmung stockt, sobald du in diese Kommunikation eintrittst. Der simulierte Andere verweigert dir die in jede direkte Kommunikation eingeschlossene Auskunft über dich, die du benötigst, um dich in ihm zu erkennen. Vielmehr, er verweigert sie nicht, sondern sendet ein verkürztes Signal, ein Rätsel, das dich narrt. Er macht dich zum Narren: das ist die Wahrheit des Mediums, die du dir gern unterschlägst. (Narrheit = Fremdheit gegen sich selbst.)
Die Fremdheit des anderen
10
Omnipräsenz des Mediums: Entfremdung der Gestalt, die du bist
Bedenke nun: die Omnipräsenz des Mediums, das zwischen alle und alles tritt, bis in die intimsten Bereiche zwischen Mensch und Mensch hinein, ein präzedenzloser Informationsrausch ohne Kopf, in artifiziellen Gehirnen, die keine sind, aber kritiklos von der Mehrzahl der Menschen dafür gehalten werden. Die totale Vermittlung ist die Totalität des Vermittelten. Das bedeutet: in der totalen Vermittlung verschwimmen die Grenzen zwischen dem Medium und seinen Inhalten. Sie werden – tendenziell, wie sonst? – ununterscheidbar. Der Mensch von der Straße bekommt damit ein Problem, das die Wissenschaft seit ihren Anfängen beschäftigt: die Selbstbezüglichkeit des Werkzeugs, die das natürliche Weltverhältnis des Einzelnen aussperrt. Der so vermittelte Andere ist der Fremde, der sich mit falscher Vertrautheit schmückt. Er lebt im Befremden, das von ihm ausgelöst wurde.
In der Wissenschaft ist dieses Werkzeug die methodisch eingesetzte Hypothese, das bedeutungszügelnde Als-ob, in der Medienwelt der die black box des Expertenwissens enthaltende ›Kasten‹, dem die Simulationen entquellen. Wissenschaften, die sich von ›Rechenleistung‹ abhängig machen, ohne sie von Grund auf zu beherrschen, kollabieren unbemerkt, während sie beim medialen Publikum ganz neue Triumphe feiern.
Die Fremdheit des anderen
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Du als Schemen zwischen den anderen
Was ist ein Schemen? Substanzlose Existenz. Ist dergleichen denkbar? Ohne weiteres: du musst dich nur an der Nase fassen. Wohin fasst du da? Ins Fleisch, wohin sonst! Dort, wo Ärzte Stäbchen einführen, um deinen Körper zu ›testen‹, spürst du den Sitz deiner Existenz. Aber Existenz verfügt über keinen Sitz; was du ertastest, ist nicht Existenz, sondern Widerstand. Als Körper, umgeben von Simulationen, erfährst du dich nicht länger als jenes fluide Wesen, das sich in seinen anderen mit Leichtigkeit erkennt, sondern als im Wortsinn ausgeschlossen: eine Tür ist ins Schloss gefallen und du bist draußen. Sie sind drinnen und du bist draußen. Sie sind, auch wenn dein Verstand es verneint, ›höhere Wesen‹. Anders als ihre Vorgänger, die Götter und Helden, repräsentieren diese höheren Wesen nicht die Welt, sondern machen sie untereinander aus.
Der Traum von der grenzenlosen horizontalen Kommunikation durch die Netze bricht sich an der unerwarteten Wiederkunft der Heroenwelt: dem Erscheinen, flackernd und plakativ, einer Schicht ›Unberührbarer‹, welche die öffentlichen Dinge unter sich austragen – nicht in irgendeiner Ferne, wie sie noch vor kurzer Zeit durch räumliche Arrangements beliebig erzeugt werden konnte, sondern in den lebenden Bildern, die jeder mit sich herumträgt und die ihm allerorts angetragen werden, so wie die mythischen Heroen samt ihren Taten fest in den Köpfen der Zeitgenossen präsent waren. In einem ähnlichen Sinn ist jeder, der im Netz begegnet, unberührbar – auch dann, wenn der Einzelne ihm Botschaften schickt und Botschaften von ihm empfängt, bei denen er nie sicher sein kann, wie viele Augen sie gerade mitlesen.
Die Fremdheit des anderen
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Der andere als Vertrauter: Verbündeter gegen das Medium /
Verbündeter im Medium / Versuch, das Medium auszuhebeln
Keine Bewegung ohne Gegenstoß. Die Welt der Simulationen ist so wenig dicht wie irgendeine andere. Plötzlich gewinnt die persönliche Begegnung an Wichtigkeit. Sie wird zum Haus der Direktheit, zum Zentrum des Widerstands wider alle mediale Vermittlung. Der vertraute Andere ist bereits per se Verbündeter in diesem unsichtbar hinter den Kulissen tobenden Kampf. Alles, was normal ist, entzieht sich dem medialen Irrsinn, soweit es kann. Denn auch diese ›neue‹ Direktheit ist weitgehend Simulation. Die vertrauten anderen, die sich zu entziehen wünschen, im Medium verkehren sie miteinander ›unter dem Siegel der Vertrautheit‹. Sie ziehen sich an virtuelle Orte zurück, an denen sie ungestört zu kommunizieren wünschen. Die Macher des Mediums bringen sich auf ihre Weise in Erinnerung, indem sie Löschtrupps durchs Internet schicken: ein gelöschtes ›Posting‹, ein geschlossener ›Account‹ verschreckt Tausende und schickt sie auf die enttäuschende Suche nach dem ›sicheren‹ Medium, das ihnen ›direkt‹ zu Gebote steht. Damit laufen sie der nächsten Simulation in die Arme.
Die Fremdheit des anderen
13
Zur Figur des Verbündeten: keine Kritik!
Zu allen Zeiten wurden aus Vertrauten Verbündete. Es bedurfte dazu nur eines Feindes: eines Feindes und einer Zweckfreundschaft, die sich ihm entgegenstellt. Der vertraute andere als Verbündeter unterläuft diese Konstellation – es sei denn, man lässt sich einfallen, das Medium als Feind zu betrachten, was definitiv falsch ist. Der Automatismus, der den vertrauten anderen zum Verbündeten umdeklariert, errichtet ein Anti-Regime zum Regime der fremden ›Höheren‹: das ist sein Zweck und seine ›Befugnis‹, außerhalb derer er nichts zu bestellen hat. Zwischen beiden tobt der Kampf ums Medium, nicht gegen das Medium. Wie immer sich einer dazu stellt, es geht um nichts anderes als ums im Medium fixierte Sagen. Das Verhältnis der ›Höheren‹ zu denen, die nicht dazugehören, entstammt dem üblichen Mix aus Ignoranz, Angst und Verachtung. Das Verhältnis der Verbündeten zu den ›Höheren‹ (der ›Elite‹: eine absurde, die eigene Pointe verkennende Zuschreibung) ist das der Kritik: Seid ihr schon unerreichbar, so seid ihr doch kritisierbar. Eigentlich seid ihr nichts weiter als das Ziel aller Kritik. Damit aber … damit ist der Grund der Verbindung, der Boden allen Verbündetseins die gegen jene gewendete Kritik. Kritik, geübt zwischen den Verbündeten, zerbricht das Bündnis immediat, das heißt auf der Stelle. »Weg mit dir«, heißt das, »geh in deine Blase.«
Die Fremdheit des anderen
14
Erste Folge: Der doppelte andere
Kritik ist das Salz der Erde. Ohne sie stockt alles. Sie ist der Treiber hinter jedem Gedanken, der gerade entsteht, auch dem geheimsten. Der Verbündete, tabu, wie er nun einmal sein soll, ist eine statuarische Gestalt, ein Pflock in der Landschaft. Zieh ihn heraus und du legst ihn flach. Nach und nach beginnt die Kritik auch hier ihr leises Spiel: nicht, um ihn zu ›vernichten‹, sondern um seiner selbst und um des Bündnisses willen. Aber diese Kritik bleibt unernst. Sie will nicht wehtun, weil sie nicht wehtun darf. Eigentlich darf sie gar nichts. Beide Seiten sind sich bewusst: schon der hingeworfene Satz »das sehe ich kritisch« kann zum Zerwürfnis führen. Es gibt keine Grenze zwischen erlaubter und unerlaubter Kritik. Es kann sie nicht geben. Kritik, wie immer sie sich präsentiert, ist gefährliches Spiel, ein Spiel mit dem Feuer. Die Spieler lernen schnell: man muss, wie üblich in Kriegs- und Krisenzeiten, durch die Finger sehen können. Was sieht einer, der durch die Finger sieht? Wunderlich anders jedenfalls, er könnte fast meinen, der doch so nahe andere sei mit einem Mal ganz anders als er selbst, also ein anderer anderer, also doppelt vorhanden: »Neinnein, du verkennst da etwas. Er ist ganz anders, als du meinst.«
Die Fremdheit des anderen
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Zweite Folge: Diese Person verkörpert deine Korruptheit in der Gestalt des Nächsten
Meinst du denn etwas? Was meinst du denn? Nichts meinst du, es sei denn … und schon schweigt das Meinen, man könnte meinen betreten, das mag schon sein. Diese Meinung, diese zurückgehaltene, sich selbst verschluckende Meinung, die darauf lauert hervorzuschießen, sobald die Gelegenheit sich günstig erweist, sie bleibt ja nicht untätig während der Zeit der Zurückhaltung, sie entert das Corpus des gemeinsamen Meinens und entwertet es leise leise … nicht von heute auf morgen, nicht von jetzt auf gleich, nicht von null auf hundert, sondern, du musst es so sagen, von Begegnung zu Begegnung. Der andere, in der Festigkeit seiner Überzeugung, erscheint dir nicht aufrichtig, seine ganze Existenz scheint wie gemacht, ihm zu widersprechen, er ist der Mensch, der sich etwas vormacht. Schon bekommt die zurückgehaltene, die heruntergeschluckte Meinung Auftrieb, denn was er sich vormacht, ist just das, an dessen Entwertung sie arbeitet: das Gemeinsame, das euch verbindet. Vielleicht merkt es der andere, vielleicht merkt er es nicht. Aber darauf kommt es nicht an. Dieses Drama spielt in dir selbst.
