DIE PAARE
DIE KREISE
Werkstatt
 
Renate Solbach: Figur 1
Blick zurück

Ich blicke auf diese Anfänge nicht ohne Stolz zurück. Als ich zu schreiben begann, wusste ich wenig, aus der Rückschau betrachtet: erschreckend wenig. Ich ließ mich von diesem Wenigen führen, es war mein Licht in der Dunkelheit, mein Führer der Verwirrten, meine Wünschelrute, die immer gerade dann auszuschlagen begann, wenn ich das Spielzeug aus der Hand legen wollte. Das war, im Nachhinein sei es gestanden, oft genug der Fall. Das Spielzeug … nein, es ist, den nicht wenigen Unkenrufen zum Trotz, kein Roman geworden, nicht noch ein Roman, sondern eine offene Werkstatt, in der meine Wenigkeit bis heute zu Gange ist, nicht allein, nein, nicht mehr ganz allein wie in jenen Jahren, in denen mir nur das Schweigen, oft aus dem engsten Kreis, antwortete, sobald ich die Rede auf das Manuskript brachte, das mir solches Kopfzerbrechen bereitete, dass ich darüber, heute kann ich es gestehen, gelegentlich fast den Verstand verlor. Ich betrachte es als Zeichen innerer Stärke, in solchen Phasen der Versuchung, mich in ›Behandlung‹ zu begeben, widerstanden und stattdessen meine solitäre Recherche weitergetrieben zu haben. Geschehen konnte das nur, weil ich bald begriffen hatte, dass nicht die Hand eines einzelnen Menschen, auch nicht des auf rätselhafte Weise verschwundenen Freundes, an meinem aus Ahnungslosigkeit geborenen Dilemma schuld war – sofern hier von ›schuld sein‹ die Rede sein kann –, sondern, sozusagen, die Umgebung, die mich geboren und mit ihren Auffassungen durchtränkt hat: eine rapide sich wandelnde, aber in gewissen Grundverhältnissen sich auch wieder erstaunlich treu gebliebene Welt, an deren Schlaf jenes Typoskript rührte, um es mit einer aus schrecklicher Vergangenheit herüberragenden Phrase auszudrücken. Wie sich im Weiterlesen zeigen wird, ist es nicht bei Rennertz’ ursprünglichem Text geblieben. Man möge den Vorgang produktive Anverwandlung – oder wie meine geschiedene Frau, Diebstahl – nennen: Aus dem Jenseits wandelte sich, Brocken für Brocken, zu Kybrium. Doch der Weg dahin war – und ist – weit. Fast wäre er zu weit geworden, doch das beherzte Eingreifen zweier Frauen und der gekonnte Eingriff eines Chirurgen sollten das, wer weiß zu welchem Ende, fürs erste noch einmal verhindern.

Bringen wir Licht ins Dunkel.

Guido Auerwald

Post Scriptum

Post Scriptum
1
Renate Solbach: Figur 3
Ein Blatt

(…)
Auch nach über zwei Jahren bin ich mir nicht sicher, ob ich für die Aufgabe, die ich damals nur deshalb übernommen habe, weil ich keinen Anlass sah, mich ihr zu entziehen – (getilgt) –, auch der richtige Mann bin. Ich hege Zweifel. Nicht immer, nicht grundsätzlich, nicht aus Angst zu versagen, aber sie kommen wieder, in kurzen und langen Abständen, je nachdem, welchen Dringlichkeitsgrad ich der Angelegenheit beilege, von der außer mir (und meiner Frau, aber das steht auf einem anderen Blatt) bisher niemand weiß. Wenn ich heute damit an eine begrenzte Fachöffentlichkeit gehe, dann leitet mich neben dem Wunsch, kundiges Gehör zu finden, auch die Hoffnung, durch die Niederschrift meine eigenen Gedanken so weit zu ordnen, dass damit die so lange aufgeschobene Entscheidung in meine Reichweite gelangt, was bisher leider nie der Fall war.

ICH WILL ES WISSEN

Post Scriptum
2
… und noch eins

Ich schrieb ›nie‹, wohl wissend, dass es Zeiten gab, in denen diese Entscheidung zum Greifen nahe schien, täuschend nahe, wie sich herausstellte, sobald ich die Sache dann endlich vom Tisch haben wollte. Welche Sache, werden meine Leser fragen. Damit wäre der Grund der Verhinderung angesprochen: eine, die sich nicht in drei Sätzen darstellen lässt, es sei denn, jemand – nicht ich! – besäße zufällig den passenden Sinn und spräche sein Sesam-öffne-dich. Seltsam genug, habe ich mein Problem geerbt. Genauer gesagt: es fiel mir zu, ohne dass ich es hätte abweisen dürfen, weil ich, unbedarft genug, bereits meine Einwilligung gegeben hatte. Nein, es handelt sich um kein menschliches Wesen, kein unmündiges Gör mit Engelsgesicht, keine Bulldogge, bei deren zähnefletschendem Anblick sich mir das Herz zusammenzöge, eher um eine papierene Größe, äußerlich überschaubar, aber gerade das täuscht.

KOMMT ZEIT KOMMT RAT
KOMMT RAT KOMMT UNRAT

Nach diesem Motto könnte ich die Entscheidung, aufgeschoben, wie sie nun einmal ist, dem Vergehen der Zeit überantworten. Irgendwann lösen sich Probleme von selbst, die selbstgestellte Aufgabe diffundiert und das Material, das einst so viel Kopfzerbrechen bereitete, wandert auf den Dachboden – warum nicht? Die einfachste Antwort lautet: weil ich es so will. Wie immer gäbe es auch hier eine zweite und dritte Auskunft, aber sie geht – vorerst – niemanden etwas an und daher sei der Mantel des Schweigens darüber gebreitet.

Post Scriptum
3
Meine Wenigkeit

Ich heiße Auerwald, Guido Auerwald. Sie werden den Namen in Ihren Dateien nicht finden. Als Geschäftsführer einer kleinen Firma pflege ich gute Kontakte zu den Branchenriesen der schreibenden Zunft. Allerdings bewegt sich das mehr auf der technischen Ebene und kommt hier nicht in Betracht. Ich schicke etwas über Entscheidung voraus, das mir seit langem auf der Seele brennt, ja brennt, so pathetisch sich das auch anhören mag, weil es meine Entscheidungsnöte betrifft und darüber hinaus die Nöte einer Gesellschaft, die zwar die meinige ist, aber, wie ich an vielen Orten bemerke, auf meinen Rat keinerlei Wert legt. Entscheidung, wie ich sie verstehe, braucht Rat, Rat braucht Vernunft, Vernunft braucht Weltsicht, Weltsicht braucht freien Atem, wie er die längste Zeit meines Lebens gestattet war, bevor eine Bande mutmaßlicher Mörder für einen Klimasturz sorgte, der kein Entrinnen vorsah. Seit dieser Zeit wird blind praktiziert, was einmal Entscheidung hieß. Justitia, scheinblind, hat heftig zu blinzeln begonnen. Sie findet ihre Aufgabe darin, den Entscheidungsträgern – so heißen sie wohl – den Rücken frei zu halten. Ich kann diesem Skandal nichts Gutes abgewinnen, es sei denn den festen Entschluss, es wenigstens privat mit der Maxime zu halten: kein ding sei wo das wort gebricht, soll heißen: ich werde in dieser Sache, wie in jeder anderen, die mich angeht, nichts Unüberlegtes tun oder lassen. Es schmeichelt mir, dass ich meine Überlegungen in diesem renommierten Medium ausbreiten darf, und hoffe, dass Sie mir nachsehen werden, wohin das alles führt.

Post Scriptum
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Sagen wir,

ich befinde mich auf der Pirsch, und mein Wild heißt Rennertz. Ich schiebe die Frage auf, was es mit dieser Person auf sich hat, und konzentriere mich auf den Quell der erlittenen Unbill: den letzten Abend, den ich gemeinsam mit ihm absolvierte. An diesem Abend beginnt meine Reise, deshalb setze ich ihn hierher. Nebenbei: es gibt ihn doppelt. Viele Menschen tragen doppelte Erinnerungen mit sich herum, nicht wenige drei- bis vierfache, je nach Tageszeit und Gesprächspartner, das Spiel der Versionen ist Teil der allgemeinen Komödie, aus der sich keiner mir nichts dir nichts heraushält. Aber es gibt Varianten. Eine Version hält mein wie immer argloses Gedächtnis bereit, die andere habe ich seit damals aus Fakten und Mutmaßungen zusammengetragen. So pflegt es zu gehen, werden viele sagen. Ganz recht: so pflegt es zu gehen. Ich bilde da keine Ausnahme. In diesem Fall jedoch geht jeder Teil seine eigenen Wege. Stunden gibt es, da scheinen sie fast zu verschmelzen, dann wieder liegen sie so weit auseinander, dass ich schwankend werde, ob dieses Treffen überhaupt jemals stattfand. Das ist zwar, mit Verlaub, Nonsens, doch was kümmert das schon die Psyche? Im allgemeinen gibt sie sich brav und überzeugt, dass ich Rennertz an einem verregneten Julitag vom Steuer meines BMW aus anrief und mich mit ihm zum Abendessen in der Altstadt von D verabredete. Ich könnte im Terminkalender nachsehen lassen. Doch der ist vermutlich längst entsorgt.

Rennertz
Post Scriptum
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Bloß ein Geklimper, ach

D, SG, OB, BO, DO, E, GE, DU, HA etc. – Topographie der Ruhrstadt, jedem geläufig, der die Luft ihres Autobahnnetzes geschnuppert hat oder auf der Suche nach einer Pommesbude vom rechten Weg abkam. Es gibt Ortsnamen, die man schmecken, und solche, die man riechen kann. Hier verschmelzen die Sinne zu einem einzigen Signalement: Wir sind’s.


Rennertz und ich: Bewohner der Ruhrstadt. Waren es und werden es bleiben. Wie allen Metropolen haftet auch dieser ein Hauch von Unwirklichkeit an. Man fragt dort nicht, wo einer herkommt. Man ist Metropolenbewohner oder man ist es nicht. Metropole ist dort, wo Herkunft nicht mehr bewegt als ein Lufthauch, den nur der Besinnliche registriert. Ruhrstadt? Gibt’s nicht. So reden viele. Es hat sie, nach dem Willen der Mächtigen, nicht geben sollen und es gibt sie, kraft der Macht des Faktischen, doch. Auch Rennertz und ich, Nachkriegskinder wir beide, wurden widerwillig geboren. Es hätte uns nicht geben sollen und es gibt uns doch.

Apropos:
Damals meinte ich zu wissen (was ist das…?), dieser zurückhaltende, von einem unausgesprochenen, womöglich unaussprechlichen Hochmut erfüllte Mensch verdiene sein Geld in der Werbebranche. Heute sehe ich meine unbegreifliche Verblendung. Es muss komische Momente zwischen uns gegeben haben.


Sie vertrauen mir nicht?
Vertrauen Sie sich selbst.

Post Scriptum
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Vielleicht der Spott

Wie oft haben wir uns getroffen? Eher selten, sagt das Bewusstsein heute. Was gestern? Gibt es ein gestriges Bewusstsein im Heute? Da melden sich Zweifel: Ehrlich gesagt, mir fehlt das Maß fürs Gestern. Es gab ein Später, es gab ein Früher, ich komme darauf zurück.

 

Übrigens glaube ich nicht, dass ihm die Herzen der Menschen zuflogen. Rennertz liebte das Paradox, er suchte Gesprächspartner. Er war bereit, jedem Gedanken bis in den letzten Winkel zu folgen und ihn dann wie eine Taube auffliegen zu lassen. Mir kam das entgegen. Was will die Seele mehr? Das robusteste Band wechselseitiger Sympathie hielt uns zusammen. Jedenfalls empfand ich es so. Heute – Schwamm drüber!

 

Hinter mir lag ein harter Geschäftstag. Rennertz kam aus SG herüber. Alles gestaltete sich wie immer. Ich hatte Platz genommen, registrierte, leichten Spott im Gemüt, den Dackelblick des Erwarteten auf der Schwelle, bevor er eilig, die Schultern nach vorn geklappt, den Tisch ansteuerte, an dem ich saß, sich knapp neben den für ihn reservierten Stuhl stellte – ›als wolle er ihn umwerfen!‹ – und, nach kurzer Begrüßung, Platz nahm. Platz! Viel brauchte er nicht. Den größten Teil der Sitzfläche ließ er frei, als wolle er sich gleich wieder erheben. Es war aber nur der Spannung geschuldet, unter der er stand. Sie krümmte ihn, während er sprach, zu mir herüber, bevor er in einer der seltenen Aufmerksamkeitspausen hemmungslos alle Viere von sich streckte. Woher kommt einer wie Rennertz, den, durch welche Tür er auch eintritt, die Aura der Ferne umgibt?
Aus einem Schoß.

 

Guido der Spötter. So nannte mich ausgerechnet der Mann, der mir, wann immer wir unsere Köpfe zusammensteckten, randvoll mit Spott erschien. Das gefiel mir. Spott macht die Herzen leicht. Spott, unterschiedlich intoniert und mitunter kaum wahrnehmbar, bildete das Elixier unserer verplauderten Stunden. Rennertz war ein scharfer Geist.

 

Spottsucht – was für ein dummes Wort! – ist die Waffe der Klugen gegen die Langeweile. Langweilte ich mich in meinem Beruf? Ich glaube nicht. In den Minuten allerdings, in denen ich der Begegnung mit diesem eigenartigen Propheten entgegensah, kam mir meine Alltagsumgebung, sagen wir, bleich vor.

Post Scriptum
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Und blieb kein einziges Wort

Erwähnen sollte ich an dieser Stelle, dass wir keine gemeinsamen Bekanntschaften mit Dritten pflegten (bis auf eine, oh ja). Ein Verbot lag in der Luft: Keine privaten Geschichten! Wir sprachen über Politik, über Wirtschaft, gelegentlich über Kultur, über all die sichtbaren und unsichtbaren Fäden, die diese Bereiche verbinden. Das war Rennertz’ Revier und er dominierte – ungeheuer kenntnisreich, mit einer bübischen Tendenz zu abseitigen Erwägungen, in deren Lauf es ihn wenig kostete, eine eben erst geäußerte Ansicht ironisch zu konterkarieren oder ins Absurde abgleiten zu lassen, ohne dass der beharrliche Gang seiner Argumentation darunter gelitten hätte. Man musste ihm folgen wollen. Mich faszinierte, was er zu sagen wusste, und wie er es sagte, auch.

Rennertz liebte die Symmetrie.

  • Wie enttäuschend: Es blieb kein einziges Wort. Bis auf eins. Oder zwei. Oder drei. Ansonsten, was immer bleibt: Eindrücke. Dazu ein Wortspiel: Wo drückt’s?
  • Käme er heute zur Tür herein, es wäre das alte Spiel.
  • Dennoch werde ich ihn zitieren (ausgiebig, wie Sie bemerken werden). Warum? Weil seine Reden, seine Redensarten und Redefiguren in mir zu einer verschmolzen sind, aus der ich mich nach Belieben bedienen kann. Auch so geht Erinnerung.
  • Werden Sie mir glauben? Wird mir irgendjemand Glauben schenken? Wenn ich jetzt sage, ich lasse mir nichts schenken, nimmt es mir jemand ab? Das sind so Fragen, die man sich am Beginn einer Reise schenkt. Nachher weiß man Bescheid.

 

Nun also: der bewusste Abend.
Eine gewisse Feierlichkeit, wenigstens in der Wortwahl, wäre vielleicht angebracht … sei’s drum! Niemand kann aus seiner Haut.
Niemand ist gern niemand.

Post Scriptum
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Rennertz entspannt

wie nach konzentrierter Arbeit, mit einem Schuss Müdigkeit, die sich im Gespräch bald verflüchtigte. Das Essen gut, vielleicht etwas üppig, dem Gespräch tat es keinen Abbruch. Im Lauf des Abends überraschte er mich (vielleicht übertreibe ich jetzt) durch ein paar hingestreute Bemerkungen über die Schriftstellerei. Es ging, soweit ich mich erinnere, nicht um Inhalte, sondern um den literarischen Markt. Ich dachte noch, eigentlich könnte er sich auch über das Molkereiwesen verbreiten. So täuscht man sich. Meine Aufmerksamkeit musste erst durch das folgende Ereignis geschärft werden, bevor mir der Verdacht kam, er habe ›in meiner Sprache‹ über Dinge reden wollen, die bald für mich Bedeutung bekommen würden. Sollte es so gewesen sein, dann ging es gründlich schief. Ich nenne das: Entfernung durch Annäherung. Wie immer Spott in der Stimme, versuchte er mich davon zu überzeugen, die Grenze zwischen einem belanglosen ›Dialekt‹ und einer Literatursprache verlaufe dort, wo der Markt gerade noch groß genug sei, um die Masse der für ihn produzierenden Schriftsteller zu ernähren.

  • ―Wohlgemerkt ernähren, wiederholte er, das Weinglas in seiner Rechten (das alles ist Interpolation). In einer Sprache zu schreiben, die dieses Kriterium nicht erfülle oder in absehbarer Zeit nicht mehr erfüllen werde, sei Angelegenheit von Dilettanten, von denen es natürlich immer genug gebe.
  • ―Dilettanten, lächelte er, das Thema abschließend, wie ich mich zu erinnern glaube, und stellte das Glas zurück.

Noch immer sehe ich ihn lächeln – obgleich ich weiß, dass es so nicht gewesen sein kann –, ironisch, ein wenig entgleitend, mit den Händen die Beiläufigkeit des soeben Gesagten oder des Folgenden unterstreichend.

  • ―Ich bin im Begriff, Sie zu bitten, mir einen Gefallen zu tun – nein nein, nicht jetzt, vielleicht später, vielleicht wird es sich auch gar nicht ergeben, wehrte er eine entsprechende, von mir eher rituell vollzogene Geste ab. Es geht um eine Kleinigkeit, die ich Ihnen im Fall meines Ablebens zur freien Verfügung überlassen möchte. Aber Sie sehen ja, ich bin völlig gesund, es hat keine Gefahr.

Mehr wurde über den Gegenstand nicht gesprochen.

Post Scriptum
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Die Sendung kam etwa drei Monate später. Ich fand sie auf meinem Schreibtisch, während ich mich in Gedanken auf eine Sitzung vorbereitete, und legte sie auf die Seite. Am nächsten Tag (ich hatte sie dazwischen völlig vergessen) bewog mich eine vage aufscheinende Erinnerung an den halbversunkenen Abend, mir einen Cognac einzugießen, ehe ich das sorgsam verschnürte Päckchen hervorholte. Es enthielt, neben einem USB-Stick, der mir beim Auspacken entgegenfiel, ein Typoskript von annähernd tausend Seiten, gebunden in blaugrau marmorierten Karton, den Rücken mit einem breiten, schwarzen, um die Kanten herumgeführten Klebeband überzogen. Auf dem inneren Deckblatt stand der Name meines Freundes, ›Georg Rennertz‹, dahinter ein Doppelpunkt, darunter, durch einige Leerzeilen abgesetzt, Nach dem Jenseits. Es handelte sich, wie ich beim raschen Überblättern entschied, um etwas nach Art eines Romans.

 

Der ungeeignete Mann

Der ungeeignete Mann
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Renate Solbach: Figur 2
Ein Toter zuviel

Kein Begleitschreiben, nichts. Rennertz’ Ableben, es leuchtete mir sonnenklar aus der Sendung entgegen. Überraschend, gewiss, aber nach jenen Andeutungen auch wieder … Stoff vom eigenen Stoff, eine Vertraulichkeit fast, die man mit niemandem weiter teilt. Außerdem wusste ich nichts über sein Leben, von ein paar gemeinsamen Eskapaden abgesehen. Vor ein paar Wochen war er mir noch quicklebendig erschienen. Zweifellos hatte es da etwas gegeben, worüber er nicht mit mir sprechen wollte. Menschen verhalten sich manchmal seltsam. Das liegt in der Regel daran, dass man zu wenig über sie weiß. Natürlich konnte er inzwischen einfach verschwunden sein, unterwegs nach dem Jenseits, doch, ehrlich gesagt, mir darunter etwas vorzustellen fehlte mir die Phantasie. Rennertz, so verstand ich die Sendung, war tot, dies hier sein Werk und ich … jetzt offenbar so etwas wie sein literarischer Nachlassverwalter. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung davon besessen, dass mein spöttischer Zwilling schrieb; jetzt war es zu spät, ihn auszufragen. Der Zug war abgefahren.

Kurios war nur, dass ich der einzige sein sollte, der darüber ins Bild gesetzt wurde. Ich nahm nicht an, dass neben meinem Exemplar noch weitere in die Welt gegangen waren. Auch dessen war ich mir relativ sicher. Egal, ob mich die Erinnerung an seine Stimme oder irgendein anderes Detail darin bestärkte, Tatsache ist, dass ich das hier nicht als posthum veranstaltete Farce betrachten wollte. Aber warum dann ich? Zugegeben, ich las gern ein gutes Buch. Die literarische Welt allerdings, was immer das sein mag, lag außerhalb meiner Kreise. Es mussten schon besondere Gründe sein, die einen wie ihn bewogen hatten, sein Werk einem wie mir zu vermachen.

Sinnlos, darüber zu spekulieren. Ich hatte den Auftrag übernommen und da lag er. Ich musste ihn nicht auf die Waage heben, um zu wissen: das hier war ein Schwergewicht. Expertise tat not. Schritt eins bestand darin, das zugesandte Material zu studieren und die nötigen Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen. Es gab kein Begleitschreiben, keine Nachschrift, nichts, das in irgendeiner Richtung hätte anleiten können. Nichts gab es als den von mir aus oberflächlicher Betrachtung heraus so genannten Roman, zu dessen Lektüre ich mich in den folgenden Wochen Abend für Abend zurückzog. Nach drei Monaten brach ich sie – aus damaliger Sicht ergebnislos – ab.

Der ungeeignete Mann
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Wie verrückt ist das denn?

Nach dem JenseitsUnd so schritt ich denn. Es war mein erster Ausflug ins Innere, sagen wir, einer rollenden Kugel, in das noch nie ein Tageslicht gefallen war, und sie endete ergebnislos. Die rollende Kugel war natürlich der Text. Er rollte und rollte… Ich fürchte, es naht die Zeit für ein erstes Geständnis. Soll ich beschreiben, was ich gelesen hatte? Es fällt mir schwer zu gestehen, aber es hilft nun einmal –: nichts. Zugegeben, das klingt etwas konfus. Ich werde versuchen, den Sachverhalt, so gut es geht, zu erläutern. Ich hatte etwas gelesen, dessen Bedeutung … Sie kennen den Ausdruck ›ein Buch mit sieben Siegeln‹? Nun, ich hatte etwas gelesen, dessen Bedeutung, wie mir schien, sich vor mir zurückzog, bis sie am Ende unvermittelt an den Anfang zurücksprang: Noch einmal!

Ein Buch mit sieben Siegeln: ganz recht. Ich hatte ›nichts kapiert‹. Wie gesagt, ich bin ein praktisch veranlagter Mensch, Literatur ist nicht gerade meine Königsdisziplin, und das hier war ein ganz schöner Brocken. Neunzig Prozent der Menschen kommen ohne Literatur aus und sie kommen, alles in allem, ganz gut zurecht. Auch unsereins hat Bedürfnisse, man wirft nicht jedes Mal den Fernseher an, bloß um einschlafen zu können. Will sagen: ich lese gern. Meistens verstehe ich nicht gleich, worauf der Autor hinaus will, doch ein paar Einfälle genügen, jedenfalls in der Regel, um mich mit seinen Extravaganzen zu versöhnen. Der Leser versteht immer etwas, das versteht sich von selbst. Ein, zwei klar formulierte Sätze wirken da Wunder. Wer tiefer eindringen will – bitte! Nichts kann ihn daran hindern. Aber wenn das Verstehen nicht hinreicht, die einfachsten Zusammenhänge zu erkennen, dann tritt das Wörtchen ›nichts‹ in seine angestammten Rechte ein: Non capisci niente.

Das ist eine Feststellung. Erklärt ist damit nichts. Soll ich sagen, dass ich ein paar Monate ebenso rast- wie ratlos unterwegs war? Ich war auf etwas gestoßen, das ich noch nicht kannte. Ich nannte es bei mir: den abwesenden Sinn. Hätte ich Unsinn gelesen, ich hätte es schon gemerkt. Nein, das hier war kein Unsinn, es war Sinn, der sich entzog. Wie er sich entzog, konnte ich nicht sagen, und wohin er sich entzog, das, nun ja, entzog sich meiner Einsicht. Vielleicht existiert keine Sprache, in der sich auf zweckmäßig differenzierte Weise über abwesenden Sinn reden lässt. Sprache, das haben brillantere Geister als ich festgestellt, ist eine Art Käfig, über unsere Wahrnehmungen gestülpt, um ihnen eine Richtung zu verleihen, mit der man leben kann. Voilà, am Ende der Lektüre stand meine Überzeugung fest. Ich hatte es mit dem Werk eines Verrückten zu tun.

Der ungeeignete Mann
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Nimm was du brauchst

Lesen Sie Weltschrift? Ich meine, betrachten Sie die Welt als ein offenes Buch? In diesem Fall… Aber ich will nicht hochmütig sein. Wir alle lesen Weltschrift, jeden Tag, jede Stunde, nur manchmal kippt das Bild und die Buchstaben verschwimmen. Sie verschwimmen, sage ich, aber das stimmt nicht. Sie verschmelzen miteinander, einige zu phantastischen Doppelbuchstaben, bei denen man sich niemals sicher sein kann, was sie bedeuten, manche zu prachtvollen Girlanden, die alles Mögliche andeuten und mit sich fortnehmen ins große Ungefähre, die meisten schließlich zu einem Brei, in dem Bedeuten und Nichtbedeuten ungefähr dasselbe … ›bedeuten‹, hätte ich fast gesagt. Aber das ist natürlich Nonsens.

Es ist Nonsens, sage ich, ganz wie die Idee, der Verfasser wäre in Wirklichkeit ein Fall für die Psychiatrie gewesen und ich hätte nichts davon bemerkt. Um es ein für allemal klarzustellen: ich denke nicht daran, mit dem Andenken meines verstorbenen Freundes zu spielen. Warum? Ganz einfach: ich habe es mir untersagt. Die Gründe dafür sind verwickelt, aber am Ende laufen sie auf einen hinaus: Selbstachtung. Ich darf nicht zulassen, dass sein Name zum Gespött wird. Der Rennertz, den ich gekannt habe, war nicht verrückt. Der Verrückte, der den Roman geschrieben hat, war nicht mein Rennertz. Natürlich zweifelte ich nicht an seiner Autorschaft. Das wäre ja … verrückt gewesen, nicht wahr?

Eine Verrücktheit ohne Verrückten ist ein bisschen wie ein Hund ohne Schwanz. Mit was soll er wedeln? Also erfand ich einen Verrückten. Ich stellte mir vor, er sei in der Schreibsituation hervorgetreten und mit ihr entwichen, um dem ganz normalen Rennertz wieder Raum zu geben. Ein Geist aus der Flasche, ganz recht, ein Riese Holdibrok, der unvermittelt zum Verfasser auflief, um zu tun, was offensichtlich getan werden musste. Sei kein Narr, rief mir die berühmte innere Stimme aus dem Hintergrund zu, aber es war zu spät. So vernarrt war ich in meine Kreatur, dass ich gar nicht bemerkte, dass nicht Rennertz, sondern ich … Sie wissen schon.

Jedenfalls können Sie es sich denken.

Der ungeeignete Mann
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Ein falscher Hund

  • Literation, knurrt der Hund ohne Schwanz, er knurrt es sanft und ich streichle gedankenverloren sein Fell.
  • ―Ja, murmle ich gedankenverloren, Verbuchstabung, woher hast du den Kram?

Traurig blickt er mich an und ich bekenne mich schuldig.

Handle with Care

  • ―Ich weiß, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld bist du ins Leben getreten. Aber nun… Was geht dir ab? Wir haben Zeit. Wofür? Wir haben alle Zeit der Welt, dir einen Schwanz zu finden, eine buschige Rute, mit der du Wände fegen kannst. Will dir das gefallen? Sei ein braver Hund, leg dich nieder. Du willst nicht? Du wirst bockig? Du meinst, ich begehe einen Fehler? Wenn das so ist…

Was weiß der Hund, was ich nicht weiß? Vielleicht genau das. Er weiß nichts von meiner Schuld. Und das weiß er ganz genau.

Nicht ich habe versagt. Rennertz war’s.

Dieser Rennertz … ein Versager. Statt zur Stelle zu sein, war er verschwunden. Ein Drückeberger, um das mindeste zu sagen. Nun, er hatte sich getäuscht. So etwas passiert. Er hatte sich in mir getäuscht. Vielleicht auch in sich, wer will das wissen? Wähle den falschen Adressaten für deine Botschaft und schon gehst du dir selbst auf den Leim – deiner Leichtfertigkeit, deiner falschen Gewissheit, im Grunde dem Hochmut, der dich weiterzerrt, wo du dich erst vergewissern müsstest. Aber … aber … wenn das nicht der Grund war … wenn die Täuschung … an ganz anderer Stelle… Was, wenn das Werk kein Werk war? Ich –: ich wusste nicht, was ein Werk war und er wusste das. So einfach war das. Was lag näher als ein Manöver, dessen Zweck darin bestand mich zu täuschen? Ja sicher, er hatte mich täuschen wollen. Dann aber hatte er sich getäuscht. Denn das lag außerhalb unserer Abmachung.

  • ―Wo bist du, Rennertz? flüsterte eine Stimme, so dass ich mich scheu umsah. Der Hund atmete still auf seinem Lager.
  • ―Warum verbirgst du dich? Zeige mir deinen Bruder und ich zeige dir seine Spur in deinem Herzen. Sag nicht, es schlüge nicht mehr. Heute schlägt es stärker denn je. Das Herz ist das Heute. Was hast du getan? Du denkst, Abwesenheit zerstreut den Sinn der Tat? Im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Er sammelt sich darin wie in einer Streusandbüchse. Es raschelt in ihr und alle Welt weiß Bescheid. Alle Welt? Mach dir nichts vor. Erschlage den Bruder und du bist der, dem du entrinnen willst: nichts. Erschaffe ihn dir und er wird alles wissen.

War dem so? Was hieß ›alles‹? Im Sprechen verstummt.

 

Doch ich dachte bereits an etwas anderes, an etwas Verbundeneres, Logischeres als an den bloßen Komplex von Verdachts- und Versagensmomenten – an ein Spiel, das Rennertz, ich möchte nicht sagen, mit mir trieb, denn dazu schien mir meine Rolle noch immer zu marginal; heute würde ich sagen: an eine Falle.

Der ungeeignete Mann
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Der geschwänzte Autor

  • ―Teufel aber auch!

Das (und noch viel mehr) sagte der Fischer zu siner Fru, als sie ihn über seinen plötzlichen Reichtum auszufragen begann. Er sagte es ihr nicht frank und frei ins Gesicht, sondern abgewandt, mit verdunkeltem Antlitz, denn er wusste, dass es nicht recht war, ihr die Quelle des plötzlichen Reichtums zu verschweigen. Was hätte er ihr antworten sollen? Was hätte ich mir antworten sollen? Gib’s auf?
Das war der Augenblick, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich bin Geschäftsmann, familiär veranlagt, nichts zwang mich, ihr weiter nachzugehen. Ich bin Leser, also einer, der schreiben lässt und keiner, der den Wunsch in sich trägt, auf diesem Feld aktiv zu werden. Ich bin einer der vielen, die ein instinktiver Respekt vor der arbeitsteiligen Gesellschaft daran hindert, sich der Aufgabenfelder anderer Menschen zu bemächtigen.
Und jetzt?
Ich sitze am Schreibtisch und schreibe. Sicher nicht wie Rennertz, eher wie einer, der Rechenschaft ablegt, um Klarheit in einer Sache zu gewinnen, die ihm ein anderer auf den Schreibtisch geworfen hat. Aber hätte Rennertz anders geantwortet, falls ich Gelegenheit bekommen hätte, ihn nach seinen Motiven zu fragen?
Ich weiß es nicht. Unbekannte Menschen stellen mir Raum zur Verfügung, öffentlichen Raum, um genau zu sein, um mich zu artikulieren, und schon … und schon … erfüllt mich eine schwer zu erklärende Unruhe. Meine Unbefangenheit ist dahin. Bin ich ein anderer? Das müsste ich wissen. Bin ich denn verrückt? Ich bin nur ein wenig außer mir selbst. Nicht viel, aber merklich.
Wäre ich misstrauisch, könnte ich argwöhnen, ich sei bestochen. Stückchen für Stückchen holt mich Rennertz ins Boot. Ist es das, worauf er spekuliert hat? Noch sehe ich die klaffende Differenz zwischen seinem Text und meinem Versuch ihn mir zurechtzulegen.
Noch sehe ich klar.

 

Genügt es, wenn ich sage, dass ich zu keinem Zeitpunkt daran gedacht habe aufzugeben? Auch das ist ein Argument, in Wahrheit das stärkste von allen, auch wenn es selten gewürdigt wird. Nicht, dass ich dem Verstorbenen gegenüber Skrupel gehabt hätte – das schon gar nicht –: es gab den Augenblick nicht, zu dem ich hätte loslassen können. Diese Sache betraf nicht Rennertz allein. Er war mir zu nahe getreten und ich … ich hätte das Gesicht verloren, wäre ich einfach ausgestiegen.
Warum das denn, werden Sie fragen. Fragen Sie ruhig, fragen ist gut. Sie werden Ihre Antworten bekommen, peu à peu, eine nach der anderen, drängeln gilt nicht.
Ich musste ihm auf die Schliche kommen, mochte der Preis noch so hoch sein. Was soll ich sagen? Ich bin ihm auf die Schliche gekommen, nicht ganz, nicht sofort, aber immerhin so weit, dass ich Ihnen heute Rede und Antwort stehen kann. Glauben Sie mir: das bedeutet mir eine ganze Menge.

  • Wenn Rennertz mir eine Falle gestellt hatte: worin mochte sie bestehen? Dieses Werk ohne sichtbaren Autor … ohne … erkennbaren Sinn … ja sicher, er hat es mir untergeschoben, als er mich darum bat, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Ich soll es aufziehen, ich soll es groß machen vor den Menschen und, wer weiß, vor seinem Gott. Ich soll ihm Sinn geben.

Der ungeeignete Mann
6
Das Geschäft des Kritikers

  • ―Sinn? Welchen Sinn? knurrt der Hund ohne Schwanz, aber er kann mich nicht irritieren.

Die Kritik ist das Salz der Literatur. Jemand muss auf den Geschmack kommen. Und das ist der Kritiker. Das Publikum schmeckt nichts, es sei denn, es wurde vorgesalzen. Dann allerdings…
Als lesender Laie bewundere ich Kritiker, aber ich lese sie nicht. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ich würde mich einmal in dieses Geschäft drängen. Was immer man darüber behauptet, es ist und bleibt ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Es setzt eine Börse voraus, die den Kurswert der Schriftsteller notiert. Er mag, je nach Verlag und Auflage, gering sein, aber er muss vorhanden sein. Rennertz mochte kein Schriftsteller sein. Er konnte es sich leisten, stattdessen leistete er sich das Werk.

 

Da mein Schriftsteller nicht auf dem Markt war, blieb mir nichts anderes übrig als –… Sie folgen mir noch? Es blieb mir nichts anderes übrig als hellzusehen. Wie ich schon sagte, ich bin Unternehmer. Es reizt mich, die Marktchancen eines Produkts abzuschätzen. Das hier war fix und fertig, bereit für die Markteinführung, aber es fehlte das Wichtigste, das Label, genannt ›Persönlichkeit‹. Ohne sie konnte es kein Vertrauen in das Produkt geben. Und ohne Vertrauen…

In God we trust.

Markt beruht auf Vertrauen. Es heißt zwar: Trau keinem! Doch Misstrauen und Vertrauen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der Markt steckt voller Betrüger. Wie kann ein Autor betrügen? Man kann die Frage auch anders stellen: Wann ist ein Autor kein Betrüger? Glaubt man der Rhetorik der Literaturverlage, dann ist jeder Schriftsteller, der es unter ihrer Regie zu einer gewissen Leserschaft bringt, ein Genie oder, etwas gedämpft, ein Ausnahmemensch: ein Wundenheiler. Verworfen oder erwählt. Tertium non datur.

  • Was ist ein Ausnahmemensch? Offenbar jemand, für den ein Normalmensch wie ich eine Ausnahme machen soll. Wie könnte sie aussehen? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich will es auch nicht wissen. Ausnahmemenschen, das lernte ich schnell, sind entweder tot oder sie sind Ausstellungsgegenstände. Rennertz war tot, aber er war niemals ausgestellt worden. Genau genommen war er nicht einmal tot. Für diese Kreise hatte nie er existiert. Zu allem Überfluss hatte auch ich nichts in der Hand, das diesen Mangel hätte beheben können. Kein Tagebuch, kein Essay, keine Lektüre verriet den Anspruch, unter dem das Werk entstanden war und woran ein Kritiker es hätte messen können. Es war also, nach den unerbittlichen Regeln der schreibenden Zunft, nicht vorhanden und daran würde sich auch nichts ändern.

Der ungeeignete Mann
7

Wohlgemerkt, ich rede von wahren Schriftstellern, denn schreiben kann jeder. Schriftsteller gibt es wie Sand am Meer, vielen bereitet es Schwierigkeiten, mit der Grammatik Schritt zu halten, sie läuft ihnen davon, obwohl sie sich selten bewegt. Andere sind staubtrocken, aber es fällt ihnen nicht auf und keiner ist da, der es ihnen erklärte, wieder andere sind einfach dumm. Ohnehin halten die meisten sich von der Belletristik fern. Zu Recht, denke ich, auch Rennertz hatte sich von der Belletristik ferngehalten, vermutlich hatte ich ihn nur deshalb nicht zur Seite gelegt. Warum schrieb ich dann: etwas nach Art eines Romans? Ich nahm einen Zettel und schrieb darauf:

DER ROMAN IST KEIN ROMAN

Einmal auf dem Weg, liefen meine Gedanken wie von selbst. Wohin, schwirrte die innere Stimme, wohin? Das wissen wir nicht, kam die Antwort, sie vervielfachte sich wie ein Echo, so dass ich nur die einzelnen Wörter hören konnte. So leicht also konnte man scheitern, sogar schon im Umgang mit sich selbst. Wieviel mehr dann mit anderen? Wieviel mehr dann mit einem Publikum, das man nicht kannte? Da hatte ich meinen Ansatz gefunden: Rennertz wollte nicht scheitern, er lehnte diesen Gedanken bis in den Tod hinein ab. Was mir wie ein Wust aus Wörtern vorkam, war das Ergebnis einer heroischen Anstrengung, dem immer möglichen Scheitern zu entgehen.

Spaß muss seinIn der postheroischen Gesellschaft zählt nur das Scheitern (schreiben gescheiterte Existenzen, die für gescheiterte Existenzen schreiben). Der Heroismus des Scheiterns als letzter Heroismus angesichts des Nichts, des großen Sinnlosen, fordert einen ersten Heroismus heraus, der das Sinnlose unter seine Fittiche nimmt und damit auffliegt – irgendwohin, wo ihm niemand folgen kann, vornehmlich, weil es keiner will. Warum sich sinnlos anstrengen? So denken die meisten und sie haben allen Grund dazu. Sie wollen leben – was immer sie darunter verstehen –, sie wollen jede Sekunde ihres Lebens auskosten und sind nicht bereit, es sich zu versagen, es sei denn um vermuteter größerer Genüsse willen. Es gibt keine Nachwelt. Warum sollte sie mich dann interessieren? Das schrieb ein Schriftsteller, den ich zufällig las, er hätte auch Tellerwäscher bleiben können, aber das Publikum wünschte, dass er auftrug. Ein Lakai mehr. Ich mag solche Reden nicht, aber ich verstehe, wie sie gemeint sind: Wenn ich sterbe, ist alles aus. Also ist alles aus. Das erfüllte Leben ist das entleerte. Der kluge Kopf Rennertz hatte sich für das ungelebte Leben entschieden.

So jedenfalls sah es für mich in diesem Augenblick aus.

Der ungeeignete Mann
8

Wie Sie sehen: das Rennertz-Ding hatte mich gepackt. Es hatte mich so gepackt, dass ich bereit war, mein Leben im Tausch für sein ungelebtes zu geben (was merkwürdig klingt, da ich ja etwas bekam), womit er offensichtlich gerechnet hatte. Dann aber ereignete sich ein Absturz –

  • ―Ich gehe. Du musst dich entscheiden: sie oder ich.

Im Ernst? Ja sicher, ich musste mich entscheiden, ob ich das Werk herausbringen wollte. Ich sage, ich hätte es getan, trotz aller Bedenken – ich hätte es getan und ich bin bereit, es heute auf der Stelle tun, vorausgesetzt, Rennertz’ Nachlass rechtfertigt einen solchen Schritt. Anitas Eifersucht auf eine herbeiphantasierte Geliebte traf einen wunden Punkt. Was, wenn ich bloß weniger argwöhnisch war als sie? Was, wenn das Werk nichts weiter war als das Dokument einer Strategie, dazu bestimmt, den Raum für all die ungeschriebenen Werke zu besetzen, mit denen sich der Verfasser dem Scheitern ausgesetzt hätte? Was, wenn er mir einen Platzhalter hinterlassen hatte, nichts weiter?

Wenn hier einer betrogen hatte… Mach dich nicht lächerlich. Ich versuchte, den Verdacht in seine Verästelungen hinein zu folgen. Recht überlegt bestand die Leistung des Schriftstellers R darin, dass er sich schreibend dem Schreiben und seinen Folgen entzogen hatte. Erneut schlugen meine Zweifel in Selbstzweifel um. Angenommen, ich war die Person, die Rennertz im Auge gehabt hatte, als er das Paket für mich schnürte – unbegreiflich, wie gerade ich den Knoten lösen sollte! Es gab nur eine Lösung, die seine Intelligenz befriedigt haben mochte. Er hatte meine Skrupel vorausgesehen.

