»›Archipel‹ (bedeutet) eine Gruppe von Inseln einschließlich Teilen von Inseln, dazwischenliegende Gewässer und andere natürliche Gebilde, die so eng miteinander in Beziehung stehen, dass diese Inseln, Gewässer und anderen natürlichen Gebilde eine wirkliche geographische, wirtschaftliche und politische Einheit bilden...«
»Kolyma aber war die größte und berühmteste
Insel, ein Grausamkeitspol in diesem sonderbaren
Land GULAG, das die Geographie in Inseln
zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen
Kontinent zusammengehämmert hat, jenem fast
unsichtbaren, fast unspürbaren Land, welches
besiedelt ist von besagtem Volk der Seki.
Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes,
das Mutterland; kreuz und quer durchsetzt es seine
Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet
seine Straßen — und trotzdem haben manche nichts
geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die
Dortgewesenen alles gewußt.
Doch als ob sie auf den Inseln des Archipels die
Sprache verloren hätten, hüllten sie sich in
Schweigen.«
»Um eine x-beliebige Gesellschaft zu errichten, genügt es, eine bestimmte Menge Individuen zu haben und sie sich selbst zu überlassen. Ihnen irgendein Ziel zu setzen, und sollen sie dann ruhig machen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Der Inhalt der Zielsetzung ist ebenfalls egal... Das Ziel ist nichts weiter als eine organisierte Form von Geschichte. Macht einmal Experimente in hinreichend großer Zahl und immer unter denselben Bedingungen, und ihr werdet alle logisch auch nur denkbaren Varianten erhalten. Es besteht keinerlei historische Notwendigkeit für die eine oder die andere Variante.«
»Wir möchten Rom vergessen und den Schwerpunkt der Welt irgendwo anders hin, an eine Stelle zwischen Griechenland, Asien und Ägypten, verlegen, nicht das Leben von Menschen, sondern von Göttern führen, nicht wissen, was Alltäglichkeit bedeutet, auf goldenen Schiffen im Schatten purpurner Segel durch den Archipel fahren, Apollon, Osiris, Baal in einer Person sein, rosig wie die Morgenröte, golden wie die Sonne, silbern wie der Mond, herrschen, singen, träumen...«
»Dennoch bleibt, dass (1) Wissen in der Wissensgesellschaft eine tiefgreifende Umformung von Wahrheit zur Ressource erfährt; (2) dass damit das Wissenschaftssystem sein Monopol für die Produktion relevanten Wissens verloren hat; (3) dass Wissen überall dort strategische Relevanz gewinnt, wo es die Wertschöpfung von Organisationen für ihre jeweiligen Kunden, Klienten, Patienten, Leistungsabnehmer etc. fundiert; und (4) dass damit strategische Orientierung und Futurität, die Einbeziehung von Zukunft und Zukunftsfähigkeit in die operativen Kalküle der Organisationen, zu den bestimmenden Merkmalen einer Gesellschaftsformation werden.«
Der Archipel erstreckt sich durch Zeit und Raum. Doch seine wahre Ausdehnung liegt in der sozialen Dimension.
Wer zu seinen Bewohnern gehört, der zählt zur Elite, zählt sich zur Elite, einer zumindest, denn auch Eliten gibt es … zwar nicht wie Sand am Meer, aber in einem gewissen dauerhaften Überfluss.
Elite lebt auf Messers Schneide. Sie ist, was sie gern verschleiert, stets ›selbsternannt‹. In der Selbsternennung steckt die als ›Sexismus‹ im Bewusstsein der Massen zum Verschwinden gebrachte Selbstermannung, die Aufgabe, ein ›männliches‹ Leben zu führen und den Widrigkeiten des Lebens die Stirn zu bieten – letzten Endes die Bereitschaft, eigenes und fremdes Leben aufs Spiel zu setzen, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen.
Elite, der, durch welche Prozesse auch immer, dieser Überschuss an Selbstbewusstsein verloren ging, ist keine.
Eigentlich existiert sie gar nicht.
Die Wissenselite existiert durch die Macht der Rituale. Mit ihrer Hilfe organisiert sie ihre subtilen Hierarchien und regelt den in ihre Räume und Gehaltsklassen drängenden Zustrom. Den Anfänger betört das Sinnangebot. Es lässt sie imposant und transparent erscheinen. Zeige ihm eine blendende Karriere und er fasst die Überzeugung, alle Wege stünden ihm offen. Vielleicht denkt er auch, es sei besser, sich ein bescheidenes Auskommen unterhalb der Spitze, aber in Fühlung mit ihr, zu suchen.
Der rechnende Blick zeigt: mit der Autonomie ist es nicht weit her. Der Archipel hängt am Tropf der Politik. Er ist durch Politik jederzeit korrumpierbar – aktiv, passiv, alternativ.
Was auch geschieht: nicht zu knapp, keineswegs zu knapp.
Wissenschaft, die sich das Virus des politischen Bewusstseins einfängt, wird obsessiv.