Die Fremdheit des anderen
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›Jeder ist sich selbst der Nächste‹
Hier kommt dann ›jeder‹ ins Spiel: der Unbekannte, der gern jede Rolle übernimmt. Denn Hand aufs Herz, in Wirklichkeit weißt du nichts. Das Drama, das in dir stattfindet, ist vielleicht nur das Wetterleuchten eines Prozesses, der im anderen abläuft. Ja sicher, so wird es sein. Ganz sicher muss es so sein, sonst wäre dein Treiben doch nichts weiter als ein Hantieren mit Haltlosigkeiten. Hier greift die Wahrheit des Satzes »Jeder ist sich selbst der Nächste.« Als Nächster, der du bist, bist du auch derjenige, der dem anderen seine Identität zuweist, denn du bist des Nächsten Nächster. Du bist der Allerweltsnächste, der weit über jeden Anlass hinaus ›einfach‹ Bescheid weiß. Spätestens mit dieser Volte beginnst du dich über den Verbündeten zu erheben. Hätte er bisher eine Chance gehabt, dir zu widersprechen und seine Sicht der Dinge an deinem Einspruch zu schärfen, so geht sie jetzt dahin. Wohin geht sie? Nun ja, dorthin, wo alle Chancen zu finden sind, die nie existierten, weil stets eine notwendige Bedingung fehlte.
Die Fremdheit des anderen
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Der Nächste ist die gültige Gestalt des Jedermann
Bedenke: nicht um Freundschaft handelt es sich hier, sondern um ein Bündnis, das zu keinem Zeitpunkt förmlich geschlossen wurde, sich vielmehr spontan unter dem fortlastenden Druck des Mediums bildet und erneuert. Die Verwandlung des Verbündeten in ›jedermann‹ könnte als Herabstufung oder sogar Erniedrigung aufgefasst werden. Dabei ist sie einfach ein Tribut an den Umstand, dass das Medium überall lastet. Euer Fall ist also nichts Besonderes, obwohl er genau so und nicht anders gelebt wird. Jedermann: Apotheose des Nächsten als ›Normalmensch‹.
Wenn Medienpräsenz die Menschen verändert (nicht bloß das Bild des Menschen, sondern den Menschen selbst, weil diese Form der Entrückung sich in den Lebensstil hinein fortsetzt und Denken und Reden nachhaltig prägt), dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Verlangen, sich unter normalen Menschen zu bewegen, sie mit der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu betrauen, sich sogar von ihnen regieren zu lassen, überhand nimmt. Der Normalmensch ist nicht die statistische Mitte der menschlichen Eigenschaften, sondern die schmerzhaft entbehrte Gegenfigur zu den abgehobenen ›Höheren‹ und damit ein aus dem Wunsch, Mensch unter Menschen zu sein, hervorgegangenes Desiderat.
Die Fremdheit des anderen
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Vergiss den Nächsten nicht / Vergiss nicht, dass du der nächste
bist
Der Gefangene der Netze hat zwei Optionen: er kann kämpfen, er kann sich ergeben. Angenommen, angesichts der Übermächtigkeit der Netze, die jeden wirklichen Kampf im Ansatz zur Farce verbiegt, liefe auch die ›Kampf‹ genannte Lebensart bloß auf eine Abart der Ergebung hinaus – was dann? Dann wäre der Nächste derjenige, an dem du das Erliegen der Abwehrkräfte studieren könntest, während er sich im Glanz seiner Überlegenheit sonnt. Nicht so vorschnell! Diese Überlegenheit, diese lebhaft verteidigte Überlegenheit … war sie nicht gerade noch deine? Wie konnte sie nur so schnell die Seite wechseln? Wie kann sie nur? So, bei Licht besehen, erkennst du sie jetzt genauer, bemerkst ihre Fadheit, die grauen Strähnen, die lichten Stellen. Alt, findest du, sieht sie aus. Aber nicht das ist es, was dich verstimmt. Diese Überlegenheit, findest du, ist fadenscheinig, man sieht überall durch sie hindurch, sie ist eine Illusion, die sich auflöst. Du siehst, dass die schiere Gleichgültigkeit der Netze ihr die Erscheinungsweise diktiert. Die vollkommen ignorierte Haltung ist nicht etwa ›eine Haltung zuviel‹. Sie ist ein zweifelhaftes Vergnügen. Du siehst also…
… nein, das siehst du nicht. Vielmehr hörst du, an dich gerichtet, die Silben »Gib’s auf!« und weißt, dass du dich niemals ergeben wirst und dass es gleichgültig ist.
Die Fremdheit des anderen
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Du bist der Nächste, der Verrat üben wird / Du bist nah daran,
Verrat zu üben
Es gehört zur Notwendigkeit des Kampfes, dass du seine Gleichgültigkeit einsehen lernst, da dies die Tiefe ist, die du mangels Fläche ausloten und gewissermaßen, um im Bild zu bleiben, erobern musst (denn dieser Kampf ist nur ›im Bild‹ und du weißt es). Die Eroberung aber vollzieht sich, daran führt kein Weg vorbei, in der Destruktion des Verbündeten, der dein Nächster ist, und aller Nächsten, die sich in seinem Bild verfangen, also auch deiner selbst. Das ist der Verrat an der gemeinsamen Sache, den die Sache selbst dir aufträgt: auf ihn gehst du zu, in ihn steuerst du hinein. Bloß der Weg ist verhängt.
Seit die dritte Wirklichkeit der Medien den Planeten überspannt, befinden sich viele äußerlich unauffällige Bürger ›im Kampf‹. Der simulierte Kampfmodus ist Haltung, die sich am Simulacrum entzündet (und darauf fixiert bleibt). Nicht gegen das Medium richtet sie sich, sondern gegen die durch sie vermittelte Welt. Die Medienmacher, des Effekts bewusst, feuern diese Haltung einmal subtil, einmal reißerisch an, sie selbst weisen ihr Ziele und Praktiken zu. Es ist nicht allein Wut auf die ›Höheren‹, die da nach außen drängt. Es ist kanalisierte Ohnmacht angesichts der offenkundigen Tatsache, dass die Medien ›genrestabil‹ sind und der Reigen des Immergleichen, soll heißen, des immergleichen Unheils, ins Unendliche fortgeht. So werden aus Töchtern und Söhnen der Arrivierten gelegentlich Argonauten, um im Erfolgsfall als Objekte medialer Aufmerksamkeit zu posieren.