  • ―Es ist anders als du denkst.

Der ungeeignete Mann
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Ich bin nur ein einfacher Leser

Wie oft werde ich diese Litanei noch vorbringen? Als einfacher Leser, der ich nun einmal bin, vermisse ich die Figur des Blenders, die es in meinen jungen Jahren noch hier und da gab. ›Blendend geschrieben‹ hieß es dann, den Rest sollte man sich denken. Der Autor, der zu sein prätendiert, was er nicht ist, ist eine Plage, ohne ihn ist keine Literatur denkbar, er entspricht dem Maler mit falschem Œuvre, dem Komponisten, dessen Werk niemanden überzeugt, es sei denn, ihn selbst und Hörer, welche die Fallhöhe nicht kennen, Leute, die gute Musik nicht von seichter zu unterscheiden vermögen. Gute Musik, sie klingt nicht nur in den Ohren, sondern auch im Gemüt, sie klingt nicht nur im Gemüt, sondern auch im Verstand, sie ist das Entzücken des Verstandes, der nichts lieber genießt als überrascht und über sich hinausgeführt zu werden, nachdem er begriffen hat, wie das gemacht ist… Er lässt sich ungern unterfordern, der Verstand, er ist schnell pikiert, wenn man ihm nichts zutraut oder ihn gleich übers Ohr haut. Der Markt, den ich meine, lässt das Urteil des Verstandes nicht zu, er siebt es aus, er liebt das Scheinheilige, auch wenn es im Gewande des Unheiligen daherkommt, er liebt den sauren Kitsch, als sei hier das Wesentliche geleistet.

Was ich, ein einfacher Leser, damit ausdrücken möchte: ein Autor kann die aktuellen Probleme seiner Gesellschaft oder Menschenklasse oder die großen der Menschheit in einen Plot einbringen, wie es in der überall anzutreffenden Schmutzsprache heißt, er kann die Sprache verdrehen, stauchen und dehnen, bis die einfache Lektüre der Lösung eines Kreuzworträtsels gleichkommt, er kann es damit zum wichtigen Gegenwartsautor bringen und dabei doch nur die ästhetisch Schwachbrüstigen auf seine Seite ziehen, die allerdings immer und überall in der Mehrheit sind, auch wenn sie, aufs Ganze gesehen, wahrscheinlich eine Minderheit darstellen. Was ich damit sagen will: ich glaube nicht, dass das, was als Literatur auf dem Markt ist, viel gelesen wird. Wenn’s klappt und das Verkaufskalkül aufgeht, dann wird sie gekauft, ins Regal gestellt und verschenkt. Gelesen werden, mit Verstand gelesen werden funktioniert anders.

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Der einfache Leser riskiert eine Lippe

Will sagen: wir halten uns eine Platzhalter-Literatur. Nur das ›wir‹ ist zweifelhaft angesichts der vielen, die sich ausgeklinkt haben, wenngleich aus Gründen, die zeigen, dass sie nicht begriffen haben, welches Spiel man mit ihnen spielt. Ein Mensch, jung und dumm, schreibt ein Buch aus Lust, es einem anderen gleichzutun, oder aus Begeisterung über eine Lektüre und weil er über einen ungebrochenen Nachahmungsdrang verfügt. Er ist also ein Schriftsteller und schreibt weiter. Er schreibt nicht, er schreibt weiter. Er denkt sich Themen und Plots aus, er schreibt nicht drauflos, er sammelt, studiert, arrangiert, konstruiert und am Ende setzt er ein Wort hinter das andere, genau dahin, wo man es vermutet. So entsteht ein Stellvertreter: das zweite Buch, das dritte und so fort. Verkauft es sich, ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, verkauft es sich nicht, ein verkannter. Der Markt hat ihn geschaffen, der Markt verschafft ihm Einkünfte, und seien sie noch so mager, der Gott des Marktes sei gepriesen.

Dann wäre also Rennertz’ Manuskript … nichts Besonderes, das willst du doch sagen? So könnte es auf den ersten Blick scheinen. Aber die Dinge liegen wohl etwas anders. Sie liegen so weit auseinander wie Unfähigkeit und Verweigerung, denn darauf läuft es am Ende hinaus. Ein verweigertes Buch mag so überflüssig sein wie ein, nun ja, überflüssiges, es mag als Platzhalter so gut seine Funktion erfüllen wie ein anderer. Aber die Verweigerung ist ihm eingeschrieben. Es läuft außer Konkurrenz. Wäre ich Verleger, so würde ich denken: Hände weg! Wäre ich Kritiker, so würde ich notieren: Die Kritik ist hier nicht gefragt. Was, wie alle Welt weiß, kein Lob ist. Als Leser, der ich nun einmal bin, huste ich zweimal und gehe davon.

Der ungeeignete Mann
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Zwischenstand

Besitzt Rennertz’ Werk, was man von einem Werk verlangt: Fallhöhe? Das war’s, was ich wissen musste. Ich wusste bloß nicht, wie ich dieses Wissen erlangen sollte. Rennertz, das Ekel, musste verstanden haben, dass ich mich für die Aufgabe, die er mir hinterließ, nicht zuständig fühlen würde. Also musste meine nicht zu übersehende Inkompetenz ihn bewogen haben, mich in das Spiel hineinzuziehen. Soviel konnte er ahnen: ich würde meine Aufgabe ernst nehmen. Also musste ich sie ernst nehmen, um zu begreifen, was er von mir gewollt hatte. Fehlte das dritte ›also‹ – und da war es: also hatte er die Entfaltung des Problems – seines, meines – einer raschen Lösung vorgezogen. Offensichtlich vertraute er meiner Inkompetenz so sehr, dass er sich von ihr die Vollendung seines Projekts erhoffte.

Der ungeeignete Mann war der erwünschte.

Nach dem Jenseits

Nach dem Jenseits
1
Renate Solbach: Figur 2
Kleiner Onkel

Eine Höhle in den Calanques, genannt Petit Oncle, ›Kleiner Onkel‹, narrt seit der Entdeckung vor dreißig Jahren ausgesuchte Besucher. Im fluoreszierenden Licht, das vom geheimnisvollen Eingang her in sie strömt, gewinnt die algenbesetzte, von merkwürdigem Getier bewohnte Unterwasserwelt eine täuschende Tiefe, die beim unwillkürlich einsetzenden Versuch des menschlichen Auges, sie zu fixieren, erbarmungslos zerrinnt. Ein Blendwerk der Natur wie so viele, von Optikern im Handumdrehen erklärt, ohne dass seine Faszination dadurch Einbuße zu gewärtigen hätte. Woran erkennt man Blendwerk? Abseits der physikalischen Auslöser, gleichsam philosophisch betrachtet, handelt es sich um Fälle von über- wie unterdeterminiertem Sehen. Man muss, simpel gesprochen, blinzeln wie die Kinder oder durch die Finger sehen, um den Effekt zu realisieren. Etwas von beidem strahlte mich aus Rennertz’ Ausdruck an. Was ich las, kam mir wie ein Etwas vor, das unbedingt nichts sein wollte.

Es schien, als hätte Kleiner Onkel mir etwas zu sagen. Ungerührt lag er da, ein fast geschlossenes Auge, und wartete darauf, dass ich hineinschlüpfte. Sein geräumiges Innere lächelte, sobald ich eindrang, doch nur für einen Moment, dann erlosch das Lächeln und nach mir griff eine Kälte, schwer zu beschreiben, doch darum nicht minder wirklich. Sie mochte aus verborgenen Tiefen aufsteigen oder aus mir, im Endeffekt kam es auf dasselbe heraus. Diese Kälte … ich versuchte sie mit dem Geist unserer Treffen abzugleichen. Aber es gelang mir nicht. Rennertz war mir weder warm- noch kaltherzig vorgekommen. Posthum verströmte er die Aura eines Unbekanntes, der unter die Tarnung wachsender Vertrautheit seinen Einfluss geltend machte.

Auch die Kälte deutete auf etwas Unbekanntes.

  • Es ist nichts, sagte ich mir.

Ich sagte es laut und leise und wirklich rührte sich nichts, nicht einmal ein Echo meiner eigenen Stimme.

  • ―Ich höre nichts, setzte ich nach, in der flachen Erwartung, aus einer dunklen Ecke ein leises Brummen oder Knurren zu hören. Das Knurren stammte aus meinem Magen und ich brach die Exkursion ab.

  • ―Das hat doch alles keinen Sinn, versicherte ich mir wie Hunderte Male zuvor. Ich gebe auf.

Kam aus dem Bauch der Höhle ein Grunzen? Mechanisch, wie um den Gegner herauszufordern, wiederholte ich:

  • ―Ich höre nichts.

Das war so richtig wie falsch. Doch die Erregung war zurückgekehrt und ich setzte meine Lektüre fort.

Tausend Seiten Text. Ich habe sie gelesen, eine um die andere. Demnach kann ich bezeugen, dass sie geschrieben wurden, geschrieben von einem wachen Geist, der, anders als ich, zweifellos wusste, was er tat. Ich habe sie gelesen, kein Zweifel, und ich muss den genannten Eindruck wohl dahingehend korrigieren, dass ich nichts Bestimmtes gelesen hatte, jedenfalls nichts, was für mich von Bedeutung gewesen wäre, ausgenommen ein paar Seiten, die mich, zugegeben, brennend angingen, schwimmend auf einem Meer von Belanglosigkeiten, wie sie der Müßiggang eines fremden Alltags produziert.

  • ―Da passiert doch nichts.

Wenn darin ein Widerspruch lag, dann war ich außerstande, ihn aufzulösen. Es lag wohl an der Aufmerksamkeitsschwelle – der ungezogenen Grenze, die Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung voneinander trennt. Du verpasst das Wichtige, solange dir das Unwichtige wichtig ist. Das Bestimmte ist das Unbestimmte.

  • ―Jasicher. Das Ereignete ist das Ereignis. Falls Sie daran zweifeln sollten, bitte. Kehren Sie zurück zur Schlichtheit Ihrer Vorfahren. Wo kommen Sie nicht gleich her? Janein, da kann ich auch nicht weiterhelfen.

Die Stimme, samt ihrem hellen rheinischen Tremolo, kannte ich.

Nach dem Jenseits
2
Blendwerk

  • ―Da passiert doch nichts.

Eingefahren in den Bauch der Gesellschaft, hatte ich den Satz oft gehört. Was soll schon passieren? Nichts geschieht. Oder, schon anspruchsvoller: Seinesgleichen geschieht. Wobei Seinesgleichen eine Unterform des Nichts darstellt, eine auf die Anwesenheit einer Bürokratie verweisende dépendance sozusagen, denn dass Bürokratie und Nichts eng miteinander verschwistert sind, weiß heutzutage jedes Kind. Nichts ist sinnloser als die Routinen der Bürokratie, nichts erzeugt mehr Chaos als Bürokratieversagen. Niemand weiß genau, wo Bürokratie anfängt und wo sie endet, sie ist die unsichtbare Macht hinter allem. Dort, wo sie in Erscheinung tritt, legt sie diverse Verkleidungen an, die es dem Ungeübten schwer machen, sie zu erkennen.

Die Geübten hingegen … sie sind schwer gezeichnet, diese Geübten, jedenfalls nach meiner Erfahrung. Sie wittern das Ganze in jedem Busch. Was immer ein Fehler ist, jedenfalls meiner Auffassung nach, weil das Ganze sie blendet – oder eher die Aussicht auf ein Ganzes, das sich entzieht, denn das Ganze ist ganz und gar unzugänglich, schon deshalb, weil es keine Position außerhalb zulässt. Ich bin mir sicher, dasselbe gilt für die Bürokratie: sie überbürokratisiert jeden, der sich ins Freie verläuft. Sie beobachtet ihn, er hat für sie nicht mehr Bedeutung als ein Fliegendreck an der Wand, aber sie vergisst ihn nicht.

Warum mir das einfällt? Ganz recht: wenn Bürokratie eine Unterform des Nichts ist, dann war Rennertz’s Nichts eine Unterform der Bürokratie. Die gleiche Beklemmung, in die mich der Gang auf die Ämter versetzte, bemächtigte sich meiner, sobald ich den Text aufschlug und weiterzulesen begann. Er begehrte mein Anliegen zu wissen und reagierte darauf, indem er mich achselzuckend von Schalter zu Schalter schickte, die meisten davon geschlossen, aber, wie mir ein Schildchen versicherte, nicht auf immer, so dass ich mich entscheiden musste zu verweilen oder, auf die Gefahr hin, mich heillos zu verlaufen, zur gegebenen Zeit wiederzukommen. Nichts bedeutete dasselbe wie im gemeinen Leben, jedenfalls versicherte mir das der Text, gleichsam augenzwinkernd, die Betonung auf die Wörter ›nichts‹, ›dasselbe‹ und ›gemein‹ legend, ich hätte ihn wegschleudern mögen, aber ich war schon in ihn vernarrt, in seine geheimen Türchen und Hintertürchen, seine Klappen und Mappen und Postsammelstellen, von denen es in alle Welt hinausging, jedenfalls allem Anschein nach.

Fehlte nur meine Petition.

Nach dem Jenseits
3
Der Mann Rennertz

… da wäre die Sache mit der doppelten Initiale. Ich fand sie nach annähernd zweihundert auf verbissener Schlüsselsuche erblätterten Seiten. Hier stand sie:

R

  • ―Rennertz, du Hund!

Schwanzlos wie er war, dachte er nicht daran mir zuzuwedeln, so wenig wie ich daran dachte, ihn deswegen zu verurteilen. Ohnehin erinnerte er in diesem Moment mehr an eine Eidechse, die ihren Schwanz abgeworfen hatte, um meinen Nachstellungen zu entrinnen.

DER NAME IST DER SCHLÜSSEL

Worte, nichts als Worte.

Finde Rennertz! Den richtigen, wenn’s geht, nicht den falschen, und dir wird aufgeschlossen. So stellt Klein-Guido sich den Eintritt in die verschlossene Welt vor. Ohnehin hätte er einiges dafür gegeben, den Kerl zu fassen, aus Gründen, die vorerst niemanden etwas angingen als ihn selbst. Bloß die Welt bereitete ihm Schwierigkeiten. Wenn er weiterlas, dann mit der konzentrierten Zerstreutheit, mit der ein Unbeteiligter den Verrichtungen der Handwerker an einem fremden Bau folgt. Er kennt die Pläne des Architekten nicht und sie scheren ihn auch nicht. Ihn fesselten die vielen kleinen Verrichtungen, aus denen seiner Mutmaßung nach ein Roman erwächst (weshalb sonst hätte er nach dem ersten Überlesen ohne Zögern entschieden, dass es sich um einen Roman handeln musste?), wenngleich auf diesem Areal nichts dergleichen erwuchs – eine unhaltbare Formulierung, denn was in meinem Kopf entstand, hielt diese Mitte zwischen etwas und nichts, mit der mein zunehmend anspruchsvolles Ich auch weiterhin nichts anzufangen wusste, es sei denn, ich steckte mir das Wort der Schrift hinter den Spiegel:

Jetzt sehen wir durch einen Spiegel, in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht.

  • ―Knurre nicht, Pudel!

Nach dem Jenseits
4
Vorwärts!

  • Nach dem Jenseits? rief Anita und fuhr mit der Hand über den Titel. Was ist denn das?

Dann sah sie den Namen des Autors. Sie riss die Hand zurück, als habe sie etwas gestochen.

  • ―Was hast du da? schrillte sie.

Ich nahm das Manuskript vom Tisch.

  • ―Ach, das –

Dabei hatte sie recht: die Lösung steckte im Titel. Dass ich darauf nicht früher gekommen war, wunderte mich.

Ich mochte ihn nicht: da lag der Grund. Was kommt nach dem Jenseits? Ein weiteres Jenseits, was sonst. Und wieder eines. Und immer so weiter.

So war das mit dem Jenseits. Die Frage, ob es eins gab, war damit nicht beantwortet. Ich glaubte nicht, dass Rennertz darüber Bescheid gewusst hatte. Der Titel wirkte gegriffen, fast hätte ich geschrieben: abgegriffen, aber das ginge vielleicht zu weit.

Natürlich konnte man ihn auch anders lesen: als richtungweisend. Warum denn nicht? Nach dem Jenseits…! Wohin denn sonst? Vorwärts. Wir alle waren unterwegs nach dem Jenseits, gesetzt, es gab so etwas, aber schon das Land, das sich jenseits der Hügelkette befindet, die das Blickfeld des Wanderers begrenzt, ist eine Art Jenseits und kann ein Ziel sein. Es gibt immer ein Jenseits, ein Unbekanntes, das lockt, das galt auch für Rennertz. Wir beide waren Verehrer des Unbekannten gewesen, eine kleine Hommage an unsere gemeinsame Zeit war nicht ausgeschlossen – ich atmete auf. So einfach löste sich alles.

Da lag er, der Eidechsenschwanz, und blinkte. Ein Sonnenstrahl hatte ihn getroffen und er glühte auf. Auch er verwies auf ein Jenseits, ein Jenseits seiner selbst, das einmal ein Teil von ihm gewesen und jetzt verduftet war, als habe es mit ihm nie zu tun gehabt. Man konnte das gemein finden oder tollkühn, es war doch nur eine List der Natur. Eine List… Auch der Text verwies auf etwas, das ihm abhanden gekommen war, mochte es nun der Autor sein oder der ewig offene Sinn. Wo lag der Trick?

  • Wo liegt der Trick? Anitas Augen funkelten mich aus der Gedankendämmerung an. Ich mochte sie nicht fragen, aber insgeheim wünschte ich, sie stünde mir bei.

Nach dem Jenseits
5
Jen-

Das Jenseits. Jahrhunderte–, jahrtausendelang hat die Menschheit an ein Jenseits geglaubt, die ältesten Zeugnisse deuten so etwas an, vermutlich gab es das Jenseits, seitdem es Menschen gibt. Erst wir, oder sagen wir: die Generationen vor uns haben den Jenseitsglauben gekündigt, den Kontrakt mit dem Jenseits aufgelöst, ohne sich groß zu fragen, was wohl danach kommen sollte außer dem blanken Diesseits, dem Reich der Freiheit, die durch den Gedanken an ein richterliches Drüben doch beträchtlich eingeschränkt wurde. Aber es war nicht nur das wartende Strafgericht, es war die Aussicht darauf, dass es immer weiterging, dass es im Menschen etwas Unzerbrechliches, seiner physischen Hülle Trotzendes gab, die den Weg ins Freie versperrte.

Der Mensch ist nur dann ganz Tier, wenn er sich des Jenseitsgedankens entschlägt. Er muss aber ganz Tier sein, soll die Welt funktionieren, in der wir leben und leben wollen. Gewöhnlich macht man sich das nicht klar, doch in jedem Einzelnen von uns existiert ein schneidender Imperativ, der es ihm verbietet, seine Gedanken ans Jenseits zu verschwenden, womöglich sogar daran zu glauben. Natürlich laufen immer Leute herum, die zu glauben glauben. Viel zu bedeuten hat das nicht. Die Leute glauben alles Mögliche, daran wird sich nie etwas ändern.

Man hat uns das Jenseits verboten, das ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit, aber nicht die volle. Die volle Wahrheit besagt, wir haben das Jenseits hinter uns, wir laufen ihm nicht nach, es rennt hinter uns her, ohne den geringsten Ehrgeiz uns einzuholen, so dass wir unseren Alltagsbeschäftigungen in Ruhe nachgehen können, ohne an Flucht zu denken. Also ist es wahr: wir befinden uns jenseits des Jenseits, wir sind die, die nach dem Jenseits kommen. Das gilt natürlich für alles, was wir treiben. Auch für Rennertz’ Werk.

Nach dem Jenseits
6
Ver***e dich selbst

VersuchsanstaltHätte Rennertz eine solche Gesellschaft beschreiben wollen, es hätte nichts anderes geheißen als Eulen nach Athen zu tragen. Sie beschreibt sich ja ununterbrochen selbst: wo hätte der Unterschied liegen können? Sie wiederholt sich, sie wiederholt sich, sie holt sich ein ums andere Mal zurück aus der endlosen Reihe ihrer Verwicklungen und Verirrungen, das ist es, was man sieht und begreift, wenn man auf sie blickt, ihr ewig-und-drei-Tage Ick bün schon da. Der Autor, der patentierte, gepflegte, gutaussehende Autor kennt den Weg nach draußen nicht, er kennt ihn ebenso wenig wie sie, er wirft sich, als sei dies die größte Selbstverständlichkeit von allen, zum Therapeuten auf oder er wirft sich auf die Gesellschaft, in einer seltsam blinden Wut, als müsse er sie rächen, indem er sie würgt. Die Gesellschaft lässt das völlig kalt, für sie ist er nicht mehr als ein Insekt, das sie eine Weile betrachtet, bevor sie es zerdrückt. Rennertz, der sich verdrückt hatte, muss das begriffen haben. Ganz sicher hat er es begriffen: sein Jenseits ist das Versteck, an dem sich der Autor vor den Nachforschungen des Lesers verborgen hält. Das galt natürlich auch für mich, den erkorenen Vorkoster: ich mochte grübeln und grübeln, ich mochte forschen und forschen, ich kam dem Geheimnis seiner Initiale nicht näher.

Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht.

Da ich von Wut sprach –: ein wenig von dieser Wut des Autors war auf mich, den Leser, übergegangen, der sich wieder und wieder auf den Text warf, um ihn … nun, um ihn auszuquetschen, um etwas aus ihm herauszuholen, was meiner Ansicht nach unbedingt in ihm verborgen sein musste, den Sinn: was war dieser Sinn? Ich wollte Rennertz verstehen, so wie ich ihn immer verstanden hatte, sooft wir in Gedanken miteinander musizierten. Dieser Text kündigte unsere gemeinsame Praxis auf. Mehr als das: er sprach ihr Hohn. Sollte er mich verhöhnen? Oder verhöhnte ich mich selbst und der Text schwieg dazu?

Ein schweigender Text? Was sollte das nun wieder sein?

Ich versuchte es mit einem Bild. Falls ich nicht mit dem Strom, sondern gegen ihn schwamm (ein beliebtes Bild in der Literatur, wie mir an dieser Stelle einfiel), konnte das bedeuten, dass mein Verstehen gerade dann stillstand, wenn ich in meiner Lektüre bestens vorankam. Das war hohe Kunst und ich durfte die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen. Zog ich sie ansatzweise in Betracht, dann bewegten sich die Formulierungen des Romans a priori jenseits der Aufschlüsse, die ich bisher von ihnen erwartet hatte. Der Sinn, den der Titel dadurch bekam, war unerwartet, aber vernünftig. Es war keiner, der diese oder jene Lesefrucht verhieß, sondern der von allen Autoren vergeblich gesuchte, der einzige, der das Werk bis zum letzten Satzzeichen in sich begriff.

Nach dem Jenseits
7
Unbegreiflich ist erst das Begriffene

  • ―Jetzt lass’ aber gut sein, zirpt eine Stimme von hinten, sie zerrt ein wenig an mir, sie hat ja recht, aber so einfach will ich es ihr und mir nicht machen. Diese Stimme aus dem Off, wie das einmal hieß, sie hat mir manche Pointe im Leben verdorben. Doch hier und heute soll sie keine Macht über mich gewinnen, selbst für den Fall, dass sie Rennertz hieße. So einfach, dachte ich mir, löst sich also das Rätsel. Wer das Jenseits voraussetzt, der setzt den Sinn voraus: er ist, wie beim Glücksspiel, überall schon gesetzt.

Remember the black box. – Du schiebst einen wohlgeformten, sinnvollen Satz in den Kasten, einen zweiten, einen dritten, eine lange, lange, sehr lange Kette sinnvoller Sätze, so dass ihr Sinn nicht mehr erkennbar ist, du füllst und füllst … er ist ja nicht ausgelöscht, der viele Sinn, der da zusammenkommt, er ist nur nicht abrufbar, schließlich ist dir nicht um den einzelnen Satz zu tun, sondern um das Ganze, immer nur um das Ganze … wo führt das hin? Ganz recht: es führt nirgendwo hin, es führt an keine Grenze, es sei denn diejenige, die aller Bedeutung innewohnt.

Aller? Aller. Es ist bloß ein Problem der Logik. Kein ding sei wo das wort gebricht. Es existiert kein Sinn außerhalb des Universums der Bedeutungen. Ein Sinn, der nichts bedeutete, wäre widersinnig, er fiele in sich zusammen wie ein falsches Soufflé. Das Universum der Bedeutungen allerdings ist nichts weiter als eine Idee. Man kann damit operieren, das macht hin und wieder Sinn, aber wer entfalten wollte, der müsste schon über die Spannbreite aller … sagen wir, um Rennertz’ Projekt gerecht zu werden: Romane verfügen, andernfalls würde nichts draus.

Nach dem Jenseits
8
Revanche I

Sieh an. Da hatte Rennertz sich aber übernommen. Ich gebe zu, das Ergebnis war mir nicht unlieb. Mein analytischer Verstand triumphierte. Sagen wir doch einfach: der seine hatte sich überhoben, als er daran ging, das Universum – und sei es bloß das der Wörter – zu überschreiben. Nicht ohne Bedacht wähle ich das Wort ›überschreiben‹, weil ich glaubte, darin eine Motivation zu erkennen. Er hatte eine Maschine erschaffen, die Bedeutungen einließ, aber nicht wieder herausrückte, vergleichbar einem Glücksspielautomaten, der vertrauensseligen Spielern mit dem Versprechen das Geld abknöpft, es ihnen in Überfülle zurückzuerstatten, vorausgesetzt, sie stopfen nur immer mehr hinein. Wenn er glaubte, in mir einen dieser Einfältigen gefunden zu haben, dann täuschte er sich. Ich war ihm auf die Schliche gekommen.

Fast im gleichen Augenblick klingelte es. Es klingelte so täuschend, dass ich unwillkürlich nach dem Telefon griff, obwohl ich schon wusste, dass der Klang durch die Zimmerwand kam. Anita hatte abgenommen und redete mit hoher, gleichsam frisch gespitzter Bleistiftstimme, wie sie es immer tat, wenn sie unbedingt erfreut wirken wollte, auch wenn sie sich niedergeschlagen fühlte. Ich vernahm das Wort ›Kultur‹ und sah Rennertz vor mir, der die Gewohnheit besaß, einige Wörter nie auszusprechen, ohne dabei das Gesicht zu verziehen, darunter auch dieses, das mir nicht viel bedeutete, wohl aber ihm, wenngleich offenbar nicht unbedingt Positives. Sein Verfahren, falls es denn seines war und kein Hirngespinst eines müßigen Nachmittags, schloss mit einer Sorgfalt, über die ich nachdenken musste, gerade das aus, was man die Kultur eines Autors nennen konnte: das leuchtende Universum der Worte, in dem er sich bewegte wie… Hier hätte mich Rennertz, wie ich mit plötzlicher Sicherheit wusste, unterbrochen –

  • ―… wie ein Äffchen im Klettergerüst, sag’s ruhig.

Nach dem Jenseits
9
Ein Silberstreif

Der Tag, an dem ich den Schriftsteller Rennertz abschrieb, steht in keinem Kalender verzeichnet. Rund und voll steht er dagegen in meiner Erinnerung. Die Sonne taperte hinter Wolken, die vom nächtlichen Niederschlag Zeugnis ablegten: ein erbärmlicher Kampf, in dem das strahlende Gestirn den Sieg davontrug, doch nicht für lange. Auf den getupften Vormittag folgte Einheitsgrau, Richtung Gainsboro, die Farbe träumender Ungewissheit. Was wollte mir der sperrige Nachlass eines Menschen, den ich einmal, offenbar zu Unrecht, zu kennen glaubte? Einmal musste entschieden werden. Und das musste jetzt sein. Die Tonne hinterm Haus schien mir nicht sicher genug zu sein. Um ein Haar hätte ich Ausdruck samt Stick verbrannt.

Hätte er es gewollt? Pauvre auteur! Die Fakten schwiegen und das war gut so. Vielleicht schwiegen sie auch nicht und schrieen ihre Wahrheit in den Raum. Nur ich blieb taub und vernahm rein gar nichts. Angenommen, ich hielt sein Werk, sein Lebenswerk (war das eine Steigerung?) gegen seinen, leider unerklärten, Willen zurück, so stand sein Recht gegen meines. Die Situation war verzwickt. Schließlich hatte er das Recht, das ich als meines ansah, auf mich übertragen. Ich verwandte sein Recht gegen ihn. Woher nahm ich das Recht, ihn zu ignorieren? Unvermittelt verfiel ich in Rennertz’ Duktus. Hatte ich jemanden übersehen? Einen, der auch Ansprüche stellen durfte?

HIER IST ÖFFENTLICHER RAUM

Öffentlichkeit … sie war so ein Kandidat. Immerhin setzt Literatur, egal wie trostlos, dumm, feige, erbärmlich, überflüssig, bedauerlich sie dem Kritiker vorkommt, Öffentlichkeit voraus. Für wen sonst würde sie geschrieben? Mochte Kritik jedes Recht besitzen, die Annahme zu verweigern, ich hatte angenommen und stand daher in der Pflicht, das Machwerk weiterzureichen. Bücher gehören nun einmal in die Öffentlichkeit. Niemand kommt auf die Idee nachzuprüfen, ob die Adresse korrekt ist. Es gibt einfach keine andere. Mehr als das: Fehlleitungen, etwa durch posthum ergehende Willensäußerungen des Autors, sind geeignet, den ganzen Zorn der Rezensentenzunft zu entfachen. Ich tat also gut daran, das Manuskript jedermann zugänglich zu machen, zumindest, es an der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit zu deponieren.

Was hiermit geschieht.

Nach dem Jenseits
10
Auskunft

Rennertz und ich lernten uns auf dem Vorplatz des Straßburger Münsters kennen, inmitten eines Pulks auffliegender Tauben, deren Revier wir, jeder aus einer anderen Richtung kommend, zur selben Zeit durchquerten. Wir trafen just zu dem Zeitpunkt aufeinander, an dem ich mich, mürbe von einer langen Autofahrt, spontan übergeben musste. Er trug einen Hut gegen die Sonne, den er symbolisch lüftete, was mich für ihn einnahm, obwohl es sich etwas affig ausnahm und nach Spott roch.

  • ―Sie kommen von oben, sagte ich, mich zögernd aufrichtend. Willkommen in den Niederungen.
  • ―Ich verstehe, dass Sie hinaufwollen, entgegnete er kühl, aber warum die Übereilung?

Gemeinsam betrachteten wir die Rosette, die fast die Fassade zu sprengen drohte.

  • ―Das Auge Gottes, sagte ich, um irgendetwas zu sagen und von meiner Misere abzulenken.
  • ―Das Auge der Vernunft, die über den Alltagsdingen schwebt, lächelte er. Sie sieht, was sie sehen will.

Das, notierte ich, war kein unbrauchbarer Gedanke.

  • ―Typischer Fall von wishful thinking.

Bedeckt halten. Warum eigentlich? Weil es angebracht ist. In der Gesellschaft, die wir sind, steht das Angebrachte himmelhoch über dem Hergebrachten, gleichgültig, wie groß der Nonsens ist, den es transportiert. Ich wusste nicht, in wessen Sold der schlanke Fremdling stand, geschweige denn unter welchem Bann. Weshalb war er unterwegs? In welchem Auftrag? Wahrhaft, ich sage euch: der Klugscheißer, das herausfinden zu wollen, war ich nicht. Weder damals noch später. Man zerstört keine Barockfassade, nur um herauszubekommen, welches billige Material sich dahinter verbirgt.

Er hat’s zerstört. Und nicht nur seins und meins,
Das Band, das alle Welt verbindet, er
zerschnitt es kühl, als sei es
gerade so viel wert wie eine Rute.

Nach dem Jenseits
11
Klasse sucht Klasse

  • kaɫtscha! orakelte der Fremde und lachte dazu. Er lachte so theatralisch, dass er sich, wirklich oder gespielt, verschluckte.
  • ―Sehen Sie? Man verschluckt sich daran, grunzte er und lachte wieder.

Mit welchem Schwein saß ich da an einem Tisch?

 

Kultur = Entertainment. Öffentlichkeit … Öffentlichkeit feiert Extrembergsteiger, Rekord-Ballonfahrer, Erstdurchquerer und Einsam-die-Welt-Umsegler. Gern schenkt sie ihnen die Aufmerksamkeit, die sie benötigen, um ihr pflegebedürftiges Ego aufzublähen, erinnert sich mit behaglicher Katastrophenfreude ihrer komischen oder grotesken Untergänge. Schnell unwillig wird sie hingegen, wenn Leute ihre Aufmerksamkeit beanspruchen – ein eher passiver Anspruch, aber vielleicht liegt da das Malheur –, die sich aufgemacht haben, um, wie soll ich sagen, in kalkulierter Vereinzelung die Grenzen der menschlichen Denk- und Empfindungsfähigkeit ein Stückweit hinauszurücken.

 

Routiniers, die Journalisten nun einmal sind, lassen sich nicht gern ein X für in U vormachen. Sie wittern den Scharlatan, schon bevor seine Tour beginnt. Mit ihnen kommt die Gesellschaft, die sich alles vormachen lässt. Ihre Experten, im alten China Mandarine genannt, lieben es, sich verwechseln zu lassen. Sie sind ganz vernarrt in die Vorstellung, sie seien vom gleichen Schlag wie die Meisterdenker, über die sie Urteile fällen. Das ist natürlich Bluff. Richtig ist, dass die kollektive Intelligenz den bedeutenden Einzelnen den Rang abgelaufen hat. Falsch ist, dass sie an sie herankommt.

 

Schwein gehabt. Rennertz, wie ich ihn kannte, genüsslich:

  • ―Glücklich, wer dem Sprachlosen eine Seite entwendet hat und gerade das in den Medien über seine Arbeit liest, was er hinter sich gelassen zu haben glaubt. Und doch fühlt er sich verstanden, weil die arbeitsteilige Gesellschaft ihn trägt und er das Abseits nicht im Sturz, sondern kletternd erkunden darf. Er ist gerettet verloren oder verloren gerettet. Wer weiß das schon? Wer will das schon wissen?

 

Noblesse oblige. Das Unbesprochene ist das unbesprochene.

Nach dem Jenseits
12
Ein Mensch

geht nicht kaputt, er verendet nicht – er geht. Was heißt in Würde gehen? Nichts weiter als: die Gesellschaft lässt dem Einzelnen Raum, wenn nicht zum Leben, so zum Sterben. Wo sie ihn nicht lässt, geschehen seltsame Dinge. Das Böse, das den Menschen kaputtmacht und zum Entsorgungsfall deklariert, was wäre es anderes als die Gesellschaft, an deren Oberfläche es treibt gleich Blasen in einem Fluss? Gelegentlich sieht man den Strudel, der sie erzeugt. Meist sieht man nichts, so dass man an geheimnisvolle Tiefen zu glauben beginnt, aus denen sie aufsteigen, aber das ist ein Irrtum. Ich denke, es ist ein Irrtum. Der Tod gewinnt immer. Es ist nie eine Katastrophe, wenn ein Einzelner geht. Mit ihm geht das Universum der Bedeutungen, ohne dass er es mitnähme. In dieser winzigen Denkspanne liegt die Bedeutung des Satzes: der Einzelne ist uneinholbar.

Das Jenseits ist unbestreitbar. Gesellschaften bleibt es unbenommen, es Nichts (oder nicht) zu nennen. Aber damit nehmen sie ihm nichts, nicht das Geringste. Nichts weiter kleben sie ihm auf als ein Etikett, das nichts bedeutet. Wo immer ein Nichts sich meldet, da ist Gesellschaft. Wo immer Gesellschaft ist, da ist der Sturz ins Nichts kein Problem. Wo immer das Alleinsein beginnt, da zuckt das Bewusstsein vor dem Gedanken ans Nichts zurück wie vor einer Kobra und die Person erstarrt. Sie hat keine Wahl.

Wenn also einer, auf den Tod hin lebend, soll heißen, sich unerreichbar machend, das Seine tut, vom Reichtum der Bedeutungen kostet, um sie mit einem Fußtritt von sich zu stoßen, dann mag das der Mitwelt sinnlos erscheinen, es ist und bleibt doch eine menschliche Tat.

Das Auge Gottes

Das Auge Gottes
1
Renate Solbach: Figur 4
Wer ist der Schuft?

Von den verschiedenen Weisen, in die Vergangenheit zu reisen, ist die Erinnerung die bei weitem bequemste. Leider ist sie die Unzuverlässigkeit selbst. Alles, woran ich mich zu erinnern glaube, ist Lüge. Es muss nicht falsch sein, es betrügt mich bloß um das Wesentliche. Oft genug ist es auch einfach falsch. Einfach falsch? Wie soll das gehen? Was, wenn ich mich genau daran erinnere? Wer wagt es, mir meine Erinnerungen zu bestreiten? Wer ist der Schuft? Ich verbürge mich… Währenddessen keimt etwas wie ein winziger Argwohn, ein Verdacht, der keiner sein will, der am liebsten maskiert bleiben möchte und meine Überzeugung in eine Maskerade verwandelt, in Rechthaberei wider Willen…

Wer die Fehlanzeige der Erinnerung für das letzte Wort des Gedächtnisses hält, der hat schon verloren. So etwas wie ein letztes Wort gibt es nicht. Die andere Seite der Erinnerung, sie existiert und sie wirkt weiter. Die Täuschung liegt in der jäh eintretenden und bei Bedarf wieder verblassenden Gewissheit. Was genau, um zu meinem augenblicklichen Thema zurückzukehren, hatte Rennertz mir an jenem Abend in D mitteilen wollen, ohne dass es mein Tagesbewusstsein erreichte? Die Frage war es wert, dass ich ihr nachging. Grob gesagt, ich fand, mein Gedächtnis bedurfte einer Auffrischung. Der Anstoß dazu konnte nur von außen kommen.

Und so reifte in mir der Wunach nach prachtvoller Beute.
Fahren musst’ ich hinaus…

Die Reservierung besorgte die Sekretärin.

  • ―Ja sicher. Die Sache hat Zeit.

Das Auge Gottes
2

Die Zeit drängte. Aus unerfindlichem Grund saß mir Anita im Nacken. Ihre aufreizende Art mir zu signalisieren, sie warte auf eine Erklärung, überforderte meine Kräfte. Belauerte sie mich, so belauerte ich sie. Was war nur aus unserer Beziehung geworden? Eine windschiefe Hütte, durch die der Wind pfiff. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Sie sollte nur herauskommen, die alte Hexe, wir würden ihr schon ein Feuerchen schüren. Bis dahin blieb viel zu tun. Vorerst knusperten wir am gemeinsam errichteten Häuschen, als gehöre es jemand anderem. Ich war bereit, das Werk des anderen zu ›edieren‹. Dazu musste ich mehr wissen. Ich musste es von ihm erfahren, von niemandem sonst. Das hatte auch, wenngleich nicht ausschließlich, mit Anita zu tun. Immerhin war sie ein Teil des Problems. Und sie saß am längeren Hebel. Ich bin kein Zerstörer.

Das Auge Gottes
3
Staubfänger

Wonach ich suchte? Ich war bereit, nicht entschlossen: fehlte die Kraft? Der Unentschlossene wirkt immer kraftlos. Das ist lächerlich, aber der äußere Eindruck strahlt auf ihn selbst zurück und bewirkt Kraftlosigkeit: ein circulus vitiosus der organischen Dummheit, die, wie ich behaupte, in jeden von uns eingepflanzt ist. Für den berufstätigen Mann ist Kraftlosigkeit ein Gräuel. Sie begann mein Leben zu affizieren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich kann mir Abwesenheiten, zumindest mentale, in meinem Beruf nicht leisten … oder, sagen wir, ich muss sie kalkulieren können. Wie kalkuliert man Kraftlosigkeit? Gar nicht. Sie ruiniert das Kalkül, sie lässt es zerfallen, sie tritt es in den Staub. Apropos Staub:

  • ―Der endlose Kampf des Menschen gilt dem Staub. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe in den Steinbrüchen gearbeitet, nichts, woran du jetzt denkst, meine Theorie ist: der Mensch produziert Schweiß, um sich den Staub abzuwischen, anders kommt er nicht klar. Der Staub ist der Widersacher des Menschen. Seine Macht ist furchtbar und er wird siegen. Wir wissen, dass er siegen wird, jeder weiß es und jeder verdrängt es. Dabei ist es die Formel der Grablegung: Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück. So lügt man sich in den Tod und darüber hinweg. Ich bin nicht Staub. Bist du Staub? Ich frage dich: bist du Staub? Du schuldest mir eine Antwort. Denk dran: irgendwann werde ich sie erhalten.

Soweit Rennertz. Er hatte die Verwandlung der Beziehungen, die wir zu unseren Mitmenschen unterhalten, in Arbeit für ›zwingend‹ gehalten und ich hatte ihm zugestimmt. Ich musste aus diesem Zustand herauskommen, dazu benötigte ich ein Mittel, das ich nirgendwo erblickte. Also sah ich mich gezwungen, von einem unverhofft eintretenden Ereignis die Lösung zu erwarten – keine Patentlösung, soviel war mir schon klar, da sie nicht meinem bloßen Innenleben entsprang und damit möglicherweise den Willen des Toten verletzte.