Eine nun verdämmernde Generation hat seit Beginn ihres Erwachsenenalters den Druck empfunden, unter Menschen von getrübter Intelligenz leben zu müssen, die, dem Zwang einer gestörten Selbstwahrnehmung folgend, weiter zu sein glaubten als die sie umgebende Welt. Diese Welt bestand, wenn es nach der Passion dieser Überzeugten ging, nicht aus Personen, sondern aus seel- und gefühllosen Darstellern eines in den Weiten der Moderne verschwundenen Selbst. Eine ebenso blasierte wie tief empfundene Ablehnung zauberte sie auf die Bühne einer elitären Phantasie, wo sie sich nach Belieben als Vater, Chef, Professor, Wirtschaftsboss, Parteiführer, Militär oder Minister materialisierten. Gemeinsam bildeten sie das berühmte Establishment. Es herrschte, nach dem Wort eines vor langer Zeit verstorbenen Lieblingsfeindes, im stählernen Gehäuse der Moderne, das, davon war man überzeugt, hier und jetzt aufgebrochen werden musste.
Die Konsequenzen sind bekannt.
Sie konnten es sich nicht vorstellen, einmal auf
der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Sie hatten sich für das
Gute entschieden und fanden keinen Grund, von dieser Entscheidung
abzuweichen.
Dem kritischen Bewusstsein fehlt das Bewusstsein der
Kritik.
Es weiß nur von zwei Formen der Negation. Die eine praktiziert es, die andere bedeutet ihm nichts.
Dieser Wahn hat sie durchs Leben begleitet und die Wissenskultur
einer ganzen Zivilisation infiziert.
Das 68er-Bewusstsein ist in dreifacher Hinsicht Wahn: erst der Wahn, auf
der Seite der Sieger der Geschichte zu stehen, dann, ihre Opfer zu
repräsentieren, schließlich, Geschichte steuern zu können.
Steuerungskompetenz ist das A und Ω des irrigen Bewusstseins, mit der
Epoche der Irrungen durch zu sein. Sein Schlüssel zur Aufhebung der
Geschichte ist Wortmagie. Wer die Sprache regelt, beherrscht die
Prozesse. Das war und ist der Kern der Parole Seid realistisch,
verlangt das Unmögliche.
Ein neuer Wahn, an Simplizität und Grausamkeit den früheren in den Schatten stellend, ist in die Welt getreten und ein Ende nicht abzusehen.
Es ist nicht schön, dem Selbstmord einer Zivilisation beizuwohnen und den daran Beteiligten, Tätern wie Opfern, dabei in die Karten zu schauen.
Die Wahrnehmung ›Nichts ist, was es zu sein begehrt‹, die darin enthaltene Warnung vorm unvermeidlich falschen Leben und die Apotheose des wahren Begehrens verraten jedem, dem nicht bereits früher Hören und Sehen verging, wohin die Reise geht.
Einmal mehr sehen wir eine fanatische Erweckungsbewegung, wie sie der hochaktive Vulkan des christlich geprägten Bewusstseins im Lauf der Jahrhunderte immer wieder auszuspucken geruht.
Diese Bewegung hat einen Vorlauf.
Glauben ohne Glauben: das ist die Fahrt nach dem Jenseits, das Jenseits hinter sich habend und vor sich wie eh und je die große Illusion.
Eine vergangene Epoche ist wie eine beendete Beziehung. Vielleicht nicht in jeder Hinsicht, aber ganz gewiss in einer –: was gewesen ist und nun rasch in eine abgeschlossene Vergangenheit zurücksinkt, übt eine Macht über das Gegenwärtige aus, die es als Gegenwart nie besaß. Die Gegenwart duckt sich, erschrocken, unter dem Wüten dieser Kraft … nicht auffällig, nicht zu sehr, gerade ausreichend, um den erwünschten, ersehnten, erhofften aufrechten Gang ein weiteres Mal zu vertagen. Mit der Zeit enthüllt die Vergangenheit ihre Tücken. Sie wird zum ›So nicht!‹ der Gegenwart. Das ist ein privilegierter Posten, ein grandioses Scharnier, auch wenn es hin und wieder quietscht. Wenn es so nicht geht – und die Vergangenheit zeigt, dass es so nicht geht –, dann, ja dann … muss es anders gehen.
Die Welt soll wissen, woran wir untergingen.
Über der Schulter öffnete sich die nahe Rose des Münsters. Aus unbestimmter Tiefe traten Fialen ins Bild und zielten direkt auf das Herz. Sie stellten Lanzen dar oder rhythmisch geordnete Gitterstäbe. Ihr Auf und Nieder umspielte das Zentrum der Welt. Es war eines der vielen Zentren, die sie sich zu geben pflegt, neben- wie nacheinander, menschlichen Blicken greifbar oder ihnen dauerhaft enthoben, dafür umso entschiedener in den Köpfen fixiert. Die sechzehn Blätter der Rose schwiegen dazu, sie glitzerten in der Sonne, verträumt, wie es dem Reisenden vorkam, doch er mochte sich täuschen. Er war sich bereits sicher, dass er sich täuschte, das kleine, fast unmerkliche ›fast‹ darin stört ihn nicht, im Gegenteil, es belebte ihn und sorgte dafür, dass der Fluss der Gedanken auch an dieser Stelle nicht zum Erliegen kam.