Die Fremdheit des anderen
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Du bist der Verräter, der sich zurückholt / Der Hüter der Linie,
der sie im Geiste tausendmal überschreitet
Die Sache selbst: das ist der Primat der Kritik. Ihn aufzugeben bedeutet Ergebung. Der Kritik im Namen der Kritik Grenzen setzen, das Unantastbare (oder den Unantastbaren) neben dir in Position zu bringen, um der Erlaubtheit der Kritik willen, auf dass Kritik möglich sei, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand, nicht einmal ein Freund, kann das Opfer des Intellekts von dir verlangen. Wenn es also eine rote Linie gibt, deren Überschreitung das produktive Verhältnis zerstört, das dich an den Nächsten bindet, dann bist du gezwungen, das Unmögliche vollbringen: die Überschreitung als Nicht-Überschreitung. Zugleich Hüter und Wilddieb sein – das erinnert dich an etwas. Die Erinnerung schwankt, du selbst willst dich nicht vergreifen, es ist nur … es ist … das Erbe. Welches Erbe kann das sein? Dabei ragt es tief in dich hinein. Wie häufig hat die Empfindung, auf beiden Seiten des Vorhangs tätig sein zu müssen, dein Handeln bestimmt? Du kennst die Aufgabe, sie ist nichts Besonderes, sie ist dir seit jeher vertraut.
Die Fremdheit des anderen
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Wie kommt der Verrat ins Spiel?
Ganz einfach: du siehst den anderen, der zum Verbündeten wurde, den Verbündeten, der als Nächster du selbst bist, als sei er der Nächste nicht. So groß ist die Macht des Mediums, dass es durch bloße Berührung den Nächsten zum Verschwinden bringt. Es gaukelt dir sein Konterfei vor und unvermittelt ist er der substanzlose Fremde. Nein, das ist kein einfacher Vorgang, kein Geschehen auf Knopfdruck. Es ist ein Hin und Her, in dem sich die innere Wahrnehmung wundläuft. Währenddessen gaukelt dir kindische Befriedigung über die smarte Kommunikation vor, alles verlaufe in den richtigen Bahnen. Schweig, Sensibelchen, schweig! Aller Technikgebrauch verlangt nach einer gewissen Robustheit. Das und nichts anderes meint die Parole Think positive! Denn im anderen Fall bist du der Geleimte. ›Think positive!‹ bedeutet: Sei bereit! Nicht nur der Nächste geht in dieser abrufbaren Bereitschaft unter. Eher schon handelt es sich um einen Kollateralschaden. Und dennoch geschieht es an dieser Stelle: der Nächste als substanzloser Fremder ist die Figur, in der du dein Vertrauen in den anderen, das heißt, in dich, hintergehst.
Die Fremdheit des anderen
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Was zeigt sich hinter dem Vertrauen?
Nichts? Misstrauen? Die Allmacht des Mediums. Es zermalmt euch beide im Nu.
Was heißt hier ›zermalmen‹? Eine Auskunft lautet: das Medium dehumanisiert. Das heißt, die Flinte allzu voreilig ins Korn zu werfen. All diese Vorgänge spielen im menschlichen Bereich, sie sind ungewohnt für die Psyche, aber nicht fremd. Ungewohnt heißt, die – falsche – Gewöhnung an sie erzeugt Stress, der nicht weggeht. Das hat den Menschen, die gierig nach den Smartphones griffen, um ein Glied der Gemeinde zu werden, niemand gesagt: der Mensch des digitalen Zeitalters ist Patient.
Die Fremdheit des anderen
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Der andere und die Moral
Es kommt der Augenblick (er ist schon tausendmal gekommen, um spurlos vorbeizuziehen), es kommt der Augenblick der Moral. Es ist der Augenblick der Entscheidung im Angesicht der riesigen, auf dich, auf ihn gerichteten Apparate: eine falsche Silbe und wer immer sie ausspricht, wird von ihnen gerichtet. Mag sein, ihn würde sonst sein Gewissen richten, gesetzt den Fall, dass er sie nicht auszusprechen wagte: das ist unergründbar. Im ersten Fall wirst du beobachtet, im zweiten wärest du der Beobachter. Dann, genau dann verkörpertest du das Gewissen: du würdest ihn richten, ebenso wie er dich, denn ihr beide befändet euch in derselben Falle.
Der Augenblick der Moral ist unausweichlich. Bloß Zeit und Umstände wechseln. Man muss das verstehen – auch und gerade gegenüber der Singularität des Falls, die ihm Überlebensgröße verleiht. Diese scheinbare Überlebensgröße ist bereits ein Effekt der Moral. Im Kybrium, dem Zeitalter der digitalen Netze, ist Moral einer der großen Player. Wer den sozialen Tod riskiert, der hat auch das Zeug dazu, unter die medialen Götter aufzusteigen. Das wird nicht immer verstanden. Warum auch? Es gehört zum verborgenen Mechanismus.
Die Fremdheit des anderen
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Der andere als Nächster ist die Moral, in eine Person gefasst
Die Moral des Kybriums lautet: Exponiere dich! Der ausgestellte Mensch ist der beste. Er personifiziert die Moral – unter der Bedingung, dass er jegliche Vorsicht außer Acht lässt, die den medialen Verkehr regelt. Das unterscheidet den, der das Wagnis auf sich nimmt, von den typischen Repräsentanten der Medienmoral, die sich der Bandbreite der genehmen Äußerungen wohl bewusst sind. Nicht immer ist der Unterschied nachvollziehbar – jedenfalls nicht ›objektiv‹ und in Echtzeit –, daher zählt für die Zuschauerwelt der Spurt in die überzeugendste Pose. Demnach ist das Medium eine Art Spiegel, die das Bild des Nächsten zurückwirft: seitenverkehrt, aber moralaffin. Der blind supponierten Moralität des Nächsten antwortet die geballte Moralität der Entrückten. Jener soll sein, was diese scheinen sollen und wollen. Wer hier entscheiden wollte, was primärer Impuls und was Reaktion ist, käme rasch ins Grübeln. Auch das unterstellte Sein des Nächsten antwortet einem Scheinen, das nichts als Sein sein soll. Damit aber…
Die Fremdheit des anderen
25
Die unterstellte Moralität des Nächsten ist deine Moralität als Projektion
… ist es eine Täuschung, eine Zugabe an Vertrauen, die durch nichts gerechtfertigt ist, es sei denn, sie wird als Kredit gewährt, bis auf weiteres, zu begrenzten Zwecken. Aber dann ist schon nicht mehr der Nächste gemeint, sondern der nächstbeste Gekaufte. Der wahre Nächste lebt von deiner Substanz. Man kann auch sagen, er ist diese Substanz als von dir getrenntes Vexierbild. Damit lebst du gut. Er offenbar auch.
Die Figur des ›wahren Nächsten‹ hat etwas Zwiespältiges. Einerseits entspricht sie dem Urbild aller ›Beziehung‹, andererseits existiert sie, jedenfalls in moralischer Hinsicht, auf deine Kosten. Wenn es dich glücklich macht…! So stürzen sich Menschen ins Unglück oder, vorsichtiger gesprochen, so kommt das Unglück unter die Menschen. Nicht als sei es ihnen nicht geweissagt worden. In dieser Hinsicht ist der mediale Raum ein Raum der Weissagungen. Es gibt kein Unglück, das dort nicht Gesicht zeigte.
Die Fremdheit des anderen
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Die moralische Person lässt diese Projektion zerschellen
War der Schock abzusehen? Deiner Vermutung nach: nein. Die Gesetze Kybriens lassen keine Ausnahmen zu. Diese Herrschaft durch Technik, einmal installiert, gilt absolut. Naiv die Annahme, zu einer guten Stunde könne ein moralischer Mensch das Medium entern und das hohle Fremde verjagen. Räuber Hotzenplotz spielt auf anderen Bühnen. Wie jeder andere auch ›erscheint‹ der moralische Mensch in den Medien (obzwar nur in den ›alternativ‹ genannten, für die ›offiziellen‹ ist er für gewöhnlich tabu) und unterliegt damit den Bedingungen dieser Scheinwelt. Auch er ist also ›Produkt‹ (und damit Ware).