Das Auge Gottes
4
Schnitzeljagd

SeeaugeLangweile ich Sie? Sie wollen endlich wissen, wie das mit Anita…? Sie sind gespannt? Ist das Langeweile? Natürlich nicht. Himmlische Langeweile, gefallen aus sieben Himmeln. Jetzt höre ich flüstern: Wer ist Anita? Was geht mich Ihre Anita an? Ganz richtig. Was geht Sie Anita an? Was geht Sie meine Anita an? Was geht Rennertz meine Anita an? Was gehen uns alle unsere Anitas an? Es gibt sie zu Tausenden, sie sind der Sand am Meer und das Meer perlt über sie hinweg. Natürlich tappte ich über dem Motiv, das ich suchte, völlig im Ungewissen. Es war der blinde Fleck, auf den meine Erwartung sich konzentrierte. Irgendetwas rührte sich im Hintergrund und ich musste es hervorziehen: Da steht es. Ich musste alles wissen, wollte ich Anita ins Auge blicken. Ich musste mehr als alles wissen, sollte ich Rennertz’ Sache zu meiner machen. Nebenbei musste ich über ihn und sie Bescheid wissen, musste begreifen, was die beiden zusammengeführt hatte (sofern nicht alles Gelesene Lug und Trug war) und nach welchen Regeln dieses gleichzeitig subtile und verletzende Spiel wirklich ablief. Anders als Rennertz dachte ich nicht daran, die realistische Position zu räumen und mir darüber den Tod einzufangen wie andere Leute, wenn sie nicht aufpassen, eine Influenza.

 

Jemand arrangiert ein Abschiedstreffen und Sie … behalten nichts davon zurück als die vage Erinnerung an ein Glas Wein und ein bisschen Bratenduft: ist das reell? Nein. Sie können sich drehen und wenden, wie sie wollen, es behält etwas Beleidigendes. Es beleidigt nicht nur Ihren Verstand, es beleidigt Ihre Sinne, Ihre Sensibilität, Ihr Vorstellungsvermögen, Ihre Witterung … oh ja, die animalische Witterung angesichts von etwas Großem, das auf Sie zukommt, einer sich auftürmenden Gefahr aus dem … ja sicher: Nichts. Was würden Sie tun? Hand aufs Herz: es kommt nur ein Ausweg aus der Misere in Betracht. Auffrischung reicht nicht. Sie müssen die Erinnerung umlenken.

Das Auge Gottes
5
Kleine Gedächtniskunde

3 Arten, das Gedächtnis sprechen zu lassen

  1. Alles fließt. Das Gedächtnis, sich selbst überlassen, spricht. Nein, es plappert, es plappert unentwegt, es plappert dazwischen, wann immer man sich konzentrieren möchte: ein System von Abwegen, aus denen man sich zurückpfeifen muss, will man einen Gedanken zu Ende führen. Ich möchte es mit Wasserspielen vergleichen, in denen sich das Sonnenlicht bricht: ein niemals endendes Ergötzen, es sei denn, jemand dreht den Wasserhahn zu. Das Ergötzen hat eine Kehrseite, sie findet sich in der Starrheit der Bögen, in denen das Wasser fällt, nicht zu reden von den immergleichen Becken und Abflüssen, die es aufnehmen und ableiten, um es an bekannter Stelle wieder hervorspritzen zu lassen. Dieses Gedächtnis nenne ich autoritativ.
  2. Das pfeilartige Gedächtnis: es reißt eine Erinnerung auf, genauer eine Flucht von Erinnerungen, lauter Räume, in die du, dich flüchtig umblickend, eintrittst, um kurz vor einem Bild zu verweilen, einer Emotion, einer Bewegung, einer Schranke, hinter der sich etwas Heiliges verbirgt, doch es geht weiter, Tür um Tür, Zimmer um Zimmer, die Erinnerung stürmt voran, einem Ziel zu, das undeutlich in der Ferne flackert, bis du dich endlich in einem künstlich beleuchteten Raum befindest, umklammert von Armen und Beinen, Fratzen und Phrasen ohne Sinn und Verstand, aber mit der Kraft, dich festzuhalten, so sehr du dich auch loszureißen versuchst, bis … bis alles sich auflöst und die Erinnerung von dir ablässt, als sei deine Existenz auf Watte gebaut und dein Name sei Zukunft.
  3. Das immergleiche. Was ist eine gleiche Erinnerung? Eine Erinnerung, die sich nicht häutet, ein Kiesel im Gedächtnis, gebildet aus einem Selbst, das im übrigen restlos vergangen ist. Wäre nicht diese eine Erinnerung, es wäre auf und davon, untergegangen im Strom der Zeit, in der Anonymität einer Bewegung, die keiner sieht, die aber, wie jeder weiß, Spuren in ihm hinterlässt. Es gibt Leute, die halten dieses Bernstein-Selbst für das Substrat unserer Existenz und schwärmen von seiner unfassbaren Kostbarkeit. Ich vermute, dass sie sich, verführt durch die archäologische Wertschätzungsskala, täuschen. Der Mensch ist keine Grabungsstätte.

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6
Frau Westerling

Ich wohne zu ebener Erde. Ein Haus ohne Fassade. Ich erwähne das, weil es Kindern immer wieder gelingt, über die Dächer in den rückwärtigen Teil des Grundstücks einzudringen. Ich kann sie verstehen: die gläserne Wohnung, ein showcase, erhebt sich auf Stelzen über dem Garten, der, nach allen Seiten hin abfallend, von hochragenden, mehr oder minder abgewirtschafteten Mietshäusern eingefasst wird. Lebe herausfordernd, könnte über dem Ensemble stehen, aber verbirg deine Ambition! Ich weiß nicht, ob ich mich immer daran gehalten habe. Rennertz jedenfalls muss diesen Zug gespürt haben. Verbirg deine Ambition… Aber wie? Vor allem: vor wem? Erst einmal kam dafür allein ich in Frage. Diese immergleiche Erinnerung, gewissermaßen die Frontseite der Vergangenheit, sie gestattete keine weiteren Fragen. Dahinter tat sich eine weitere auf, die sich nicht festlegen wollte und sich nicht anders bemerkbar zu machen wusste als zu flüstern:

Es hat nichts zu bedeuten...

Zweifellos rührte sich hier ein tieferes Selbst. Es tauchte flüchtig auf, meist zu Beginn, bevor sich die gespeicherten Eindrücke scharf stellten, seltsamerweise wieder gegen Ende, wenn sie langsam an Konsistenz verloren, sich lösten und davontrieben. Es schien mir wichtig, dass es überhaupt auftauchte. Der Gedanke beunruhigte mich, irgendwann könnte es ganz verblassen und mir ein ichloses Stück Erinnerung hinterlassen – den zur fixen Idee gewordenen Abend zwischen einem Herrn X und einem Unbekannten, den irgendwelche Unbekannten, zu denen ich selbst zählte, Rennertz nannten.

Hier war kein Durchkommen. Frau Westerling, meine Sekretärin, versuchte redlich, ich sah es ihr an, sich an meiner statt zu erinnern, obwohl ich ihr nichts gesagt hatte und sie unsicher bleiben musste, ob es sich nicht doch um eine Familienangelegenheit handelte. Ich entnahm das der Art, in der sie meine Stimmungen teilte und mir gutherzig, aber wenig einfühlsam das bessere Ende zuzuschieben versuchte. Die Nachricht, die mich alarmierte und ohne Verzug nach D rief, hatte sie auf dem Schreibtisch drapiert, als handle es sich um ein Geburtstagsgeschenk oder ein Zeichen für das Eingreifen höherer Mächte. Sie hatte das Hotel schon gebucht und einen Tisch – sollte ich verblüfft sein? – in dem bewussten Restaurant reservieren lassen, in dem ich mich seinerzeit mit Rennertz getroffen hatte. Nun stand sie, Rührung erweckend, einen Moment zu lang im Raum, bevor sie, geräuschlos wie immer, die Tür hinter sich schloss. Ich betastete mein Gedächtnis. Es fühlte sich frisch an, wie eine Wunde.

Das Auge Gottes
7
Die Landschaft der Speisen

Das erste, was mir ins Auge fiel, war eine Heroldsfigur, angetan mit einem Schwanenhelm und einer breiten, von der linken Schulter über den Rücken auf das rechte Knie herabreichenden, den Blick auf die entblößte Hinteransicht freigebenden Schärpe. Schützend hielt sie ein Zwischending aus Standarte und Regenschirm über eine Kanne, die jemand als Brotlaib missverstanden haben musste, da sie aussah, als habe man sie von der Seite her angeschnitten. Die Figur wandte ihr Gesicht dem Betrachter im Halbprofil zu, als stehe sie bereit ihm einzugießen. Am Fuß einer Treppe standen auf einer leicht gewellten Tischdecke zwei Schüsseln, vollbeladen mit einer krustigen runden Substanz, die zum Anbeißen einlud. Sie schienen einen langen gewundenen Weg herabgekommen zu sein, an dessen oberem Ende ein Krater Feuer und Asche regnete.

Ich saß auf demselben Platz wie damals, die Kellner, zwei an der Zahl, huschten hin und her, und ich betrachtete die Wandmalerei zu meiner Linken, als sähe ich sie das erste Mal. Ein riesiger Fisch mit einem abgeschnittenen Auge schwebte über der Landschaft. Am Kondensstreifen sah man die Route, die der Künstler ihn hatte nehmen lassen. Offensichtlich war er durch eine runde Öffnung aus einer zweiten Landschaft in die erste hereingeschwebt, die meine Blicke wie übermütige Hunde hin- und herwetzen ließ, so reichhaltig war sie bestückt. Da gab es den gefällten Baum, aus dem ein Waldschrat herausragte, offenkundig auf der Jagd nach einer Sonnenblume, ein Terzett bauchiger Teekannen mit aufgesetzten Pyramidenhüten und gleich daneben einen in den Staub geworfenen Mönch, verzweifelt eine Gabel emporreckend, die ein grimmiger Messerträger zum Kreuz vervollständigte. Das sah verblüffend aus, fast so verblüffend wie die Kapelle im Zentrum des Bildes, deren Turm, zur Esse umfunktioniert, eine Art Vogelhaus trug.

Warum war mir das damals nicht aufgefallen? Das hier war so erstaunlich wie Whistlers mittlerweile als rassistisch verschrieene Expedition in Pursuit of Rare Meats im Café der Londoner Tate Gallery. Es schien auch sonst niemandem aufzufallen, jedenfalls konnte ich keine Köpfe entdecken, die sich zu ihm hingedreht hätten. Stattdessen entdeckte ich unterhalb des Gemäldes in Grisaille angedeutete Tische, über denen runde Köpfe schwebten. Sie erinnerten mich an die eisernen Kugeln, welche die Eingangstür zum Lokal zierten. Ich hatte mich über sie mokiert, aber Rennertz hatte bloß mit der Schulter gezuckt.

  • ―Ach, das sind Kanonenkugeln, sieht man es nicht? Früher schmückten sie die Toreinfahrt zum Anwesen meiner Eltern. Wir Kinder haben versucht, sie herunterzuschubsen, aber es ist uns nicht gelungen. Zum Glück, nehme ich an. Ich fand sie hässlich. Hier gefallen sie mir, ich glaube, sie erinnern den Koch an die Gefährlichkeit seiner Aufgabe.

Das Auge Gottes
8
Burke und Hare

Lasius Niger, die schwarze Wegameise, verfügt über keine Krieger. Die riesigen Strecken, die sie täglich gewohnheitsmäßig zurücklegt, sind den Dienstleistungen vorbehalten, wie sie in ihren kleinen und großen Communities anfallen. Wende einen Stein um und du wirst ihr Gewimmel verdrei- und vervierfachen, so wie der Gast es liebt, der, müde vom Stress des Tages, sich im Restaurant seiner Wahl nach einem geeigneten Sitzplatz umsieht.

Ich hatte, in die Betrachtung des Wandbildes vertieft, den Kellner übersehen und rief ihn zurück.

  • ―Ein Scotch!
  • ―Sir, wir sind ein Speiselokal. Darf ich die Speisekarte bringen?

Er hatte ›Sir‹ gesagt. Ich überflog sein schwarzes Hemd, von dessen kurz geschnittenem Kragen eine weiße Krawatte niederbaumelte, um in den Tiefen des schwarzen Anzugs zu verschwinden, und entdeckte das Namensschildchen mit der Aufschrift ›Hare‹. Während ich die Karte einsah, trat sein Kollege – ein kurzer Blick hatte mich belehrt: ›Burke‹ – an den Tisch und legte Feuer an die Kerze, das alsbald ein wenig verloren im ausliegenden Besteck widerschien.

Vergnügt, wie ich war, lehnte ich mich zurück und entdeckte über mir die Gesichtszüge Hares. Fast hätte ich ihm versichert, dass ich nicht rasiert werden wollte, aber er war schon zurückgetreten und aus meinem Gesichtskreis entschwunden.

Burke und Hare waren keine Solisten. Gleichgültig, welchen Tisch sie ansteuerten, sie arbeiteten Hand in Hand. Der eine räumte den Tisch ab, der andere händigte dem Gast diskret die Rechnung aus. Beugte sich Hare zu einem Neuankömmling nieder, um ihm beratend zur Seite zu stehen, konnte man sicher sein, dass Burke sich in seinem Rücken zu schaffen machte, und sei es nur, dass er ein paar Krümel vom Nachbartisch fegte und Hare dabei bedeutungsvoll ansah. Ihr Zusammenspiel, bis zur Lächerlichkeit sinnlos, kam mir einstudiert vor.

Kein Rennertz betrat das Lokal, die Gäste, die es bevölkerten, verschwanden nach und nach hinter der Wattewand, die sich in meinem Inneren aufgerichtet hatte. Mehrfach streckte sich meine Hand nach dem Chablis aus, der wie damals meine durch die vom Teller aufsteigenden Gerüche gekitzelten Nerven in eine leise vibrierende Erwartung versetzte. Jedesmal zog ich die Hand zurück, zerstreut erst, dann mit wachsender Aufmerksamkeit.

Müde rieb ich die Augen. Wann immer es irgendwo galt, die Reste eines tierischen Leichnams abzuräumen, waren die beiden Kellner gemeinsam zur Stelle. Vorsichtig hoben sie die Knochen von Teller zu Teller, schichteten sie um, so dass es aussah, als präparierten sie den Anblick für einen Voodoo-Zauber oder ein Fotoshooting, und trugen das Ergebnis ihrer flinken Bemühungen in solcher Eile von hinnen, als wollten sie es unbedingt in der Küche verschwinden lassen, bevor es Gelegenheit fand zu erkalten.

Komische Käuze.

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9
Klipp-klapp

Klipp-klapp, tripp-trapp, plick-plack, flick-flack – sooft Hare den leeren Stuhl an meinem Tisch, auf dem seinerzeit Rennertz gesessen hatte, passierte, machte es klipp, klapp hingegen, sooft Burke vorbeikam, was, wie ich bald merkte, nicht weniger häufig vorkam. Das geschah so sicher wie … das Amen in der Kirche, nein, wie mein Ein- und Ausatmen, das ich zwar verlangsamen, aber nicht abstellen konnte: klipp-klapp, klipp-klapp, ruckediguh, Blut ist im Schuh, der Nächste bis du… – und wieder: klipp, und wieder: klapp, so lächerlich und nervend es auch mit der Zeit wurde. Gerade als ich aufstehen wollte, um den Stuhl an einen anderen Tisch zu verfrachten, strich Hare vorbei und: klipp, gefolgt von Burke, klapp … und wieder Hare: klipp, klipp-klapp, klipp-klapp, bis sich meine Aufmerksamkeit verlor. Doch frischte sie bald wieder auf, so dass ich mich genötigt sah, Burke anzusprechen und zu bitten, die Quelle meiner Unruhe zu beseitigen.

Er stutzte, tippte sich an den Kopf und stellte den Stuhl um. Fünf Minuten lang hatte ich Ruhe, fast hätte ich ihn vergessen gehabt. Da meldete er sich, schwach zuerst, dann eindringlicher werdend, zurück: klipp-klapp, tripp-trapp… Zornig stand ich auf, griff nach der Lehne und – Hare schnappte das Corpus delicti und trug es an den Nebentisch. Gewissenhaft ein paar Krümel von der Sitzfläche fegend, kehrte er mit einem anderen Exemplar zurück. Es kam mir schwerer vor, irgendwie solider, und ich hielt die Angelegenheit für erledigt. Fehlanzeige! Wenige Minuten später regte sich das vertraute Geräusch, diesmal aus größerer Entfernung: klipp-klapp, zipp-zapp… Hare, der gerade vorbeikam, lächelte mir zu, stieß leicht gegen den verlässlich wirkenden Stuhl in meiner nächsten Nähe und ein grundsolides ›Plopp‹ ertönte – gefolgt von einem zweiten und dritten ›Plopp‹, denn die beiden beschäftigten sich damit, den Nebentisch abzuräumen und neu einzudecken, was dazu führte, dass abwechselnd der eine und der andere mit der Rückseite an den bewussten Stuhl stieß.

  • ―Plopp, sagte ich zu mir, ich sah keinen Anlass, besonders leise zu sprechen, so dass man in der Nachbarschaft aufmerksam wurde. Beim nächsten Plopp meinte ich ein unterdrücktes Kichern zu hören. Ich schrieb es aufs Konto meiner zunehmend zügellosen Gereiztheit und vergaß es wieder. Inzwischen hatte ich sachte begonnen, mit der geschlossenen Faust die Tischplatte zu traktieren: plopp-plopp-plopp. Ich versuchte mich in unterschiedlichen Rhythmen, es dauerte eine Weile, bis ich einen gefunden hatte, der meinen Ansprüchen genügte, und fühlte, wie das Bedürfnis zu pfeifen in mir aufstieg…

Das Auge Gottes
10

Brachland, erinnerungsfreie Zone – ich winkte Hare, den ich aus irgendeinem Grund für vertrauenswürdiger als seinen Partner hielt, um zu bezahlen, und er brachte die Karte. Sein rechtes Auge glitzerte merkwürdig, ich war mir nicht sicher, dass es mich sah, dass es überhaupt etwas sah, es sei denn etwas, das sich meinen Blicken kategorisch entzog. Eine kühle Intelligenz wehte mich daraus an. Ich hätte mich darauf gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Aber es sah nicht so aus, als dürfte ich auf einen Erfolg rechnen. Teilweise lag das am anderen Auge, in dem ich außer dem Wunsch, meine Rechnung noch um ein paar Posten zu vergrößern, nichts von Belang zu erkennen vermochte. Wo zum Teufel steckte Burke? Wenn ich mich jetzt umwandte ––?

Der Unbekannte in dem Spiel, das hier gespielt wurde, hieß Burke. Er war es, der Hare im Blick behielt, während Hare um die Gäste herumkurvte. Ganz offensichtlich besaß er den klareren Verstand und die bessere Hand, die korrigierend eingriff, sobald Hare zu patzen Gefahr lief, so wie jetzt, als er nicht gleich zu begreifen schien, dass es mir Ernst damit war, die Rechnung zu begleichen und aufzubrechen.

  • ―Der Herr ist nicht gekommen, flötete er und ließ das Plopp ertönen. Fragend sah ich hoch.

  • ―Kommen Sie morgen wieder. Morgen ist ein besserer Tag. Die wahre Vergangenheit wartet nicht. Sie ist immer da. Wissen Sie, diese Zufallsbegegnungen… Man darf sich nicht zu viel davon erwarten. Folgen Sie meinem Rat und nehmen Sie’s locker. Ich will mich nicht einmischen, aber der Herr, auf den Sie warten, hat seine Kreditkarte stecken lassen; er wird also wiederkommen. Sie kommen alle wieder, doch das kann dauern. Ich habe Gäste erlebt, die Wochen später einen Blumenstrauß abholen wollten. Ich sollte nicht darüber reden, die Vergesslichkeit der Menschen nimmt nach meiner Beobachtung zu. Das ist gut fürs Geschäft, aber auch wieder nicht. So ein Lokal ist praktisch ein Nullsummenspiel. Wer etwas hineinsteckt, bekommt etwas heraus. Wer etwas stecken lässt, der, ich sage das so, zeigt damit, dass er sich hier zu Hause fühlt. Fühle ich mich hier etwa zu Hause? Nein. Ich gehe nach Hause, sobald meine Arbeitszeit um ist. Also ist es meine Existenz, die sich um seine dreht, obwohl ich ihn gar nicht kenne. Die meisten Menschen verstehen das nicht. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, sie läuft Ihnen nicht davon. Kommen Sie wieder.

Und verschwand mit einem Nicken.

Das Auge Gottes
11
Der Zurückgekehrte

Ich entledigte mich des halb übergezogenen Mantels und schlich zurück an den gerade verlassenen Platz. Sanft glühte das Wandbild im Widerschein der auf den Tischen züngelnden Kerzen. Hares Glasauge glitzerte, doch darum ging es nicht. Ich suchte die kreisrunde Öffnung im Bild und fand sie: ein Auge, was sonst. Ein Auge wie ich es zuvor nie gesehen hatte, angefüllt mit kostbarem Gebäck, einem mit erlesenem Geschmack arrangierten Garten Eden, fern umschlossen durch ein Gebirge, um dessen Gipfel ein Kranz von Wölkchen schwebte. Auf dem Gipfel lag, Kreis im Kreis, eine Lupe, und in der Lupe … ich zog die Brille heraus, konnte aber nichts erkennen außer einem Schatten, der alles oder nichts bedeuten mochte, einem Scherz des unbekannten Künstlers, der besagen sollte: Bis hierher und nicht weiter! Mag sein, er war der Ansicht gewesen, für sein Geld genug geleistet zu haben. Jedenfalls endete die Aussicht, wo sie begann – im Ungefähren.

Erinnere dich an Rennertz’ Manuskript, raunte ich mir zu. Ich vernahm den Appell ohne Widerhall und zwang mich zum logischen Denken. Das Auge ist Teil der Landschaft, es nimmt sich aber auch von ihr aus. Ist das korrekt? Nein, es durchbricht die Landschaft, nimmt also für sich eine Mittlerfunktion in Anspruch. Wie soll das gehen, wenn die zweite Landschaft sich zur Gänze im Auge befindet? Liegt sie nun im Auge oder hinter ihm? Wie willst du das unterscheiden? Du willst, aber du kannst es nicht. Angenommen, du könntest es und du würdest beschließen, die Landschaft befände sich hinter dem Auge, dann bliebe die Frage: was befindet sich im Auge? Nichts? Wie kann ein passierbares Nichts nichts sein? Es mag nichts Besonderes sein, aber ist nichts Besonderes nichts? Ganz im Gegenteil, es ist das, wovon man erwartet, dass es zur Stelle ist. Das Auge wäre also eine Stelle im Universum, von der man annehmen darf, dass sie das und das enthält. Und was enthält es? Nichts dergleichen? Oder doch gleich die ganze Landschaft. Aber dann wäre die Landschaft eine optische Täuschung.

Das Bild enthält also ein Rätsel, das du nicht zu lösen vermagst. Dabei scheint es das geringste der Rätsel zu sein, die dich auf dem Bild erwarten. Schon erscheint es dir wie der Schlüssel zu all den weiteren Rätseln. Du darfst nicht warten, bis andere es für dich lösen. Wenn du ehrlich sein willst, so erwartest du gar nicht, dass ein anderer es für dich löst. Mag sein, einer löst es für sich, aber seine Lösung gäbe dir nur ein weiteres Rätsel auf und deine Anteilnahme ist bereits im voraus erloschen.

Ich betrachtete die Tischlandschaft, die sich zwischen mir und dem Gemälde erstreckte. Inzwischen waren fast alle Tische besetzt, auf jedem zuckte und züngelte ein Flämmchen, entzündet von den beiden fleißigen Ameisen, und erleuchtete die Gesichter.

 

Lasius niger
Das Auge Gottes
12
Keep this secret

In Gedanken nahm ich Papier und Bleistift und begann die Köpfe, die an der Wand in Kreise übergingen, auszustreichen, einen nach dem anderen, klipp-klapp, plopp-plopp, bis nur noch wenige übrigblieben. Wer waren diese wenigen und warum hatte ich sie ausgelassen? Ich suchte nach meinen Kriterien und fand keine. Ich hatte nach Laune gehandelt und der Akt des Auslassens hatte die Laune kassiert. Sie war verschwunden und mit ihr der Wunsch, mich mit den Ausgewählten näher zu befassen. Sollten sie auch verschwinden! Warum nicht? Schon war ich mir nicht mehr sicher, wen ich ausgestrichen hatte und wen nicht, ich suchte in meinem Gedächtnis nach dem Zettel und warf ihn achtlos weg, nachdem ich ihn endlich gefunden hatte. Offensichtlich war mit dem Gekritzel nichts anzufangen.

Genau genommen war es ein Akt übertriebenen Selbstbezugs, Rennertz’ Geschenk dem Eindruck zuzuschreiben, den ich auf ihn an dem Abend gemacht hatte. Betrachtete ich die Sache aus seiner Perspektive, wer war dann ich? Der Nächstbeste, der seinen Weg kreuzte, ein Jedermann, nichts weiter. Sein vergiftetes Geschenk ging an mich, so wie es an jeden anderen hätte gehen können. Vielleicht nicht an jeden, aber nichts zwang mich, von einer übertriebenen Vorstellung in die nächste zu stolpern. Das war etwas, worüber sich nachdenken ließ. Ich zündete eine Zigarette an und blies den Rauch von mir, als müsse ich Raum für eine Inspektion schaffen. Als Jemand war ich für den suchenden Autor so gut wie jeder andere, ich war jeder andere, Herr Beliebig oder wie man mich nennen mochte. Ein Unikum. Vermutlich führte sogar der Glaube in die Irre, ich sei ins aufgespannte Netz seiner Erwartung gegangen.

Viel einfacher war es da, zu vermuten, er sei an jenem Abend, sagen wir, mit sich ins Reine gekommen. Das war ein schöner Gedanke, bei dem ich ein wenig verweilen wollte. Ich stellte mir Rennertz vor, die Zigarette ausdrückend, den Kopf zurückgelehnt, im Dreiviertelprofil, abwesend, leicht abwesend – dieses ›leicht‹ ist wichtig, denn wirklich geistesabwesend hatte ich ihn nie erlebt –, durchflutet von der Vorstellung: Das ist es. Natürlich: seine Bitte an mich war der logische Abschluss einer Gedankenkette.

Was sonst?

 

Lasius niger 2
Das Auge Gottes
13
Das Lachen

Einen Haufen Unsinn hatte ich da zusammengedacht. Es gab keinen Grund, warum der logische und der zeitliche Anlass seines Verhaltens auseinanderklaffen sollten. Nichts davon war nötig. Die ganze Verunsicherung war entstanden, als ich mich fragte, was in seinem Kopf vorgegangen sein mochte, bevor wir hier aufeinandertrafen. Mein kleines Experiment hatte gezeigt, dass ich das gar nicht wissen konnte. Einfacher war es, den Riss, der sich an dieser Stelle auftat, erst gar nicht entstehen zu lassen. Ich war niemand, weniger, ein Bei- und Zufallsmensch, hereingeschneit in ein nicht für meine Augen, noch weniger für meine Anteilnahme bestimmtes Mikrodrama. Kein Wunder, dass alle Anstrengungen, es zu verstehen, als sei es für mich entworfen worden, ins Leere liefen.

 

Mein Blick streifte die einzeln an ihrem Tisch sitzende Unbekannte, die sich zurücklehnte und mit leicht geöffnetem Mund dem Rauch ihrer Zigarette nachsah. War es die Wirkung des Chablis oder ein unerkannt hinzugekommener Reiz – ich hörte ihr girlandenartig aufsteigendes Lachen, sie beugte sich zurück und richtete, das Gelächter parierend, mit einem Blick auf mich und die Person an meinem Tisch einige Worte an ihren Begleiter, dessen wuchtige Schultern mir jeden weiteren Einblick verwehrten. Das war der Blick, der an jenem Abend (wenn auch nur zeitweilig) auf mir geruht hatte, und zwar, wie ich ohne Umschweife feststellte, auf mir als dem anderen, denn die beiläufige Aufmerksamkeit, mit der sie Rennertz umgab, machte aus ihm etwas in der Art eines guten Bekannten, auch wenn er sich vollkommen indifferent gegen sie verhielt. An jenem Abend war ich weit entfernt davon gewesen, mich darüber zu wundern. Ich hatte die Erscheinung der lebhaften Nachbarin als atmosphärische Zutat an Ort und Stelle verzehrt, nicht ahnend, dass sie mir – gleicher Ort, gleiche Stelle – erst bevorstehen sollte.

 

Ich stand auf, verbeugte mich kurz und fragte sie, ob ich Platz nehmen dürfe, als ich hörte – und ich war keineswegs sicher, dass sie meine Frage abgewartet hatte –, wie sie mit verhaltener Stimme sagte:

  • ―Dachten Sie etwas anderes?

Liz (oder anders)

Liz (oder anders)
1
Renate Solbach: Figur 5

 

Es muss gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als ich die Frage stellte, die langsam in mir herangereift war: Lisa (oder ›Liz‹, wie ihre Freunde sie angeblich nannten), deren weißer Rücken gerade unter der Decke zu verschwinden im Begriff stand, blieb ruhig liegen, wandte dann ihr Gesicht ab und sagte etwas gelangweilt:

Nein, sie habe den Mann an jenem Abend nicht gekannt, ja, sie habe ihn gar nicht bemerkt, ob ich nicht allein am Tisch gesessen sei? Da war es wieder: mein Problem. An diesem Morgen wechselte es einmal mehr sein Gesicht. Eher häuslicher Typ, als der ich mich sah, fand ich mich schlecht gerüstet für das Doppelleben, das sich unverhofft vor mir auftat. Ich weiß, das klingt wie eine schlechte Entschuldigung, aber das Körnchen Wahrheit darin war groß genug, um mir einen Schreck einzujagen.

Wusste sie etwas? Wenn ja, was wusste sie? Wenn nicht, warum spielte sie dann mit mir Katz und Maus? Einen flüchtigen Moment lang hatte ich in ihrer Handtasche ein Stück Papier auftauchen sehen, nicht unähnlich einem losen Manuskriptblatt, auch die Schrifttype war mir eigentümlich vertraut vorgekommen. Die Situation verlangte nach anderen Klärungen, da ließ sich ein Blitz in der Dunkelheit meiner Verrücktheit zuschreiben und ich konnte und wollte bei späteren Gelegenheiten nicht darauf zurückkommen.

Liz (oder anders)
2
Schwanensee

Liz hatte ihre Eigenheiten. Einen beträchtlichen Teil unserer Zeit widmete sie dem Studium der Speisekarten, einem zerstreut begonnenen, fallengelassenen, wieder aufgenommenen, erneut unterbrochenen, angesichts des bereits zum wiederholten Male erscheinenden Kellners entschlossen fortgesetzten Ringen um den aus geheimen Poren austretenden Sinn dieser Dokumente, das damit endete, dass sie ›eine Kleinigkeit‹ zu bestellen wünschte und die Auswahl mir überließ.

  • ―Du machst das, ehrlich, du machst das.

So redete sie und die blaugrauen Augen trieben ihr unweigerlich schelmisches Wesen, zum Leidwesen der Besitzerin, die nichts sehnlicher als einen seriösen Gesichtsausdruck zu besitzen wünschte und vor allen möglichen Spiegeln trainierte, zu denen auch ich bald gehörte. Ein bissiger Zuschauer hätte behaupten können, dass unsere Zusammenkünfte, die sich in der nächsten Zeit mehrten, zum großen Teil diesem Studium dienten. Die Wahrheit war: Sie konnte sich nicht entscheiden. Kaum hatte sich das von wilden Locken umzitterte Gesicht in den Anblick der phantasie- und appetitanregenden Buchstabenfolgen vertieft, begann sie auch schon mit leicht vibrierender Stimme von den wichtigen und weniger wichtigen Zusammenkünften der vergangenen Tage zu berichten.

Unbeschreiblich der Klang dieser Stimme, die mich gleich beim ersten Mal hypnotisiert hatte: sie setzte etwas höher an, als man es erwartete, sank lässig in die rauchgeschwängerten Abgründe, in denen das moderne Subjekt bei sich selbst weilt, wenn Mitternacht vorbeiglitt und der letzte Zug den Bahnhof verlässt, um sich im nächsten Moment aufzuschwingen und wetterleuchtend, knisternd von verborgener, aber mitteilsamer Spannung, dem mäandrischen Fluss einer immer bewegten Psyche zu folgen. Es war, als hätte letztere beschlossen, sich, geschützt durch die komfortable Umgebung, nackt unter die anwesenden Gäste zu mischen. Diese, empfänglich für das unverhofft dargebotene Schauspiel, fühlten sich, nicht zu meiner Freude, bemüßigt, je nach Appetit und Geschmack zu verfahren und lächelnd mehr zu verlangen oder mit knapper Handbewegung zu signalisieren, dass es nun genug sei.

Der Kellner, der in allmählich länger werdenden Abständen an unseren Tisch kam, lebte jedesmal auf und nickte zustimmend, wenn wir ihm bedeuteten, er müsse sich noch gedulden; er verstand, dass bereits serviert war und er allenfalls für marginale Handreichungen benötigt wurde.

Liz (oder anders)
3
Ritualmacht

Sie aß wie ein Spatz und häufig überhaupt nicht. Während ihre Rede unentwegt fortlief, führte sie vereinzelt Bissen an den Mund, meist, um sie gleich darauf mit unbeteiligter oder leicht angewiderter Miene auf den Teller zurückzulegen. Ich hatte Sorge dafür zu tragen, dass er gut bestückt war. Das Ritual der Freiheit duldet keine Nachlässigkeit. Zwei Schlückchen Wein, unter verhaltenem Protest gegen eine nicht vorhandene Nötigung genossen, versetzten sie fast übergangslos in jenen Zustand, von dem sie mit zunehmendem Stakkato behauptete, sie habe beschlossen, ihn diesmal ›unbedingt‹ zu vermeiden. Schwer zu sagen, worin er bestand – ich nehme an, im entschlossenen Hintansetzen von Bedenken, die mit der Bedingtheit aller Existenz in unmittelbarem Zusammenhang standen.

 

Was ich anfangs nicht realisierte: die junge, zierliche, leichte Liz war verheiratet. Mehr als das: sie hatte, ob unbedacht oder aus einer leicht zu durchschauenden Anspruchshaltung heraus, der Ehe einen Extrastempel aufgedrückt, als sie bei der Trauung darauf bestand, dass ab sofort der Mann ihren Namen zu tragen hatte, – mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass seither alles, was er ihr antat, in ihrem Namen geschah. In den kaum verborgenen Falten ihres Bewusstseins hatte sie damit eine Verantwortung für das Gelingen ihrer Ehe übernommen, die sie als wesensfremd empfand und gegen die sie unentwegt rebellierte. Nicht dass sie große Skrupel empfand, den Mann zu betrügen, solange sie ihm damit nichts schuldig blieb. Doch die Angst, sich dabei selbst zu betrügen, bewirkte heftige, unsere auf das erste Hingerissensein folgende Treffen in ein etwas monotones Vabanquespiel verwandelnde Stimmungsbrüche, deren wilde Brisanz ich anfangs nur von ferne ahnen konnte.

 

Sie gehörte nicht zu den Menschen, die das Leben als etwas ansehen, was ohnehin verstreicht, gleichgültig, wie man sich zu ihm stellt, und daher etwas nachlässig mit ihm umgehen. Das ihre forderte vollen Einsatz, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die oberste Aufgabe bestand darin, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu finden, was denn zu diesem Leben zu zählen sei und daher nicht vernachlässigt werden dürfe. Unser Verhältnis, daran bestand kein Zweifel, gehörte zum Leben und genoss oberste Priorität. Allerdings hatte sie ein System der Prioritäten entwickelt, in dem man sich leicht verheddern konnte, vor allem, wenn man so unverhofft wie ich damit konfrontiert wurde. Nach und nach begriff auch ich, was Leben für sie bedeutete: es verlangte, und zwar unbedingt, die Dinge für Künftiges offenzuhalten. Das galt für unsere Beziehung, es galt für die Ehe, es galt für das Hin und Her der Terminabsprachen, es galt für die eher schlichte Frage, wohin sie auszugehen und welches Getränk sie zu bestellen wünschte, es galt für schlechterdings alles, und um dies auch nach außen zu dokumentieren, war Liz Doktorandin.

 

Sie liebte die Unordnung und bezog daraus ihre Ordnung wie andere Zeitgenossen ihre tägliche Nahrung aus irgendwelchen Kraftpülverchen. Sie besaß ein Händchen dafür, ein vorgefundenes Chaos in ihr Chaos zu verwandeln, das mir wie ein luftiges Gehäuse mit vielen Ausgängen vorkam, aber ohne unterirdischen Fluchtweg. Dennoch war ich überzeugt davon, dass sie einfach weg sein würde, falls es ihr darauf ankommen sollte. Einfach da, einfach weg sein: darin bestand der Reiz des Lebens und damit sein tiefster Stachel.

  • ―Ich bin dann mal weg.
  • ―Ich seh’s.
  • ―Du bist beleidigend.

›Beleidigend‹ war ich oft.

Liz (oder anders)
4
No Liz no Fun

Anita … wo befand sich Anita? Sie war verschwunden, abgetaucht, aushäusig, busy –

… and left me alone all the time.

Liz, so jung nun auch wieder nicht, besaß einen Beruf. Sie kam voran. Sie hatte die ersten Sprossen erklommen und die nach oben offene Skala der Möglichkeiten erfüllte sie mit heftigem Verlangen. Unglücklicherweise konnte der Beruf sie nicht ausfüllen. Er war Routine. Keine Routine hingegen waren die unregelmäßigen Treffen mit ihren wechselnden Doktorvätern und der Zwang, der von ihnen auf die übrigen Lebensverhältnisse ausstrahlte.

  • ―Ich kann’s nicht. Ich kann’s wirklich nicht.

Jene Treffen wurden detailliert berichtet, analysiert und in ausgiebigen, mit immer neuen Details angereicherten Diskussionen zu einem Gefüge von Hypothesen verarbeitet, dessen Kernaussage darin bestand, dass die Dinge im Fluss waren und die Wege der Theorie sich im Unendlichen kreuzten.

  • ―Du forschst nicht, du schwärmst.
  • ―Darüber darfst du dich doch nicht beschweren.

Nein, das tat ich nicht. Zugegeben, ich wusste nicht, dass ich einer künftigen Leistungsträgerin des Systems Forschung huldigte. Es konnte vorkommen, dass sie sich weit nach Mitternacht übergangslos vom Bett aufschwang, mit hastigen Bewegungen in ein bereits ad acta gelegtes Kleidungsstück zurückschlüpfte und auf der Bettkante sitzend einen Aspekt ihres Themas zu zergliedern begann, von dem ihr schien, er sei vorher sträflich vernachlässigt worden. Rasch lernte ich, wie falsch es war, ihr in solchem Moment mit einem um Aufschub bittenden Lächeln zu begegnen und an der Tätigkeit festzuhalten, die Zeit, Ort und Umstände nahelegten. Dies hier war das Leben und es duldete nicht, dass man ihm mit Nachsicht oder gar Ironie begegnete.

  • ―Sag ehrlich: Glaubst du, ich werde es schaffen?

Mit geübtem, wenngleich vor Erregung etwas klammem Griff zog sie den schwarzen Body über Wölbungen, auf denen gerade noch meine Hand gelegen hatte, und rückte die Träger zurecht, während ich, wissend um die Vergeblichkeit aller Versuche, sie aufzuhalten, nach meiner Jeans griff.

  • ―Natürlich wirst du es schaffen, wenn du nur willst. Du musst dich entscheiden, ob und wann. Das kann dir keiner abnehmen.
  • ―Ach, es ist alles so schwierig. Ich hasse das Büro, es füllt mich nicht aus. Wenn ich nach Hause komme, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mich an meinen Schreibtisch zu setzen und ein Buch aufzuschlagen. Aber darf man das? Das Leben stellt schließlich Ansprüche, denen man sich nicht einfach entziehen kann.
  • ―Doch, man kann.
  • ―Ich weiß, aber es ist nicht richtig.

Sie verfügte über eine allzu wache Wahrnehmung des gewöhnlich sorgfältig versteckten Defekts, den langfristig motivierte Menschen mit sich herumtragen, jenes Quantums Abwesenheit, das in Erwartung einer inneren Stimme verharrt, die für gewöhnlich schweigt. Sie stellte sich vor, diese Stimme müsse im Gegenteil laut und leidenschaftlich in ihrem Inneren aufbrausen und sie aus den Verstrickungen des Tages herausreißen, wenn es an der Zeit sei. Alles andere erschien ihr wie Götzendienst und ihr graute davor. Sie konnte, auf der Bettkante verharrend, bitter schluchzen, und es war ratsam, nicht allzu begütigend oder aufmunternd auf sie einzureden. Da sie ihre Anfälle kannte, wusste sie, wann es an der Zeit war, durch eine leichte Drehung des Kopfes oder ein schwaches Handauffalten zu verstehen zu geben, dass ›es‹ vorbeiging und sie nur noch ein bisschen der Schonung bedürfe.

Liz (oder anders)
5
Und schwor, sie verstünde kein einziges Wort

Gelegentlich erkundigte Liz sich nach ›diesem Rennertz‹, von dem ich während unserer ersten Nacht ein, wie zu betonen sie nicht müde wurde, so unpassendes Aufhebens gemacht hatte. Dann war ich es, der den Erstaunten spielte und nachdrücklich auf andere Gegenstände überlenkte. Wenn Sie wollen, spielte ich auf Zeit … vielleicht auch über die Bande, vielleicht auch gar nicht. Ich hatte die Spiele satt. Ein- oder zweimal hatte sie mich in das kleine Studio bestellt, das sie in der Stadt angemietet hatte und in dem sie ›schrieb‹. Dort sah es aus, als sei das Ganze dem Prospekt eines Büroausstatters ›für gehobene Ansprüche‹ entsprungen. Frau Westerling hätte mich vielsagend angesehen und sich unverzüglich daran gemacht, Ordnung zu schaffen. Liz thronte in ihrem Designchaos und strahlte mich an. In einer Ecke entdeckte ich zwischen verstaubten Kopien und abgelegten Computerausdrucken einen Karton voller Zeitungsausschnitte, die mit Akribie gesammelt zu sein schienen. Sie zeigten Leichen, die in der letzten Zeit irgendwo aus dem Wasser gefischt worden waren, darunter sensationelle Fälle, an die ich mich dunkel erinnerte, aber auch stillere, offenbar kaum der Rede werte.

 

Ich hatte mich niedergehockt und kramte, von einer seltsamen Lust gepackt, in den Zetteln, unter denen manche an den Rändern schon zu vergilben begannen. Der Karton stand nahe dem Fenster. Liz kauerte am Schreibtisch, ihre wasserblauen Augen glänzten und um den Mund zuckte es. Sie schwieg, ich desgleichen. Zwei Wochen verstrichen. Dann –

  • ―Dieser Karton…

Ach der. Gleich erschien das Grübchen auf ihrer Wange, das ich gut kannte.

  • ―Frag mich was Besseres. Am besten, du fragst meine Therapeutin. Aber ich kann dich beruhigen, es ist völlig harmlos. Ich bin jetzt nicht gefährlich oder so. Solltest du Bedenken haben, wirf’s einfach weg. Aber nicht, wenn ich da bin. Du weißt, Trauma und so. Keine Ahnung.

Liz (oder anders)
6
Trauma und so

  • ―Selbstverständlich, gab ich zurück und strich über den Flaum ihrer Wange. Wir saßen im Auto bei abgestelltem Motor und hatten uns einander halb zugewendet. Regen lief die Scheiben herunter und vervielfachte das Glitzern der Großstadt. Sie zupfte an ihrem Kleid. Dann begann sie zu weinen. Nach wenigen Sekunden – einer Ewigkeit – tupfte sie die Tränen weg und verkündete mit einem Frosch in der Stimme, ein guter Bekannter sei vor einiger Zeit verschwunden, niemand wisse wohin. Sie wolle einfach bloß auf Nummer sicher gehen.
  • ―Ich muss es tun, verstehst du, ich muss es tun. Die innere Stimme sagt mir, ich muss es tun.
  • ―Ein sehr guter Bekannter?
  • ―Ja-a, brachte sie hervor, wie jemand ein Päckchen Zigaretten aus einer Seitentasche hervornestelt. Mit glitzerndem Blick sah sie mich an. Sie hatte einen Zeitpunkt genannt, zufällig denselben, zu dem ein gewisses marmorgebundenes Manuskript auf meinen Schreibtisch geraten war.
  • ―Und wie hieß dieser Bekannte? drängte ich weiter. Rennertz?

Sie stieß sich ab, klappte die Autotür auf und warf mir über die Schulter die Worte zu:

  • ―Sag mal, bist du schwul?

Liz (oder anders)
7
La bella linea

Die Geschäfte, Sie wissen schon, die Geschäfte. Statt in den Süden zu reisen, was dringend nötig gewesen wäre, rauschte ich nach D, wann immer sich die Gelegenheit bot. Frau Westerling goss die Blumen und genoss ihre Freiheit kalt.

 

In der ersten Nacht war Liz mir wie jemand erschienen, der unvermutet einen Zugang öffnete, wo ich alle Türen verschlossen wähnte. Sie hatte mich eingelassen ins Geheimnis. Dass es von mir konstruiert war, störte mich nicht, ganz im Gegenteil. Ich wähnte mich auf eigenem Grund und Boden. Ihr Gleichmut gegen mein Problem mochte gespielt sein oder auch nicht. Es machte keinen Unterschied mehr.

 

Wie wir uns aneinander rieben, hatte den Charakter eines Experiments. Schwer zu beschreiben, worin es bestand. Doch die ersten Resultate veranlassten uns, die Reihe der Versuche fortzusetzen. Jeder trachtete den anderen ein wenig über sich hinauszutreiben, um zu sehen, was dabei ans Licht kam.

 

Nach einer anstrengenden Besprechung, die sich unvorhergesehenerweise in den Abend hineingezogen hatte, als wir beide während einer langen Vereinigung im Zustand völliger Erschöpfung einschliefen, da hatte sich, wie unter Diktat, etwas erfüllt, das, mehr und mehr erkennbar, nur noch Reprisen zuließ, lustvolle zumeist, doch auch schale, bei denen wir unsere Körper wechselseitig absuchten, als sei jeder darauf aus, das sprichwörtliche Haar in der Suppe finden.

Strandgeflüster

Strandgeflüster
1
Renate Solbach: Figur 6

 

Parallel dazu, aber zeitversetzt, lief eine andere Welle. Solange ich Liz’ Erscheinen als die Lösung meines Problems betrachtete – oder als Chiffre dafür, dass es sich im Angesicht seiner undurchdringlichen Fülle für mich erledigt und dafür zum Ausgleich ein zweites, häusliches, kaum weniger lösliches, aber offenbar lebbares Problem hinterlassen hatte –, solange ergriff mich jedesmal eine unerklärliche – andere würden sagen: entrückte – Heiterkeit, wenn ich an sie dachte oder ihrer ansichtig wurde. Ihr Körper, ihr Geist war die Schale, in der, gut sichtbar, der Schlüssel lag, der mich befreit hatte: ein wenig flach zwar, doch dafür ›ganz aus Lust gewebt‹, wie es in einem alten Gedicht hieß, das mir immer gefallen hatte und das ich heute nicht mehr weiß.

Da kam es einem Schiffbruch gleich, als auf einer dieser Fahrten mit jäher Gewalt eine Vorstellung aufbrach, in der eine andere Frau sich regte als die, die ich kannte oder vor mir selbst zu kennen vorgab: eine Liz, die ein dunkler Punkt vor aller Erinnerung mit mir verband und die nun rapide, wie mir schien, dieses Dunkel in sich aufsog. Die Zeit der Heiterkeit, soviel verstand ich, war vorbei. Ich legte die schwarzweiß gewürfelten Nelken, die ich beim Chinesen erstanden hatte, auf die Rückbank und vergaß sie dort.

Strandgeflüster
2
Schwarze Nelken

Diese Nacht schliefen wir im Studio. Für Liz lag der Kitzel dieser Variante darin, dass sie damit das Vertrauen ihres Mannes auf doppelte Weise brach, da er das Studio wie überhaupt alles finanzierte, was sie für ihre Expeditionen in die Wissenschaft brauchte oder zu brauchen vorgab. Er musste sie für eine Art höheres Wesen halten. Why not? Jedenfalls schien er gewillt, alle materiellen Widrigkeiten von ihr fernzuhalten. Ich nehme an, er hätte selbst unsere Beziehung unter die Unbegreiflichkeiten ihrer ätherischen Natur gerechnet und toleriert oder sogar gefördert. Doch soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Schon gar nicht in einer Nacht, in der ich durch Türen ging, von deren Vorhandensein ich bis dahin nichts gewusst hatte.

Als der Morgen graute, war Rennertz aus meinem Universum getilgt.

Ich rasierte mich ausgiebig. Immer wieder nahm ich das Kinn in die Hand, strich mit Daumen und Zeigefinger an ihm entlang, um einen Gedanken zu hätscheln, der zu groß war, um sich auf einmal mitzuteilen. Nein, er kam nicht. Ich strich um ihn herum, verließ das Bad, gewillt, so rasch wie möglich zu ihm zurückzukehren, und war nicht übermäßig überrascht, als ich das Bett noch warm, aber leer fand. Mir fielen die Nelken ein, die im Fond meines Wagens vergammelten. Ich würde sie an der nächsten Raststätte entsorgen und den Sitz einer Reinigung unterziehen lassen müssen.

 

Strandgeflüster
3
Mich bestürzte die Unordnung

und ich schlich in die Küche, wo es nicht besser aussah. Nach einer halben Stunde fing ich an, Blicke auf die Straße zu werfen. Mit Sicherheit war Liz Brötchen holen gegangen. Ich wusste, dass sich die Leute beim Bäcker an der Ecke die Beine in den Bauch standen. Das Gedränge neben- und hintereinander geparkter Autos verhieß nichts Gutes. Ein leichter Sprühregen ließ das Grau der Jalousie metallisch aufscheinen, zwei Helligkeiten neigten sich gegeneinander.

Die Vision der Herfahrt nahm eine neue Gestalt an. Sie verließ die Frau, verteilte sich flächig im Raum und verdichtete sich in einem reglosen Gegenüber. Die Wand – oder was ich, eingesponnen in meinen Zustand, dafür hielt – schien zu zerbröckeln. Aber auf halbem Weg in die Gestaltlosigkeit bahnte sich eine Umkehr an. Etwas, das sich mir als Bogen darzubieten begonnen hatte, gab den Umriss einer Steinfigur frei, deren Hand auf einem Mauerrest ruhte. Unschlüssig versuchte ich zu ergründen, ob sie in meine Richtung blickte oder von mir fort in das Grau eines nun wirklich gestaltlosen Tages. Eigentlich war es gleichgültig. Die Ungeduld verschwand, an ihre Stelle trat eine nervöse Unruhe. Mir wurde eng und ich wechselte in den Arbeitsraum, wo ich Brötchen, Marmelade und eine Thermoskanne voll dampfenden Kaffees, doch nicht die Spur einer Nachricht vorfand.

Mein Gegenüber hatte mich keinen Herzschlag lang verlassen. Seine Gegenwart schien intensiver geworden zu sein und ein Zwitterstadium erreicht zu haben, das einer unmittelbaren Kontaktaufnahme vorausging. Es war nicht mehr der steinerne Gast aus der Küche, sondern ein beweglicher Schatten, möglicherweise mein eigener, durch die unklaren Lichtverhältnisse ins Unwirkliche verzerrt und geschwächt, fast nur der Schatten eines Schattens, und auch das nicht ganz. Falls es mein eigener Schatten sein sollte, so legte er meinen Bewegungen gegenüber eine spielerische Selbständigkeit an den Tag, um die ich ihn in meiner wachsenden Befangenheit fast beneidet hätte. Nolens volens begann ich mich auf sein Spiel einzulassen. Das Wesen hinter ihm schien erfreut zu sein. Gleich darauf verfinsterte er sich, als wollte er damit ausdrücken: du oder ich. Da ich keine Eile hatte, der versteckten Drohung zu weichen, verhärtete ich mich, reckte mich, ließ die Armmuskulatur spielen und fasste mir wie von ungefähr ans Glied, das sofort anschwoll und ein Gefühl der Lächerlichkeit bewirkte.

Strandgeflüster
4
Der warme Kaffee

ließ die Woge verebben. Währenddessen drangen Stimmen von der Straße herauf, die mich daran erinnerten, dass ich noch immer auf eine Rückkehr wartete, die mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde. Wenn ich Liz einen Brief hinterließ, dann konnte er, egal was ich schrieb, nur mein Befremden ausdrücken. Das verlieh der Sache zuviel Gewicht. Also verwarf ich den Einfall. Das letzte, was ich uns wünschte, war das Defilée der All- und Immer-Sätze, mit dem das renitent gewordene Geschlecht vom Denken Besitz ergreift. Zu spät, durchfuhr es mich, das ist die Wendemarke, hier endet dein verborgenes Glück.

Ich hob die Tasse und sie zersprang mir in der Hand. Das war nur Einbildung, aber die Hand zitterte so stark, dass ich die Tasse absetzen musste, um den Kaffeerest nicht zu verschütten.

Strandgeflüster
5
Nütze deinen Vorteil

Vernünftig wäre es gewesen, still den Mantel vom Haken zu nehmen und in den zunehmenden Regen hinaus zu enteilen, Liz am Nachmittag anzurufen und die Situation zu klären. Doch das Vernünftige hat nach meiner Beobachtung die Tendenz, an der Schwelle zur Verwirklichung innezuhalten und seine Festlegungen Punkt für Punkt zu widerrufen. Tatsache ist, dass ich blieb. Tatsache ist, dass ich nicht allein blieb. Mein farbloser Begleiter verdichtete sich und erhellte sich, und hell und perlend klangen die Sätze auf, die ich hier notiere – ich habe sie keine Sekunde seither vergessen, obwohl ich jetzt, im Augenblick der Niederschrift, mit einer gewissen Unsicherheit kämpfe.

  • ―Ich weiß nicht, warum er das macht, aber unser Leben wird dadurch nicht leichter.
  • ―Das glaube ich gern. Warum stellst du ihn nicht zur Rede?
  • ―Nein, das werde ich nicht tun. Es ist sein Leben, ich habe kein Recht, mich da einzumischen.
  • ―Aber es ist euer gemeinsames Leben, das er damit bedroht.
  • ―Aber er bedroht es doch nicht. Er lebt es auf seine Weise.

Strandgeflüster
6

Erst schwach, dann kräftiger, entfernt einem Hologramm zu vergleichen, erschien mit den ersten Silben die Szene: eine Frau, meine Frau (um einige Jahre jünger, wie ich nicht ohne Neugier registrierte) saß etwas vornübergebeugt in einem Strandkorb, sie lehnte die rechte Schläfe gegen das Rohrgeflecht und hielt beide Hände auf ihrem Schoß. Ein junger Mann, den ich nicht kannte, hockte im Sand und blickte zu ihr auf.

Mein erster, sich rasch abschwächender Impuls war, mich zu entfernen, mein zweiter, mir eine Zigarette anzuzünden. Es war vergebliche Mühe, denn ich konnte mich nicht bewegen. Niemand schien mich wahrzunehmen. Der Peinlichkeit, die ich empfand, entnahm ich, dass ich trotzdem zu den handelnden Figuren gehörte, ein bisschen wie der treulose Gatte auf dem Theater, dem man die Komödie des Nicht-Bemerkens vorspielt. Ich war mir sicher, dass sich das Gespräch nicht auf mein gegenwärtiges Verhältnis zu Liz bezog. Es schien sich auf überhaupt keinen Verdacht zu beziehen, sondern auf eine klar und offen zutage liegende Sache, die ich durch sorgfältiges Erwägen der Worte zu ergründen versuchte. Umsonst! Ich hätte aus der Szene verschwinden müssen, um zu erfahren, worum es ging. Aber das ließ sich nach Lage der Dinge nicht bewerkstelligen.

Strandgeflüster
7

Meine Frau stand auf und legte sich mit einer raschen, fließenden Bewegung in den Sand. Der junge Mann schien noch intensiver zu kauern. Leider konnte ich sein Gesicht nicht deutlich erkennen, er würde mir ewig unbekannt bleiben. Seine Stimme hatte etwas Synthetisches, sie war die Stimme eines jungen Mannes, die eine leise Hysterie in mir weckte. In ihr schwang tiefes Verständnis für die reifere Frau, die sich aus einer unerklärlichen und daher als kostbar empfundenen Anwandlung heraus offenbart.

Mit den Augen dieses Mannes betrachtet, war ich nicht der Feind, sondern, weitaus schlimmer, eine Mixtur aus Vaterfigur und falschem Liebhaber: ein Versager. Dem vibrierenden Angebot, es besser zu können – und zwar nicht graduell, sondern unendlich besser –, das er darstellte, weil das herrische Geschlecht ihm die Rolle zuwies, hatte ich, verborgen unter der Tarnkappe, nichts entgegenzusetzen außer der Wirklichkeit selbst, die sich protestierend im Spiel der Assoziationen zu Wort meldete.

Was er sagte und tat – im Augenblick ließ er ein wenig Sand durch seine Finger rieseln –, war nicht wirklich, es zielte an allem vorbei, was Anita und mich betraf. Dennoch hörte sie ihm zu, mit einem durch nichts zu beeinträchtigenden Ernst, der kundtat, dass seine Rede tiefere Schichten berührte, Schichten, in denen sie sich zu Hause fühlte oder zu Hause sein würde, würde die Gunst der Stunde sie einmal dorthin verschlagen, womit aber, dank der Widerspenstigkeit äußerer Instanzen wie meiner Wenigkeit, vorerst wohl nicht zu rechnen war.

Strandgeflüster
8

Ich hatte gleich den Strand von Angram wiedererkannt und dieses Wiedererkennen irritierte mich allerdings in hohem Maße. Wir hatten dort nur ein einziges Mal zusammen Urlaub gemacht und mir war nicht bekannt, dass sie vorher oder später einmal allein dorthin aufgebrochen wäre. Die zwei Wochen enthielten für mich die Erfüllung – um ein Haar hätte ich geschrieben: die ›Quintessenz‹ – unserer Beziehung. Zu keiner anderen Zeit war das wechselseitige Geben und Nehmen so verflochten, so dicht, so vollkommen gewesen wie in diesen Tagen. Dem Gefühl kam der Gedanke, ein Dritter könnte dabei die Hand im Spiel gehabt haben, völlig abwegig vor. Dieser junge Mann war nicht wirklich. Mehr als das: er war nicht echt. Meine überschießende Phantasie hatte ihn in einem Augenblick erstehen lassen, in dem ich die Möglichkeit eines doppelten Verlustes überschlug. Sie dramatisierte meine jetzige Lage, indem sie sich nicht damit begnügte, alle aktuellen Sicherheiten aufzulösen, sondern zusätzlich die der Vergangenheit, die doch das Fundament der gegenwärtigen wie aller kommenden Gewissheiten darstellten.

Jedenfalls bildete ich mir das ein, wobei ich zugeben musste, dass die Art, wie es durch einen simplen Tagtraum ins Rutschen geriet, seiner Festigkeit kein gutes Zeugnis ausstellte.

Mir war kläglich zumute.

Strandgeflüster
9

Mittlerweile hatte ich mich zum Aufbruch entschlossen, aber eine Winzigkeit hielt mich zurück. Mag sein, es lag an einer Veränderung der Lichtverhältnisse – der Regen hatte aufgehört und durch die Jalousie strömte, silbrig getönt, das helle Vormittagslicht –, mag sein an etwas, das nie die Schwelle bewusster Wahrnehmung überquerte.

Aus dem Licht – oder dem Unnennbaren – löste sich Angram: der Geruch des Meeres, das Rauschen, der silbrig und träge glänzende Sand, über den ein kalter Wind wehte. Im Vordergrund – ich entsann mich der Episode gut – spielten zwei junge Frauen Volleyball. Sie spielten mit einer Hingabe, die keinen Gedanken an Voyeursblicke zuließ. Jede trug nur ein Kleidungsstück auf dem Leib, ein dunkelblaues Sweatshirt die linke, eine hellgraue Trainingshose mit umgekrempeltem Bund die rechte, eine schlanke Blondine, deren Mähne im Wind flatterte. Die weißen Körper, eigentlich Halbkörper, die einander im hin- und herwandernden Blick des Mannes ergänzten, versetzten mich in Erregung – nicht zum ersten Mal, wie es schien, die momentane rief eine zurückliegende auf und steigerte sich an ihr, als habe sie etwas zu bedeuten, zu dem der Schlüssel in der Vergangenheit lag.

Solange ich zu den Spielerinnen hinschaute, fühlte ich den Blick meiner Frau, die ein paar Schritte vorangegangen war, auf mir liegen. Ich empfand ihn als einen erst leichten, dann beinahe schmerzlichen Druck, und als ich mich ihr zuwandte, sah ich in das glatte Gesicht einer Frau, die darauf wartet, unterhalten zu werden.

Der Auftritt

Der Auftritt
1
Renate Solbach: Figur 7

 

Geh an dein Limit. Nun, das Limit ist erreicht: ich habe es getan. Jedenfalls habe ich mein von der Redaktion eingeräumtes Seitenlimit überschritten und es sieht nicht danach aus, als sei man dort bereit, mehr Raum zu meiner Verfügung abzuzweigen. Meine Aufzeichnungen treiben hinaus. Nicht eine Minute lang hat mich die Empfindung, am Anfang zu stehen, bisher verlassen. Kürzen? Also gut, ich denke darüber nach. Was gibt es da zu kürzen? Nichts, nichts und dreimal nichts. Ich stürze mich, ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, in die Aufgabe und weiche gurrend zur Seite, sobald ein Redaktionsschnösel mir zu nahe tritt.

Ruckediguh, Blut ist im Schuh.

Aber in welchem? Im linken oder im rechten?

Das hätte von Liz kommen können. Aber ich hatte sie schon allein deshalb nicht in meine Aufgabe eingeweiht, weil ich sie für die Eingeweihtere von uns beiden hielt. Diese Stimme klang rau, männlich, körnig, als liege Sand auf den Stimmbändern, und sie entfernte sich umgehend. Recht hatte sie. Der Verleger, dem ich meinen Text zu lesen gab, lächelte breit, als er ihn mir zurückgab: er wisse nicht, warum er das lesen solle. Am Innenleben des bürgerlichen Subjekts sei er nicht interessiert. Ich lächelte zurück und versicherte: ich an weiteren Aufträgen seiner Firma auch nicht.

Eine Lösung bedeutete das nicht.

 

Der Auftritt
2
Neues vom Limit

Das bürgerliche SubjektDas bürgerliche Subjekt verlässt morgens das Haus, wirft den Wagen an, passiert den vertrauten Ampelwald und lehnt sich zurück, sobald ein Stück Autobahn sich vor ihm auftut: endlich im Stau! Das bürgerliche Subjekt hat Termine und wenn einmal Zahnschmerz sich meldet, lässt es sich einen mehr geben: ein anderer muss dafür zurückstehen. Das bürgerliche Subjekt lebt von Geschäftsessen und ein Seitenblick zwinkert ihm zu: der Kellner auch. Das bürgerliche Subjekt, ruhelos im Auftreten, ruht in seinem Anzug wie in einem Futteral. Sobald es in Pullover und Jeans am Schreibtisch sitzt, weiß es: der Arbeitstag, geliebt oder nicht, ist vorbei. Das hier ist Freizeit, freie Zeit, abgezwackt vom Familienleben und damit gestohlene Zeit.

Das bürgerliche Subjekt, am häuslichen Schreibtisch imaginären Verpflichtungen nachjagend, verfolgt, wie die Schere sich öffnet. Alles, was es schreibend voranzubringen wünscht, verschlingt der gefräßige Alltag. Die Zeit, die im Schreiben verstreicht, ist nicht gleichgültig, und sie ist nicht leer. Liz hatte recht: das Leben geht weiter. Vor allem geht es weiter, während das Schreiben ruht. Verbannt in gelegentliche Abendstunden, fällt es zurück, weiter und weiter, bis der Schreibende nur noch ein paar Lichter erkennt, bevor eine Kurve die Sicht auch auf sie nimmt. Mein Fall, dein Fall, der Fall Rennertz … wessen Fall bleibt da zurück? Ist es noch der Fall? Hat er sich nicht längst ohne dein Zutun gelöst? Oder hat die Zeit ihn zerstückelt, um ihn ungelöst bröckchenweise zu entsorgen?

 

Das alles wurde mir schlagartig klar, als ich Anita ein paar Seiten dieser Niederschrift zu lesen gab. Nicht ohne Grund, unsere einträchtig verbrachten Stunden sind selten geworden. Die Atmosphäre der Zweisamkeit war gedrückt. Nach einem stummen Blickwechsel kehrte ich an den Schreibtisch zurück, wählte kurz aus und überreichte ihr die Blätter in einer Mappe. Sie las sie (allzu eingehend, wie ich fand), trat hinter mich, stützte sich auf die Lehne meines Sessels und sagte wenig schalkhaft:

  • ―Lügen!

Der Auftritt
3
  • ―Das sind Lügen, wiederholte sie, als ich schwieg. Diesen Rennertz gibt es doch überhaupt nicht, den hast du dir ausgedacht.

Ich schüttelte den Kopf.

  • ―Wenn du es wenigstens zugeben würdest, schrie sie an meinem Ohr. (Sie neigte sonst nicht zu hysterischen Ausfällen.)
  • ―Was soll ich zugeben?

    Meine Fingerkuppe berührte den Schlüssel zur Schublade, in der ich das Manuskript seit seiner Ankunft verwahrte. Ich hätte ins Büro fahren können und eine halbe Stunde später wäre es in ihren Händen gelegen, aber hätte das ihren Ausbruch erklärt? So schwieg ich und wartete ab.

  • ―Du bist feige, feige, feige! rief sie in heller Erregung, beinahe rannte sie zum Regal, lehnte ihren Kopf an das dunkle Holz und legte die Hände an den Fingerspitzen zusammen. Ihr Körper krümmte sich unter einer großen Spannung. Als sie wieder zu sprechen begann, tat sie es mit der Stimme eines Vogels, inständig und trocken zugleich.

  • ―Immer wolltest du schreiben, fiepte sie, immer habe ich darauf gewartet, dass du den Mut aufbringst und es endlich tust. Und jetzt versteckst du dich hinter dieser lächerlichen Figur. Das ist nicht fair, schloss sie und hämmerte gegen das Holz.

  • ―Aber nein, hörte ich mich begütigend antworten, du täuschst dich, dieses Bedürfnis ist mir vollkommen fremd. Warum hätte ich das tun sollen? Sieh dich um, meinst du, wir stünden besser oder auch nur annähernd so wie jetzt da, wenn ich diesen seltsamen Ehrgeiz gehabt hätte? Das kann nicht dein Ernst sein. Immer warst du die Musische von uns beiden. Im Grunde wundere ich mich, dass du nicht längst dein erstes Buch herausgebracht hast, es wäre höchste Zeit.

Der Auftritt
4

Wenn es ein Fehler war, so zu reden, dann stehe ich dazu. Auch mir hatte ihr Auftritt den Herzschlag beschleunigt, meine Lippen sprangen. Bestürzt sah ich zu, wie sie die Hände vors Gesicht nahm.

  • Warum tust du das, murmelte sie, das ist nicht fair, das ist nicht fair.

Ich ging auf sie zu, aber sie wich mit einer solchen Heftigkeit aus, dass ein Buch aus dem Regal fiel und mit aufgeschlagenen Seiten liegen blieb. Nimm und lies, dachte ich oder ein Teil von mir, der den Auftritt unbeteiligt verfolgte. Dass es diesen intakten Teil gab, bekundete sich noch auf andere Weise. Ihr Auftritt verwirrte mich. Ich war bestürzt, erregt und sogar aufgebracht, ich verstand nichts. Aber das stimmte nicht. Ich verstand sie mühelos. Wahrscheinlich hätte ich erstaunt reagiert, wenn sie mir keine Szene gemacht hätte. Und darin lag nicht einmal ein Widerspruch.

Erstarrt zwischen der lodernden Frau und dem zu Boden gestürzten Buch wurde mir klar, dass sie spiegelverkehrt eine Episode aus ihrer Kindheit reproduzierte. Obwohl der Inhalt traurig und im eigentlichen Sinn befremdlich war, hütete sie die Erinnerung daran wie einen Schatz, der nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde, Ich wusste von ihr, dass sie als Mädchen Gedichte geschrieben hatte – nicht beiläufig wie andere, sondern mit dem Elan und dem Ernst der kommenden Dichterin. Zu den Eltern besaß sie ein eher distanziertes Verhältnis. Aber das ist eine andere Geschichte. Sie dürften völlig ahnungslos gewesen sein, bis sie ihnen eines Tages ein sorgfältig mit einem Faden geheftetes Bündel Verse auf den Tisch legte, mit zitternden Fingern und fiebrigem Herzen, überzeugt, hier und jetzt werde über ihr Schicksal entschieden, was, erwägt man die Wirkungen dessen, was geschah, sich als richtig erweisen sollte.

Der Auftritt
5

Es muss ein durchdringender Schmerz gewesen sein, in den Augen der bedächtig die Seiten umwendenden Eltern das Befremden aufsteigen zu sehen – kein kleines, belustigtes, das sich gleich in einem Scherz entladen würde, sondern die Vorstufe blanken, ungebremsten Entsetzens, das alle pädagogischen Rücksichten beiseitefegte und noch den nachgeschobenen Versuch der Mutter, die Tochter zu begütigen, zur Farce entgleiten ließ. Was immer die Eltern zu diesem Ausbruch trieb, Anita konnte und wollte es nicht erklären. Eine Aussprache darüber hatte nie stattgefunden. Überhaupt schien es danach bei Ansprachen der einseitigen Art geblieben zu sein.

Wenn es bisher einen Zweifel hätte geben können, so war er jetzt aus der Welt: ab heute besaß ich eine aufmerksame Leserin. Zum Scheitern verurteilt wäre jeder Versuch, die Fortschritte des Manuskripts vor ihr zu verheimlichen. Sie würde es finden, gleichgültig, an welchen Orten ich es von nun an versteckte. Am besten, ich ließ es gleich offen auf dem Schreibtisch liegen. So mussten wir nicht mehr darüber reden und Szenen wie die augenblickliche würden sich in Zukunft erübrigen.

Schon spürte ich die Wirkung des Zensors. Sollte sie wirklich annehmen, ich hätte mir den Rennertz-Auftrag nur ausgedacht, so würde sie spätestens dann stutzen, wenn sie von Liz erfuhr. Es war nicht anzunehmen, dass sie auch ihre Existenz energisch in den Bereich der Ammenmärchen verweisen würde. Nicht auszudenken, welcher Rattenschwanz an Unannehmlichkeiten daraus entstehen konnte. Würde sie dann endlich auch Rennertz’ Auftrag an mich ernst nehmen?

Um ehrlich zu sein, so recht glaubte ich nicht daran. Eher konnte ich mir vorstellen, dass sie sich jeweils das herauslesen würde, was ihrem Zorn am meisten Nahrung gab. Dieser Zorn hatte zwar nur bedingt mit mir zu tun, aber das tat nichts zur Sache. Der Zufall hatte mich zu seinem Auslöser bestimmt. Derselbe Zufall, anders gedreht, oder ein anderer hätte auch Mittel und Wege gefunden, einen anderen Sündenbock zu bezeichnen.

 

Egal was ich tat oder nicht tat, schrieb oder nicht schrieb: an mir würde sich nach Lage der Dinge das Schicksal vollziehen, das darin bestand, ihren Zorn am Rauchen zu halten.

Der Auftritt
6

Natürlich dachte ich nichts dergleichen, zumindest nicht in dieser Ausdrücklichkeit und Reihenfolge, solange ich wie Buridans Esel zwischen Frau und Regal stockte. Ich verhielt kurz, bückte mich, hob das Buch auf, blies, ohne es zuzuklappen, den Staub fort und begann auf der Stelle zu lesen. Zwar gelang es mir nicht, in den Sinn der Buchstabenreihen einzudringen (ein wenig zitterten mir die Hände), doch das störte mich nicht, im Gegenteil. Es gab mir ein sonderbares Gefühl der Sicherheit. Ich gehörte zur Gänze mir und dem Buch, wir beide waren eine Symbiose eingegangen, die nur durch einen Akt unaussprechlicher Barbarei zerstört werden konnte. Die Buchstaben flirrten, einen Hochmut nährend, an den wenige Sekunden zuvor nicht zu denken gewesen war. Anita hatte meine Blätter wieder an sich genommen. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde sie zerreißen, aber sie legte sie ruhig auf den Tisch und ging hinaus. Der Hochmut verschwand und machte einer starken Verlegenheit Platz. Fast wäre ich meiner Frau nachgegangen. Ich schloss das Buch, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, und stellte es an seinen Platz.

Der Auftritt
7

An Schreiben war nicht mehr zu denken. In meinen Gedanken verließ ich das Haus und trudelte planlos durch leere Einkaufsstraßen, aufgeschreckt und für die Dauer eines Wimpernschlags beruhigt, wenn ich einem Pärchen begegnete, das eng umschlungen die Last-minute-Angebote eines Reisebüros studierte oder sich im Glanz einer übertrieben strahlenden Kinofront über sich selbst erhob. In Wirklichkeit legte ich mich aufs Bett. (Ich schlief im Arbeitszimmer, nachdem Anita Nacht für Nacht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war, weil, wie sie sagte, mein Schnarchen sie am Einschlafen hinderte.) Ich streifte den Kopfhörer über und wartete darauf, dass die Unruhe abflaute. Vergebens. Bebend wie ein Kind, das nach seinem Schnuller verlangt, war ich der Schmeichelstimme der Moderatorin gefolgt und hatte die falsche Musik gewählt. Ich nahm es hin.

 

Das ist nicht fair, dröhnte es in meinem Kopf. Was war unfair daran, dass ich ihr das von Rennertz auf meinem Schreibtisch deponierte Problem bisher vorenthalten hatte? Ich hatte genug gelesen, um die Gegenfrage nach ihrem Verhalten stellen zu dürfen. Aber wäre das fair gewesen? Ich glaubte nicht daran, dass der Elefant, der den Raum zwischen uns einnahm, in Begriffe der Fairness passte. Und da das Thema Glauben nun einmal angebrochen auf dem Tisch lag: was sollte eigentlich das Getue, als hätte ich den ganzen Rennertz-Komplex erfunden, um von meiner Impotenz abzulenken? Wenn ich es mir recht überlegte, balancierte sie auf einem dünnen Seil, noch dazu in luftiger Höhe. Schon meldete sich der Impuls, rasch ein Netz zu knüpfen, um dieses so sehr der Innigkeit fähige Wesen im Moment der Momente auffangen zu können.

Der Auftritt
8

Die falsche Musik… Während ich den Gedankenfaden aufnahm, verlor und wieder zu fassen bekam, fiel mir ein, dass ich einen anstrengenden Tag vor mir hatte. Das Geschlechtsleben ist eine feine Sache, aber über allem thront das Bedürfnis nach Schlaf. Er ist der wahre Gebieter, der uns von Zeit zu Zeit auf die Schauplätze des Wachseins entlässt. Hol ihn dir, du hast ihn dir redlich verdient. Ich stand auf, stellte den Wecker und begriff auf eine heftige und unkontrollierte Weise, dass… Die Tür wurde aufgestoßen und Anita stand auf der Schwelle. Ich stand etwas abseits im Dunkeln, so konnte sie mich nicht gleich entdecken. Das Flurlicht warf ihren Umriss scharf in die Mitte des Raumes. Schweigend drehte sie sich um und ging, die Tür einen Spalt breit geöffnet, zurück, wie sie gekommen war. Mir ging ein Licht auf und der Schlaf stürzte sich auf mich, band mich und warf mich ins unterste Verlies, das er auf die Schnelle auftreiben konnte.

 

Zwischenstand

  1. Nicht ich hatte Anitas Attacke ausgelöst, sondern die unbestreitbare Tatsache, dass ich der Erwählte war (sorry, für mich unkommentierbar).
  2. So wenig ich gewusst hatte, dass die beiden sich kannten, so wenig wusste Anita von unseren rituellen Zusammenkünften (sicher sein konnte ich mir nicht). Das klingt nach Symmetrie, aber dahinter verbarg sich das krasse Gegenteil.
  3. Rennertz’ undurchsichtiges Spiel hatte eine Art vibrierender Spannung zwischen Anita und mir geschaffen, die, wie ich einsah, notwendig zur Entladung drängte. Es verstand sich von selbst, dass die Spannung nur von mir ausgehen konnte (und Anita schon bei früheren Gelegenheiten elektrisch reagiert hatte).
  4. Ich hatte auf ihre Erregung reagiert, nicht auf das Anliegen, das sich in ihr verbarg. Die wahre Auseinandersetzung stand mir also noch bevor.
  5. Die wenigen Seiten, die ich ihr zu lesen gegeben hatte, mussten bei ihr die offene Frage aufwerfen, was ich wohl vorhaben mochte, und zwar in Bezug auf Rennertz, auf sie selbst und unsere zur Ehe geronnene Beziehung. (Aus dem Bett geworfen hatte sie mich bereits, was keineswegs bedeutete, dass sie in ihrem Besitzanspruch nachgelassen hätte.)
  6. Rennertz, das sah ich ganz deutlich, war gerade dabei, mich einer Anita auszuliefern, die ich niemals kennengelernt zu haben wünschte. Er war der Teufel im Bunde. Was folgte daraus? Vorerst: nichts.

Usw.

Der Auftritt
9
Pacta sunt servanda

Ein für allemal, so hatte mir Anita versichert, habe sie die Schriftstellerei aus ihrem Leben verbannt. Nie nie nie wollte sie daran erinnert werden. Stattdessen hatte sie irgendwann zu malen begonnen und auch schon ein paar Ausstellungen bestückt. Im Fratzenbuch verfügte sie über ein stattliches Gefolge, das jede ihrer bunten Heldentaten mit nicht enden wollendem Entzücken kommentierte. Nicht Ehrgeiz war es, folgerte ich, sondern pure Eitelkeit, wenn sie mir die Mühsal des Schreibens neidete. Dennoch hatte ich meine Zweifel, ob schlicht Heuchelei sie bewog, mir mangelnden Mut zu meiner Schriftsteller-Berufung vorzuwerfen, als sei ich schuld daran, dass sie, meine Muse, arbeitslos geblieben war. Das war natürlich barer Unsinn. Sicher entbehrte es nicht der Tücke, plötzlich den Topos der Frau als leidender Muse des Mannes aus der Rumpelkiste zu kramen, in der wir ihn gemeinsam unter Gekicher begraben hatten, als wir noch Zeit für solche Spinnereien fanden. Ich war kein Schriftsteller, bin es nicht und werde es niemals sein. Anita wusste das, es lieferte die Grundlage unserer Abmachungen, die darin zusammenflossen, ihr den kreativen Freiraum zu sichern, den sie nun einmal benötigte, um – ja wer schon? – einfach Anita zu sein. Häuslich-schöpferisch, so wollte sie sich verstanden und gehätschelt wissen, und ich … nahm ihre wachsende Aushäusigkeit willig auf mein Konto, denn schließlich war ich der Büromensch, der nicht zur Stelle war, wenn man ihn brauchte, und sei es auch nur, um all die Schecks zu verdienen, die sie im Lauf eines Monats ausstellte.

 

Habe ich es schon geschrieben? Auch Anita liebte ihren Beruf und hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn für eine Marotte an den Nagel zu hängen, auch wenn sie von ihr, wie sie behauptete, mehr und mehr ausgefüllt wurde, so dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis sie so weit war, ihr Künstler*innentum auf eine professionelle Grundlage zu stellen. Die Beraterin war bereits in ihr Leben getreten.

 

Der Auftritt
10
(W)er ist schuld

Wenn nicht Heuchelei, was dann?

  • ―Guido, trommelte die Stimme aus dem Badezimmer, ich will, dass wir uns scheiden lassen.
  • ―Gern. Wann soll es denn sein? Ich frage, damit ich weiß, wann ich die Blumen bestellen muss.
  • ―Gestern. Ich brauche ein Label und Antonia sagt…
  • ―… dass sie dich heiraten will?
  • ―So ungefähr. Aber zerbrich dir darüber bitte nicht dein hübsches Köpfchen. Bevor du gehst, reich mir mal die rote Bluse rein. Liegt auf dem Küchentisch. Und stell den Herd aus.

Das Brimborium schien intakt zu sein.

Hab ich doch meine Freude dran.

Sollte Anita, wie anzunehmen, sich im Besitz des Geheimnisses fühlen, das alle wirkliche Kunst umgab, dann musste sie den Zufall, der mich zu Rennertz’ – wie soll ich sagen – Verweser gemacht hatte, als grausame Ironie und als sträfliche Vernachlässigung empfinden. Fragte sich nur, durch wen. Als Kandidaten kamen in Betracht: ein Toter, meine Wenigkeit, ein zürnender, will sagen boshafter Gott oder das Schicksal, Ananke, die düstere Macht hinter allem, mit der man hadern, aber nicht kämpfen kann. Es sprach für ihren gesunden Realitätssinn, dass sie mich zum Schuldigen erkoren hatte.

Wirklich nur Realitätssinn? Gut, alle Realität verfügt über einen doppelten Boden. Ich, der Ehemann, durfte folglich einen doppelten Anspruch darauf erheben, als Mann am Pranger zu stehen (wohin ›Mann‹ nun einmal gehört). Aber der doppelte Boden … hört nicht pflichtschuldigst dort auf, wo die Realität endet; er kommt mit beim Sturm in die Gefilde der reinen Erregung. Am Ende siegte doch wieder die leidende Natur des Weibes, darauf eingerichtet, zu empfangen und unter Schmerzen auszutragen, gerade weil und obwohl sie hier unbedient blieb. Ein Kalauer der Natur oder der Sprache: Think about it! Wollte es jemand wissen? Ich hätte ›Hier!‹ rufen und das Händchen heben können, jeder Zoll ein Mann der Menge, ein Männchen, Überbleibel aus uralten Zeiten, der Mitwelt zum Gespött.

Ich konnte mir Besseres denken.

Der Auftritt
11
Nobody is perfect

Kühl und ein bisschen besorgt, als trage sie durch ein Versehen der Aufnahmeleitung unvorhergesehenerweise die Verantwortung für das Gehörte, ertönte die Stimme der Studioansagerin. Auch wenn ich vom ersten bis zum letzten Takt nichts gehört oder sagen wir lieber, nichts mitbekommen hatte, so bewegte mich doch diese Stimme. Ich fand, sie habe ihre Sache gut gemacht. Fast hätte ich mir vorgenommen, mich beim nächsten Besuch im Musikladen nach dem Streichquartett zu erkundigen, wenn mir nicht eingefallen wäre, dass ich ja nicht wusste, um welches es sich handelte.

Diana, der Nussschale Erinnerung entsteigend

Diana, der Nussschale Erinnerung entsteigend
1
Renate Solbach: Figur 8
Rennertz light

Als ich Rennertz zum ersten Mal traf, schien er mir etwas jünger zu sein als ich, und obwohl sich dieser Eindruck in der Folgezeit korrigierte (er hatte die Grenze zum Vierziger überschritten, während ich noch als später Mittdreißiger firmierte), blieb ein wenig davon an seiner Gestalt und seiner Art, die Dinge zu betrachten, haften. Heute würde ich sagen, sein Blick auf die Dinge war alterslos. Wenn man damit üblicherweise den nüchternen Greisenblick an der Schwelle zwischen dem vorgerückten und dem biblischen Alter meint, so besaß der seine etwas Jungenhaftes: Die Welt nahm sich darin wie eine frischgebackene Brezel aus – warm, duftend, lockend, rund und zum unverzüglichen Genuss bestimmt. Dabei war er nicht eigentlich Genussmensch (es sei denn, man versteht darunter einen wie ihn und hält das ostensive Genussmenschentum für ein Missverständnis).