Was unterscheidet ihn dann von seinen ›Konkurrenten‹? Zieht man das Ereignis in Betracht, das ihn, wie eine Reihe seiner Konkurrenten auch, ins Medium gebracht hat, dann stellt man fest: anders als die Konkurrenz begreift dieser Mensch die Dimension, in der das Ereignis spielt, und stellt sich ihr. Die volle Differenz hängt an dieser Dimension. Sie muss sprengend gedacht werden, um im Raum der Simulationen eine solche Potenz freizusetzen. Der naheliegende Modus dieser, nach Maßgabe des Mediums, extremen Selbstexposition ist die Verzweiflung. Dieser Mensch ist verzweifelt und will, dass die Welt an seiner Verzweiflung teilhat, denn diese Verzweiflung gilt dem Schicksal der Welt. Selbstredend ruft eine solche ›naive‹ Tat die Zensur auf den Plan. So lästig sie dem Einzelnen fällt, sie ist das einzige Echtheitsprädikat, das die Welt der Simulationen zu vergeben hat. Also lautet die Frage, die dir gestellt ist, ob du mit der Zensur gehst oder ob du bereit bist, diesen Menschen als das zu erkennen, als das er sich zu erkennen gibt. Tertium non datur: der moralische Mensch verlangt nach der moralischen Antwort. Entweder sie erfolgt oder sie wird, aus welchen Gründen auch immer, verweigert. Wenn nun der Nächste, sozusagen vor deinen Augen, womöglich auf Anruf … verweigert…
Die Fremdheit des anderen
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Moralität, auf dich zurückgeworfen, bedeutet offene oder versteckte
Feindschaft
… ist er dann … ein Feind? Genauer gesprochen: ein Widersacher? (Denn er verdeckt die Sache, indem er die Person verwirft, er hilft dabei, sie unkenntlich zu machen, aus Angst, Rücksichtnahme etc.) Dieses Rätsel, unvermutet auf deinem Tisch gelandet, will gelöst werden. Aber mit der Lösung, so schwant dir, löst sich der Weltknoten, dem deine gegenwärtige Existenz sich verdankt. Der Preis ist hoch, zu hoch, wie dir scheint, auch ein moralischer Mensch ist nur ein Mensch, gegen andere Menschen gesetzt, ein Einzelner. Du kennst diesen Menschen nicht, du bist nicht kompetent, seine Aussagen zu überprüfen, zwischen ihm und dir ist alles auf Treu und Glauben und vielleicht das … gesunde Urteil gestellt. Reicht das? Nein, du bist ihm nicht verpflichtet, wie solltest du? Er ganz allein nimmt dich in die Pflicht, aber wessen Pflicht ist das? Am Ende ist auch Pflicht … Meinung. Soll heißen, sie ist an Positionen gebunden, und wenn schon an ihr nicht zu rütteln ist, so bleibt sie doch der Interpretation unterworfen…
Die Fremdheit des anderen
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Du selbst sorgst dafür, dass ihre Forderung unerfüllt bleibt
… und siehe da, du selbst vollbringst die Verwandlung. Im Handumdrehen verwandelst du die moralische Person vor dir in eine fremde, in eines jener ›höheren‹ Wesen, auf deren Fehlbarkeit sich die Kritik kapriziert, mit deren Hilfe du dich und deine Nächsten gegen das Übermächtige behauptest.
Das Wunder der Transfiguration bedarf eines Namens. Wie wäre es mit ›Versagen‹? Dein System, das den Nächsten einschließt, hat versagt und es befindet sich, dank deines Taschenspielertricks, im Selbsterhaltungsmodus. Deine Entscheidung ist gefallen: für dein System, gegen die von der moralischen Person ausstrahlende Forderung, an der jede differenzierende Interpretation abprallt, als könne sie angesichts der dramatischen Lage höchstens Spielzeugwert beanspruchen.
Hier aber handelt es sich, und zwar auf beiden Seiten, um eine tödliche Bedrohung: zum einen um das vom moralischen Menschen entworfene Bedrohungsszenario, das seinem Appell die Dramatik verleiht, zum anderen um den Zusammenhalt deines Systems: deiner Clique. Schade nur –: dieser von eigener Hand ausgestellte Bon ist bereits im voraus entwertet. Gleichgültig, was die Stimme der ausgleichenden Geschäftigkeit flüstert, er ist null und nichtig.
Die Fremdheit des anderen
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Was geschieht mit dem Nächsten?
Ruhig Blut: er bleibt der Nächste, denn darum ging es doch. Nein, er ist nicht der Judas, der dich verraten hat. Wie sollte er…? Aus einem dir unbegreiflichen Grund verhallt der Appell des moralischen Menschen bei ihm ungehört. Auch das muss Gründe haben. Aber du kannst die Metamorphose nicht aufhalten: Nähe verwandelt sich in Ferne. Er ist jetzt der Nächste, der zum Fernsten wurde. Ein Stolperstein hat es vollbracht. Du hättest stolpern sollen, freie Seele. Einmal zu oft im Tritt geblieben, es ist nicht mehr gut zu machen. Versagen, sagt man, zieht Versagung nach sich – Versagern bleibt versagt, was ansonsten das Gegebene wäre. Will sagen: Versager können einander nicht verzeihen. Moralität, auf sich selbst zurückgeworfen, erlaubt keine Rückerstattung.
Die Fremdheit des anderen
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Was geschieht mit dir?
Warum so wortkarg? Nun, da es gilt, dir von der Seele zu reden, was nicht mehr gutzumachen, versagt deine Rede. Aber während du schweigst, beginnt dein Körper zu sprechen: machtvoll, ruckartig und vor allem – rücksichtslos. Wie es scheint, hast du die Kontrolle über ihn verloren, und nein, er verfügt über keine feinen Manieren, dein Körper, auch er versteht es spielend, die samtenen Handschuhe abzulegen. Locker gelingt es ihm, dich in die Knie zu zwingen. Der Kampf, der abgeblasene Kampf … jetzt also wird er zwischen deinem Körper und dir ausgetragen. Kein anderer, weder Nächster noch Fremder, passt jetzt noch dazwischen. Fremd bist du dir plötzlich geworden, Fremder in eigener Haut. Abgeschnitten alle Wege nach draußen (dieses schöne, immer wieder bezaubernde, durch die akademische Suada bis zur Besinnungslosigkeit abgedroschene Bild der sich öffnenden Wege!). Drinnen, im Kopf, sieht es nicht einen Deut besser aus: Kategorieversagen an allen Fronten. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Wenn aber der Körper sich einmischt, weil der Verstand versagt hat und der Schock tief sitzt, ein Alleinsein erzwingend, gegen das keine Zweisamkeit ankommt: dann – endlich – wird auch Denken physisch, eine Folge von Eruptionen, die keines weiteren Adressaten bedürfen. Sie haben ja dich.
Die Fremdheit des anderen
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Das ist nicht lebbar
Nein, das ist es nicht. Jedenfalls nicht auf Dauer. Lebbar ist vielmehr: die Lokalisierung des Fremden im Draußen. Die Welt ist ein Fremdenhaus. Wo gerade noch alles auf Kritik gestellt war, soll jetzt ein Entschluss genügen, irgendeiner, gleichgültig, wie er ausfallen sollte, nur kommen muss er. Das klingt ziemlich vage, aber: besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Auf das Dach kommst du nie.
Jedenfalls lernst du jetzt, in diesem schmerzhaften Prozess, der für dich eine Reise darstellt, gebucht ohne dein Einverständnis und ohne klare Zielvorgabe, das Soweitsein. Wann wird es soweit sein? Erwartest du etwas? Erwarte dir nicht zu viel. Es geht dir mit den Erwartungen wie mit den Menschen: sie führen und führen dich und irgendwann sind sie weg. Du musst den Kampf aufnehmen und zu Ende führen, darauf kommt es an.
Aber auch dahin musst du erst kommen.
Es fällt leicht zu sagen: etwas Fremdes hält meinen Körper besetzt. Jeder Arzt lächelt darüber. Das macht die Rede nicht falsch. Der Konflikt ist in den psychosomatischen Raum ausgelagert und kann nur dort gelöst werden. Vergiss nicht: das ist der Preis der Teilhabe und gleichzeitig schließt es dich aus. Man muss sich krankmachen, um zu den Gesunden zu zählen. Aus diesem fatalen Zirkel gibt es, jedenfalls vorderhand, kein Entrinnen. Dass glückliche Naturen ihn nicht oder nur gedämpft empfinden, tut nichts zur Sache. Du kannst das Fremde nicht zum Rückzug bewegen, ohne ihm neue Räume anzubieten. Dennoch verhältst du dich, als ob gerade dies möglich wäre. Du weißt, die Drohung bleibt, aber du hoffst, das Ziel ist lebbar und du wirst es leben, bis es zerbricht.
Dann wiederholt sich der Zyklus.
Die Fremdheit des anderen
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Hörst du die Botschaft? Donnert sie dir ins Ohr?
Natürlich nicht. Das mag daran liegen, dass diverse Kanäle beteiligt sind. Auch Wichtiges geht da leicht verloren. Gewiss doch, lärmender gebärdete dein Körper sich nie. Frage: auf welcher Bühne? Nie wirst du diese Stimme ergründen. Nie wirst du sie auf die Bühne heben, auf der sie für dich sprechen dürfte. Nein, das wird nicht geschehen. Was wird stattdessen geschehen? Verfügtest du nicht über ein Projekt? Hast du nicht Drittmittel abkassiert? Ist es nicht schön gescheitert? Lange schon bist du ein aufmerksamer Beobachter dieses Scheiterns. Es schien dir … es scheint dir… War es nicht immer der Versuch, den Verhältnissen auf den Grund zu gehen? Warum dann holen sie dich mit Schimpf und Schande ein? Weil selbst du deiner Analyse misstraust? Aber was fehlt ihr denn? Wo steckt der Fehler?
Oder liegt es daran, dass sie bloß Analyse bleibt? Es fehlt der Bezug zur lebendigen Person – das sagt sich leicht und ist doch nur die halbe Wahrheit. Ein wenig hast du Schicksal gespielt und das Schicksal hat nicht gesäumt, auch dich zu versehren. Die Pyramide ist nicht die Welt, ehrlich gesagt, von Tag zu Tag ist sie es weniger. Ihre Botschaften, ihre Techniken haben den Weg hinaus gefunden und jetzt schlagen sie zurück. Das Netz ist stärker als alle Wissenschaft. Das zu begreifen ist bitter, und es ist bitter nötig.
Schon bist du wieder dabei, Hypothesen zu schmieden: business as usual. Eine beruhigende Kraft geht von ihnen aus. Aber das ist grobe Wahrnehmung. Krankheitsgeschärft sagen dir deine Sinne: Die Kraft der Hypothesen geht über alles, was ist. Alles, was ist, ist nicht alles. Es gibt die Kraft, die hervordrängt. Druck und Zug sind nicht nur physikalische Größen. Eben noch standest du unter Druck und jetzt bist du einer, der Druck ausübt. Es scheint, er braucht dich. Als läge darin, dass einer bei der Sache bleibt, zwar nicht die Rettung der Welt, aber ein Rettendes schon. Was immer es sei.
Die Fremdheit des anderen
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Anerkennen, was ist
In ihren Anfängen nannten sie diese Welt: Cyberwelt. Es gab den Willen, sie zu entfalten, auch wenn sich niemand richtig vorstellen konnte, was da entstehen sollte. Heute, da sich ihre wahren Proportionen enthüllen, ahnen viele, was da zum Vorschein kommt: Die Herrschaft der Lüge. Keine ziselierte Medientheorie, keine moralische Empörung war imstande, den Griff der Macht nach den digitalen Ressourcen aufzuhalten. Noch immer sind die Gutgläubigen unter den Zukunftssüchtigen überzeugt, die Macht sei überall dort in Verzug, wo sie den Bürgern den vollen Zugriff auf das Dienste-Volumen des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorenthält. Das Gegenteil ist der Fall. Macht saugt Macht. Wenn nicht die Leistungskraft der Bürger, sondern der Datenfluss, dieser moderne Styx, Macht generiert, dann entfernt sich die Macht von den Bürgern und irgendwann tritt sie ihnen als gleichgültig-aggressive Instanz gegenüber: Wehe den Besiegten. Wehe, ihr regt euch!
Schmeckt euch die Lüge? Davon gibt es mehr.
Ein Gespenst geht um in den Ländern der Freiheit: die Lüge. Alle verbliebenen Mächte haben sich ihr ergeben: Parteien und Präsidenten, Pioniere und Pfaffen und nicht zu vergessen die Polizei. Wo wäre die Opposition, die nicht von ihren regierenden Gegnern als Lügnerin verschrien, wo die oppositionelle Gruppierung, die nicht das Brandzeichen fake news austeilen würde, als hätte sie damit alle im Sack? Die Macht der öffentlichen Lüge ist so überwältigend, dass sie alle
Binnenverhältnisse zerbricht. Vor ihr gibt es keinen Nächsten (nur eine wechselseitige Simulation ›auf Zeit‹) und von ihr gibt es kein Zurück.
Die Fremdheit des anderen
34
Regel für Zurückgebliebene
Jede Flut hinterlässt Zurückgebliebene: Menschen mit einem intakten Koordinatensystem, denen die dazugehörige Landschaft davonschwamm. Ein Bild, aber ein bewährtes! In der Zeit bleibt niemand zurück. Die Zeit nimmt alle mit, alle sind ihre Kinder, von ihr gezeugt, geboren, genährt. Dass einer in der Vergangenheit lebt: eitel Geschwätz! Niemand lebt in der Vergangenheit. Betrachte dich, im Heute lebend, als einen, der zurückblieb. Du bist nicht borniert, du bist bereit, Zeugnis zu geben. Vor wem? Von was? Im Augenblick scheint das nicht wichtig zu sein. Nur dass es gleich geschehen muss, bevor das Gedächtnis nachgibt, das scheint wichtig zu sein. Vielleicht liegt es ja am Alter.
Die Fremdheit des anderen
35
Regel für Zurückgebliebene
Zeitzeuge R, ein Zeuge vergangener Zeiten? Nein, diese Vorstellung behagt dir nicht. In ihrer Mitte prangt, mit Verlaub gesagt, ein riesiges Loch. Dieses Loch … es enthält dich und die Aufgabe, die mit dir in die Welt gekommen ist, die dich erzogen hat und jetzt noch lange nicht loslässt. Näher schon liegt dir die Vorstellung, einer aus der schmalen Riege derer zu sein, welche jedermanns Zukunft hier ablud. Alle deine Zeiger weisen über das hinaus, was ist. Gefragt, wie es sich hier verhält, antwortest du, Ungeduld in der Stimme: Leben unter Fremden. Leben in der Fremde. Verzicht auf »Dies ist mein Land« und dergleichen. Dies ist niemandes Land. Niemand ist
überall. Die Simulation ist eine Simulation. Das versteht keiner, aber es entspricht der Lage.
Tronka, eine Flasche Rotwein leerend, schreibt. Er schreibt
langsam, setzt den Stift ab, setzt wieder an, zerbricht den Stift und
greift einen neuen. Schreibt er? Er schiebt den Stift übers Papier,
schräg, als schöbe er ihn vor sich her, nein, als schöbe er etwas
auf, eine Krankheit vielleicht, falls das möglich wäre, doch, er
schiebt sie weg, weiter, aufs nächste Blatt, aufs übernächste: mal
sehen, wie weit er kommt.
Heute Nacht, genauer gesagt, um Mitternacht, tritt das Gesetz
zum Schutz der Kranken vor den Gesunden in Kraft. Ist das
schlimm? Überall werden die Gesunden den Kranken vorgezogen. Es ist
ein Weltgesetz, das selten Ausnahmen duldet. Käme ich heute als
Kranker auf die Welt, ich besäße weniger Chancen auf ein angemessenes Leben als der
aufgeweckte Kleinstadtlümmel, der hin und wieder in meinem
Gedächtnis aufblitzt und der wohl ich gewesen sein muss, so wenig es mir auch
gelingen will, die Gleichung er = ich zu vollziehen.
Das Gesetz
2
So ein Gesetz wird ja nicht von Menschenfeinden gemacht,
geschweige denn veranlasst. Es hat einen Vorlauf in den Köpfen.
Köpfe wiederum hängen nicht von Bäumen, es sei denn, man hat sie
vorher abgeschnitten und hinauf gehängt, was vorgekommen sein soll.
Aber in der Regel sitzen sie auf Rümpfen, bewegen Arme und Beine und
versuchen sich auf jede erdenkliche Weise nützlich zu machen. Das
Gesetz, bevor es in Kraft tritt, ist durch viele Köpfe gewandert.