Diana, der Nussschale entsteigend
2
Wer ist die Dame?

Er saß sehr aufrecht auf seinem Stuhl und blickte den Gesprächspartner scharf, aber nicht unfreundlich an. Selten sah ich ihn auf einem Sessel Platz nehmen; bei den wenigen Malen wirkte er, als habe er sich bloß pro forma niedergelassen und sei durchgehend auf dem Sprung. Er sprach, wie er saß, zusammengenommen, gespannt, voll jener irritierenden Aufmerksamkeit, in die neben den vom Gegenüber ausgehenden Signalen ununterbrochen die Fülle der Zeichen Eingang fand, die unsere zivilisatorische Umwelt überreichlich verströmt.

So konnte ich mühelos an seinen Augen ablesen, dass es an der Zeit war, der Dame neben dem Eingang aus dem Mantel zu helfen, während ihr linkischer Begleiter sich noch anderweitig beschäftigt zeigte; die Dame trug übrigens einen herausfordernd schimmernden Pelz, sie kam mir, als ich beiläufig den Blick schweifen ließ, flüchtig bekannt vor. Ohne die kleine Ablenkung hätte ich sie wohl nicht aus dieser Umgebung herausgefiltert, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meine Gedanken auf die meines Gesprächspartners abzustimmen.

  • ―Doch doch, ich glaube Ihnen. Dennoch scheint es mir die Aufmerksamkeit gegenüber der Vergangenheit zu weit zu treiben, wenn wir sagen, sie solle und dürfe nicht vergehen. Vielleicht ist es ja unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie vergehen kann, und auf diese Weise die Toten zu erlösen.
  • ―Das hätten die gerne. Von einer solchen Pflicht träumen die doch nur. Glauben Sie mir, die Aufforderung, zu vergessen, scheitert daran, dass die Leute, die es angeht, bereits alles vergessen haben.
  • ―Das mag schon sein. Aber hier handelt es sich nicht ums Vergessen, sondern darum, das Vergangene als etwas zu begreifen, das wirklich vergangen ist.«
  • ―Es kann doch jeden Tag wieder losgehen. Sehen Sie sich um –
  • Er blickte sich wirklich um, gerade hinein in das strahlende Lächeln der Dame, die an unseren Tisch trat und in einem angerauhten, etwas nervösen Tonfall sagte:

    • ―Entschuldigen Sie, dass ich Sie so anspreche. Heißen Sie zufällig Rennertz? Sind Sie der Rennertz?

Diana, der Nussschale entsteigend
3
Elisabeth

Rennertz parierte, ohne zu zögern. Seine ausgebreitete Rechte, die wirkte, als müsse er durch die Finger sehen, schnellte nach vorn und plazierte das Gewicht einer plötzlichen Enthüllung in unmittelbarer Nähe meines Ohrs:

  • ―Guido Auerwald. Der Auerwald. Wen darf ich...?

Das war schon eine bühnenreife Szene und wir mussten alle drei herzhaft lachen, als langsam Licht in das Beziehungsdunkel strömte. Die beiden waren alte Bekannte, die sich, wie sie behaupteten, schon fast aus den Augen verloren hatten. Die Dame setzte sich eine Weile zu uns, während ihr bebrillter Begleiter außer Hörweite in einem Buch las oder blätterte. Später, als ich Elisabeth besser kannte, wollte ich wissen, was sie zu der ›kleinen Komödie‹ bewogen hatte, aber sie wiegelte ab und sagte bloß – da war ich noch auf der harmlosen Seite –, wenn man einen bedeutenden Menschen wie Rennertz persönlich kenne, dann sei man es sich und ihm schuldig, ein wenig zu schauspielern.

Sieh an. Rennertz besaß also Freunde, die ihn für bedeutend hielten.

Diana, der Nussschale entsteigend
4

Das war neu. Den Eindruck teilte ich nicht und das ging, zwischenmenschlich gesprochen, in Ordnung. Auf diese Weise gab ein Wort das andere, ohne störende, der Befangenheit oder Schmeichelei oder Männerkonkurrenz geschuldete Interferenzen, zu denen sich sonst Gelegenheit in Fülle gefunden hätte, etwa, wenn wir im Theaterdunkel halblaut und flach gestikulierend eine Einstudierung der berühmten Pina Bausch kommentierten, was jetzt gelegentlich vorkam. Sobald Elisabeth uns ins Schlepptau nahm, war Kultur angesagt.

 

Ob Ballett oder Theater, wir redeten immer. Ihre Majestät thronte zwischen Rennertz und mir. In den Pausen ergötzte sie uns mit Anekdoten über ihren Mann, einen sie nur wenig fordernden Philosophieprofessor, der, sobald Dämmerung sich über den Tempel der Zweisamkeit legte, sich an seine Manuskripte begab, sofern er nicht Seminar hatte und anschließend mit seinen Studenten in die Kneipe ging, was uns aus irgendeinem Grunde freute.

 

Es gab viel zu lachen, wenn sie dabei war. Sie sprach eher wenig. Aber das festzustellen setzte bereits ein gewisses Nachdenken voraus, denn sie besaß das Talent, denjenigen, der gerade redete, mit allen erdenklichen Signalen der Erwartung und des Entzückens zu überhäufen, so dass Rennertz und ich in einen wahren Taumel gerieten, teils der Aufmerksamkeiten wegen, teils, weil sie uns glauben ließen, den größten Teil des Gesprächs habe die kluge Frau bestritten, die sie nun einmal darstellte. Was in gewisser Weise ja auch der Fall war.

 

Höher noch als ihren verbalen Charme schätzten wir Elisabeths körperliche Präsenz. Sie degradierte uns unumwunden zu Männchen und sperrte uns in einen Zoo prickelnder Empfindungen, aus dem es vorderhand kein Entrinnen gab.

  • ―Ma’am, sagte ich (wir veräppelten uns stets ein bisschen), neben Ihnen zu sitzen ist nicht ganz einfach.
  • ―Fein, sagte sie, dann man tau. Eine Aufforderung, die keiner von uns so richtig verstand. Ich glaube, sie fühlte sich in diesem Augenblick herrlich ordinär.

Diana, der Nussschale entsteigend
5
Pose und Double

Ohne es einzugestehen, waren Rennertz und ich von ihr besessen. Wahrscheinlich hatte ich eingangs die besseren Karten, weil sie mich nicht für bedeutend hielt. Ich habe sie geliebt: ein langes Frühjahr und einen kurzen Sommer lang. (Ich betone das, um die schwächelnde Erinnerung daran zu hindern, just im Moment der Aufzeichnung ganz zu verblassen.) Noch sehe ich uns, lustwandelnd am Gestade eines Stausees, ein leicht wattiertes Blau über uns, das von einer Autobahnbrücke durchschnitten wird, in steter Unruhe, einem Geschäftspartner ihres Vaters oder irgendwelchen Studenten ihres Mannes zu begegnen, was vermutlich häufig genug geschah, ohne dass es sichtbare Folgen gezeitigt hätte. Unsere Körper drängten sich gegeneinander, so dass wir manchmal fast erschöpft bereits im Hotelzimmer ankamen, wo wir erst Rücken an Rücken saßen, bevor wir uns auszukleiden begannen.

 

Eine unglaubliche Zeit. Frage ich mich, was heute in ihrem Körper davon übriggeblieben ist, dann beschleichen mich Zweifel, ob ich nicht damals schon einer Fata Morgana huldigte. Es gab Tage, an denen ich überzeugt war, die Wellen der Ruhr, die gerade hier, zwischen zwei überaus wirksamen Kläranlagen, eine behende Natürlichkeit zeigte, liefen in gleichem Takt neben uns –: eine Empfindung, rauschgeboren und ebenso unglaublich wie der Fakt, dass unsere Klimmzüge auf den Laken mehrerer dutzend Hotelbetten, die wir zu diesem Zweck heimsuchten, sich als so wenig ergiebig erwiesen, dass es manchmal schien, als verschlimmere jeder Versuch, den Gefühlsstau auf zweckmäßige Weise abzuleiten, das Problem, das die übermäßig aufgetürmte Gegenwart des jeweils anderen uns aufbürdete.

  • Wenn man mich fragt, so lag zu viel Gymnastik in der Art, wie sie sich bewegte. Nicht dass mich das Repertoire störte, über das sie offenkundig verfügte – schließlich war sie eine reife Frau, von der ich mich gerne führen ließ –, mich irritierte nur die ballerinenhafte Manier, in der sie es zur Ausführung brachte. Eine … wie soll ich sagen? … abstrakte Anstelligkeit brachte mich oft genug davon ab, den schon beschrittenen Weg gemeinsam mit ihr bis zum Ende zu gehen. Ich überlege mir, ob sie den leisen Klick hörte, mit dem sich mein Bewusstsein in solchen Momenten einschaltete und anfragte, ob noch alles mit rechten Dingen zugehe. Eigentlich glaube ich es nicht. Sie kämpfte mit einer Aufgabe, die sie sich selbst erteilt hatte, und was immer sie in ihrem Dienst unternahm, stets überwog der Wunsch, es ›richtig‹ zu machen.

Irgendwann ging mir ein Licht auf. Ich stellte mir vor, dass in ihrer Einbildung jedes Mal, wenn wir uns auf den Weg der Vereinigung begaben, zwanghaft ein männliches Kollektivwesen zu rumoren begann, dem sie ebenso hemmungslos wie unbedarft zu Willen sein wollte. Wie im Leben dort draußen wollte sie auch hier Leistungsträgerin sein und ihr Bestes geben: eine fixe Idee, die, vom Gehirn kommend, die Blut-Hirn-Schranke durchbrach und das pochende Blut zu einer kontrollierteren Gangart anhielt. Währenddessen arbeitete ich ebenso behutsam wie erfolglos daran, mich dieses Doubles zu erwehren, um auf eine nicht weiter zu erläuternde Weise ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Sobald sie wieder in ihre Kleider zurückgeschlüpft war, fiel das Double in sich zusammen, sie bewegte sich mit der Sicherheit eines Panthers und wir waren uns näher als je zuvor.

Diana, der Nussschale entsteigend
6

Ungefähr zur selben Zeit lernte ich Anita kennen. Die Bekanntschaft – um es bei dem Wort zu belassen – ergab sich in der zweiten Hemisphäre meiner Existenz, gleichsam auf (und unter) einem anderen Stern. Anita war zurückhaltend im Gespräch, aber störrisch. Im Bett jedoch entfaltete sie eine unparfümierte Gegenwart, durch die sie nach und nach Elisabeth sowie alle weiteren denkbaren Rivalinnen aus dem Feld schlug. Unsere Organe fügten sich in einer Weise zusammen, die den Gedanken an Stellungskriege und ihre Abnützungseffekte gegenstandslos werden ließ. Stattdessen überfiel mich manchmal ein Argwohn, das sei ihr gar nicht so recht und sie betrachte sich als Gefangene ihres Geschlechts, das so wunderbar rosig unter meinen Händen aufblühte.

Er hätte mich nicht übermäßig bekümmert, hätte ich nicht gleichzeitig den häuslichen Sog gespürt, der sich kräftiger – und definitiver – in jeder ihrer Ankünfte meldete. Auch daran wäre vermutlich wenig auszusetzen gewesen, hätte nicht die zugegebenermaßen etwas verwickelte Aussicht darauf, das noch nicht bezogene Heim in fernerer Zukunft allein bewohnen zu müssen, während der Vogel, den ich gerne in sicherer Verwahrung gewusst hätte, ausgeflogen sein und nur zu Begattungszwecken hin und wieder ein rückwärtsgewandtes Rendezvous gewähren würde, eine Beklemmung hervorgerufen, die mir neu war. Vielleicht auch nicht. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: sie rührte an kindliche Ängste, von denen ich eigentlich nie mehr eingeholt werden wollte.

Um auf Elisabeth zurückzukommen: sie war ein Panther, aber kein freilaufender. In finanzieller Hinsicht gab sie sich unabhängig. Ihre Familie besaß eine Pelzhandlung, eines jener Traditionsgeschäfte, die an der gläsernen Eingangstür den ziselierten Schriftzug ›seit 1854‹ tragen und dadurch andeuten, wie viele Vorgängertüren bereits durch das Bedürfnis betuchter Mitbürger aufgebraucht worden waren, der werten Gattin ein wenig Blutgeruch um die kostbaren Schultern zu legen, und sie war die Erbin. Umso weniger Verständnis brachte ich dafür auf, dass sie sich einen Philosophen als Gatten hielt. Doch konnte und wollte ich mit ihr darüber nicht rechten. Ich spürte die Macht der Beruhigung, die von dieser Beziehung auf sie ausstrahlte, und hielt sie unwillkürlich für ›etwas Festes‹.

Diana, der Nussschale entsteigend
7

So glitten wir, ohne dass es uns störte, auf dem sprichwörtlichen Vulkan dahin, der jederzeit aufbrechen konnte, bissen uns gegenseitig ins Ohrläppchen und genossen auf jede erdenkliche Weise den frischen Wind, der unsere Kleidung aufplusterte und zwischen den Körpern Orte der Ruhe und sanfter Beständigkeit schuf, die durch eine leichte Drehung und Wendung verschwanden, als habe es sie nie gegeben.

  • ―Hör mal, sagte sie, möchtest du uns nicht am Samstag Gesellschaft leisten? Es kommen noch ein paar Kollegen von Manfred – das war ihr Mann –, du würdest dich sicher amüsieren. Ich lehnte ab.
  • ―Wie wäre es, meinte ich, wenn wir stattdessen ins Kino gingen? Ich besorge gleich Karten.
  • ―Keine Chance. Hast du Angst?

Elisabeth war nicht dumm, aber ihre Intelligenz geriet, wenn kein Dritter dabei war, rasch an Ränder. Mag sein, der Dritte war so etwas wie ihr Betriebsgeheimnis. Mit seiner Hilfe ließ sich jedes Stocken, auch das der eigenen Gedanken, überbrücken. War man mit ihr allein, dann nahm die Psychologie des Nähkästchens seine Stelle ein. ›Sag mal‹, hieß das, ›was verbirgst du da eigentlich?‹ Die Strategie des therapeutisch maskierten Verdachts hatte ihre Zelte in ihr aufgeschlagen und sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, sie spielen zu lassen. Womit sie nichts Besonderes tat, weil eine ganze Gesellschaft an diesen Spielchen Gefallen fand. Oberflächlich betrachtet, hat sich daran bis heute wenig geändert, solange man außer Acht lässt, in welchem Ausmaß das gesamte Signalement eine andere Färbung angenommen hat. Eines ist sicher: der Charme, der es damals umfloss, ist aus der Welt verschwunden.

  • ―Deine Angst ist unnatürlich. Du solltest etwas dagegen tun.
  • ―Mach doch, was du willst. Ich werde dich nicht von deiner übertriebenen Mutterbindung befreien.
  • ―Heute habe ich ausnahmsweise wirklich keinen Nerv, mich mit deinem Christussyndrom zu befassen.

 

Penthesilea hatte stets einige stolze, in endlose Gemetzel um entfernte, nur vom Hörensagen bekannte Wasserstellen verstrickte Kriegerinnen im Feuer. Nie konnte ich sie davon abhalten, ein paar Pflöcke niederzureiten, die ich, ganz Stratege meiner Gedankenwelt, vorsorglich als topographische Marken im Gelände verteilt hatte. Wahrscheinlich wünschte ich es nicht einmal. Nach jedem Überfall ging ich resigniert daran, sie wieder aufzurichten oder gleich ganz zu erneuern. Deleuze hätte seine Freude an mir gehabt.

  • ―Ich habe keine Angst. Wie kommst du überhaupt darauf?
  • ―Meine Mutter ist mir schnuppe. Ich kann das beweisen.
  • ―Ich halte Jesus für einen wirklich bedeutenden Menschen. Aber er ist schon ziemlich lange tot. Können wir uns nicht darauf einigen, dass...
Diana, der Nussschale entsteigend
8

Ich habe mich, seit Rennertz’ Manuskript mir die Augen öffnete, oft gefragt, welche Mechanismen Elisabeth halfen, sich ihren Weg durch die Gesellschaft zu bahnen. Ihre Ausritte in den Untergrund meiner Psyche stellten eine Herausforderung dar und ich hätte mich selbst als Versager betrachtet, hätte ich sie nicht angenommen. Wie ich sie annahm, darin lag das Geheimnis oder der nicht ganz so verborgene Trick, der ihr den Erfolg sicherte. Je entschiedener mein Auftreten, desto banger ergab sich mein Inneres den Einflüsterungen, die von dem offenkundigen Unsinn ausgingen, der ihren zärtlich-spöttischen Lippen entfloss. Gewiss, sie verunsicherte mich, aber nicht in dem banalen Sinn, der damals überall obenauf lag, sondern im Zugang zu den Gegenständen meines eigenen Nachdenkens. Soll heißen, ich räumte ihr einen Kredit ein, von dem ich wusste, er war nicht gedeckt. Aber vorerst kümmerte mich das nicht. Es nervte erst, als ich mir mehr und mehr eingestehen musste, dass nichts von dem, was ich als Resultat gemeinsamen Überlegens wiedererkannt hätte, in Elisabeths Repertoire Eingang fand.

 

Bald begann sie abzuwinken, sobald ich in ihrem Beisein einen Einfall entwickelte. Schonend signalisierte sie, mit meinen Einstellungen ausreichend vertraut zu sein. Ich fragte mich, wie Manfred mit ihren nomadischen Durchblicken zurechtkam. Aber da ich weniger über Philosophen wusste als über die Parfums ihrer Ehehälften, gedieh die Überlegung nicht weit. Der Gedanke, gelegentlich mit versprengten Partisanen aus den Reihen seiner Überzeugungen zu kämpfen, kam mir erst später. Vorerst nahm ich die erdrückende Wand aus Männlichkeit viel zu ernst, die sich in jeder Gesellschaft erhob, der Elisabeth ihre laute oder leise Gegenwart hinzufügte.

So geschah es, dass ich mich heimlich zu den gemeinsamen Abenden mit Rennertz zurücksehnte, sei es, um ihr perlendes Lachen wieder zu hören, sei es, um der Stockung zu entgehen, die ihre Tiraden in mir erzeugten. Dort aber schlug sie sich jetzt mehr und mehr auf Rennertz’ Seite, so dass das Opfer unserer Liebe allmählich auf dem Altar meiner durch ihr gar nicht so seltsames Gebaren in den Raum gestellten Ahnungslosigkeit verrauchte.

Die Anfänge des Verstehens liegen im Dunkeln

Die Anfänge des Verstehens liegen im Dunkeln
1
Renate Solbach: Figur 9

 

Ahnungslosigkeit: seltsames Spielwort in einem Geplänkel, in dem nicht etwa die Grenze zwischen den Ahnungslosen und den Ahnungsvollen ermittelt, sondern ersteren beigebracht wird, dass sie es sind. Die Ahnungsvollen bilden eine Untergattung der Ahnungslosen. Wer ahnungslos ist, bestimmen die anderen. Sie haben keine Ahnung, wann es sie selbst treffen wird, obwohl sie wissen, dass es sie ›erwischen‹ wird, wie die korrekte Vokabel lautet, der man anhört, wie wenig der einzelne gegen die Hand (oder ist es die Faust?) vermag, die ihn beutelt, während sie andere verschont – ›wir waren alle ahnungslos‹, hört man manchmal, doch das ist ein Verteidigungstrick, der nicht funktioniert, weil die Anmutung, die darin beschlossen liegt (›ich ahnungslos?‹), nicht angenommen wird. So gern man sich der Ahnungslosigkeit bezichtigt oder ›den Ahnungslosen spielt‹, so hartnäckig verweigert man die Annahme jener eingeschriebenen Sendung, von der man im voraus weiß, dass ihr Inhalt aus diesen drei Worten besteht: Du bist ahnungslos.

Die Anfänge des Verstehens liegen im Dunkeln
2
Keiner ist ahnungslos

  • ―Jeder will es gewesen sein, orakelte Rennertz, feige Hunde, verraten das Vaterland. Sagte ich Vaterland? Abführen den Kerl! Obwohl oder weil, wo liegt da der Unterschied? Gewisse Ahnungen existieren nur im Zustand des Leugnens. Richtige Ahnungen schließen gewisse Ahnungen aus. Wer’s nicht ahnt, den trifft die Schwere des Schicksals. Noch etwas? Ahnungen sind das Unterfutter der Ahnungslosigkeit. Ohne sie ist keine Ahnungslosigkeit lebbar. Man bezichtigt den anderen nicht, sondern zeigt, dass man ihn für ahnungslos hält. Ein Narr, wer nicht darauf einsteigt. Zeig her! Was gibt’s da zu zeigen? Gib her! lautet der Imperativ, der den Ahnungslosen markiert und ihm seine Lage drastisch vor Augen führt. Natürlich ahnt er, worauf die Sache hinausläuft. Du kannst das nicht. Gib ab und die Sache liegt in den richtigen Händen. Dagegen ist schwer anzukommen. Warum auch?

Die gespielte Ahnungslosigkeit der Frau am Straßenrand, die vorgibt, mit dem Wagenheber die Motorhaube ihres Seicento öffnen zu wollen, fällt unter die leeren Verheißungen. Der Mann, der hier eingreift, weiß, dass er sich etwas vorgaukelt und dass er benützt wird. Aber es berührt ihn nicht, weil er ahnt: dies hat die Struktur des Glücks, auch wenn daran gar nicht zu denken ist. Zärtlich umfasst er den Wagenheber, den sie ihm bereitwillig überlässt. Alles ist möglich: keine Ahnung, worin es besteht.

Die Anfänge des Verstehens liegen im Dunkeln
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Wie banal, sagt der Zensor. Und das ist vielleicht das Geheimnis der Ahnungslosen. Sie fürchten die Banalität nicht – jedenfalls nicht in der kurzen Spanne, in der sie sich zu ihrer Ahnungslosigkeit bekennen –, sondern benutzen sie, während die Angst, für ahnungslos gehalten zu werden, die Sorge enthält, als banal zu gelten. ›Natürlich‹ machte es mir nichts aus, wenn Elisabeth im Gespräch mit dem bedeutenden Menschen Rennertz von meinem Gesprächseinwurf ungefähr den gleichen Gebrauch machte wie ein Vielflieger, der, ohne seinen Redefluss zu drosseln, sich eine Tasse vom Tablett nimmt, das ihm eine in unendlicher Geduld geübte Stewardess hinhält. Immerhin kam ich dabei auf meine Kosten. Manchmal genügte dazu der Anblick ihrer flammenden Augenbrauen, manchmal eine bestimmte Neigung ihres Gesichts oder der Fall ihres glänzenden Haars.

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Allzu lange hielten solche Phasen nicht an. Ergebenheit ist gut, Demütigung ist besser. Auch dafür war gesorgt: auf dem Klavier meiner von ihr geschaffenen Ahnungslosigkeit spielte Elisabeth die erstaunlichsten Läufe.

Die Zeit verging im Fluge.
als Shopping ging die Kluge.

  • ―Ach Guido –! Vergiss den Kram doch einfach. Erstens, weil er nervt, und zweitens … schau mal, ich will dich nicht enttäuschen, aber ich werde aus dem, was du sagst, einfach nicht schlau. Könnte es sein, dass du da etwas verwechselst? Wir nehmen es dir ja nicht krumm. Versprochen!

Auf solch perfide Weise gelang es ihr, mich durch einen reflexhaften Einwurf zu neutralisieren, der auf nicht revidierbare Weise den Hinweis enthielt, dass ich über einen Gegenstand redete, zu denen mir der Zugang immer verschlossen bleiben würde, was aber angesichts der Originalität und Drolligkeit meiner Natur kein Schaden sei, eher ein Schutzmechanismus.
Wir sprachen über Afrika.
Mir war nicht bewusst, dass ich mit einer Kongo-Expertin sprach. Ihre Rohstoffe bezog sie aus dem Biomarkt, der in ihrer Nähe florierte. Das Einvernehmen mit Rennertz, das in solchen Momenten im Raum stand – durch ein abwesendes Lächeln seinerseits vorsichtig aufgenommen und besiegelt –, wurde sogleich überwölbt und fortinterpretiert durch eine herzliche Geste, einen bedeutungsvollen Blick und ähnliches, so dass ich wie ein gutmütiges Haustier mit einem sanften Schwanzwedeln zu erkennen geben durfte, dass mir, im Augenblick wenigstens, alles recht sei.

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Was hätte ich tun können?

  • ―Je déteste Senghor.
  • ―Ach, hat er dich versetzt?

Auch Rennertz kannte Anfälle von Bissigkeit. Ich konnte nachlegen oder es bleiben lassen. Besser, ich ließ es bleiben. Der Blechbart Leopolds II. lächelte dünn auf mich herab. Ich hätte sie nach Brüssel mitnehmen können, wo ich öfter zu tun hatte. Gemeinsam hätten wir vor dem Herrscher Absurdistans zu Pferde ein Eis lecken und einen Bronzehuf besudeln können.

  • ―Senghor ist Senegal.
  • ―Senghor ist ein Nichts, ein Niemand. Eine Kolonialseele. Ein weißer Fußabdruck.
  • ―War er nicht. Andere Zeiten, andere Leitbilder.
  • ―Willst du mich jetzt belehren oder was?

Das klang, als hätte sie einst mit Cohn-Bendit geschlafen. Demnach war es mir nicht gelungen, sie wachzuküssen. So blamabel das aussah, ich musste mich ihrer Träumerei stellen. Wenn sie im Bilde war, wie sie annahm, wo befand ich mich dann? Innerhalb oder außerhalb des von ihr respektierten Rahmens? Wie stand ich da, wenn sie mit Fleiß den Rahmen zwischen uns beide legte und sich huldvoll ins Bild zurückzog? Nie sollst du mich befragen. Märchenmotive flammten auf und erloschen, der Mond war aufgegangen und erhellte Busch und Pfad. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Bild zu studieren, in dem sie mit Rennertz, dem wirklich bedeutenden Menschen, über Dinge sprach, von denen, wie ich wusste oder argwöhnte, sie wirklich keine oder nur eine geringe Ahnung besaß. Ihre Ahnungslosigkeit spiegelte sich in meiner wie ein flackernder Schatten in einer rasch versickernden, aber durch ein stetes Rinnsal immer wieder sich erneuernden Pfütze.

 

Bei alledem liebte ich sie für die Treffsicherheit, mit der sie Dinge heraushörte, welche ihr, wäre sie auf irgendeine Form von Wissen angewiesen gewesen, auf ewig unbekannt hätten bleiben müssen. Als wirkliche Geld­erbin verfügte sie über ausreichend Intuition, um zu wissen, wann es angebracht war, bestimmte Wortfolgen zu wiederholen oder peinlich zu vermeiden, welche Vorstellungen bei den Personen, mit denen sie sich umgab oder die sich mit ihr umgaben, einen Ironie- oder Bedeutsamkeitsindex trugen, welche ›entsetzlich‹ genannt werden mussten und welche sich ganz von allein verboten. Sie kannte die Arten des Lächelns und der gespielten Abwesenheit – Dinge, die einerseits zum Repertoire der ›Dame‹ gehörten, andererseits innerhalb der Rede, die wir pflegten, ohne wirkliches, also ›intellektuelles‹ Wissen nur schwer zu beherrschen waren. Jedenfalls hatte ich das geglaubt, bevor unsere Zweisamkeit fade zu werden begann. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich mir nicht mehr sicher, ob meine Desillusionierung der Tatsache zuzuschreiben war, dass ich allmählich begriff, oder Elisabeth einfach das Licht ausgedreht hatte.

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Rennertz, ein Trugbild

Sicher hatte sie Gründe. Ohne langes Zögern hatte sie die Brücke betreten, die zu Rennertz dem Bedeutenden führte, eine Seilbrücke, die heftig schwankte und überraschende Blicke in den Abgrund samt sich darüber wölbendem Himmel bot. Das hinderte meine Elisabeth nicht daran, stetig weiterzugehen, den Blick fest auf die jenseitige Böschung gerichtet, denn schwindelfrei war sie nicht. Irgendwann hatte sie die andere Seite erreicht. Seither ließ sie mir von dort ihre zweideutigen Botschaften zukommen.

  • ―Brüssel passt mir jetzt nicht. Fahr lieber allein.
  • ―Ich könnte die Fahrt verschieben.
  • ―Nein, nein. Fahr lieber allein.
  • ―Also das finde ich jetzt…
  • ―Das geht schon in Ordnung. Glaub mir, es ist besser so.

Warum redet der Mensch so rituelles Zeug? Kein Zweifel, sie war Rennertz’ Geliebte. Aber wenn sie es war, dann brach sie die Regeln. Nichts verpflichtete uns zu lügen und uns gegenseitig zu betrügen. Es war absurd, so etwas auch nur zu denken. Ausgeschlossen, dass Rennertz dabei hätte mitmachen können. Zu seiner Ehre sei es gesagt: auch das Manuskript gibt diese Perspektive nicht her. Heute denke ich, wäre es Elisabeth gelungen, in den lichtlosen Bezirk einzudringen, in dem das Werk entstand, sie hätte es mit Sicherheit zerstört. Mag sein, dass sie hier und da mit Rennertz schlief. Doch um das zu erreichen, hätte sie meiner Mittelsperson nicht bedurft.

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Senghor, das Licht der Welt

  • ―Was du nur immer mit deinem Senghor hast.
  • ―Nicht halb so viel wie mit dir, mein Schmetterling.
  • ―Wie hast du mich genannt? Ich verstehe nichts. Kannst du das bitte wiederholen? Du weißt doch, ich brauche dich.

Wozu? Hat sie mich denn ›gebraucht‹? Ahnungslos wie damals, als mir unsere merkwürdigen Paarungsversuche den Verdacht eingaben, dass sie nicht mit meiner Person, sondern mit meinem Geschlecht ins Bett ging, stelle ich diese verjährten Fragen, unnütz wie die Antworten, die mir darauf einfallen wollen. Ich weiß nur, dass ich sie ihr ebenso wenig übelnehme wie ihre Hampeleien, die mir damals die krause, aber ausgedehnte Idee eingaben, in eine subpersonale Zone animalischer Begegnungen einzutauchen.

Guido Auerwald, terrible simplificateur.

  • ―Komischer Name. Woher kommt denn mein Zauderhähnchen?
  • Ich bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter
  • ―Warum so finster? Lass mich deine Mutter sehen. Hast du ein Foto?

Angenommen, hinter jenem animalischen Double verbarg sich kein anderer als unser Rennertz, so hieß das ja, dass er sich vor ihrem Seelenblick auf ähnlich perfide Weise hinter der Maske des Geschlechts verbarg wie vor mir. Das war gewaltig. Einen Schritt weiter gedacht, war sie vermutlich argloser als ich. Anders als ihr stand es mir jederzeit frei, einen Verdacht zu hegen, der, wie sie mich zu kennen glaubte, unsere Beziehung von Grund auf zerstören musste.

Gerade das passierte an den zu dritt verbrachten Abenden. Beiläufig vollzog es sich dadurch, dass sie einen Anschluss an Rennertz suchte (und fand), der mich unauffällig ausschloss, obwohl ich als sein Freund mit ihm in einer privilegierten Beziehung stand, zu der sie nicht einmal den Schlüssel, geschweige denn einen wirklichen Zugang besaß.

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This work must be done

  • ―Und was kommt nach der Sicherheit?
  • ―Die Unsicherheit. Das Wagnis. Das Abenteuer. Das große Loch.
  • ―Die Freiheit, lispelte Elisabeth.

Rennertz grinste. So selbstgefällig kam er uns selten.

  • ―Was seid ihr doch für Trantüten. Und wenn es keine Sicherheit gibt? Nirgends, niemals? Sicherheit ist ein Zauberwort, geeignet, Leute einzulullen, die nicht selbständig denken können. Die überhaupt nicht denken können, wenn ihr mich fragt. Der erste Gedanke lautet: Alles ist unsicher. Und das ist kein Gedanke, sondern eine einfache Wahrnehmung.
  • ―Sicherheit muss eben hergestellt werden. Sie ist ein Kunstprodukt. Man nennt das Zivilisation, glaube ich.

Inständig hoffte ich, dass meine Stimme zufrieden klang. Ich schielte zu Elisabeth hinüber, die am Verschluss ihrer quietschgelben Handtasche nestelte. Rennertz war mein Freund. Mit dieser Konstante musste sie rechnen. Angenommen, die Scheu, die sie ihm gegenüber bezeugte, war echt, so musste einer wie ich, der nichts Vergleichbares empfand, obwohl ich in ihren Augen derselben Klasse von Wesen angehörte wie sie, ihr als natürlicher Verbündeter erscheinen.

Wir übten wieder. Rennertz klappte den Mund auf, schloss ihn, schaute auf mich nieder und wandte sich dann Elisabeth zu.

  • ―Die Frau will Sicherheit. Das ist der große Betrug. Und da sie das weiß, sagt sie: Ich will Freiheit. Das ist der zweite Betrug. Ein Betrug verschleiert den anderen. Aber die Tatsache bleibt.
  • ―Es gibt auch zivilisierte Männer. Überhaupt: wozu braucht es Männer?

Der Verschluss schnappte ein.

Sie kam nicht an ihn heran. Meine gutmütige Gleichgültigkeit gegenüber dem Objekt ihrer Begierde musste sie zwangsläufig von ihm fernhalten, solange sie … mit mir einer Meinung blieb. Dabei konnte die Tatsache, dass sie mich verriet, Rennertz nicht verborgen bleiben. Ihr ganzes Verhalten zielte mittlerweile darauf ab, ihm zu zeigen, wie es ›wirklich‹ zwischen uns stand, und damit anzudeuten, dass die Tür offenstand.

Herr, tritt ein in dein Eigentum.

Unterwürfigkeit, in welcher Gestalt auch immer, ist mir zuwider. Außerdem stand sie in direktem Gegensatz zu dem, was sie zu erreichen wünschte. Wenn sie ihn wirklich in dem, was sie für den bedeutenden Kern seiner Persönlichkeit hielt, hätte okkupieren wollen, dann hätte sie eine Position ihm gegenüber einnehmen müssen, die in etwa meiner entsprach: frei und ebenbürtig. Das aber hieß: sie hätte ihm ebenso ahnungslos in Bezug auf sein inneres Wesen gegenübertreten müssen, wie sie es mir, nicht zu Unrecht, indirekt vorwarf.

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Gelingen konnte das alles bloß, wenn Rennertz ihre komplexe Bedürfnislage durchschaute und bereit war, auf sie einzugehen. Der Hurenbock war imstande, das Angebot einzustreichen, ohne dem Preisschild überhaupt Beachtung zu schenken. Welches Preisschild? mochte er sich sagen. Ich weiß von keinem Preisschild. Fragte sich nur, ob er damit an der Kasse auch durchkam.

Eigenliebe setzt Hiebe. Es ging mir gewaltig gegen den Strich, das Undenkbare zu denken, soll heißen, die Beleidigungen, die das Leben für einen normalen Mitteleuropäer bereithält, auszuspinnen, aber: so funktioniert Psyche. Elisabeths immerhin denkbare Demütigung ging mir so nahe, dass ich unwillkürlich nach einer Strategie suchte, die geeignet sein konnte, sie auf die Gewinnerseite zurückzubringen. Doch fiel mir nichts weiter ein als irgendeine mit einem lächerlichen kleinen Ehrgeiz einhergehende Entsagung, an deren Ende ihr die ›bedeutende Persönlichkeit‹ wie eine leere Trophäe in Händen bleiben würde. Quod erat demonstrandum, hätte Rennertz dazu gesagt.

Egal wie sich die Dinge entwickelten, musste ihr meine Person zum Ärgernis werden. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Meine Person, das war ich, dem sie diesen Umstand sorgfältig verbergen musste, wollte sie nicht eine vollständige Niederlage riskieren. Dabei besaß sie in mir doch einen Komplizen, unreinen Herzens und von Herzen ahnungslos, damals wie heute.

Wahr? Unwahr? Halbwahr? Scheinwahr? Was ich heute hinzuschreiben imstande bin, setzt den Zugriff auf Wahrgenommenes voraus, das damals ungedeutet blieb. Woher stammt es? Woher soll es stammen? Der Verstand, kalt und herzlos wie eh und je, sagt, es kann sie nicht gegeben haben – einfach deshalb, weil nichts, was uns zusetzt, ungedeutet bleibt. Richtig ist, dass Züge in ihrem Verhalten, die mir damals tiefes Unbehagen bereiteten, mich heute beinahe gleichgültig lassen, und wenn ich ›beinahe‹ sage, so deshalb, weil der Gefühlsrest, der an ihnen haftet, das Überbleibsel einer Zärtlichkeit ist, die sich damals auf ganz andere Dinge erstreckte. Dass sie es nicht schaffte, eigentlich banale Fehler zu vermeiden, indem sie Handlungen beging, die mich wohl oder übel verletzen mussten, zeigt, wie weit entfernt sie davon war, ihr Spiel zu spielen und sich auf meine Kosten in die gewünschte Position zu manövrieren.

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Perfekt

Ich reduziere das Problem Rennertz auf die Größe eines Taubeneis und schon ist mein Glück ungetrübt. Ich stopfe die Person Rennertz zurück in ein Taubenei und lasse sie auf dem Vorplatz des Straßburger Münsters liegen, auf dem alles begann: Glück ist die Abwesenheit von Unglück. Das ist der Standpunkt des Philosophen: der Standpunkt eines Ahnungslosen. Ahnungslosigkeit ist der Goldstaub des Glücks, insofern ist auch der Philosoph glücklich. Das galt für Elisabeths Gatten ebenso wie für mich, wann immer kein Arg unsere Beziehungen zu ein und derselben Person trübte. Warum nicht Rennertz? Schon beginnt sich das Glück einzutrüben, Unbehagen zerrt an der Erinnerung, das Licht flackert, die Vorstellung steht vor dem Aus – und warum?

Etwas fehlt: Perfektion.

Elisabeth konnte perfekt sein. Aber sie war es verständlicherweise nicht immer. Was ist Perfektion? Durchsichtigkeit bis auf den Grund. Was sie beim anderen auslöst, könnte man Fülle der Ahnungslosigkeit nennen, was paradox genug wäre, da es eine Ahnung dessen voraussetzt, was an Trügerischem der Perfektion innewohnt. So nenne ich es Die Niederlage. Manche gehen einen Schritt weiter und nennen es die Niederlage des Intellekts. Doch das bedeutet eine unzulässige Entlastung, im Grunde eine weitere Aufblähung des verrückten Ego und damit eine Niederlage zweiten (oder dritten) Grades.

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Kein Zweifel, ich wurde besiegt, überwältigt in Momenten der Unachtsamkeit, aber streng nach den Regeln des Spiels, in dem mit der Verliebtheit auch die Grundlagen der Berechnung gegeben sind, die unweigerlich einen der beiden an den Rand des Feldes bugsiert, das der andere siegreich behauptet.

Elisabeth, heute im weißen Lackmäntelchen, ebensolchen Pumps und dezent silbrig glänzender, hautenger Hose: bestimmt wollte sie aufregend aussehen und sicher regte sich manches, wenngleich nicht bei mir, was ihr gleichgültig zu sein schien. Schlange Leopold, tief verborgen im Herzen der Finsternis, züngelte und ringelte sich lasziv. Was geht’s mich an? seufzte Bruder Daniel in der Löwengrube und legte das Haupt des Täufers in die Hände Salomes, der Gesalbten. Richard der Dritte stürzte kopfüber aus dem Narrenverlies und Lady Macbeth lachte ihn mit angehaltenen Mundwinkeln aus, kühn über seinen Kadaver hinweg zu Vater Ubu in die Kalesche steigend, die sich rumpelnd an die russische Front entfernte.

Masques noirs masques rouges, vous masques blanc-et-noir
Masques aux quatre points d’où souffle l’Esprit

Wusste Rennertz, was zwischen uns los war? Vermutlich ebenso wenig wie dieses Ich, verloren zwischen den Windrädern der Vergangenheit, das einmal ich gewesen sein muss und noch immer behauptet, ich zu sein, während ich nichts davon weiß. Es geht nun einmal nicht anders: sobald ich mir seine Lage vorstelle oder, um vorsichtig zu bleiben, anzudenken vornehme, rüste ich es mit meinem heutigen Wissen aus, Argwohn inklusive, aber ich weiß nichts von einem anderen Argwohn als dem, der sich heute in die Szenen der Vergangenheit mischt. Dieses Wissen … plötzlich verschwindet sein bedrückender Charakter, aufschwimmt ein königliches Bewusstsein wie … wie … ein Korken im Wasser oder eine Plastikkrake im Gewoge eines Wellenbades, an die sich glänzenden Auges die Kinder hängen.

Et pas toi le dernier, Ancêtre à tête de lion.

Rennertz hingegen war ›Meister der Situation‹. Seltsamerweise nahm ich es ihm nicht übel. Auf seine Weise wahrte er die Normalität. Während ich mich mit Elisabeth – je länger desto heftiger – in einem unterschwelligen Ringkampf abmühte, der jederzeit in einen offenen, durch ein gewisses Einvernehmen gebremsten Schlagabtausch übergehen konnte, genoss ich das Privileg, mich mit ihm gerade dann am besten zu verstehen, wenn unser beider Ansichten am heftigsten aufeinanderprallten … was ich wenige Wochen zuvor noch nicht als Privileg, sondern als Selbstverständlichkeit erachtet hätte. Angenommen, Rennertz durchschaute das Spiel, so vermutlich nur deshalb, weil er an einem heiklen Punkt ebenfalls ahnungslos blieb.