Man sagt, es sei eine Gratwanderung und ein noch ungeborenes Gesetz
könne praktisch an jeder Stelle kippen. Aber wenn es lebenskräftig
ist, dann hat es aus jedem Kopf etwas gesaugt, was es nirgendwo sonst
sich hätte aneignen können.
Das Gesetz
3
Was ist das? Es hat Blut geleckt. All
die vielen kleinen Feindschaften in diesen Köpfen, das Gift der
Emporkömmlinge, der Mief der beratenden Stubengelehrten, der clevere
Hochmut der Planer, die feuchten Machtträume der Parteistrategen,
das vertrackte und doch leicht zu durchschauende Kalkül der
Karriereplaner, der sinnfreie Hass der Ideologen, die sperrigen
Bedenken der Juristen und die uniformen Visionen der Machtträger,
sie alle haben an dem Einfall, der einmal Gesetz werden sollte,
geschabt und geschoben, sie haben ihn im Innersten getränkt und zur
Gesetzesform reifen lassen, und nun ist es da.
Das Gesetz
4
Recht betrachtet, ist dieses Gesetz, so wie die Vielzahl seiner
in diesen Tagen erlassenen Geschwister, ein Gesetz contra naturam,
gerichtet gegen das Bedürfnis der Menschen, da zu sein, wie ihre
biologische Ausstattung es ihnen befiehlt. Seit altersher haben
Menschen die Kranken von den Gesunden abgesondert, ihnen spezielle
Räume zugewiesen, auf dass sie genesen oder in Ruhe verdämmern
konnten, sie umsorgt und, natürlich nach Maßgabe des vorhandenen
Kapitals, mit ihren medizinischen Künsten traktiert – nicht stets
zu ihrem Besten, aber das kam später heraus, viel später, manchmal
erst nach Jahrhunderten, selbst Jahrtausende sind inzwischen
diagnostisch überbrückbar. Manchmal zumindest. Auch der
medizinische Fortschritt folgt Gesetzen wie dem des Zufall. Doch es
gibt auch andere. Das alles wurde von Gesunden geleistet. Nicht immer
freiwillig, nicht immer freudig, murrend meist, aber die Gesamtheit
der Gesunden stand hinter den Leistungen und fand sie unumgänglich.
Das Gesetz
5
Das ändert sich jetzt. Das Gesetz macht die Gesunden krank. Sie
wissen es noch nicht. Vorderhand sind sie symptomfrei, aber das hat
nichts zu bedeuten. Sie sind Kranke auf Urlaub. Der Urlaub ist an
Auflagen geknüpft. Sie verbürgen, dass alle sich jederzeit als
Gefahr für sich und ihre Umwelt betrachten. Genau gesehen, ist das
der kategorische Imperativ, dem sie sich zu beugen haben: Verhalte
dich jederzeit wie jemand, der eine Gefahr für sich und seine
Umwelt darstellt.
Das Gesetz
6
Ein kategorischer Imperativ? Ja sicher. Jemand, der sich ans
Steuer eines Kraftfahrzeugs setzt, stellt eine Gefahr für die Umwelt
dar und hat sich entsprechend zu verhalten. Er muss Regeln befolgen,
die das Risiko für die anderen (und für ihn selbst) ›minimieren‹.
Das gleiche gilt für das Führen eines Flugzeugs, eines Schiffes,
einer Handfeuerwaffe, eines Motorrads oder eines spitzen
Gegenstandes. Dass der Körper in seinem Sosein zum Gefahrenträger
ernannt wird, gegen den Maßnahmen ergriffen werden, war dagegen die
großen Seuchen vorbehaltene Ausnahme. Das ändert sich jetzt. Du
bist vielleicht krank, nein, dir fehlt nichts, du bist ganz in
Ordnung, aber das kann sich, während du dich auf der sicheren Seite
des Lebens fühlst, jederzeit ändern. Du bist krank, denn du bist
nicht krank. Wie das? Nun, du fühlst dich gesund und darin bist du
Gefahr für alle.
Das Gesetz
7
Warum? Ist die Pest wiedergekommen? Sind wir
alle Boten des Todes? Nein, so darfst du das nicht sehen. Das ist
altes Denken, basierend auf Trotz. Es ignoriert den Stand der
Technik. Die medizinische Technik sagt: Diese Krankheit, die du
vielleicht in dir trägst, ist harmlos, da rät deine Intuition ganz
richtig … relativ harmlos, denn wie so viele produziert auch sie ihre
Toten. Aber indem du dich der Elementargewalt des Vielleicht
beugst, wird sie beherrschbar. Aus dir, einem gewissermaßen freien
Menschen, ist über Nacht ein Rädchen zur Beherrschung dieser alles
in allem harmlosen Krankheit geworden. Du darfst das bedauern, du
darfst dich beschweren, gern auch dagegen randalieren, so dass wir
dich leider eine Zeitlang aus dem Verkehr ziehen müssen, aber: du
kannst es nicht ändern. Du hast diese Krankheit nicht –
eine veraltete Vorstellung, die wir gleichfalls peu à peu aus dem
Verkehr ziehen werden –, du bist die Krankheit. Heute
diese, morgen jene, übermorgen eine ganz andere. Du bist ein
Werkzeug, nein, eine Werkbank, entworfen zu Beherrschung der ganz
anderen Krankheit, die uns allen irgendwann bevorsteht, so dass wir
hier und heute mit dem Kampf gegen sie beginnen müssen.
stehst und er fragt, ob du die
Pyramide nur geträumt und daher dein Leben und deine Aufgaben in der Welt versäumt habest – du
spürst die kaum verhohlene Strenge hinter der Frage und bist aufs
Äußerste alarmiert –, dann wirst du (gesetzt, deine Zunge versagt
nicht vor lauter Aufregung ihren Dienst), ihm also antworten:
―Ich habe mir die Frage schon oft gestellt und die
Ergebnisse meines Nachdenkens haben mich nie überzeugt. Ehrlich
gesagt, weiß ich nicht einmal, ob nicht die Frage selbst – plus
meine vergeblichen Versuche, sie zu beantworten – als Bestandteil
des großen Traums betrachtet werden muss, ganz zu schweigen von der
jetzt offenbar von mir geforderten Betrachtung darüber und einiges
mehr.
Wenn ich es recht bedenke, so ähnelst auch du, der du sie mir
abverlangst, gewissen Wesen, wie sie Menschen in Träumen
begegnen, von denen man, aufwachend, sofort weiß: das sind Träume
und sonst nichts. Die Hirnforschung (in der ich nicht besonders zu
Hause bin) sagt mir, das könne auch auch gar nicht anders sein, da
mein Gehirn, als Ganzes betrachtet, eine funktionale Einheit
darstellt und jedermann, also auch ich, gut beraten sei, die in
seinem Zellraum versammelten Funktionen nicht, verführt durch ein
paar wohlbekannte Effekte, zu scharf voneinander zu scheiden, es sei
denn zu rein analytischen Zwecken.
Unscharfe Begriffe sind der Tod der Wissenschaft. Was dann
geschieht, wenn sie in ihr überhandnehmen, das weiß keiner, nicht
einmal die Wissenschaft selbst. Verlassen wir die Wissenschaft! Wenn
dich mein Gehirn mir heute als meinen Richter vorstellt, und dieses
mein Gehirn zugleich tot ist, irreparabel zerstört, wie ich
gerüchteweise erfuhr – ich weiß nicht, wer mir soeben die
Botschaft zusteckte –, dann frage ich mich natürlich, auf welchem
Ersatzkanal ich jetzt sende und wie das mit dem Weltbild
zusammengeht, das ich noch immer – tot hin, tot her – als das
meine betrachte. Ich vermute einmal: gar nicht. Allein: wer kann das wissen?
Also lautet die Antwort meines toten Gehirns wie folgt: Hätte
ich, wie deine obige Frage suggeriert, die Pyramide und alles, was zu
ihr gehört – die Ruhrstadt, die Wissenschaftsgemeinde, den Sex, die
Politik, die Medien, die Tyrannei der rücksichtslos geschürten
Emotionen und schließlich die in Trippelschritten voranschreitende
Sonnenfinsternis, zyklisch herbeigeführt durch die sich
gleichbleibende Mechanik der Macht –, bloß geträumt, so wäre
dies ein äußerst langer Traum gewesen. Also wäre es nur gerecht, wenn ihm eine
entschiedene Wachphase folgen würde, es sei denn, ich betrachte
mich als Koma-Patienten, unrettbar versunken in meine Idiosykrasien.