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Dieser Punkt, es ist nicht schwer zu erraten, war er selbst. Wie hätte er den Unterschied zwischen seiner Person und seiner ›Persönlichkeit‹ nachvollziehen können, der die Grundlage von Elisabeths verwickelten Kalkulationen bildete? Je mehr ihre Aufmerksamkeit ihm schmeichelte, desto weniger mochte er Anlass finden, zwischen sich und dem Ziel ihrer Avancen zu unterscheiden. Das war ein Fehler. Auf Manets Gemälde La Musique aux Tuileries steht links im Mittelgrund eine Dame, möglicherweise von zweifelhaftem Ruf, mit apartem Gesicht und kraftvoll zurückgekämmtem Haar, umringt von Männern in verschiedenen Stadien der Lüsternheit. Man erkennt den Jungen, der sie von hinten betrachtet, den Alten, dessen Blick sich seitwärts an ihr emportastet, den gestandenen Mann, der, wissend, dass ihr Blick ihn gestreift hat, an allen vorbei geradeaus blickt: das ist unsere Elisabeth. Sicher befremdete Rennertz die Devotion, soweit er sie spürte, da er den Grund dafür nicht erkennen konnte, und es würde mich nicht wundern, wäre er zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Idee gekommen, sich an mich zu halten, um Aufschluss über ihr sonderbares Gebaren zu gewinnen. Vielleicht erklären sich so bestimmte tastende, nie zur Sache kommende Vorstöße, die ich mir damals genauso wenig erklären konnte wie jene eigentümliche Bitte, die mich schließlich in den Besitz seiner nachgelassenen Aufzeichnungen bringen sollte. Andererseits: was hätte er von mir erfahren können? Viel eher hätte ich darauf brennen müssen, mehr über ihn zu erfahren, um Elisabeths scheuen Drang besser verstehen zu lernen. Das war nicht der Fall. Um ehrlich zu sein: ich glaube, dass Freundschaften wie unsere am besten auf der Grundlage einer leichten wechselseitigen Geringschätzung gedeihen. Nicht, weil man sich über den anderen erheben möchte, sondern weil man es genießt, die Wertschätzung, die man dem anderen entgegenbringt, der eigenen Spontaneität zu verdanken. Ich will, dass der andere meiner Freundschaft wert sei, also muss er es sein.

Das Ich duldet im Freundschaftsfall keine Widerrede, weil es ihn mit niemandem, auch nicht mit sich selbst diskutieren möchte. Es spricht ›ex cathedra‹: von einem Ort aus, an dem die Welt konzipierbar erscheint. Eines dieser Konzepte ist der ›Freund‹, und dafür, dass man Bescheid weiß, bürgt die Frage, die sich jeder einmal vorgelegt hat: Aus welchem Grund beharrt der andere mit solchem Starrsinn darauf, jahraus jahrein auf immer dieselbe beiläufige Weise mit ein und derselben Person zu telefonieren, auf immer die gleichen Treffen zu drängen, dort immer wieder dieselben Themen und Personen durchzuhecheln, um hier und da – am Rande, wenn’s geht – akute Bedrückungen durchblicken zu lassen, mit denen er aber den anderen und vor allem die Freundschaft selbst lieber nicht belasten möchte? Man weiß es nicht und will es nicht wissen. Das ist Freundschaft.

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Einwurf

Vielleicht irre ich mich auch und Rennertz war sich über seine außerordentliche Persönlichkeit völlig im klaren, so dass Elisabeths Klimmzüge ihn in dieser Hinsicht eher langweilten, vielleicht sogar abstießen. Eigentlich mussten sie ihn langweilen, es sei denn, es handelte sich bei ihm um eine frisch erworbene Persönlichkeit, die zu ihrer Festigung solcher Belagerungen bedurfte. Dann allerdings müsste ich ihm etwas attestieren, was nach meiner Beobachtung nur in Romanen vorkommt: die Fähigkeit, sich in verschiedenen Milieus perfekt zu bewegen, so dass schon der bloße Verdacht, die betreffende Person könne in jedem von ihnen nur gastweise zuhause sein, nicht einmal am Rande aufkommen kann. Entweder also täuschte sich Rennertz über sich selbst – sollte Elisabeths Anhimmelei ins Schwarze getroffen haben – oder ich täuschte mich nicht nur über ihn, sondern in eben demselben oder höheren Grad über die Zuverlässigkeit meines Wahrnehmungsapparates, der mir kein Warnsignal zukommen ließ.

Die letzten Nächte der Menschheit

  • ―Gehen wir rein?
  • ―Bäh!

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War Rennertz eine ›Persönlichkeit‹, ohne ein Bewusstsein davon zu besitzen? Die Frage klingt seltsam. Entweder jemand ist eine Persönlichkeit oder er ist es nicht. Eine bedeutende Persönlichkeit ist ein Mensch, der vielen etwas bedeutet. Eine unbedeutende Persönlichkeit hingegen kann es nach meiner bescheidenen Ansicht nicht geben. Eine bedeutende … eine Persönlichkeit, die nur wenigen etwas bedeutet, während die Vielen sie gar nicht kennen, wirkt auf mich ein bisschen wie ein Rennwagen, der keine Rennen fährt: eine Substanzverschwendung, wenn man so will, eine Fehlentwicklung womöglich, ein nicht weiter verfolgtes Konzept, das in entfernterer Zukunft vielleicht aufgehen wird. So etwas kommt vor, die Natur produziert Sackgassen, wieviel mehr der Mensch, der noch immer nicht weiß, ob er nicht selbst zu den Blindgängern der Natur zählt.

Rennertz – eine Sackgasse der Evolution?

Das kann gut sein. Ausschließen lässt sich so etwas nicht. Es gibt Politiker, die halten die Persönlichkeit – nicht diese, nicht jene, sondern das Konzept ›Persönlichkeit‹ – für eine Sackgasse der Evolution, etwas, das dem förderungswürdigen Menschen im Wege steht und infolgedessen beseitigt werden muss. Der förderungswürdige Mensch ist der geschmeidige. Der Satz ist Rennertz pur. Das Thema muss ihn beschäftigt haben, er kommt öfter darauf zurück. Das ganze Kulturleben oder das, was man dafür hält, ruht auf den Schultern von Persönlichkeiten, falschen Fuffzigern zumeist, wenn ich Rennertz glaubte, aber das tut dem Konzept keinen Abbruch, im Gegenteil.

Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.

Ist also die Kultur … eine Sackgasse der Evolution?

Da schweigt die Politik. Nur wer ihr auf die Finger sieht, der begreift mehr. Irgendwann ist jeder der letzte. Kulturförderung jedenfalls ist Politik. Politik macht geschmeidig.

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Bäh ––!

Schwer vorstellbar, dass Rennertz gegenüber dem Ansinnen, das in ihrer Verehrung zutage lag, völlig unempfindlich geblieben sein soll. Auch hier gilt der eherne Satz, dass Ahnungslosigkeit nur auf dem Boden von Ahnungen gedeiht. Ahnungslosigkeit scheint ein Schwebezustand zu sein, der daran erinnert, dass die Zahl der Hypothesen, die fortwährend über die Wirklichkeit gebildet werden, die Zahl der bleibenden Annahmen, auch der kontrovers diskutierten, um ein Mehrfaches übersteigt, und dass der Mechanismus der Unterdrückung unpassender, wenig zweckdienlicher oder sogar ärgerlicher und gefährlicher Hypothesen ebenso als Bestandteil eines ausgebildeten Bewusstseins anzusehen ist wie die Leistungen, auf die jeder zu Recht oder Unrecht stolz sein darf. Der Ahnungslose unterdrückt seine Ahnungen. Wie jede Unterdrückung führt auch diese dazu, dass die Unterdrückten ein Eigenleben beginnen.

Warum schreibe ich das? Ganz einfach: ich will nichts auslassen.

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Kleiner Bocksbeutel

Angenommen, Sie öffnen einen Bocksbeutel, einen guten Tropfen, wie man Ihnen versichert hat, aber er schmeckt Ihnen nicht. Etwas passt nicht. Mag sein, die Atmosphäre ist zu feucht und die beiden vertragen sich nicht, mag sein, der Schraubverschluss hat Sie verstimmt, weil er Ihren Vorstellungen von einem edlen Gewächs zuwiderläuft, mag sein, der Geschmack stimmt nicht zu Ihrer augenblicklichen Verfasstheit … mag alles sein. Es bleibt das Faktum, dass Sie sich vergriffen haben, vergriffen mit Leib und Seele, vergriffen aber auch … warten Sie, ich möchte Ihnen etwas Wichtiges zu verstehen geben, aber im Schreiben löst sich mein eigenes Verständnis auf, bevor es Gelegenheit hatte, konkret zu werden…

Angenommen, Rennertz’ zur Schau getragene Unempfindlichkeit gegenüber den Lockungen, die Elisabeths Angebot enthielt, stellte eine Art Firnis dar, unter dem sich die Ahnung, mehr zu sein, als die primäre Selbstwahrnehmung ihm nahelegte, zum Bewusstsein irgendeiner Berufung verstärkte. So eine Annahme ist mehr oder weniger kostenlos, sie liegt auf dem Tisch, seit es Psychologie gibt, sie ist so trivial, dass sie Eingang in alle Theorien des schöpferischen Genies gefunden hat. Suche nach der Person, die die Zeche zahlt, lautet die Devise, und in der Regel findet sich eine Frau, die perfekt – oder nahezu perfekt – zu dieser Rolle passt. Schrieb ich gerade ›perfekt‹? Das war ein Irrtum. Kratze an der Maske der Perfektion und heraus kommt ein … Missverständnis. In meinen Überlegungen zu Rennertz’ Persönlichkeit ist Elisabeth der Bocksbeutel.

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Es kommt mir nicht darauf an, Recht zu behalten. Es kommt mir auch nicht aufs Verstehen an, als müsste ich mir unbedingt einen Reim auf Rennertz’ Persönlichkeit machen. Wenn ich etwas wirklich wissen möchte, dann, was er mir angetan hat, als er sein Manuskript in mein Leben einschmuggelte. Was ich sehe, schmeckt mir nicht, und was mir schmecken könnte, ist nicht in Sicht. Nein, ich bin kein Egomane, der eine Bürde loswerden möchte. Ich will Klarheit und just sie wird mir von allen Seiten verwehrt.

Fragen, die sich um das Innenleben dessen drehen, was man die ›Produktivität‹ eines Menschen nennt, erfreuten sich einmal einer leidenschaftlichen Wertschätzung. Ein paar Ruinen davon stehen heute noch hier und da in der Landschaft. Die Karawane ist weitergezogen, was nicht heißt, dass die Brunnen vertrocknet wären, aus denen sie seinerzeit ihren Lebensstoff holte. Einer wie ich, dem nicht an irgendeinem Fortkommen liegt, das sich mit der Kunst und ihrer Erforschung verbindet, hat daher leichtes Spiel. Er kann unbedrängt und sogar unbeobachtet seine Schlüsse aus Wahrnehmungen ziehen, bei denen Abhängigere bereits im Vorfeld abwinken. So kommt es mir nahezu evident vor, dass die Avancen der Frau das ›bedeutende Individuum‹ Rennertz hätten stimulieren müssen, dessen Vorhandensein sie suggerierten – glaube an einen Menschen und er zieht irgendein Evangelium aus der Tasche –, wenn, nun, wenn da etwas in dieser Richtung bei ihm vorhanden gewesen wäre.

Bei alledem mache ich aus meiner Unbedarftheit kein Hehl. Im Zuge meiner laienhaften Recherchen ist mir niemand begegnet, der dem, was ich Rennertz’ ›Implosion‹ nennen möchte, irgendeine Art von Verständnis oder auch nur Aufmerksamkeit entgegengebracht hätte – ganz zu schweigen von Achtung oder den höheren Weihen der Wertschätzung. Mir hingegen geht es wie Daumesdick oder vergleichbar unbedeutenden Personen des öffentlichen Lebens. Angesichts meines ›Auftrags‹ ist mir die sogenannte Literatur erst verdächtig geworden und dann – nach und nach – zu Staub zerfallen.

So sieht es aus.

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Das alles ist hochgradig merkwürdig. Ich stelle mir einen vom Schriftsteller-Ehrgeiz gepackten, womöglich zerfressenen Rennertz vor und schon betrachte ich Elisabeths Einmischung als Glücksfall. Ihre Bewunderung, die mich so kränkte, hätte ihm Auftrieb geben müssen. Ich schreibe das ohne Ressentiment, wie es doch naheläge. Literatur, dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten, besitzt den großen Vorteil, den Faktor Anerkennung vom Vorurteil der vielen abtrennen und zu einer inneren Größe umdichten zu können. Kein gegenwärtiges Publikum kommt gegen das zukünftige an, das überdies den Vorzug besitzt, seinen Autor besser zu verstehen als er sich selbst, statt ihn wie die neidische Mitwelt zu verleumden oder kleinzureden. Da sollte es doch im Prinzip genügen, dass er sich selbst die überschwängliche Anerkennung zukommen lässt, die ihm die Mitwelt verweigert. Entweder also – ich ziele ein wenig ins Blaue, aber das erscheint mir notwendig, um die Dinge voranzutreiben –, entweder also traf Elisabeths verehrender Impuls auf eine ins Stocken geratene Maschinerie, die bereits so mitgenommen war, dass ein aufflammender Funke ihre Selbstzerstörung einleiten konnte, oder er erschütterte ein unvorbereitetes Gemüt, das instantan, womöglich auch Jahre später, eine schauerliche Scheinblüte trieb. In beiden Fällen könnte Elisabeths Witterungsvermögen gereicht haben, um die Katastrophe auszulösen.

Katastrophe, die, griech καταστροφή, ›Umkehr‹, ›Wend-ung‹, Umschwung der Handlung in der Tragödie, gemeint als ›Wendung nach unten‹, Absturz, schreckliches Ereignis, im Drama den Untergang nach sich ziehend, im wirklichen Leben zumeist den finanziellen Ruin, oft den menschlich-psychischen, auch Todesfälle wie Rennertz’ unerklärten, vielleicht unerklärlichen Abgang.

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Nichts, denke ich, ist einfacher als einen Roman zu schreiben. Man braucht einen Helden, ein paar Figuren, die in unterschiedlichen Verhältnissen zu ihm stehen, einen Konflikt und den Willen, die eine oder andere Figur im Laufe der Erzählung durch Leidenschaft und Intrige zu Schaden kommen zu lassen. Mag sein, ich simplifiziere: ein guter Roman, habe ich mir sagen lassen, ist ein zusammengesetzter Roman, ein Roman aus Romanen, ein Roman über Romane, ein Roman-Roman. Aber ich rede hier nicht über gut oder schlecht, über Epik und Nichtepik, sondern über das, was in allen steckt und sich aus dem Handgelenk reproduzieren lässt. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman.

 

Ein Mensch, der es vermag, sich dieser leichten Mühe mit durchgreifendem Erfolg zu entziehen, und dabei ungerührt Seite um Seite füllt, sollte die Klasse besitzen, unziemliche Angebote als das zu durchschauen, was sie sind, und entsprechend mit ihnen verfahren. Sie lächeln? Schon lächle ich auch, das Lächeln wischt alle Überlegungen vom Tisch, es schafft seine eigene tabula rasa, es schafft eine neue Situation.

 

Mag sein, ich übertreibe. Rennertz hätte das Dokument seines Lebens nicht in fremde Hände gelegt, hätte er es als Protokoll einer Katastrophe empfunden. Streng genommen besitze ich keinerlei Recht, es als ›Dokument‹ zu lesen. Als was dann? Worin bestand das Ungelebte, das ich darin entdeckt zu haben glaubte? Liz fällt mir wieder ein, ihr Widerwille gegen das Schreibtisch-Dasein, der wilde Wunsch dabeizusein, wenn die Tische sich unter der Last des Aufgetragenen biegen, – Liz, die intelligent genug war, um ihre sexuellen Eskapaden mit unbedingtem Bildungswillen zu überpinseln –

  • ―Ich kenn’ da einen Prof –

Einen ›Prof‹ kannte sie immer, und immer kam einer dazu. Auch ich war dazugekommen, kein Prof zwar, aber einer, von dem ein verborgener Faden zu dem geheimnisvollen Rennertz lief, der ihr etwas bedeuten musste, auch wenn sie mir gegenüber nicht mit der Sprache herausgerückt war. Der Weg ins Ungelebte scheint von Frauen gesäumt zu sein.

 

Was immer die ›Sache‹ ist, es bleibt die Sache mit Elisabeth. Sie geht einfach nicht heraus, nicht bei mir, nicht bei Rennertz, nicht aus dem Manuskript, in dem sie schließlich eine gewisse Rolle spielt. Ach, ich rede dummes Zeug: sie spielt keine Rolle, sie spielt überhaupt nicht, allenfalls ist sie ein Teil des Gewebes. Auch diese Rede will überdacht sein, sie klingt allzu passiv, allzu defensiv, als müsste ich mich vor etwas verstecken, das zwar auch mit mir zu tun hat, aber in jeder Hinsicht meine Belange unter sich lässt. Lange habe ich über einer passenden Formel gebrütet und hier ist sie. Wenn R der ›R‹ seiner Aufzeichnungen, Rennertz ist, dann ist Elisabeth seine Gegnerin in einem Duell, das zu begreifen einstweilen über meinen Horizont geht.

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Seifenblasen

Arme Elisabeth! Noch himmelte ich sie an. Während sie meine Bewunderung mit Füßen trat, um höheren Ortes ihre Verehrung zu deponieren, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass die von ihr belagerte Bürotür zu blieb, weil der Herr zur gleichen Zeit geistesabwesend in die Trommel eines Waschautomaten blickte. Jedenfalls deutete ich ihren Gesichtsausdruck öfter als einmal in dieser Richtung, nicht ohne unaufdringlich zu signalisieren, dass ich ihr Verhalten unpassend fand. Mehr als Blicke des Typs ›Muss das jetzt sein?‹ hatte sie von mir nicht zu gewärtigen und sie wusste das. Umso wichtiger erschien es ihr, nicht etwa klein beizugeben oder mich schmeichlerisch ruhigzustellen, wie sie es eine Zeitlang getan hatte, sondern die Belästigte zu mimen, die sich weigerte, den Gedankenschmutz des anderen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wenn es sich schon als nötig erwies, eine so zweifelhafte Gegend zu Fuß, obgleich in sicherer Begleitung, zu durchqueren. Die sichere Begleitung stellte offenbar niemand anderes dar als mein besseres Ich, das weit davon entfernt blieb, unangenehme Verdächte zu wälzen, und mit ebenso knapper wie selbstherrlicher Gebärde die Außenwelt auf Distanz hielt. Gern hätte ich mich ihrer Auffassung angeschlossen, hätte dieses geisterhafte Ich nicht immer häufiger die Züge Rennertz’ angenommen. Auch damit musste ich mich abfinden, verhext wie ich nun einmal war.

Das rote Band

Das rote Band
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Renate Solbach: Figur 10

 

Germania Tod in Berlin hieß das Stück, dessen Verfasser mir bis dahin nicht untergekommen war. In der Pause wäre ich am liebsten gegangen. Rennertz, der die Aufführung ›ganz vorzüglich‹ fand, lächelte abgründig zu meinem Vorschlag. Elisabeth hing an seinen Lippen.

Hier bist du in der Minderheit, Genosse.

So blieb ich. Auf der Bühne bewegten sich die Schauspieler mit eben der Lustlosigkeit, mit der ich ihnen bei ihrer Tätigkeit zusah. Ich konnte sie gut verstehen. Mit diesem Text wäre es mir ähnlich gegangen. Elisabeth, die Arme locker verschränkt, saß neben mir und beachtete mich nicht weiter.

Ich hab gedacht, sie ist die Heilige Jungfrau.

Wunderbar arbeitete die Klimaanlage. Ein Teil der Besucher dürfte nur deswegen nicht gegangen sein, weil er sich scheute, in die abendliche Schwüle zurückzukehren. Hätte man sie interviewt, ihr theaterbeflissenes Ego hätte nichts davon gewusst. Statt seiner gaben die lässig zurückgelehnten Körper, von denen manch einer an diesem Abend mangels geistiger Nahrung Aufschluss über die Bedeutung der Vorgänge auf der Bühne verlangt haben wird, unzweideutig Bescheid: Hier ist gut sein, lasst uns Hütten bauen.

Das war, dank der Segnungen der Zivilisation, unnötig. Wer wollte, konnte seine Aufmerksamkeit vollständig dem dramatischen Geschehen widmen, solange er sich nicht an der Tatsache störte, dass sich keines einstellen wollte. Mit dem Programmheft auf dem Schoß war auch diese Hürde zu meistern.

 

Zwei Clowns rollten über die Bühne, sie spielten Müller und König, der preußische Friedrich machte eine trübe Figur, nur die Dame fehlte.

Spielen wir mit meiner Flöte oder spielen wir mit deiner Flöte

Jovial und bestialisch wie im wirklichen Leben: so sollte es zugehen dort oben auf den abgewetzten schwarzen Dielen unter dem gähnenden Gerätehimmel. Und so ging es zu. Der Verfasser des Stücks und der Müller von Sanssouci mussten wohl etwas miteinander gemein haben, zumindest wälzten sie sich im selben Bett der Geschichte. Die Untertanenfabrik Preußen produzierte den üblichen Ausschuss und die Dialektik von det Janze wartete auf Abruf unter Lili Marleens Laterne. Immer ist im Untertan der eigentliche Mensch im Kommen. Wie mochte es erst um die geheime Identität des preußischen Friedrich stehen, die gleich einem erhobenen Zeigefinger hinter der Figur stand und ihr am Ende hinter die Kulissen nachlief! Oioioi. Ein Fall für das Programmheft, das sich darüber aber bedeutungsvoll ausschwieg.

Das rote Band
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Habe ich es schon gesagt? Ich verabscheue Sprüchetheater. Rennertz schien damit weniger Schwierigkeiten zu haben. Er hatte die Augen fast geschlossen und fuhr sich dann und wann über die Stirn wie nach dem Genuss von zuviel Champagner.
Die Hitler kamen und gingen, im Kessel von Stalingrad kannibalisierte sich der Burgunder, die rote Rosa ging bleich und schön über den Trümmern der Stalinallee auf und während all der Zeit lag Rennertz’ Hand breit und, wie mir schien, bereit zur Besitzergreifung auf der Armlehne, die seinen Sitz von Elisabeths trennte.

Habt ihr ihn alle dringehabt bei ihr

Während ich sie betrachtete, überfiel mich ein Gefühl der Beschleunigung. Der Raum versank, wir wurden auf unserem Gestühl durch die Zeit getrieben, einem Ziel entgegen, das nichts Gutes verhieß. Vielleicht steckte eine kleine, nie aufgeklärte Herzattacke dahinter, vielleicht ein uneingestandener Anfall von Schläfrigkeit oder ein mikroskopisches Eifersuchtsdelirium.
Tatsache ist, dass sich dabei ein Gedanke bildete, den ich fünf Minuten früher noch mit allen Zeichen des Abscheus verworfen hätte. Er ähnelte verteufelt einem Bazillus, der aus Versehen in die richtige Nährlösung geraten war und, als habe er nur diesen Moment abgewartet, sich explosionsartig vermehrte. Meine Intelligenz schien bloß noch imstande, ihn zu denken. Wohin ich auch auszuweichen versuchte, erblickte ich ihn, und als ich die Augen schloss, nahm das Lid seine Farbe und Gestalt an. Er erschien mir unaussprechlich: er durfte den Körper allenfalls als Exkrement verlassen. Unten fiel soeben der Vorhang – ich stand auf und hangelte mich die Reihe entlang, um dem Andrang zuvorzukommen, der gleich einsetzen musste.

Die roten Fahnen über Rhein und Ruhr

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Wir betraten das Hotelzimmer schweigend wie Leute, die nicht wissen, was sie erwartet. Ich hatte die beiden mit heraufgebeten und sie waren widerspruchslos gefolgt. Nach dem Theater wirkte die Zimmerbeleuchtung lausig, was Rennertz, der stracks auf das Bett zuging und sich hineinplumpsen ließ, zu einer vagen Handbewegung und der Frage veranlasste, ob der Stil des Hauses keine überzeugendere Variante erlaube. Ich löschte das Oberlicht und holte den Champagner aus dem Kühlschrank.
Die Flasche glitt mir aus der Hand und wäre fast zu Boden gefallen, hätte Elisabeth sie nicht mit einer schlangenhaften Bewegung aufgefangen. Auch Rennertz war zugesprungen und hielt jetzt Elisabeths Hände, denen ich sacht die Flasche entwand. Soviel Sprungbereitschaft auf beiden Seiten kam unverhofft, ich fühlte mich unwohl. Der Gedanke, der mich im Theater angefallen hatte, stand wieder im Raum, mir schien, er sei dabei, sich pantomimisch zu verwirklichen.

Ich beschloss, auf der Hut zu sein. Ich verstand, dass ich die Situation nicht mehr überschaute, teils, weil bestimmte Details meine Aufmerksamkeit über Gebühr beanspruchten, teils, weil ich ein Opfer meines aufbrechenden Redebedürfnisses wurde. Immerhin erreichte ich, dass die beiden mir ihre Gesichter zuwandten. Um dies auszunützen, ging ich vielleicht einen Schritt zu weit, als ich, noch immer die Flasche in der Hand, gegen den Schrank gelehnt eine kleine Ansprache improvisierte. Selbstredend wusste ich nicht, worüber ich sprechen wollte, doch da es darauf nicht ankam, flossen die Sätze wie von selbst.

Das rote Band
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  • ―Ich weiß nicht, sagte ich – dies schien mir ein gelungener Einstieg zu sein, da er einerseits den Tatsachen entsprach, sie andererseits mit einer gewissen Schläue manipulierte –, ich weiß nicht, ob es ein guter Einfall war, hierher zu kommen, aber da wir einmal da sind, sollte uns nichts daran hindern, die Gelegenheit zu benützen, um einige Dinge zu klären. Erstens – hier machte ich eine längere Pause, um nachzuschenken und die Flasche in den Papierkorb zu versenken – möchte ich hervorheben, dass wir uns jetzt lange genug kennen, um begriffen zu haben, wer wir sind und was wir voneinander erwarten.
  • ―Bravo! rief Rennertz, ich weiß nicht, ob Hohn oder Müdigkeit aus ihm sprach. Da ich beschlossen hatte, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen, redete ich schnell weiter.
  • ―Es geht nicht darum, diese an sich erstaunliche Tatsache gut zu finden, ich persönlich finde sie gut, aber das gehört nicht hierher, es geht darum – aus irgendeinem Grund hob ich den Zeigefinger –, die Situation zu durchschauen. Elisabeth zum Beispiel – du erlaubst, dass ich mit dir beginne – lässt keinen darüber im Unklaren, wie sehr sie die geistige Anregung schätzt, die sie ihren Freunden, also uns, verdankt. Sie mag unsere Gehirntätigkeit, wobei ich mich selbstredend ein wenig zurücknehme, das ist ja selbstverständlich. Die Frage stellt sich daher, worin diese Tätigkeit, genau genommen, besteht. Ich muss gestehen, dass mich diese Frage schon seit längerem verfolgt, und zwar unabhängig davon, wie es geschehen konnte, dass unsere Zusammenkünfte nach und nach zu einem Mittelpunkt meines Lebens geworden sind.
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  • ―Das ist unvernünftig, wandte Rennertz ein. Du solltest dich schämen oder wenigstens in dich gehen. Aber ich sehe schon, daran ist gar nicht zu denken.
  • ―Nein, daran ist nicht zu denken, lächelte ich und überhörte den Spott. Daran ist auch deshalb nicht zu denken, weil Elisabeth beschlossen hat, uns nur zu zweit gut zu finden. Ich habe es versucht, aber es ist mir nicht gelungen, die Ansprüche ihres Geistes im Alleingang zu befriedigen.
  • ―Ist das wahr, unterbrach Rennertz ungeniert, hat er versucht, dich allein zu vernaschen? Die Angesprochene wedelte mit der Handfläche, schwieg aber, im Gegensatz zu Rennertz, der hörbar in Fahrt kam.
  • ―Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr euch in meiner Abwesenheit, genau genommen also hinter meinem Rücken zusammengefunden habt? Damit klärt sich so manches. Ich hätte es nicht geglaubt, aber gut, man kann sich täuschen. Habe ich deine Ausführungen – er schwenkte sein Glas in meine Richtung – richtig verstanden, so habt ihr euch nur mäßig amüsiert. Das hätte ich euch übrigens vorher sagen können. Aber lassen wir das. Was mich angeht, so darf ich versichern, dass es mich nicht weiter berührt. Ihr hättet ruhig offener in meiner Gegenwart sein können. Mein Gott, das muss ja anstrengend gewesen sein. Lasst euch gehen, Kinder, lasst euch gehen. Übrigens: lasst mich dabei aus dem Spiel. Ich kann mir den Eindruck nicht versagen, dass unser aller Gehirntätigkeit im Augenblick etwas leidet. Meine zum Beispiel besteht darin, mir vorzustellen –
  • ―Hör auf! Bist du betrunken, oder was?

Es hätte Elisabeths Intervention nicht bedurft, um mich zu bereden, dass ich mit der Vermutung, sie sei mittlerweile seine Geliebte, richtig lag. Aber nicht das erregte meine Aufmerksamkeit, sondern der Umstand, dass Rennertz, während er sich so echauffierte, begonnen hatte, ihr Knie zu massieren und dabei das Glas hoch und höher hob, so dass es aussah, als werde er es jeden Augenblick über seinem Haupt ausgießen.

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Bevor es dazu kam, geschah jedoch etwas anderes. Elisabeth gab sich einen Ruck, strich ihr Kleid glatt, erhob sich und ging ins Badezimmer. Ich erwartete, im Vorbeigehen als Idiot oder ähnliches tituliert zu werden. Im letzten Moment schien sie darauf zu verzichten und zuckte bloß mit den Achseln. Kaum war sie aus der Tür, ging mit Rennertz eine Verwandlung vor. Er stand ebenfalls auf, lief um das Bett herum und setzte sich auf der mir abgewandten Seite nieder, so dass ich während des folgenden Wortwechsels sein Gesicht nicht zu sehen bekam.
Unschlüssig schwieg ich einen Augenblick. Darauf schien Rennertz gewartet zu haben, denn nun begann er mit ruhiger, teilweise zum Flüstern abgesenkter Stimme einen Monolog, dessen Inhalt ich hier nicht wiedergeben kann, weil ich ihn... nun, weil ich ihn schlicht und ergreifend vergessen habe.
Sooft ich daran zurückdenke – was hin und wieder vorkommt –, stoße ich gegen diese unsichtbare Barriere. Ich sehe das Zimmer vor mir, das Bett, die sitzende Gestalt, ich höre die Stimme … und dabei bleibt es.
Oder auch nicht, denn jetzt wird die bewusste Theaterszene lebendig, ich erblicke die Clowns, sie tragen gestreifte Turnanzüge und üben Ballett. Sie machen das gut, wenn man bedenkt, dass sie Clowns sind. Erstarrt der eine zur Säule, schlägt der andere Rad. Et vice versa. Sie fahren auch Schubkarren miteinander und einer pinkelt dem anderen in die Hose, die sein hakenartig gekrümmter Finger so lange offen hält. Dabei schwätzen sie ununterbrochen, die Stimmen quieken, als müsse die mimisch dargestellte Schweinerei auch akustisch zum Ausdruck kommen.

Du hast Pimmel gesagt. Gib zu, dass du Pimmel gesagt hast.

Das alles entfernt sich weit von Rennertz’ leiser, sonorer Gegenwart. Auch weiß ich genau, dass seine Rede nichts mit ihren müden Späßen zu tun hat, diesem infantilen Dauergefasel von Herrschaft und Knechtschaft. Wo also liegt die Verbindung? Ich käme in arge Bedrängnis, wollte ich – auf Biegen oder Brechen – eine herstellen.

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Versuchen wir’s anders. Ich hatte Rennertz herausgefordert. Er musste mir also, sagen wir … Paroli bieten. Dabei lag die Herausforderung mehr unter der Oberfläche. Es gab die Antwort nicht, mit der er mich direkt hätte ausschalten können. Meine wunde Seele schrie nach einem neuen Ausgleich. Ein Splitter davon musste in ihn eingedrungen sein. Vielleicht verstand er nicht, was mit mir durchging. Vielleicht verstand er es ganz ausgezeichnet. Vielleicht fragte er sich, was ihn ›das alles‹ anging, vielleicht sagte er sich, dafür könne er nun wirklich nichts und meine Zustände gingen ihn einen Sch… an. Doch helfen konnte ihm das nicht. Ich nahm mein Recht in Anspruch, ihn zu fordern, und da stand’s im Raum: meins gegen seins. Er musste, wollte er heil aus der Sache herauskommen, mich unverzüglich in die Schranken weisen. Rundum betrachtet, war die Sache heikel. Er schien nicht abgeneigt, den Handschuh aufzunehmen. Was hieß, auch er gab meiner Sicht der Dinge Raum.
Aber so lief es nicht.

Und ich hab nicht gewusst
Bis gestern, wie lang eine Nacht ist.

Die Explosion fand nicht statt. Er drängte mein Anliegen nicht zurück, er hob es auf. Hätte ich mich düpiert gefühlt, so hätte ich gehandelt. Dass ich es nicht tat, dass ich es nicht getan habe – nicht damals, nicht später – beschneidet den Raum seiner Rede und meiner Erinnerung. Mehr als das, es … ach was.

 

Er hat sich entzogen: das ist alles. Entschlossen sorgte er dafür, dass ich im Laufe dieser halben Stunde – so lange dürfte Elisabeths Abwesenheit gedauert haben – meinen Groll einfach vergaß. Er sprach ganz eingesponnen in sich selbst und ich, angezogen von der tonlosen Stimme und den seinen Lippen entströmenden Seltsamkeiten, hörte ihm in der Verfassung eines Mannes zu, der sich unvermutet in den Palast der Winde oder ins Innere einer Muschel entrückt wähnt. Zum ersten, möglicherweise einzigen Mal flößte er mir ein Gefühl uneinholbarer Überlegenheit ein. Es hatte nichts mit Elisabeth und der Sache, die ich gerade noch auszufechten gewillt war, zu tun; es ergab sich aus der Abgeschiedenheit der Person, die da sprach und sich nicht allein physisch von mir abgewandt hatte.

Aber das ist eigentlich nur eine nachgeschobene Beobachtung, ungeeignet, das ursprüngliche Gefühl aufzuschlüsseln, das mit der plötzlichen Empfindung von Leere einherging. Ich sage ›plötzlich‹, weil sie sich wie der verschüttete Inhalt eines Wasserglases verbreitete und dabei in allerlei Ritzen und Poren der Wahrnehmung eindrang. Währenddessen fühlte ich mich irgendwie vollständiger und wenn auch dieses Gefühl sich alsbald wieder verflüchtigte, behielt ich doch eine jederzeit abrufbare Erinnerung daran..

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Nimmst du den Wind aus meinen Segeln, blas
ich dir den Marsch

Ich kann nicht sagen, die Situation sei bei mir ›haften‹ geblieben. Eigentlich handelt es sich um zwei verschiedene Knäuel, die sich zwar ineinander verwirren, aber verschiedene Mittelpunkte besitzen.

  • Vor allem bleibt festzuhalten, dass ich mich leer fühlte. Alles, was Rennertz sprach, schien aus einem konzentrierten Inneren zu strömen. Später, als ich erfahren hatte, dass es in der Philosophie eine Richtung gibt, die mit fester Stirn bestreitet, dass es so etwas wie ein Ich überhaupt gibt, kam mir der Verdacht, ich hätte einen der Augenblicke erlebt, in denen diese hartnäckige Illusion von einem abfällt – allerdings um den Preis, dass ich sie ungeniert im Gegenspieler konzentriert hatte. Doch kam mir die Hypothese wiederum recht gewagt und ein wenig dilettantisch vor. Heute denke ich, Sätze, in denen das Wort ›Ich‹ so häufig vorkommt, dürften kaum die Umgebung sein, in der Spekulationen jenes Typus’ ohne Glaubwürdigkeitsverlust gedeihen.

Angesichts eines unentwegt redenden Rennertz, während die Uhr auf Mitternacht ging oder sie bereits überschritten hatte, stand mir der Sinn nicht nach Philosophie. Zwischendurch fragte ich mich, was Elisabeth wohl so lange im Bad treiben mochte. Immerhin war die Situation überschaubar, solange sie dort verweilte. Inzwischen blieb ich von Rennertz gebannt, der zwar nicht sein Inneres ausschüttete – darin blieb er unserer Abmachung treu –, aber in einem Tonfall redete, der unbarmherzig meine eigene Schlichtheit enthüllte.
Es war wohl dieser Ton, der damals und auf lange Zeit meine Eifersucht lähmte. Nicht etwa, dass Rennertz sie als mieses kleines egoistisches Gefühl gebrandmarkt hätte. Er ließ sie einfach schrumpfen – so lange, bis nichts als die Unfähigkeit des Bornierten zurückblieb, die Sprache der Zwischenmenschlichkeit zu entziffern. Später habe ich begriffen, dass Rennertz Grund genug hatte, mir Sand in die Augen zu streuen. Egal, was man von ihr halten mag, Eifersucht gehört zu den schärfsten Sensoren der Psyche und wer sie zu blenden versucht, weiß in der Regel warum.

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Palast der Winde

Eifersucht ist Dummheit, als Klugheit verkleidet. Jeder weiß es, nur die Gründe gehen auseinander. Mir zum Beispiel hätte es nichts ausgemacht, als kleinlich und rachsüchtig dazustehen. Warum es leugnen? In meine augenblickliche Rolle war ich aus freien Stücken und mit einer gewissen Lust an der Provokation geschlüpft. Doch die Lust diffundierte mehr und mehr. Eigentlich war sie mit Rennertz’ erstem Satz auf und davon. Überhaupt war sie weniger Lust gewesen als Krampf. Die Eifersucht hatte mich eingeschnürt wie ein Strick, der bei jeder Bewegung tiefer ins Fleisch schneidet, bis man sich entschließt, mit einem Ruck, der den Schmerz vervielfacht, der Sache ein Ende zu setzen.

›In Erwartung von Schmerzen‹ hatte ich die Aussprache eröffnet. Nun stand ich, an den Schrank gelehnt, mit verschränkten Armen da und hörte einem Mann zu, der meine Schmerzen von einer Seite her inspizierte, die ich an ihnen bisher übersehen hatte. Hätte er behauptet, erst der eigene Schmerz öffne die Augen für die Leiden der Menschheit, so hätte ich ihn vermutlich im Stillen verhöhnt. Hätte er für sich einen resoluten Beobachterposten am Rande des Geschehens beansprucht, so hätte ich ihn für einen Schwätzer gehalten. Hätte er mein Recht auf Leid bestritten, wäre ich ihm vielleicht an die Gurgel gegangen. Von solchen Anfechtungen schien er aber völlig frei zu sein. Wie ein Erwachsener sich von einem Kind ein Spielzeug erbittet, um daran etwas zu zeigen, so nahm er meine Eifersucht in beide Hände, um sie zu zerlegen, bis ihre Bestandteile alle Ähnlichkeit mit dem Ausgangsobjekt verloren hatten, so dass auch ich es vergaß.

Er behauptete gar nichts. Was seine Sätze aufblätterten – ich habe kein Wort davon behalten –, glich einem Katalog psychischer Stellungen, einer Art Kamasutra der Seele, dessen Seiten er mir hinschob, als habe er unten im Auto mehr Exemplare und könne mir dieses hier ohne weiteres überlassen. Er musste ein exorbitanter Vertreter sein.

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Der kleine Husar

Hatte ich mich bisher für einen guten Psychologen gehalten, so durfte ich jetzt die Bodenlosigkeit dieser allzu menschlichen Disziplin erkennen, nein, erfahren, wobei zwischen Erfahren und Erkennen nur ein winziger Spalt sich öffnet, übrigens nicht, wie so oft behauptet, zugunsten der Erfahrung. Plötzlich stand meine Erfahrung nackt da, ein Kaiser ohne Kleider, bar aller Untertanen und Schätze, ein Bettler, der, in völliger Verkennung seiner Lage, Almosen austeilt. Eins dieser Almosen, der Umschlag eines beherrschenden Gefühls wie der Liebe, mutierte in Rennertz’ Rede zu einer geschmeidigen Gymnastik, bei der unentwegt eine Figur in die andere hinüberglitt, so dass sie allesamt ihre wahre Gestalt erst dann preisgaben, wenn man sie in ihrer zeitlichen Erstreckung zu betrachten bereit war. Unglücklicherweise, so Rennertz, besitzen die Menschen kein Organ für die Zeit außer dem notorisch unzuverlässigen Gedächtnis, das sie bei dieser Art von Beobachtung fast völlig im Stich lässt.

  • ―Manche Leute orten im Gedächtnis das wahre Zentrum des menschlichen Geistes und dichten ihm alle möglichen magischen Fähigkeiten an. Das ist Hokuspokus. Ein Gedächtnis ist ein Gedächtnis und keine Schatzkammer voller verborgener Fähigkeiten. Der kleine Husar ist immer bereit, seinen Träger zuschanden zu reiten.

Vielleicht hatte die Natur das seine nicht übermäßig gut bestückt. Das würde jedenfalls erklären, warum er in jener Nacht mehr dem Vergessen zusprach als dem Behalten. Wenn er über die Furie des Verschwindens redete, dann traf es sich gut, dass Elisabeth währenddessen das Bad besetzt hielt. Man spricht nicht gern über Privilegien in Gegenwart der Begünstigten. Was das Kommen und Gehen, das Auftauchen und Verschwinden anging, so war Elisabeth Meisterin aller Klassen. Alles, was sie tat, überraschte, oder, gedämpfter gesprochen: sie war eine jener Personen, die immer für eine Überraschung gut sind, gleichgültig, wie gut man sie zu kennen glaubt. Ich glaubte sie so zu kennen, dass unser Verhältnis unweigerlich ins Schmerzhafte abgleiten musste, gleichgültig, wie genau ich sie durchschaute.