Die Frage, die überaus eigentliche Frage muss daher heißen: Bin
ich soeben erwacht? Gute Frage, nächste Frage. Wie könnte gerade
ich darüber entscheiden? Das Ansinnen an sich erscheint mir
unlogisch. Du allein, großer Geist, der du, nach dem Eindruck zu
urteilen, den du auf mich machst, zu sein scheinst, kannst darüber
Auskunft erteilen, es sei denn, ein größerer träte hinter dir aus
der Kulisse und übernähme das Wort. Fürs erste nenne ich das: eine
leere Option. Du bist da, also halte ich mich wohl oder übel an
dich. Auch gibt es Gründe dafür, die über den Moment
hinausreichen. Mir scheint, schon einmal wärest du mir erschienen.
Mir ist, als huschtest du damals in den Kulissen, als mich,
wenngleich nur flüchtig, die Erfahrung des Todes streifte. Damals
wurde ich, gerade noch rechtzeitig, ins Leben zurückgeholt dank den
unendlich wirksamen Effekten der Technik, die ich zugegebenermaßen
noch im Tode bewundere. Es gab dich also, so wie es dich heute zu
geben scheint, aber versteckt und verdeckt. Nun endlich sehe ich dich
von Angesicht zu Angesicht. Das jedenfalls ist ein großer
Fortschritt. Bin ich erwacht? Wäre es so – ich selbst wünschte es mir sehnlich –, dann
allerdings erhöbe sich sofort die Anschlussfrage: wozu? Zu welcher
Art von Wirklichkeit erwacht man, wenn doch kein Ende des Träumens
absehbar ist?
Sie ist also wirklich gekommen: KliTa, die Klimagöttin, das Himmlische Kind. Das ist das Erstaunliche.
Sagen wir: das Erst-Erstaunliche.
ZWEITE HALBWELT
Das Zweit-Erstaunliche ist die unmütterliche ›Hysterie‹ der Massen.
Junge Frauen schwören einander, kein Kind in die Welt zu setzen, solange CO2 sie verpestet: das Zeichen der Unreinheit (wer es ›ausstößt‹, wird als Satansdiener erkannt und gehört annulliert).
Hier und da flackert Gewalt.
WELT
Gewalt?
ERSTER SPRECHER
Nun ja, Drohgewalt. Der Rest folgt auf dem Fuß oder im Gepäck.
Wie reagiert die Pyramide?
Lethargisch. Sie reagiert: lethargisch. Lethargisch. Lethargisch.
Soll heißen: gar nicht.
Auf dem Siedepunkt der allgemeinen Erregung packt sich die Pyramide in Watte und schaukelt weg. Die hiesigen Meister der Bewegung, Schrunke und Stiefel, sind ins ferne New York aufgebrochen und paradieren vor Ausschüssen, die ihre Ergebnisse trockenhalten wie einst der preußische Grenadier sein Pulver.
ZWEITER SPRECHER
Keiner vermisst sie.
Nur ein Plakat des AStA im Kasten neben dem Aufzug bezeugt:
Wir sind up to date. Die Wunde ist frisch.
Welche Wunde?
Die Wunde Wissenschaft (unkt Dürrobst), geschlagen von der Lanze Wissenschaft, den Massen vorgeführt von der Wissenschaft, geheiligt durch Wissenschaft, durch Wissenschaft vor den Blicken der Massen geschützt, ja geschützt, das zeigt sich in diesen Tagen.
Nassen, die Frage KliTa im Blick, erntet missbilligende Retouren:
Jetzt nicht!
DRITTER SPRECHER
Wann dann?
ZWEITER SPRECHER
Sie werden die causa nachbereiten, gewiss.
Sie werden Biographien schreiben, Sozialanalysen, Symbolgeschichten, Hassgeschichten, Entscheidungsgeschichten, Erfolgsgeschichten, Geschichten des Scheiterns und der Blamage, Ideologiekritisches und Anmerkungen zur Auflösung der bürgerlichen Familie, Therapeutisches, Systemkritisches und Wirtschaftsfreundliches. Auch Wissenschaftskritisches. Aber gewiss.
WELT
Jetzt sind sie: unerreichbar.
Exit
2
Im Parlament der Nashörner
JUNGES NASHORN weiblich
nein wirklich es wird Sie überraschen mich hier vorne reden zu
hören aber so ist es nun einmal und irgendwie müssen beide Seiten
damit zurechtkommen ich finde das gut denn was ich zu sagen habe ist
bedeutend genug um vor diesem Hohen Hause Gehör zu finden wir alle
haben die Aufgabe uns mit den wichtigen Aufgaben zu
beschäftigen die uns umtreiben und keiner von uns sollte sich dieser
Aufgabe entziehen damit will ich sagen dass wir uns ihr nicht
entziehen könnten selbst wenn wir es wollten wollen wir es denn ich
glaube nicht ich glaube dass wir uns alle der Situation bewusst
sind in der wir uns befinden in dieser Situation ist es aber so
dass wir wissen was wir zu tun haben es geht also darum darüber zu
sprechen wie wir es tun und gerade darüber möchte ich mit
Ihnen sprechen
MITTLERES NASHORN Hexenmeister
deshalb meine Frage brauchen wir noch ein Horn brauchen die
Menschen in diesem Lande ein zweites und drittes Horn womöglich
ein viertes ist es nicht vielmehr so dass angesichts eines Meers
von Hörnern die virale Gewalt des Feindes jetzt nachlässt da fragen
sich viele ist das der Ausweg ja sicher es ist der Ausweg machen wir
uns nichts vor in diesen Wochen und Monaten besetzt der Feind die
letzten freien Ecken und Winkel unseres geliebten Gemeinwesens er
taucht überall auf selbst an unerwarteter Stelle doch scheint es
dass seine umfassende Bosheit nicht länger über die Stärke
verfügt der Mehrzahl von uns mehr als ein Haar zu krümmen der Feind
könnte zahm geworden sein ich frage ist das nicht die
sehnlich erhoffte frohe Botschaft sollten wir nicht das Ende
der Schlacht ausrufen sollten wir nicht unser Horn in die Ecke
stellen oder als Trinkschale zweckentfremden ein Prost der obersten
Heeresleitung aber das bin ich ja selbst
ALTES NASHORN Erleuchteter
ich habe alle Bedenken von mir geworfen mir das Horn einsetzen
lassen und es ward hell und licht um mich her seitdem geht es
mir besser eines weiß ich dieses Horn hat mich vor schwerer
Krankheit und Tod bewahrt und wird mich weiter bewahren der Tag
meiner Verhornung war mein persönlicher Freedom Day von
dieser Erfahrung will ich hier und heute Zeugnis ablegen vor
uns allen seit ich ihrer teilhaftig geworden bin ich mir gewiss
allein die persönliche Freiheitsentscheidung kann eine heilsame
Wirkung von diesem Kaliber entfalten ich sehe mich außerstande
jemanden zu verstehen der sich anders entscheidet aber aufgepasst
liebe Kolleginnen und Kollegen ich kann und muss und werde ihn
respektieren ich werde ihn stets respektieren ich weiß es
gibt keinen Grund das Horn zu verweigern der wirklich zählt die
Gründe der Verweigerer zählen nicht dahinter steht vielleicht eine
religiöse Überzeugung eine andersartige Erziehung irgendein
Aberglauben meinetwegen das müssen wir respektieren
Exit
3
JUNGES NASHORN
es geht darum die Angelegenheit im Licht unserer Verfassung an der
uns soviel liegt zu betrachten kein Zweifel sie lässt die
Pflichtverhornung zu sie hat das mehrfach unter Beweis gestellt
bedarf es da eines Beweises wir wissen wir
müssen den Weg heraus finden wir wissen den Weg wir werden
ihn gehen umso wichtiger hier und heute eine Debatte zu führen
angemessen der Bedeutung dieser Entscheidung sagen will ich damit es
geht um verfassungsrechtliche Grundsatzfragen ja uns ist aufgetragen
diese Debatte zu führen ich bin stolz ich bin sicher das Hohe Haus
ist dazu bereit wir erleben gerade eine Sternstunde wir müssen
uns ihrer würdig erweisen deshalb ist das was ich Ihnen zu sagen
habe so wichtig dem Auftrag will ich mich nicht entziehen
MITTLERES NASHORN
wahrlich ich sage euch Wir brauchen das Horn und zwar ein
großes wir brauchen das zweite dritte vierte Horn vielleicht ein
fünftes das werden wir sehen die Schlacht ist nicht vorbei und bald
vielleicht schon im Herbst wird der Gegner neue Truppen ins Feld
führen welche die Merkmale der bisherigen kombinieren also
Penetrationsfähigkeit plus Schlagkraft eine Win-win-Variante genau
auf diese Variante müssen wir vorbereitet sein und das geht ich sage
das ganz offen nicht ohne Pflichtverhornung solange nicht jeder
Säugling in diesem Lande ein Horn trägt ein zweites ein drittes ein
viertes so lange kann keiner von uns seines Lebens sicher sein ich
erkläre Ihnen ganz offen ich brauche die Pflichtverhornung
damit ich die Herbstwelle brechen kann geschworen habe ich mir sie zu
brechen und ich werde meinen Schwur halten das bin ich das sind wir
der Welt schuldig
ALTES NASHORN
es dreht sich dabei um die Frage wie gehen wir menschenwürdig um
mit denen die den Weg nicht gemeinsam mit uns zu gehen wünschen
dürfen wir sie auf unseren Weg zwingen dürfen wir sie allein
zurücklassen das ist die Frage moralisch-ethisch-politisch jeder von
uns muss sich ihr stellen wahrlich ich darf diesem Hohen Hause
versichern keine ethisch-moralische Frage kann mit Zwang gelöst
werden Freiheit in der Entscheidung das ist die Freiheit die wir
meinen die freiheitlich-demokratische Grundordnung billigt dem
Einzelnen zu eine falsche Entscheidung zu treffen wenn damit
komme ich zum entscheidenden Punkt meiner Überlegungen wenn
er bereit ist dafür Verantwortung zu übernehmen schließlich
übernehmen wir alle Verantwortung und niemand kann den der
sich entzieht aus der Verantwortung entlassen andererseits ist es
Teil unserer tiefen Verantwortung für den irrenden Mitmenschen ihn
nicht allein zu lassen in der Stunde der falschen Entscheidung diesem
Dilemma müssen wir Demokraten und Freiheitsfreunde jetzt näher
treten
Exit
4
JUNGES NASHORN
worum also geht es es geht darum der Freiheit des Einzelnen
Planken einzuziehen genau darum geht es wo alle in der
Verantwortung stehen steht auch der oder die Einzelne in der
Verantwortung diese Verantwortung ist bezifferbar sie drückt sich in
der Krise aus in der Zahl der Klinikbetten die wir einerseits
brauchen die uns andererseits zur Verfügung steht dieses Zahlenpaar
treibt die Verantwortlichen um es treibt uns um die wir in der
Verantwortung stehen es sollte jeden Einzelnen umtreiben denn auch er
steht in der Verantwortung für das Ganze es ist das absolute Maß
unserer Freiheit wir wären ihrer nicht würdig ließen wir es nur
einen Augenblick aus den Augen leider schweigt die Verfassung zu
einer solchen Lage nichtsdestotrotz gibt sie uns klare Handreichung
denn es gestattet die Streichung von Grundrechten mit dem
klaren Ziel andere zu erhalten das gerade
ist die Lage in der wir uns befinden und deshalb sollten wir keinen
Augenblick zögern immer den Blick auf das Ziel gerichtet
SCHLIMMES NASHORN
sagen wir doch wie es ist Sie haben den Feind ins Land geholt ihm
die Wege geebnet ihm mit unseligen Mitteln Scheinwiderstände
entgegengestellt und ihn dadurch nur fürchterlicher auftreten lassen
Furcht ja Furcht haben Sie gesät und Furcht haben Sie geerntet
Furcht zertrampelt jeden Ausweg denkende Menschen wissen diese
Krise nährt sich wie wenige sonst aus sich selbst wir hören Ihre
Pläne aber wir sind nicht überzeugt Freiheit ist für mich
und meinesgleichen kein leeres Wort wie für meine plappernden
Vorredner ich will sie nicht einzeln benennen ich ziehe das Horn ab
zeige mein Gesicht wie hässlich grunzen Sie und verstecken
sich hinter sich selbst ja Sie verkriechen sich hinter dem eigenen
Rücken leicht könnten Ihre Körper Sie eines Besseren belehren
stattdessen kreischen Sie kreischen Sie ruhig
JUNGES NASHORN
ich fasse meine Ausführungen zusammen nicht weil ich am Ende wäre
sondern weil meine Zeit abläuft meine Rednerinnenzeit aber wir
werden an diesem Ort wieder zusammenkommen und diskutieren meine
Argumente sind es wert diskutiert zu werden sie zeigen einen
gangbaren Weg auf und machen auf die verfassungsmäßige Relevanz
aufmerksam die allem was wir hier möglicherweise beschließen werden
zukommt Zwangsverhornung ja selbstverständlich aber in geregelten
Bahnen ich sage ja zur Pflichtverhornung aber im Namen der Freiheit
und und ihrer Institutionen Sicherheiten ich sage Sicherheiten
Pflicht ohne Zwang ich komme zum Ende ich bin schon da lassen
Sie mich wiederholen was mir am Herzen liegt in diesem Hohen Hause
dem nun einmal die Entscheidungsgewalt der wir uns alle beugen im
Lichte noch ein Satz ein einziger Satz
Exit
5
MITTLERES NASHORN
die Welle kommt ich versichere Ihnen sie kommt wir müssen
gerüstet sein wir haben die Mittel wir können sie brechen was ich
brauche geben Sie mir was ich brauche die volle Macht geben Sie mir
Vollmacht geben Sie mir die volle Macht sie einzusetzen denn
ich brauche sie wir brauchen sie ich brauche sie jetzt
Pflichtverhornung braucht Zeit Zeit der Vorbereitung Zeit der
Durchführung dieser Job ist nicht in vierzehn Tagen getan bedenken
Sie die Verantwortung ich beschwöre Sie wir werden neue Hörner
gegen neue Gefahren entwickeln auch das braucht seine Zeit Zeit
die wir haben werden wenn wir jetzt handeln die wir nicht haben
werden wenn wir schuldhaft vor den Kindern versagen die ungeheure
Gefahr für die Kinder gut dass ich darauf zu sprechen komme die
Kinder vor allem müssen wir schützen eines wie das andere müssen
sie hornfest werden das ist mir schon ein besonderes Anliegen
ich sage nur Kinder Kinder Kinder Kinder wir dürfen
nicht nachlassen in der Verhornung der Risikogruppen drei Hörner
sind nicht genug wir werden um vier fünf nicht herum kommen auch
das wird vielleicht nicht genug neue Gefahren verlangen nach neuen
Methoden
ALTES NASHORN
da draußen gibt es Menschen die sprechen vom Risiko der
Verhornung sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit ich kann Ihnen
versichern das Risiko gibt es nicht es ist eine Einbildung das
Horn ist sicher wer anderes behauptet der lügt er ist
eine Gefahr für unsere Renditen Generationen von Gehörnten steigen
vor meinem inneren Auge auf es ist eine neue Ordnung wir
dürfen vor ihr nicht versagen nicht verzagen und nicht versagen
falls Sie mir das Wortspiel erlauben das Wortspiel ist sicher ich
verbürge mich müde bin ich ja müde ich verstehe die Welt nicht
mehr aber die Welt die Welt, was ich sagen will, die Welt versteht
mich verstehen Sie mich wir können die Hornproduktion verzehnfachen
das bietet gar keine Schwierigkeit das Produkt stimmt was zögern wir
Feindschaft macht reich das wissen die meisten hier ich sehe
es an den Gesichtern ich stehe für das globale Horn wir leben
nicht allein auf diesem Planeten wir tragen Verantwortung für
Milliarden ich danke Ihnen lasset uns danken lasset uns denken ohne
zu zögern ohne zu zögern ja werfen wir alle Bedenken so wichtig sie
sind ja werfen am Ende
Exit
6
HINTERBÄNKLER
WIR FORDERN
GLOBALE HORNGERECHTIGKEIT
GLEICHES HORN FÜR ALLE
FRIEDE DEN GEHÖRNTEN
KRIEG DEN HORNLOSEN
ALL DIESE KÖPFE IN EINEM KOPF EIN DENKEN EIN ATEM EINE BEWEGUNG EINE LUST DA ZU SEIN IM FORTSEIN R