Das rote Band
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Nobody is perfect

Nichts ist lästiger als ein Elefantengedächtnis. Wären mir zum Beispiel, während ich Rennertz lauschte, alle Kränkungen, die ich von Elisabeth erduldet hatte, gegenwärtig gewesen, so hätte ich kaum die Geduld aufgebracht, ihm zu folgen. In Wirklichkeit hatte ich nicht nur sie, sondern auch Elisabeths Gegenwart nebenan bereits zu vergessen begonnen. Der Einwand, sicher wäre mir beizeiten beides wieder eingefallen, zählt nicht oder höchstens, insofern er das fatale Gewebe ein Stück weiter enthüllt. Natürlich wartete es nur darauf, mir wieder einzufallen, aber nur dann, wenn ein neues Ereignis seinen Auftritt mit neuer Autorität umgab.

Nie wieder sollte die Elisabeth, die ich gekannt hatte, in mein Blickfeld treten. Noch schärfer – oder ›pointierter‹, wie die Leute sagen –: nur weil ich sie zwischenzeitlich vergessen konnte und die große Transformation, der man ununterbrochen unterliegt, außerhalb der eigenen Wahrnehmung liegt, gab es sie überhaupt. Die Furie des Verschwindens sorgt dafür, dass wir das Bild eines Menschen, eines Tiers oder eines Felsens ›festhalten‹, ihm mit jenem Minimalimpuls begegnen, der es fixiert und den Vorräten hinzufügt, aus denen wir leben. Die Eifersucht ist ihr zuverlässiger Indikator.

Verstand ich Rennertz recht, so existierte meine Elisabeth nicht, sie – oder was ich dafür hielt – bestand aus festgehaltenen Partikeln vieler Vergangenheiten, zusammengestückelt durch etwas, das sich zwar Gedächtnis nannte, aber besser Erdächtnis geheißen hätte, eine Vorratskammer des Gutdünkens, aus welcher der Affekt sich bediente, dessen navigatorischen Fähigkeiten ich mich gerade überlassen hatte, woraufhin er nichts Besseres zu tun hatte, als mich in die nächstbeste Sackgasse zu manövrieren. Unter Vernünftigen ist der Eifersüchtige ein Rätsel oder vielmehr die Lösung des Rätsels namens Vergangenheit: Verflogen ist verflogen, gleichgültig, ob eine Sekunde oder ein Jahrtausend zwischen den adressierten Zeitpunkten liegt. Doch der Mensch will nichts davon wissen. Unbegreiflich sein hilfloses Verfangensein in Episoden, die eine eifernde Phantasie ihm als Folie seiner abrollenden Taten und Leiden hinblättert. Mittlerweile las ich, dass die Gehirnforschung zu ganz ähnlichen Ansichten kommt. Vielleicht ist auch alles, was ich hier aufschreibe, nichts weiter als ein zusammengestoppeltes Konstrukt, geboren aus der augenblicklichen Leidenschaft, die Figur Rennertz zu ergründen und nebenbei einen Baustein zu meiner ganz persönlichen Affektgeschichte zu liefern. Tatsache bleibt, dass ich Elisabeth völlig vergessen hatte, als sie endlich, eine strahlende Artemis, in der Tür stand. Nachdem wir sie schweigend betrachtet hatten, löste sie sich langsam aus dem Rahmen und durchmaß den Raum, der hinter ihr klirrend zusammenschlug.

Das rote Band
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Ich war müde; das burgunderrote Halsband, das sie angelegt hatte, zog meinen Blick mächtig an. Es reizte wie eine Entblößung, vermutlich weil ich den Streifen Stoff auf ihrer Haut noch nicht kannte. Dass sie ihn für diesen Augenblick aufgespart hatte, konnte nur bedeuten, dass sie beschlossen hatte, das leichtsinnigerweise von mir begonnene Spiel auf die Spitze zu treiben.

 

Ich fühlte, dass mir die Situation entglitt. Gern hätte ich ihr zugeraunt, die Sache habe sich erledigt und das Beste sei, wir legten uns alle schlafen. Davon konnte nun gar keine Rede sein.

 

Eigentlich traute ich ihr den Auftritt, der in der Luft lag, nicht zu. Ich hielt sie für zu integer und zu intelligent. Aber darin lag eine Unbedachtheit. Ich hatte ihr alle intelligenten Ausgänge genommen. Sie befand sich demnach in einem Raum voller Zumutungen, an denen sie nicht vorbeikam, ohne...

 

Um es in einem anderen Bild zu sagen: wollte sie den Kopf aus der Schlinge ziehen, dann am besten dadurch, dass sie Kopf und Rumpf an der bewussten Stelle auseinandertrennte. Die Sache versprach blutig zu werden. Eigentlich hätte ich in Panik geraten müssen. Das war aber nicht der Fall, stattdessen wartete ich etwas benommen auf das, was geschehen würde.

 

Wartete ich? Etwas wartete in mir, so wie es, ich könnte wetten, in Rennertz wartete und nicht zuletzt in ihr selbst. Davon zeugte ihr Gang, der so etwas wie ein Ausschreiten der Zeit darstellte. Falls sie damit Zeit gewann, so nicht viel. Sie tat nichts dazu, ihr Vergehen künstlich zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Das wäre auch nicht angemessen gewesen, da die Luft ohnehin zum Zerreißen gespannt war und eine unbedachte oder ausbleibende Bewegung unweigerlich dazu geführt hätte, dass einer das Fenster aufgemacht und eine Zigarettenpause reklamiert hätte.

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Rite de passage

Weder vorher noch nachher habe ich das, was manche Leute den ›Abgrund des Geschlechts‹ nennen, so stark empfunden. Meine Vertrautheit mit Elisabeth, meine Enttäuschung, meine Eifersucht waren zwar nicht völlig von der Bildfläche verschwunden, aber sie starrten mauloffenen Statisten gleich auf diese Frau, die ihre Beine bewegte und eine rote Markierung am Hals trug, die sie sich eigenhändig zugefügt hatte. So wie sie ging, war sie für die Demütigung, die ich ihr zugedacht hatte, nicht erreichbar. Ihr blieben nur wenige Schritte und ich fragte mich, wie lange der Schutzmechanismus funktionieren würde. Sicher war ich mir, dass diese Überlegung derzeit in ihr keinen Platz fand. Der Gang füllte sie aus und mir war unerfindlich, welche Gedanken sich in diesem Gehirn die Klinke in die Hand gaben. Ihr vermutlich auch. Wäre es später möglich gewesen, sie zu fragen, was ihr gerade durch den Kopf ging, so hätte ihre Antwort wohl ›nichts‹ gelautet – dieser weibliche Euphemismus, der wie ein Grenzwächter im Gelände die Territorien ›weiblich‹ und ›männlich‹ voneinander trennt.
Der Einfall, der mir im Theater gekommen war, entsprang der peinlichen Empfindung, dass ich Elisabeth bereits an Rennertz verloren hatte. Selbstachtung gebot mir, reinen Tisch zu machen. Die Unsicherheit, ob nicht doch bloß ein Mangel an Selbstbewusstsein mich in diese Lage gebracht hatte, ließ mich tückisch werden. Wenn ich Elisabeth schon aufgeben musste, dann, ja dann … hatte ich dafür Sorge zu tragen, dass ihr der Rückweg versperrt blieb. Der Zweck erforderte es, sie zu erniedrigen. Ihr heroischer Gang verriet mir: sie hatte verstanden. Dummerweise konnte ich nicht erraten, wozu sie sich entschlossen hatte, deshalb musste ich ausharren, obwohl ich in meinem resignierten Zustand ebenso gut aus dem Zimmer gehen und die beiden sich selbst hätte überlassen können. Ich sah mich als Randfigur des Jüngsten Gerichts von Signorelli – mit einem Bein auf der Flucht, mit dem anderen festgewurzelt im Anblick des himmlischen Rächers, so die verdrehte Existenz eines Ungläubigen bezeugend, den die Wucht der Offenbarung bloß erreicht, um ihn in neue Zweifel zu stürzen und schließlich zu zerschmettern. Lassen sich Schrecken vergleichen? Was soll’s, ein Schrecken wiegt wie der andere.

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Olympia

Nein, wie eine Rächerin wirkte sie nicht. Eine Distanz zwischen uns legend, die ich angesichts der beschränkten Räumlichkeit nicht für möglich gehalten hätte, hielt sie an mir vorbei auf einen unbekannten Fluchtpunkt zu. Am Bettende angekommen, streifte sie das kurze schwarze Kleid, unter dem sie nichts weiter trug, mit einer das Schreiten in die Fingerspitzen hinein verlängernden Bewegung über den Kopf und legte sich aufs Bett.
Sie war am Ziel. Der rhythmische Bogen, der vom Türrahmen bis zur Mitte des Bettes reichte, war geschlagen und passé. Allenfalls hatte die Stellung, die sie jetzt einnahm, etwas Ausgeklügeltes. Sie reproduzierte die eingefrorene Pose der Olympia auf dem bekannten Gemälde Manets. Eine halb geschlossene Hand ruhte auf der Beuge, die Rumpf und Schenkel separiert. Selbstredend ging der Blick an uns vorbei. Vermutlich fixierte er den Betrachter, den man auf dem Gemälde nicht sieht.
Rennertz, der noch immer auf der Bettkante saß, hatte sich erstaunt herumgedreht. Angesichts der Mischung von Zärtlichkeit und Besorgnis in seinen Augen wurde mir übel, allerdings nicht so sehr, dass ich den Blick hätte abwenden mögen. Was die negative Empfindung durchkreuzte und einschränkte, war der Kontrast des weichen, entfernt an Flanell erinnernden Anzugstoffes und des im Lampenlicht schimmernden Fleisches, das ebensogut Elisabeth wie irgendeine andere Frau hätte bedeuten können. Tatsächlich hatte sich Elisabeth, so weit es ging, aus ihm zurückgezogen. Auf der mit Früchtemotiven durchwirkten Decke überließ sie sich den Blicken des unbekannten Betrachters wie das Ergebnis eines Verrats, den die anonyme Gewalt ihres Auftritts an ihr begangen hatte.

Das rote Band
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Doch der Verrat holte sie ein. Mein unsteter, halb umschleierter, betört durch das Zusammenspiel von Haut und Flanell eine jähe Lust entfachender Blick stürzte mich in Trauer, sobald er sich ihren Brüsten näherte.
Elisabeth war eine von den Frauen, die zwanghaft mit ihrer schmächtigen Oberweite kokettieren. Gelegentlich ging sie so weit, ihren Mann mit dem Ausspruch zu zitieren, sie habe einen prachtvollen Arsch, ja wirklich, nur ihre Titten könne man vergessen – eine Lesart, in der sie eine Art Halt zu finden schien, während ich mich persönlich dadurch gekränkt fühlte.
Wann immer ihr Körper mit dem Kollektivwesen Mann rang und mich dadurch in nicht geringe Verlegenheit brachte, erzeugte der stumme Notenschlüssel ihres Busens unter meinen zupackenden oder ihn nur eben streifenden Händen ein kompensatorisches Glücksgefühl. Da er an diesem Körper die einzige Stelle darstellte, die von einem alles verzehrenden Ehrgeiz aufgegeben worden war, eröffnete er eine reelle Chance, als Verbündeter im Geschlechterkampf die Zurückweisung zwar nicht wettzumachen, aber ein Stück weit abzumildern, die mir aus ihrem Zappelwesen erwuchs.
So ruhig, so anwesend abwesend wie jetzt hatte ich sie noch nicht erlebt, und wenn ich sie so ansah, schien sie mir ganz in einen Glückskokon eingesponnen zu sein. Nur ihre Brüste stachen aus ihm hervor, als klagten sie mich des Verrats an – ein Vorwurf, an dem, recht besehen, etwas dran war, auch wenn er mich in ausweglose Bedrängnis brachte.
Immerhin ergriff ich die seidene Tagesdecke, die ich bei meiner Ankunft achtlos in einen Winkel geworfen hatte, und breitete sie, in spontaner Nachahmung der Manetschen Dienerin, über den unbewegten Körper meiner mutigen Herrin, die sich unter ihr auf die Seite rollte und die Augen schloss.

Abrakadabra

Abrakadabra
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Renate Solbach: Figur 11
Klugscheisser

Als ich wieder hochblickte, hatte Rennertz das Fenster geöffnet und starrte hinaus. Ich stellte mich neben ihn und beugte mich vor. Aus der Dunkelheit wehte mir ein leichter Sprühregen ins Gesicht. Wie in manchen Hotels üblich endeten die Fenster knapp über dem Fußboden. Bleibt man ihnen fern, erweckt das den Eindruck von Offenheit, doch tritt man näher, vergrößert es den Hiatus zur Außenwelt, den eine armgerechte Fensterbank mühelos wegnimmt. Wer sich über eine kniehohe Begrenzung beugt, jenseits derer die Tiefe lauert, entkommt nur schwer einem diffusen Gefühl der Gefährdung. Mir fiel auf, dass darin ein Gleichnis steckt. Der Mensch tritt dem Unbekannten bloß dann unbefangen entgegen, wenn der Ausschnitt stimmt. Gerät er zu klein, verfälschen Anfälle zielloser Sehnsucht das Bild. Fällt er zu groß aus, beunruhigt die Gefahr hinauszufallen selbst dann, wenn man sich dreimal sagt, das sei Quatsch. Man muss es sich sagen: da steckt schon der Fehler. Scheinbar dem Draußen zugewandt, dialogisieren und verheddern wir uns in uns selbst. Was nicht weiter schlimm ist. Das Draußen bleibt draußen, nur dass es einem, nachdem man lang genug mit sich selber beschäftigt war, wie eine Spiegelung des eigenen Inneren vorkommt.

Im gleichen Augenblick springen wir.

In diesem Punkt berührt sich die Alltagserfahrung mit dem wissenschaftlichen Experiment. Auch da scheint es wichtig zu sein, den Rahmen richtig wählen, andernfalls kommt nichts dabei heraus. Ein amüsantes Wortspiel, das meist unbemerkt bleibt, abgesehen davon, dass man sich als Laie oft genug fragt, ob das, was da herauskommt, nicht vom Fragenden selbst hineingelegt wurde, sei es durch die Wahl des Rahmens, sei es durch eine Aufgabenstellung, die das Wunder verspricht, eine auf ewig stumme Materie plötzlich zum Sprechen zu bringen. Denn ein Wunder bleibt es. Der Mensch spricht und die Materie hört zu. Die Materie spricht und der Mensch hört zu. Der Mensch hört nichts und die Materie wendet sich beleidigt ab, bis ein anderer sie zum Reden zwingt. Dieser andere… Schwamm drüber! Nicht dass er sich zum Herrn über dich erhöbe. Er beherrscht nur seine Materie, das ist seltsam genug. Trotzdem scheint die Sache zu funktionieren, so wie wenn die genetische Ausstattung den Menschen immer wieder zum Sprung nötigt – eine, zugegeben, etwas abstrakte Konstruktion, um zu erklären, warum unsereins gelegentlich aus dem Ruder läuft. Was ich sagen möchte, ist... etwas anderes.

Abrakadabra
2
Nightwood

Das Viertel lag ruhig, in deutlichen Abständen drang das zischende Geräusch herauf, das entsteht, wenn Autoreifen den Nässefilm auf der Straße durchpflügen. Nichts war zu hören außer dem entfernten Rauschen der Autobahn und dem Geklapper von Absätzen. Eine vergessene Lektüre wandelte mich an. Irgendwo da draußen strebten zwei wandelnde Bewusstseine, ausgestattet mit Groß- und Kleingedrucktem, in dem, wie der Dichter sagt, vermerkt stand, wer sie waren und woher sie kamen, unter einem schwarzen Regenschirm dem nächstgelegenen Parkhaus zu.

PaarEin Knall in nächster Nähe zwang mir ein Lächeln ab: aus und vorbei die Zeiten, in denen der Herr – denn natürlich spielten die beiden Herr und Dame, ganz wie im Theater – die Gelegenheit ergriffen hätte, der Aufmerksamkeit heuchelnden Partnerin eine kleine Einführung in Unfallstatistik zu geben! Die Ausgeburten meiner überstrapazierten Phantasie beanspruchte der Verkehrsunfall nicht mehr als ein zufällig an ihren Gesichtern vorbeiwehendes Insekt. Eigentlich schade angesichts der Vorstellung, dass irgendwo da draußen blutüberströmte Gestalten das Blech ihrer demolierten Karossen besudelten. Aber daran war nichts zu ändern. Es verstand sich von selbst, dass auch mein Pärchen nur seinem nächsten Unfall entgegenlief. Er würde sie morgen ereilen oder in zwei Monaten. Wäre der Herr nur ein bisschen aufmerksamer gewesen! Schon hätte er die Spuren künftiger Glassplitter auf dem Gesicht seiner Begleiterin entdecken und vorsorglich den Notarzt bestellen können. Natürlich hatte er Gründe, es nicht zu tun. Sadist, hätte sie ihn angeschrieen, bist du wahnsinnig? Und er hätte sich für den nächsten Kinobesuch eine andere Begleitung suchen müssen.

Ich will nicht jede Nacht sterben. Ich finde das langweilig.

Abrakadabra
3
Vor Sonnenaufgang

Die Ordnung der Dinge ist nicht in Ordnung. Sätze wie dieser entsteigen der Tiefe der Psyche wie Johanna dem Bade: perlend und rosig, so dass man schon halb versöhnt ist, bevor der Verstand sich daranmacht, sie zu zerlegen. Angenommen, der Herr da draußen würde vor Sonnenaufgang in einer dumpfen Aufwallung das hübsche Makeup der Partnerin mit einem Rasiermesser zerfetzen – dann entspräche diese unvorstellbare Grausamkeit ziemlich genau der Schlüsselszene des für ihr Empfinden ›absolut harmlosen‹, amüsanterweise im Vorspann mit einer Triggerwarnung (›Tripper-‹?) versehenen Streifens, aus dem sie kamen: Filmgestalten auch sie, mit mir als Produzenten, der darauf sehen musste, dass die Kasse stimmte. Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit war gering. Doch ausschließen ließ sich nichts, schon gar nicht in einer Nacht wie dieser.
Angenommen aber … bei sorgsamer Abwägung aller Umstände … letztlich … ließ sich absehen, dass ein von Börsenspekulationen zerrütteter Beschützerinstinkt seinem exponentiell wachsenden Zartsinn schon in Bälde ein unendlich verletzliches Wesen vorgaukeln würde. Die restlichen Filmsplitter würden in den aufgewühlten Gehirnen zerplatzen, die Vulva der Partnerin sich sanft um sein aufgerecktes Glied schließen und ihr Bewusstsein mit der flatternden Empfindung eintrüben, er komme heute ein wenig härter als sonst.

Fieber

Die Empfindung, Seite an Seite mit dem sieghaften Nebenbuhler in die silbrig verregnete Nacht hinauszublicken und seinen Atem im Takt der Erregung zu hören, hat etwas Irreales. Abgeschlagen, wie du dich fühlst, weißt du die Annehmlichkeit zu schätzen, dass der andere so tut, als sei nichts passiert. Andererseits teilst du seine Erregung wie er die deine. So jedenfalls stellte ich es mir vor und stieß damit auf keinen offenen Widerstand. Die Rivalität ruhte, sie konnte jederzeit in Worten und Taten hervorbrechen, das Spiel war unberechenbar. Du merkst, dass du den Boden unter den Füßen verlierst, du vergisst den Widerstand, weil der Sturz dich unversehens außer dich geraten lässt.

Abrakadabra
4

Ich weiß nicht, wie lange wir dort hätten stehen können, den äußeren Blick auf die gegenüberliegende Häuserfront, den inneren starr auf das Weib in unserem Rücken gerichtet, wenn nicht im Zimmer das Licht ausgegangen wäre. Fast augenblicklich fühlte ich mich durchnässt. Das Hemd klebte auf der Brust und am Kinn sammelten sich ein oder zwei Wassertropfen. Ebenso brüsk wie unentschieden trat ich vom Fenster zurück. In einer Gebärde aufwallenden Trotzes packte ich die neben dem Lichtschalter liegende Hand mitsamt dem dazugehörigen Arm und eröffnete eine Reihe sinnloser Liebkosungen, die zwar nicht erwidert, aber auch nicht verweigert wurden.
Der Widerschein der Straßenbeleuchtung verwischte die Unterschiede von Schwarz und Weiß und erzeugte Unter- und Hintergründe, denen ich durch ein Verschieben der Stellwände mehr Dynamik zu geben wünschte. Vorsichtig hob ich die Decke von Elisabeths Brüsten und rieb mein zu dieser Stunde bereits stachliges Kinn an ihnen. Was immer ich damit auslöste – wahrscheinlich nichts außer dem Wunsch, die Dinge endlich voranzutreiben –: Elisabeth erwachte aus ihrer Starre und griff nach meiner Krawatte. Ihr klammernder Griff besagte, dass jeder Widerstand zwecklos sei. Die Tagesdecke war vom Bett geglitten, als Rennertz durch ein Geräusch seine Anwesenheit bekundete. Elisabeth ließ von mir ab, schlängelte sich aus dem Bett und zog den vorsichtig Widerstrebenden, der anscheinend im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, an der Hand zurück. Es zeigte sich, dass er die Krawatte bereits gelöst hatte. Ich bin kein guter Erzähler, deshalb erspare ich es mir, ins Detail zu gehen.

Wirklich behält man von solchen Episoden einen gewissen Geschmack zurück, der einem noch nach Jahren auf die Zunge tritt, sobald man sich auch nur flüchtig an sie erinnert. Diese hier rief ein weit zurückliegendes Ereignis wach. ›Wir‹ – eine kleine Clique angehender Erwachsener – hatten an einem verregneten Nachmittag irgendeine leere Wohnung gekapert, die Einzelheiten sind mir entfallen. Im Schlafzimmer prangte der Luxus eines Doppelbetts, auf dem die Mädchen, nachdem sie sich etwas verlegen ihrer einige Jahre später ›Slips‹ genannten ›Höschen‹ entledigt hatten, ohne viel Federlesens sich nebeneinander ausstreckten, während der eine oder andere unter den jungen Herren bereits Schwierigkeiten bekam, sein geschwollenes Glied aus der Hose zu schälen. Ich erinnere mich, dass ich die mir zugedachte Gespielin hinter mir her aus dem Raum zerrte. Was damals unerträglich schien, das holte ich, erfüllt von rauschhafter Trauer um die verlorene Liebe, hier auf unnachgiebige Weise nach.

Auch Elisabeth schien kein Ende zu finden. Ihre turnerische Manier erwies sich diesmal … nun, als das Gegebene. Mit dem Gleichmut einer Zirkusartistin, die mit zwei männlichen Partnern arbeitet und nicht im Traum daran denkt, den einen um des anderen willen zu bevorzugen oder zu vernachlässigen, warf sie ihren Körper einem jedem von uns entgegen. Voll stummer Entschlossenheit sorgte sie dafür, dass niemand aus dem Geschehen herausfiel. Egal, ob sie uns drei zu einer Figur zusammenschloss oder ob sie sich mehr der einen oder der anderen Partei verband, ihr Körper hatte immer noch eine Geste, eine Zuckung, einen Rausch für den anderen übrig. Mit halb geschlossenen Augen, in einer Dauererregung, die sich mehr psychischen als physischen Quellen verdankte, zeigte sie sich ganz und gar als das emblematische Tier, das ich ihr am Anfang unserer Beziehung zugewiesen und dann wieder an ihr vermisst hatte.

Abrakadabra
5

Vielleicht hatte mich jene alte Geschichte auf meine heutige Rolle vorbereitet, vielleicht griff die Erregung sich einfach einen Punkt in der Vergangenheit und legte ihn unter das Vergrößerungsglas, weil ihr die Gegenwart nicht genügte. Was ich ›Nachholen‹ nannte, wäre dann nichts weiter gewesen als ein Ausgreifen der Gegenwart auf die Vergangenheit: nicht auf die reale, ganz und gar vergangene, sondern auf die eingebildete, unseren ständigen Begleiter, der, je nach Situation, freihändig mit dem Flusen der Erinnerung schaltet und waltet.
Ich war schockiert, ja sicher – und spürte, wie die Erregung jene längst in Belanglosigkeit versunkene Episode benützte, um sich der Kälte zu entziehen, die von unten in sie eindrang. Mein reifes Ich bewies sich seine Überlegenheit, indem es sich einer Situation gewachsen zeigte, in der das frühere glatt versagt hatte. Das freigesetzte Glücksgefühl reichte aus, um darüber hinwegzutragen, dass ich mich im Grunde jämmerlich fühlte. Im Grunde liebte ich Elisabeth, im Grunde gelang es mir nicht, sie loszulassen. Die gegenwärtige Schmierenkomödie lieferte den Beweis. Im Grunde plagte mich ihr gegenüber bereits seit Wochen ein schlechtes Gewissen, weil Anita die Lücke so glatt gefüllt hatte, die der innige physische Umgang mit ihr erst hervorgebracht hatte. Was mich vollends zermürbte und hartnäckig zu neuen körperlichen Einsätzen trieb, war die nur im Rausch zu ertragende Einsicht, dass sie sich augenblicklich so ganz in ihrem Element bewegte. Jedenfalls war sie mit einem Enthusiasmus bei der Sache, den ich von ihr so nicht kannte. Und ich war nicht einmal übermäßig erstaunt, denn ihr Verhalten öffnete Wege an Stellen, wo wir bisher gestrauchelt waren. Sowie sie mir entglitt, vervollständigte sie sich.

 

Unterdessen kam sie mir kleiner vor, beseelt von einem seltsam hartnäckigen Willen, ihr Quäntchen Lust aus dieser Existenz zu saugen, den auch nur entfernt zu unterstellen mir bisher nicht in den Sinn gekommen war. Ungläubig nahm ich zur Kenntnis, dass sie es zuließ, für eine gehalten zu werden, die sich auch bloß eine Scheibe vom Kuchen abschneiden wollte – sie, die Herrin der Genüsse, welche sie, aus nicht ganz einsichtigem Grund, nur nicht so freigiebig mitzuteilen vermochte, wie ich es gern gesehen hätte.

Abrakadabra
6

Bye byeDas war seltsam. Seltsamer noch kam es mir vor, dass meine Intrige zum Anlass dieser Offenbarung geworden war. Das hieß ja, dass mein verzweifeltes Mittel, die Dinge vielleicht doch noch zu wenden, weit davon entfernt, als Ausdruck meiner Seelennot zu gelten, für diese beiden, vor allem aber für sie, nur den Charakter einer Handreichung besaß – spät genug, aber was sollte man von einem wie mir schon erwarten. Der Bock hatte die Gärtnerarbeit übernommen. Noch ein weiteres Wort irrlichterte durch die von Sturzbächen überfluteten und immer wieder unpassierbaren Wandelgänge meines Bewusstseins. Beim gemeinsamen Blättern in einem philosophischen Schmöker waren wir seinerzeit an der Formulierung hängengeblieben, als ›Klaffendes‹ (eine Sprache führten diese Philosophen!) sei das Weibliche wesentlich ›Ruf‹. Glücklich oder nicht: das Brausen, das mein inneres Ohr erfüllte, durfte nicht ohne Antwort bleiben. Die Idee, gerade einem verschärften Verhör unterzogen zu werden, kam mir, um ehrlich zu sein, als ich unvermittelt aus nächster Nähe in Rennertz’ Gesicht blickte: glatt, geschlossen, ›nicht unzufrieden‹, wie die Vokabel lautet, sah er aus, als habe er seine Anstellung in der Tasche und könne nun daran gehen, die Lücken in der Buchhaltung zu schließen, die sein Vorgänger gerade unter Qualen gestand.
Und dennoch hatte ich die Situation herbeigeführt … und ich genoss sie. Man mag es Magie nennen oder Dummheit, aber in diesem Augenblick blickte ich auf Rennertz, als sei er mein Angestellter, ich hätte ihm auf die Schulter klopfen und ihn bitten können, erst diese oder jene Aufgabe in Angriff zu nehmen, wenn mir das nicht albern und überflüssig vorgekommen wäre, da er sich ungefragt so tüchtig ins Zeug legte. Vermutlich hätte ich seine Motivation beschädigt, was nicht in meiner Absicht lag und Komplikationen hervorgerufen hätte, die ich nicht übersah und deswegen scheute. Nein, ich war Herr der Lage, ich hatte sie im Griff. Um das zu beweisen, zwickte ich Elisabeth ins Ohrläppchen, was sie mit einem matten und, so schien es mir, dankbaren, wenngleich flüchtigen Lächeln beantwortete. Mit einem Wort: nachdem wir uns alle drei in einem Anfall von Raserei die Taschen vollgestopft hatten, kehrten wir, einzeln und zusammen, nach und nach wieder in die mitteleuropäische Zeitzone zurück, in der irgendwo draußen die obligate Uhr schlug und ein betrunkener Fahrer unbedingt das Rennen gegen ein paar Mäuse im Scheinwerferlicht gewinnen wollte, gegen die er, objektiv betrachtet, keine Chance hatte.

La nave va

La nave va
1
Renate Solbach: Figur 11
Im Tal der Missgunst

Anita hat einen neuen Verdacht. Sie glaubt jetzt, ich würde Rennertz’ Manuskript für meine Niederschrift plündern. Sie hegt die fixe Idee, ich sei sein Studienobjekt gewesen, und inszenierte, um das zu vertuschen, wie sie sich ausdrückt, eine Komödie des Schreibens. Sie sagt es im Hinausgehen, die Türklinke in der Hand, kaum dass ich sie verstehe. Nach einigem Zögern verfestigt sich mein Entschluss. Ich werde ihr Rennertz’ Manuskript nicht zu lesen geben, komme, was da wolle. Vielleicht sollte ich auch diese Aufzeichnungen vor ihr verschließen. In gewisser Weise geschieht es ja, ich befürchte, alle zusätzlichen Vorkehrungen würden nur ihren Argwohn beflügeln und die Neugier anstacheln. Lieber vertraue ich auf das Schamgefühl, diese wohltuend archaische Instanz, die einen Gegenstand weit zuverlässiger einem Gesichtsfeld entrückt als jeder Versuch, ihn wegzuschließen. Natürlich hilft das nicht wirklich gegen die Neugier, aber die Fiktion, von nichts zu wissen, lässt uns beide das Gesicht wahren. Das genügt.

La nave va
2
Niemandsland

Warum errege ich mich? Was erregt mich? Worin besteht, wenn Anita falsch liegt, der geheime Zweck dieser Niederschrift? Warum vermeide ich zwanghaft das Wort ›Sinn‹, wenn ich nach dem ›Zweck‹ meiner Aufzeichnungen frage? Warum rede ich von ›Niederschrift‹ und nicht, wie es naheläge, von ›Mitteilungen‹ oder ›Notizen‹, oder vielleicht ASKEMATA wie ein griechischer Philosoph, was den Vorteil besäße, den Verfasser zu nichts zu verpflichten?

Keine Sorge, ich habe den ursprünglichen Zweck meiner Mitteilungen nicht aus den Augen verloren. Mir scheint aber, in seinem Schatten ist etwas herangewachsen, wofür sich bisher noch kein passendes Wort einstellen will. Ich suche also, und während ich suche, fällt mir ein, dass ich im Begriff bin, die Außenperspektive auf meinen ›Fall‹ zu verlieren.

WO RENNERTZ STEHT, MUSS AUERWALD STEHEN

Das wäre in der Tat ein Fauxpas. (Ob es Diebstahl wäre, wie Anita behauptet, lasse ich dahingestellt sein. Wie soll ich stehlen, was mir doch gehört?)

Mein entschwundener – oder soll ich sagen: entrückter – Freund Rennertz ist zum Schatten geworden, der Schatten meines Selbst, mein ständiger Begleiter, mein Rabe Nevermore, mein Doppelgänger, wenn man unbedingt will. So oder so, ich muss ihn loswerden. Ich zeichne einen Kreis, nein, keinen Kreis, einen gezackten Stern, etwa so, und setze Rennertz in seine Mitte  –

Stern
Wo bleibe ich? Ich umrunde den Stern, versuche einen Sinn für die Zacken zu entwickeln und übe mich im Begreifen. Aus irgendeinem Grunde fällt mir auf: nein, das ist es nicht. Was ich suche, ist kein Stern, eine Art Archaeopteryx eher, versteinertes Relikt einer Epoche, ich könnte es mit fünf Fingern umschließen, doch die ausgestreckte Hand greift ins Leere –

 

Eine Epoche, ein Stück Zeit in meiner Faust, das wäre etwas. Was genau es wäre, entzieht sich fürs erste meiner Erkenntnis. Fürs erste? Warum nicht fürs zweite, dritte, zehnte? Verzehnfache die ›Potenz‹ und du verzehnfachst das Problem. (Ich liebe dieses Wort nicht, aber ich komme immer wieder darauf zurück.) Wenn R, wie er sich in seinen Aufzeichnungen nennt, etwas weiß, was ich nicht weiß, was weiß dann ich? Ich bin kein Handlanger. Was dann? Ein denkender Mensch. Das klingt, als möchte ich sagen: Macht euern Dreck alleene. Was nicht so falsch wäre.

La nave va
3
… la nave va

Ich habe das Wort ASKEMATA hingeworfen, als bedeute es nichts … aber ›Niederschrift‹ ist um keinen Deut besser. Es liegt mir fern, jemanden niederzuschreiben, selbst Rennertz nicht, obwohl ich Grund genug dazu hätte. Niemand löst sich völlig von seinen Affekten, er mag es sich tausendmal vorsprechen. Zweimal ist R mir zu nahe gekommen, zu oft für ein Leben, zu … selbstverständlich, um dem Affekt freien Lauf zu lassen. Ja sicher, ich werde sein Werk herausgeben. Was denn sonst? Langsam, schmerzhaft habe ich gelernt, das Nichts zu entziffern. Was würde es helfen, behielte ich es in Geiselhaft? Nichts. Krepieren würde ich daran.

  • Ich habe mir Rennertz’ Projekt vorgesprochen, als müsste es mein eigenes werden, als müsste ich exekutieren, was immer er gewollt haben mochte. Das war etwas voreilig, zu sehr dem Gedanken der Objektivität geschuldet, während ich im Hintergrund mein Projekt Rache verfolgte, als wäre es seines. Anita, die das von Anfang an wusste, dachte nicht im Traum daran, ihr Geheimnis mit mir zu teilen. Stattdessen überließ sie mich meinen Skrupeln, die besagten, Rache sei ein lächerliches Motiv, verglichen mit der Aufgabe, die sein Nachlass nun einmal darstellte.

Ich nehme es ihr nicht einmal übel. Auch sie, das habe ich einzusehen gelernt, ist ein Geschöpf Rs, eines unter vielen, von denen ein paar mir eine Zeitlang sehr vertraut vorkamen, während ich doch nur einer Illusion aufsaß, für deren Zerstörung ich ihm zu danken hätte, wäre er nicht selbst an dieser Aufgabe gescheitert. Es ist nicht möglich, sich keinen Illusionen hinzugeben. Man kann die angenehmen aussortieren und tönen: Alles Illusion! Na und? Exakt das ist die Urgeste aller Illusion.

La nave va
4

Langsam, vorsichtig – fast hätte ich geschrieben: behutsam – werde ich mich von Anita zurückziehen. Das bin ich meinem Ego schuldig. Nicht zurückziehen werde ich mich von Rs Gedanken. Schon habe ich damit angefangen, sie zu den meinen zu machen, Stück für Stück, nicht durch devote Aufbereitung, nicht durch Überschreibung, wie es der Rache anstünde, sondern durch … nichts Besseres fällt mir an dieser Stelle ein als das Wort ›Einübung‹, obwohl damit unabänderlich der Gedanke einer durch Aneignung zu erwerbenden Meisterschaft verbunden ist, von dem hier nicht die Rede sein kann.

 

Die immer und immer wieder überschrittene Schwelle bleibt eine, sooft sich der Vorgang auch wiederholt. Sie ist immer da, beachtet oder unbeachtet, zelebriert oder nicht, im Grunde gilt ihr gegenüber nur ein einziges Wort: Achtsamkeit. Sei achtsam, dass du nicht stolperst. Wer bitte ist dieser R, dass du dich so um ihn bemühst? Vergiss ihn, auch wenn er es ist, der dir den Text vorspricht (durch den Schleier der Erinnerung erkennst du seine Stimme wieder, diese nuschelige, etwas selbstversunken wirkende Stimme eines Abgehobenen).

 

Schwellen sind nützlich, Schwellen sind nötig, Schwellen sind unabdingbar. Sie trennen verbindend (oder verbinden trennend) Innen und Außen, die ohne sie gar nicht existierten, denn ein verschlossenes Inneres schreit danach, dass einer die Schwelle findet, um sie zu überschreiten. Jedes erschlossene Innere ist deins. Man öffnet kein Pharaonengrab, ohne es zu zerstören.

La nave va
5

Ich zeichne einen Stern und will damit etwas zum Ausdruck bringen. Ich übersehe dabei – geflissentlich, könnte man meinen – das ›und‹, die unauffällige Kopula oder das Verbindende. Was verbindet den Stern mit dem Wunsch? Nichts, es sei denn, ich komme hier ins Spiel, ich, dem sich jeder Stern, auch dieser, verrätselt, sobald ich seiner ansichtig werde. Nein, sage ich mir, was ich meinte, ist doch kein Stern, eher ein Archaeopteryx. Aber was ist ein Archaeopteryx? Ein Stein gewordenes Relikt aus vergangener Wirklichkeit, ein ausgestorbenes Tier, dessen Abdruck zu Stein wurde. Was daran entspricht meiner wahren Empfindung?

Nein, auch der Archaeopteryx war nicht das Gemeinte, das sich mir weiterhin beharrlich entzieht. Meine Beharrlichkeit gegen seine: welche wird siegen? Ich folge einem plötzlichen Impuls und da entsteht sie unter meinen Fingern, eine Figur, die ich so noch nicht kannte. Wäre sie die gemeinte? Ich weiß es nicht und irgendwie ist es gleichgültig, denn ich habe mich entschlossen, ihr treu zu bleiben: nicht mir, nicht dem fernen Zeichner, der sie irgendwo entworfen haben mag, sondern dem deutbaren Etwas, das sich mit jedem Blick, den ich darauf werfe, tiefer in meine Gedanken eingräbt. Kein Zweifel, es gemahnt mich an etwas, es holt etwas aus mir heraus, halb Erinnerung, halb ›Konstrukt‹, halb vergangen, halb gegenwärtig, halb erlebt, halb versäumt … ja sicher, auch das Versäumnis hat daran Anteil, vielleicht den größten, denn da ist etwas, das sich erst im Nachgang erschließt: ich war dabei, jedenfalls nahebei, und hatte – was wohl? Keine Ahnung.

La nave va
6

ASKEMATA nenne ich Aufzeichnungen, die sich einer beharrlichen täglichen Befassung verdanken und dabei über die Schwelle gehen, die das Begreifliche vom Unbegreiflichen trennt. Solche Aufzeichnungen gibt es viele, es handelt sich um halb verborgene Zeugnisse des Geistes, der niemals zur Gänze resigniert, auch wenn die Lebensumstände es ihm nahelegen. Manche nützen dafür die Dämmerstunden, ein gefülltes Glas neben sich, selbst Halbschlaf kann genehm sein, denn die Schwelle, die Schwelle ist immer da, es scheint, als müsse der Einzelne sich an sie erinnern, aber das ist eine Täuschung.

›Die Welt hat nichts zu bedeuten‹ – ist das wahr? Natürlich nicht, es ist ein Märchen, das hinter keinem der Märchen, die sonst über sie erzählt werden, zurücksteht. Es kann nicht wahr sein, weil es das – erwünschte, ersehnte – Ende der Wahrheit bedeutet, zu der ›wir‹ bekanntlich unterwegs sind. Wer unterwegs ist, der wird auch müde und möchte sich einmal die Füße vertreten. R hingegen … – ab jetzt nenne ich ihn R und Sie wissen Bescheid –, R ist blitzwach und stets bei den Sachen, so wie die Philosophie einst empfahl, bevor sie zur Konstruktionskunde verkam. Ich stelle mir R in seiner Umgebung, umgeben von den Kreaturen seines Projekts, einsam vor, nicht im sentimentalen Sinn, aber isoliert genug, um dem Typus des Melancholikers zu entsprechen, unter dem ich ihn ohnehin einreihte, als er für mich nichts weiter war als ein Bekannter, mit dem ich eines Tages aus einem ungeklärten Impuls heraus Freundschaft geschlossen hatte.

Was mich angeht … ich musste die Schwelle zweimal passieren, das erste Mal als Gast im Hause Leckebusch, das zweite Mal veranlasst durch Rs Manuskript – ich wähle diese Bezeichnung, weil die Tätigkeit des Schreibens, durch jede Vermittlung hindurch, ein Werk der Hände bleibt. ›Veranlasst‹, nachdem das Wesentliche daran, die Blockade, sich am Ende als zielführend erweisen sollte, auch wenn das eigentliche Ziel sich weit draußen befindet und nicht gestört werden möchte.

Party bei Leckebusch

Party bei Leckebusch
1
Renate Solbach: Figur 12
Die Terrasse

Wäre ich noch im Zweifel gewesen, ob ich wirklich geschellt hatte, da es hinter der Haustür ungewöhnlich lange ruhig blieb, so hätte mich die Erscheinung des Hausherrn zusätzlich an der Hausnummer irre werden lassen können, so sehr unterschied sie sich von dem Bild des Philosophen, das ich mit mir herumtrug. Professor Leckebusch – denn er war es, der mir mit einem abwesenden Lächeln die Hand reichte – verfügte weder über das vielleicht etwas übertrieben würdige Aussehen Platons auf Raffaels Schule von Athen noch über die mir aus meiner Heidelberger Gymnasiastenzeit geläufige, lebhaft wissende Physiognomie Kuno Fischers, der seinerzeit eher durch den platten Hausnamen Zweifel an seiner denkerischen Statur genährt hatte. Im Hinblick auf die äußere Erscheinung Professor Leckebuschs hingegen signalisierte mir die klar gescheitelte Frisur vorerst nur, dass ich vor Elisabeths Ehemann stand, der, wie er ebenso spitz wie wortreich ausführte, am heutigen Abend seine Studenten früher als gewöhnlich entlassen hatte, da er einige seiner Kollegen und Mitarbeiter zum Essen erwartete.

Party bei Leckebusch
2
Der Faun

Elisabeths anfangs von mir so bestimmt ausgeschlagene Einladung hatte ich also doch noch angenommen, weniger aus Neugier oder um ihr auch einmal in ihrem häuslichen Kreis zu begegnen, als vielmehr, um überhaupt die Verbindung mit ihr zu halten. Denn wenn ich ehrlich sein soll, so war sie seit jener Nacht aus meinem wie aus Rs’ Gesichtsfeld verschwunden, so dass die angestrebte Übergabe im nachhinein als Fehlschlag angesehen werden musste. Herr Leckebusch geleitete mich durch einen langen Flur und das angrenzende Wohnzimmer auf eine Terrasse hinaus, auf der mir, unmittelbar neben dem mich schmerzhaft durchzuckenden Lächeln der Gastgeberin, ein mittelalter Mann mit einem pechschwarzen, weiß durchwirkten Bart entgegenblickte. Die Erscheinung frappierte mich. Das lag überwiegend am Gesichtsausdruck, der sich buchstäblich in zwei Hälften zerlegte. Während die Mundpartie einen gepressten, säuerlich-ironischen Zug zur Schau stellte, verströmte der Anblick der durch die randlose Brille größer und schon ein wenig verquollen wirkenden Augen jenen Eindruck durchdringender Güte, den wir von einem Guru oder einem Scharlatan erwarten, der uns im nächsten Augenblick sagen wird, welcher Wurm an unserer Seele nagt und wie wir uns am besten von ihm befreien können. Aus der Zusammenschau der beiden Hälften entstand so etwas wie ein Kunstwerk, das den Betrachter in den Bann schlug, ohne ihn weiter Sympathie oder Antipathie empfinden zu lassen – eine Faunsfigur in einem Garten, in dem es von mancherlei Personen vorwiegend männlichen Geschlechts wimmelte.

Party bei Leckebusch
3
Die Welt als Wille und Vorstellung

Übrigens musste ich die Vermutung, jener erwartungsvoll aufmunternde Blick habe die Aufforderung an mich enthalten, näher zu treten, alsbald revidieren. Ich beendete die momentane Verlegenheit, indem ich mich zwei Herren zugesellte, die das nicht weiter zu kümmern schien. Leider verebbte ihr Gespräch nach wenigen Augenblicken, so dass ich auf die Idee verfiel, mich vorzustellen.

  • ―Ach, Sie hat uns die Damenfront beschert, kommentierte der Jüngere oder auch nur Dünnere der beiden trocken und fügte maliziös hinzu: Hier finden Sie heute Abend das kleine philosophische Seminar versammelt. Das ist übrigens O-Ton Manfred. Sie wissen doch, wer Manfred ist? Denn man tau.

Sprach’s und drehte sich auf dem Absatz um.

Der andere, der schweigend seine Schuhspitzen betrachtete, stand offenbar im Begriff, sich gleichfalls aus dem Staub zu machen. Um der Gefahr zu begegnen, sagte ich ihm, wie sehr ich mich freute, an einem der legendären Mittwochstreffen im Hause Leckebusch teilzunehmen, von denen mir andeutungsweise so viel berichtet worden sei.

Party bei Leckebusch
4
Der Andere

Er brauchte eine Weile, um seinen Blick von den blitzblanken Kuppen seiner Schuhe zu erheben.

  • ―Sie scheinen da etwas zu verwechseln, mein Herr. Aber sei’s drum. Der HERR, der Sie hierher geführt hat – ich nehme an, ER hat Sie hierher geführt, wenn nicht er, dann eben ein anderer –, wird sich was dabei gedacht haben. Aber machen Sie sich nichts draus, das passiert weiß Gott nicht nur Ihnen. Am besten, Sie genießen den Abend. Übrigens sind die Petits fours der Gastgeberin entzückend geraten. Das ganze Gewäsch hier sollten Sie so schnell wie möglich wieder vergessen. Nun, wie ich sehe – er blickte mich ebenso aufmunternd wie durchdringend an –, werden Sie damit keine Schwierigkeiten haben.

Die Unverschämtheit verschlug mir im ersten Moment die Sprache. Dann keimte der Verdacht, mein Gegenüber meine es möglicherweise ernst mit seiner Aufforderung, so arglos und offen funkelte sein Blick, der überdies, nicht zufrieden damit, den meinigen auszuhalten, seitwärts zu streunen schien, wobei ihm die langen, fraulichen Wimpern auf eine nicht näher zu bestimmende Weise zur Hilfe kamen.

  • ―Aber aber, sagte ich, ich werde natürlich versuchen, das eine oder andere von hier mitzunehmen.

  • ―Viel Spaß dabei. Aber lassen Sie sich nicht erwischen.

Mein Gegenüber lachte herzhaft.

  • ―Ich denke mal, die Dame des Hauses schätzt es nicht, wenn ihr ein paar Sèvres-Tassen im Schrank fehlen.

    Ich war gekränkt. Er schien das einkalkuliert zu haben, denn statt mich stehen zu lassen, nahm er sein Glas von der Brüstung, hob es leicht und sagte:

    • ―Kommen Sie. Ich stelle Sie ihr vor.

Party bei Leckebusch
5

Da ich nicht wusste, ob ich lachen oder aufbrausen sollte – schließlich hatte ich mich gerade diskret als ihr Bekannter zu erkennen gegeben –, trabte ich hinter ihm drein. Ein Gespräch mit Elisabeth schien auch mir an der Zeit zu sein. Ich hatte schon Ausschau nach ihr gehalten. Mein Gegenüber hingegen schien Bescheid zu wissen. Wir fanden sie auf dem Rasen, sitzend, rauchend, an ihrer Seite ein junges Mädchen. Ein Bein hatte sie übers andere geschlagen; sie wirkte ernst, fast streng, und sah, mit dem passionierten Blick der Mutter, erst auf, als wir unmittelbar vor ihr standen.

  • ―Da habt ihr euch ja gefunden…

In ihrem Ton klang Strenge nach, aber schon lächelte sie. Mein Begleiter richtete einen forcierten Blick auf die beiden, wobei die Augen nach vorne traten – zum ersten Mal gewann ich den Eindruck einer enormen Kurzsichtigkeit. Was immer er vorhin betrachtet haben mochte, es waren wohl nicht die Schuhspitzen gewesen, eher etwas, das für mich nicht existierte, obwohl es gegenständlicher Natur gewesen sein musste, da sein Blick die Direktheit besaß, die wir für die wirklichen Dinge um uns herum und nicht für bloße Gedankendinge aufbringen. Jedenfalls hatte ich das bisher geglaubt, wie ich zu meiner eigenen Überraschung feststellte, denn das Wort ›glauben‹ hatte ich eigentlich für andere Dinge reserviert gedacht.

Party bei Leckebusch
6

Mein Begleiter schien durch den Umstand, dass Elisabeth uns beide so vertraut angeredet hatte, weder verblüfft noch gekränkt zu sein.

  • ―Wenn ich Ihnen raten darf, dann lassen Sie Ihren Mann mit seinen hochwichtigen Gästen hier sitzen und gehen mit Ihrer Tochter ins Konzert. Die sind doch Manns genug, um ihr Glas allein von der Küche in den Garten zu tragen – und wieder zurück, beschwichtigte er eine unbestimmte Bewegung von meiner Seite. Das ›Sie‹ klang ebenso echt wie das Bemühen, eine ›menschliche‹ Sonderbeziehung zu Elisabeth aufblitzen zu lassen, während ihre Reaktion darauf ausgesprochen mager ausfiel.

Ich wunderte mich, wie wenig begehrenswert sie auf dem Rasen aussah, es war, als verstreute sie ihre Reize mit absichtsvoll wegwerfenden Gebärden und einem Schulterspiel, das in keinerlei Richtung Entgegenkommen signalisierte. Mein Begleiter hatte offenbar nichts anderes erwartet. Er riss beide Arme hoch, presste die Handteller zusammen und schleuderte sie auseinander, was mich merkwürdigerweise an die hitzige Öffnung einer Konservendose gemahnte, die sich dann doch als leer erweist. Mit dieser Gebärde schien auch Elisabeth die Audienz als beendet zu betrachten und wandte sich wieder ihrer Tochter zu, die einen neugierig leeren Blick auf mich warf.

Party bei Leckebusch
7
Überhaupt

  • ―Wissen Sie, ich habe neuerdings eine Schlafstörung, meckerte der Hausherr – wir waren inzwischen auf die Terrasse zurückgekehrt –, gestern Abend vorm Einschlafen habe ich etwas im Felix Krull gelesen. Zum ersten Mal, ich schwöre es Ihnen. Ich kannte diesen Roman gar nicht. Kennen Sie ihn? Ich frage deswegen, weil man ja denkt, man kennt seinen Thomas Mann. Erinnern Sie sich an das Gespräch mit Professor Kuckuck? Wissen Sie auch, was da steht? Dann lesen Sie mal, Ihnen werden die Augen übergehen. Das ist unglaublich. (Er betonte die Silben sehr schnell, seine Brille saß fest, wie verhakt, ebenso das Lächeln, das sich darunter kundtat.) Das ist ... un-glaub-lich. Ich habe so gelacht, dass mir die Tränen kamen. Der Mann hält das, was er da erzählt, für Philosophie. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.

Er, das heißt Leckebusch, betonte das ›überhaupt‹ auf der ersten Silbe wie in ›Überbein‹. Sei es, dass die ungewohnte Betonung besondere Aufmerksamkeit provozierte, sei es, dass er es mit dem Betonen überhaupt übertrieb, die Wirkung auf mich bestand darin, dass ich sofort den Eindruck einer außerordentlich, um nicht zu sagen exaltiert entschiedenen Natur gewann. Der Eindruck steigerte sich noch, als er jetzt wirklich zu lachen begann, stoßweise, mit Zwischenräumen, in denen es wie abgehackt verschwand.

Party bei Leckebusch
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War das komisch? Ich stellte mir vor, wie der Philosoph vor lauschendem Publikum inmitten allzu vieler belangloser Distinktionen durch ein gezielt herausgeschleudertes ›überhaupt‹ eine Position markierte, um die Studenten aus der naturgegebenen Schläfrigkeit herauszureißen, in die seine Ausführungen sie versetzt haben mochten. Sicher berührte es sie ebenso seltsam wie mich. Nebenbei konnte ich mich an keinen Text erinnern, in dem sich Thomas Mann mit Professor Kuckuck über Philosophie unterhielt, wahrscheinlich hätte der auf Gediegenheit Wert legende Autor, zumindest nach eingehender Beratung durch Professor Leckebusch, es ›überhaupt‹ abgelehnt, sich zusammen mit einem so windigen Fachvertreter in einem Bahncoupé erwischen zu lassen. Aber so einfach lagen die Dinge ohnehin nicht. Wer immer Leckebusch war, der Wunsch, zu einem solchen Gespräch, wann immer es möglich schien, zugezogen zu werden und in ihm zu glänzen, statt sich in der Ungeduld des besserwisserischen Lesers zu wälzen, strahlte aus seinen Zügen und gab ihnen etwas Kneiferisches, das zu seiner professoralen Überlegenheitspose in offenkundigem Widerspruch stand.

›Nehmt mich‹, stand in diesen Zügen, ›warum lest ihr dieses inkompetente Zeug? Gut geschrieben, ja das mag es sein, aber um welchen Preis? Hätte der große Humanist mich ins Abteil gebeten, ich hätte ihm wirkliche Aufschlüsse geben können und er stünde jetzt nicht so blamiert da. Gebt zu, dass er sich blamiert, gebt es wenigstens zu. Und wenn ihr es nicht könnt, dann zeige ich euch jetzt, dass ihr die Blamierten seid.‹

Das setzte natürlich voraus, dass er sich des hohen Prestigewerts bewusst war, den ein solches Zwiegespräch in einem Roman Thomas Manns besaß. Diese Vermengung von Real- und Romanpersonen kannte ich nur von eher schlichten Gemütern. Da Leckebuschs Beruf eher gegen eine solche Annahme sprach, begann ich an das Vorhandensein eines besonderen Codes zu glauben, der es seinesgleichen erlaubte, sich in Abbreviaturen zu bewegen, um dennoch im Entscheidenden präzise zu sein. Letzteres musste wohl den Bereich dessen umfassen, was philosophisch einschlägig war. Man hätte daraus den Schluss ziehen können, dass seine Schlamperei gegenüber allem – vielleicht täuschte ich mich da auch –, was nicht philosophisch einschlägig war, den Philosophen zu einem ziemlich unhandlichen Zeitgenossen machte, aber von einem solchen Gedanken war ich, vornehmlich, weil er sich so banal ausnahm, vorerst weit entfernt.

Party bei Leckebusch
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Der jüngere Mann, den ich eingangs im Gespräch mit meinem Begleiter angetroffen hatte, ergriff mit einer Mischung aus Zögern und Behändigkeit das Wort.

  • ―In der Literatur kenn’ ich mich nicht so aus. Vielleicht wäre da Kollege Rosshammer der bessere Gesprächspartner.

Eine Bewegung des Kinns gab der Kompetenzzuweisung eine leicht erkennbare Richtung.

  • ―Aber Thomas Mann ist natürlich ein Fall für sich. Wahrscheinlich immer noch das Beste, was wir haben. Man sollte ihn ruhig mal wieder lesen. Doch doch, ich seh das so. Reich-Ranicki mag seine Sätze, ich persönlich weniger, aber es ist was dran. Gut, man muss sie mögen. Ein wenig altväterlich klingt das alles ja schon, Bildungsschrott, neunzehntes Jahrhundert das Meiste, ich sage ja nicht hausbacken, nein, das nun nicht. Ein Wagnerianer. Hitler war’s auch. Warum nicht? Das heißt alles gar nichts. Kennt einer der Anwesenden einen Schriftsteller mit Namen Müller? Ich frage nur so. In der FAZ vom letzten Samstag stand ein Artikel über ihn. Kann aber auch Meier geheißen haben, das ist mir jetzt im Augenblick nicht mehr so gegenwärtig. Der Mann scheint mir nicht dumm zu sein.
  • ―Müller! warf der Angenickte mit einem Nicken ein. Heiner Müller. Ganz interessanter Mann. Mir scheint, die DDR hat überhaupt die spannenderen Autoren. Man müsste dem Sozialismus nur auf die Sprünge helfen, das mit der Perspektive war nicht falsch. Naja, das Personal sollte man auch bei Gelegenheit austauschen. Wir haben genügend Leute hier, die das liebend gern angehen würden. Der Mann hat ein Stück über die alten Germanen geschrieben, Varus, Varus, darauf stehen die Genossen Honecker und Tischbein vermutlich. Was das allerdings soll...
  • ―Varus...? Der Angenickte schmeckte den Namen wie ein unbekanntes Gericht und ließ es zurückgehen: »Das kann ich mir, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellen. Wenn, dann ist es natürlich genial. Wer macht die Inszenierung?
  • ―Das, das...

Party bei Leckebusch
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Heftig fiel ihm ein älterer Kollege ins Wort.

  • ―Junger Freund, Sie machen sich da einer Namensvertauschung schuldig. Wahrscheinlich – ich sage mal wahrscheinlich, den Rest können Sie mit sich selbst ausmachen – wahrscheinlich denken Sie an Eugen Stuhlbein, Abgeordneter der Volkskammer von ’63 bis ’65, genauer gesagt März ’65, als man nämlich sein Auto vollständig ausgebrannt in der Nähe von Hannover auf einem Autobahn-Parkplatz fand. Hätten Sie’s gewusst? Und jetzt kommt der Clou: das Ganze passierte im Wahlkreis des nachmaligen Staatssekretärs Unger, genannt ›die Möwe‹. Sie kennen Unger noch aus der Zeit der Ostverträge. Der Unger. Klickt’s? – – Zufall? Der Historiker sagt: ja! Aber es kommt noch besser: Der ominöse Parkplatz liegt in der Nähe der Ortschaft Gauweiler – reiner Gleichklang, meine Herrschaften, reiner Gleichklang! – die zum ersten Mal 1381 urkundlich erwähnt wird, von der man aber weiß, dass Otto der Große dort ein paar lokale Häupter wegen Verrats hat hinrichten lassen – wenn Sie mich fragen, ein richtiges kleines Gemetzel. Auch hier bleibt die Schuldfrage dunkel. Aber ich habe Sie unterbrochen, Sie wollten etwas anderes sagen. Ein Stück über die Schlacht im Teutoburger Wald? Das nenne ich mutig.

Er wandte sich an die Umstehenden.

  • ―Wir gehen ja heute davon aus, dass sie in dieser Form nicht statt gefunden hat. Sie wissen das? Nein? Wie erkläre ich das auf die Schnelle?« Die kreisende Kopfbewegung verriet, dass er nach Hölzchen oder Ähnlichem suchte, um den wahren Hergang anschaulich vor aller Augen auszubreiten. Doch boten sich keine geeigneten Objekte an.

    Stattdessen erhielt er Schützenhilfe von unerwarteter Seite: Leckebusch räusperte sich.

    • ―Ich weiß, was Sie meinen. Es hat ein paar Scharmützel gegeben, der Rest ist vermutlich Mythos. Die wirkliche Schlacht wurde um das Militärbudget auf dem Kapitol geschlagen.
    • ―Sie wissen das? Und ich hatte immer gedacht, Philosophen –

    Leckebusch strahlte geschmeichelt.

    • ―Ich hab’s deduziert. Ich kenne doch unsere Historiker.

    • ―Da haben Sie auch wieder recht, feixte der Kollege von der Historikerfront und lachte dann schallend, als habe er dem Gelächter, das schon seit längerem in ihm rumorte, endlich Erlaubnis gegeben, Gassi zu gehen. Sein rötliches Gesicht verriet den Kasper.

      • ―Aber was Sie mir bei Gelegenheit verraten müssen: Was macht ihr Philosophen eigentlich, wenn einmal neue Dokumente auftauchen? Immer wenn ich ein philosophisches Buch aufschlage, denke ich: die haben alles, die wissen alles, die brauchen nichts. Kaum lese ich ein historisches Buch, weiß ich: da sind Lücken, hier mogelt er, das kann man auch anders lesen, darüber wissen wir gar nichts. Sokrates zum Beispiel: der Mann hinterlässt nichts, keine Aufzeichnungen, keine amtliche Spur. Natürlich, Platon kennt ihn in- und auswendig, aber Xenophon ebenfalls, und wenn ich den einen lese, kann ich den anderen vergessen. Philosophen ficht das nicht an. Ein Torso-Sokrates kommt bei ihnen nicht vor. Der Mann hat schließlich die Philosophie erfunden. Nein, mein Lieber, ich glaube Ihnen das nicht…
      • ―Das kann ich Ihnen sagen, mein Lieber. Der Mann Sokrates, dieser Mann, wie Sie sagen, über den wir nichts wissen, obwohl wir auch wieder eine ganze Menge über ihn zu wissen glauben, dieser Mann hat – nennen Sie es Zufall, nennen Sie es Geschick – die Dialektik entdeckt. Sie merken, ich persönlich spreche von Entdeckung und nicht von Erfindung. Denn was ist die Dialektik? Ich sage es Ihnen: es ist das dìa-légein, das Auseinander-Lesen der Worte. Was meinen wir damit? Sokrates hat entdeckt, dass die Wörter zerlegbar sind, dass sie sich erst in der Bewegung des Auseinander als synthetische Einheiten begreifen lassen, also als welthaltig. Diese Bewegung ist es eigentlich, die wir mit dem Wort ›dìa-logos‹ bezeichnen. Sokrates hat den Marktplatz zum Ort des Logos gemacht, zu einem Ort der vernünftigen Aus-Einander-Setzung: im Grunde ist das eine unglaubliche Geschichte. Und darum wissen wir ganz genau, wer dieser Mann war. Wir erkennen seine Sätze in den Sätzen des Platon mit eben solcher Unfehlbarkeit wieder wie den Begriff Baum in der Erle dort unten an der Straße, falls es sich um eine solche handeln sollte. Vergessen Sie Xenophon! Xenophon lebt noch im Mythos, er weiß gar nicht, wovon Sokrates spricht.

Party bei Leckebusch
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Eine Veränderung war während des kleinen Vortrags mit dem Sprecher vorgegangen: das gereckte Kinn hatte er zurückgenommen, der Kopf stand schief, die Augen fixierten den Angesprochenen mit einem dunklen Ernst, den man unergründlich hätte nennen können, wenn er nicht durch den eher bittenden Beiklang der langsam, fast mühsam formulierenden Stimme abgebogen worden wäre.

Diese Art von Autorität war mir neu. Ich hätte gern gewusst, was seine Studenten davon hielten, aber der Gedanke war mir nicht wichtig genug, um mich länger als ein paar Sekunden bei ihm aufzuhalten. Stattdessen wurde ich selbst unwillkürlich zum Studenten. Ich hätte gern mehr gehört und dennoch war mir das, was ich gehört hatte, schon beinahe zuviel.

Mein Begleiter, der sich bislang zu keiner Äußerung hatte hinreißen lassen, räusperte sich und war verschwunden. Stattdessen hielt sein jüngerer Zwilling neben mir und redete mit leiser, wiewohl sonorer Stimme mehr an mir hin als zu mir.

  • ―Ein bisschen schwül heute Abend. Wenn wir nicht schon im Freien stünden, müsste mal einer das Fenster aufmachen. Das war doch eindrucksvoll, finden Sie nicht? Hörte sich an wie Philosophie. Manchmal fürchte ich fast, das ist Philosophie. Gottseidank sind meine analytischen Freunde von jenseits des Kanals da anderer Ansicht. Aber die liest unser Manfred ja nicht. Wäre nicht schlecht, wenn er es einmal täte; vielleicht könnte er noch was lernen. Wahrscheinlich reicht sein Englisch dafür nicht aus. Im Grunde ist er nie über die Lektüre der Differenzschrift hinausgekommen. Mögen Sie Hegel? Nein? Sieh einer an. Das klingt schon mal ganz vernünftig, hätte ich nicht gedacht. Nun werden Sie nicht gleich verlegen. Ich sage meinen linken Freunden immer: die Hegelei ist das Elend des Sozialismus. Lest die Analytiker! Aber sie glauben mir nicht. Übrigens können Sie das alles schon bei Christian Hermann Weiße nachlesen, die Sache mit den Analytikern natürlich ausgenommen. Diese Hegelianer wären doch völlig vom Kahn, wenn sie sich einmal dazu durchringen könnten, ihre Texte zu lesen.

Party bei Leckebusch
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Der Historiker hatte sich aus einer kurzen Benommenheit befreit.

  • ―Aber eins müssen Sie mir verraten, lieber Leckebusch. Wir haben das natürlich in der Schule gelernt, mit Sokrates beginnt das wissenschaftliche Denken, nun ja, mehr oder weniger, später haben wir dann Nietzsche gelesen und fanden das dann nicht mehr so gut: Wer hat nun recht, Sokrates oder Nietzsche? Ich persönlich als alter Fahrensmann bevorzuge natürlich Sokrates, das bin ich der Wissenschaft, die ich vertrete, zugegebenermaßen schlecht vertrete, schuldig, obwohl die Philosophen ihr übel mitgespielt haben – ja doch, ich nehm’s Ihnen ja nicht übel, Kollege, heute nicht! –, aber Sie als Philosoph können Ihren Nietzsche doch nicht einfach wegschnipsen? Ich meine, wer hat dann recht?

  • ―So wie der Leckebusch seinen Platon liest, macht er den Sokrates noch zum Dekonstruktivisten der ersten Stunde, brummte der Literaturwissenschaftler. Wohl dem, der die Zerlegekunst so meisterlich beherrscht. Woran mich das erinnert? ›Zur Rechten sah man wie zur Linken / Einen halben Platon heruntersinken.‹ Wie gut, dass der alte Bloch noch seinen Scheffel drauf hatte. Das ist heute praktisch untergegangenes Kulturgut.

Die Sätze klangen nicht entfernt so scharf, wie der Wortlaut es nahelegte, sie kamen eher hochgemut daher, durch den ganzen Mann ging ein Wogen, das ihn größer erscheinen ließ als noch vor einem Augenblick.

  • ―Apropos Dekonstruktivismus, ließ sich augenblicklich mein Nachbar vernehmen, Vorsicht! Ich habe da sowas läuten hören. Ihr Kollege de Man hat sich ja in den Vierzigern selbst ein Bein gestellt. Das wär’s dann wohl mit dem Dekonstruktivismus. Ich hätte nicht geglaubt, dass die Literaturwissenschaftler auch so tief in der braunen Brühe stecken. Die belgischen Faschisten gehörten ja wohl nach allem, was man hört, zum übelsten Abschaum. Aber das braucht Sie natürlich nicht zu berühren. Meine amerikanischen Freunde…

Die sonore Stimme zischelte ein wenig.

  • ―Das berührt mich sogar außerordentlich, junger Mann, wogte der andere. Was den Fall DeMan angeht, müsste man allerdings unterscheiden…
  • ―Nun, wir haben da reichlich Erfahrung gesammelt. Ich persönlich finde, dass man nach dem Krieg einfach versäumt hat, sich dieses Problems zu entledigen –«
  • ―Final?« – –

Party bei Leckebusch
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  • ―Nietzsche, mein Freund – ich verstehe gut, dass Sie ihn ins Gespräch bringen –, Nietzsche hat mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun.

Hier war es wieder, Leckebuschs ›überhaupt‹.

  • ―Ich glaube, Sie erliegen da einem großen Missverständnis. Nietzsche ist ein Rhetoriker, der seinen Platon genau gelesen hat. Nietzsche denkt nicht antisokratisch. Das wäre eine ganz törichte Lesart. Der Übermensch ist eine im Wesen ursokratische Figur. Sie müssen den Zarathustra nur mit dem Kriton zusammen-lesen: ›Gemeinschaftlich, du Guter, wollen wir das überlegen; und hast du etwas einzureden, wenn ich rede, so rede ein, und ich will dir folgen. Wo aber nicht, so höre auf, mir immer dieselbe Rede zu wiederholen.‹ Hören Sie die sokratische Stimme? Sie müssen sie hören, sonst bleiben diese Texte ganz leer für Sie. Auf den Notschrei des Verstandes, der in seine Aporien verstrickt vor dem Leben versagt, antwortet der Lockruf der Vernunft, der in nichts weiter besteht als in der Befreiung des Denkens zu sich selbst als Ausdruck des Lebens und nicht als seine Gegenmacht. Hier haben Sie es wieder, das ›dìa-légein‹, aber diesmal als welthistorischen Prozess. Davon hatte Sokrates natürlich überhaupt keine Vorstellung. Das ist nicht griechisch, das ist europäisch im besten Sinn. Aber der Grundgedanke Nietzsches ist völlig griechisch…

Party bei Leckebusch
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Im Archipel

Ich würde übertreiben, wollte ich behaupten, dass mich das Gespräch mit seinem name dropping und seinen offenbar von Eitelkeit diktierten Interventionen verwirrt hätte. Wohl aber hatte es eine innere Hitze in mir erzeugt, deren Herkunft mir unklar blieb. Inzwischen war ich davon überzeugt, dass die anderen Leckebusch mit seinem getragenen und ungemein bemüht wirkenden Vortrag, mit seinem Kopf-schief-Legen und seinem Blick, der wie ein Ausrufezeichen das Gesagte dem zufälligen Gegenüber förmlich in den Kopf stieß, im Herzen für eine komische Figur hielten. Wahrscheinlich dachte ich so, weil es mir nicht anders ging. Aber das machte nichts: es wurde aufgefangen und neutralisiert durch die ungemeine Wertschätzung, die alle sich selbst entgegenbrachten und die nicht zuließ, dass einer der ihren das Gesicht verlor. Diese allgemeine Getragenheit, die man auch als Schwerfälligkeit hätte bezeichnen können und die es wohl auch war, diese Formuliersucht, die nicht aus persönlicher Schlagfertigkeit, sondern aus einer jahrzehntelangen Routine des Nach-den-Worten-Suchens erwuchs, in der neben den Fundstücken auch die Suchbewegung zu den ausgestellten Gegenständen gehört, musste wohl etwas mit der akademischen Würde zu tun haben.

Diese Würde blieb nicht auf die Anwesenden beschränkt, sie dehnte sich unter den Perioden auf so unterschiedliche, in fernen Vergangenheiten beheimatete Figuren wie Sokrates oder Nietzsche aus, die ich aus weit auseinander liegenden Lektüren kannte. Plötzlich rückten sie auf eine erregende und künstliche Weise zusammen, nicht etwa wie Zierfische in einem Aquarium, eher wie zufällig abwesende Kollegen, über deren Bedeutung man sich in der Forschergemeinde noch nicht recht einigen konnte und zu denen man den direkten Kontakt scheute, vermutlich, um nicht von den eigenen Schülern als Lernende oder bestenfalls Adlati dazustehen, was ich gut verstehen konnte. Dennoch war es seltsam, diese freilebenden Wesen, deren schiere Geistesgröße jeden Gedanken an einen gemeinsam von ihnen geteilten Wissensstall zu verbieten schien, sich ein handliches Medium teilen zu sehen, in dem sie alle miteinander ihr Auskommen fanden. Ich merkte, die Vorstellung zog mich an. Gleichzeitig stellte ich fest, dass das Gehörte mich eigentümlich kalt, nein, erkalten ließ.

Party bei Leckebusch
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Hätte ich nach Gründen dafür gesucht, dann wäre ich wahrscheinlich in dem, was ich für offenbares Gerede halten musste, fündig geworden. Auch ich hatte einiges über den Fall des soeben erwähnten Literaturwissenschaftlers gelesen. Die Zeitungen hatten den Skandal nach allen Regeln der Kunst ausgeweidet, vermutlich einfach deshalb, weil er in die Sauregurkenzeit fiel. Der Mann, dessen Name wie ›démon‹ oder ›demon‹ klang, je nachdem, ob man ihn wie mein Gesprächspartner ›französisch‹ oder wie der Literaturwissenschaftler ›englisch‹ aussprach, ein offenkundig älterer und neuerdings auf Grund gewisser Interessenverschiebungen, von denen ich nichts verstand, weltweit gefeierter amerikanischer Gelehrter, hatte als junger Mensch in Belgien während der Okkupationszeit ›arisch‹ imprägnierte Artikel für eine Zeitschrift geschrieben. Die Bewegung, die ihn nach oben trug, brachte im Nachgang auch das Geheimnis an den Tag. Ich glaubte die journalistische Mentalität einigermaßen zu kennen und fand ich es daher nicht besonders bemerkenswert, dass man einen Sommer lang in endlosen Artikeln die gerade noch bewunderte Theorie, um die sich eine ›Schule‹ gebildet hatte, als späten Ausfluss einer frühen Gesinnung zu erklären unternahm, die man aus den zitierten Essays mehr erahnen als entnehmen konnte. Das war der Lauf der Welt, man konnte sich ins Getümmel stürzen und dabei die absonderlichsten Blessuren empfangen oder sich schweigend seinen Teil denken.
Zu meinem nicht geringen Erstaunen hatte der Jungwissenschaftler, der mir augenblicklich nicht von der Seite ging, diese Bereichsverwischung – andeutungsweise und dadurch für jeden Gegeneinwurf unerreichbar –, nicht nur wie selbstverständlich mitvollzogen, sondern durch den Hinweis auf die besonders anrüchigen belgischen Faschisten mit einem moralisch-politischen Firnis versehen, der den ›Fall‹ drastisch versiegelte und jede weitere Untersuchung gegenstandslos machte. Rosshammer steckte augenscheinlich in der Klemme: einerseits, so vermutete ich, befand er sich noch im Sog der von seinem transatlantischen Vorbild inaugurierten Moderichtung – der Sokrates-Einwurf hatte so etwas aufblitzen lassen –, andererseits sah er sich durch den ›Fall‹ überraschend von den Quellen der von ihm vertretenen Lehrmeinung abgeschnitten, was das geäußerte Bedürfnis nach Differenzierung ebenso lebhaft wie matt aussehen ließ. Offensichtlich kam das seinem Persönlichkeitstypus sogar entgegen: die lebhafte Mattigkeit stand ihm gut. Sie stand ihm so gut, dass sie unmittelbar als Teil seines Wesens durchgehen konnte. Jedenfalls hatte er es nicht nötig gehabt, sich zu winden oder Ausflüchte zu ersinnen; eher schien er mit einer gewissen Grundheiterkeit auf beiden Schultern zu tragen.

Party bei Leckebusch
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Als verwirrender empfand ich die Person des Hausherrn, dessen gespreizte Intelligenz einen ernst zu nehmenden Kern anzudeuten schien, ihn aber durch die Maskerade des ›intensiven Denkers‹ der Lächerlichkeit – oder etwas Vergleichbarem, für das mir noch die Worte fehlten – preisgab. Dass seine Sokrates-Peroration gleichermaßen als Hegel, dem Dekonstruktivismus und Nietzsche verpflichtet aufgefasst werden konnte, kam mir zwar seltsam vor, entbehrte aber nicht jeglicher Logik: für meinen Nachbarn war die Hegelei der Inbegriff des überkommenen Philosophierens, dem unter Zuhilfenahme eines auswärtigen Angebotes Paroli geboten werden musste. Eher intuitiv hatte ich erfasst, dass Sokrates dabei nicht eigentlich zur gegnerischen Seite zählte, sondern vor den unzüchtigen Angeboten des Älteren in Schutz genommen wurde, wobei der Schutz sich auf ein ironisches Geplänkel beschränkte, weil in Bezug auf diese sehr alten Geschichten ohnehin jeder sein Recht behaupten konnte. Auf der anderen Seite hatte der Literaturwissenschaftler erkennbar naiv agiert, als er mit verhaltenem Stolz die welthistorische Neuheit der von ihm vertretenen Richtung gegen den angeblichen Versuch herauskehrte, sie bereits am Ursprung des wissenschaftlichen Denkens anzusiedeln. Die Differenz zwischen Sokrates und Hegel war ihm scheint’s völlig schnuppe.
In gewisser Weise bediente sich auch Rosshammer eines ›auswärtigen Angebotes‹, um der Gegenmacht einer Tradition zu trotzen, die wohl bereits gebrochen war, jedoch weiterhin eine Autorität beanspruchte, die durch keine gleichwertige oder sogar überlegene Instanz relativiert werden konnte. Es lag daher auf der Hand, dass einer, der in persona nach der höchstmöglichen Autorität griff, sich und die von ihm bevorzugten Sprachregelungen, so merkwürdig sie sich auch vor dem gewählten Hintergrund ausnehmen mochten, in den weiten Mantel dieser Tradition hüllen musste.
Wenn Leckebusch also Sokrates und Nietzsche als die beiden Enden dieser Tradition auf eine mir recht gekünstelt erscheinende Weise miteinander verband, so gab er damit einem sozialen Bedürfnis Raum, das von den anderen unmittelbar begriffen und durch die Zurschaustellung ihrer jeweils eigenen Bedürfnislage beantwortet wurde. Und ich begriff, dass mein jüngerer Gesprächpartner, mit dem zusammen ich mich inzwischen von der Gruppe entfernte, einer von Leckebuschs zwei Assistenten sein musste, über deren Existenz mich Elisabeth früher ins Bild gesetzt hatte.

Tronka

Tronka
1
Renate Solbach: Figur 13
Schneewittchensarg

Auf der Suche nach Elisabeth wanderte mein Blick über den Rasen, den die beginnende Dämmerung weitläufiger erscheinen ließ. Dabei begegnete er ein weiteres Mal der Faunsfigur, die mir beim Eintritt aufgefallen war und gegenwärtig wie eine freistehende Statue regungslos neben einem blühenden Rhododendron Gedanken nachhing, deren Natur ich teils wegen der Entfernung, teils auf Grund mangelnder Einfühlung nicht ergründen konnte.

  • ―Kollege Ruffmann, belehrte mich Leckebuschs Assistent, der meinem Blick gefolgt war. »Sein Ruff hat ein wenig gelitten, seit seine Assistentin ein Kind von ihm erwartet. So jedenfalls melden es die Sekretärinnen, die gewöhnlich gut unterrichtet sind. Vielleicht ist ihnen in diesem Fall auch die eine oder andere Pointe entgangen. Wenn’s stimmt, fällt die Habilitation quasi mit der Niederkunft zusammen. Das nenne ich sokratischen Geist. Man könnte es auch eine Interessenkonfusion nennen. Seltsames Wort, gar nicht so einfach zu analysieren. Konfus ist die Sache ohnehin. Bis dato konnte man den hoffnungsvollen Vater mehr im Kontext der örtlichen Schwulenbewegung besichtigen. Die Jungs sind ganz gut, nebenbei bemerkt, ich meine jetzt politisch. Ein bisschen schwach in der Theorie, aber die Anträge im Bezirksrat sind entzückend. Das beste, was diesem Kaff in Jahrzehnten passiert ist.«
  • ―Welches Fach?
  • ―Ruffmann? Wer das so genau wüsste! Fragen Sie ihn! Er hält es mit den Franzosen, Derrida und Konsorten – Veuve Cliquot, falls Sie meine schlichte Auffassung hören wollen. Wenn’s hoch kommt! Aber ich kenn’ eine ganze Reihe von Kollegen, die das Zeug schon am Vormittag saufen, ich vermute mal, weil’s so schön prickelt. Er ist nicht allein, unser Ruffmann. Aus ehrenwerten Motiven, wie ich meine. Im Grunde handelt es sich um fehlgelaufene Sprachanalyse, mit Saussure und Heidegger im Schneewittchensarg auf dem Roten Platz vor der Sorbonne. Wahrscheinlich schreibt man so, wenn man zweihundert Jahre lang den Descartes auf der Schule eingetrichtert bekommt. Dabei sind sie unwahrscheinlich progressiv. Unsere hermeneutischen Leisetreter holen sich doch erst beim heiligen Schelsky die Absolution, bevor sie den Griffel in die Hand nehmen. Ob’s der Linken hilft? Ich habe da so meine Zweifel.
  • ―Worüber haben Sie eigentlich promoviert?

Meine Frage zielte ein wenig ins Blaue.

  • ―Gut gebrüllt, Löwe. Aber ich muss Sie doch ein wenig einweisen. Erst einmal sollten Sie mich fragen, bei wem ich die Arbeit geschrieben habe. Gut gut, in meinem Fall ist das vielleicht nicht so wichtig. Als zweites käme dann aber der genius loci. Sie müssen schon wissen, woher einer kommt. Heute würde ich sagen, es war gewissermaßen ein Fehler, in Heidelberg zu promovieren. Natürlich wurden wir geblendet. Man hat uns den Deutschen Idealismus verkauft, und keiner hat sehen wollen, dass die wirklichen Fortschritte währenddessen auf der Analytikerschiene stattfanden. Als ich es während der Promotion dann merkte, war es im Grunde zu spät. Sie können die ersten zweihundert Seiten komplett überschlagen, wenn Sie mal reinschauen, danach kommen ein paar ganz leidliche Sachen. vielleicht täusche ich mich ja auch.

Tronka
2

Hier flammte sein Misstrauen auf.

  • ―Warum interessiert Sie das?

Ich beschloss ehrlich zu sein.

  • ―Sehr einfach. Falls Sie über den Begriff der Episteme bei Platon geschrieben haben, dann heißen Sie Einhart und vermutlich hört Ihr Kollege hier auf den Namen Tronka.

Den letzten Satz hatte ich mit Absicht lauter gesprochen, einerseits aus einer leichten Verwunderung, vielleicht auch aus einem jäh aufsteigenden Ärger heraus, dass, von dem bizarren Auftritt bei Elisabeth einmal abgesehen, ich bisher niemandem vorgestellt worden war, andererseits, um den Urheber dieses Auftritts auf uns aufmerksam zu machen, der gerade ohne Punkt und Komma auf Elisabeths Tochter einredete. Wirklich wirbelte er herum, bedeutete mir pantomimisch, ich möge mich bitte einen Augenblick gedulden und wandte sich ebenso abrupt wieder seiner Gesprächspartnerin zu. Wenn das als Einladung zu einem Gespräch aufzufassen war, so glich es in seiner Struktur der barschen Aufforderung durch einen Kioskbesitzer, man möge sich doch gefälligst in der Schlange einreihen, was, falls man noch gar nicht daran gedacht hatte, sich bei ihm zu bedienen, einen gewissen Werbeeffekt haben mochte. Obwohl ich mich keineswegs anzustellen gedachte, gehorchte ich doch. Wie vorhin hatte mich ein schneller, scharfer Blick der jungen Dame getroffen, die mit aufgerissenen Augen dem auf sie einstürzenden Katarakt standhielt.

  • ―Ich kann Ihnen da im Grunde nicht raten, das müssen Sie selber entscheiden. Waren Sie schon mal beim Jugendamt? Nein? Das war vielleicht ein Fehler, die haben große Erfahrung in diesen Dingen, Sie sollten das nicht unterschätzen. Ach wissen Sie, das sagt sich so leicht, aber die kennen natürlich ihre Pappenheimer. Natürlich haben Sie Recht, abnehmen kann Ihnen in diesem wirklich verwickelten Fall – mein Gott, Sie haben aber auch ein Händchen! – niemand etwas, das müssen Sie ganz alleine... Und mit Ihrer Mutter wollen Sie nicht sprechen? Sie weiß schon alles? Na dann! Sie dürfen ihr das nicht übel nehmen, Mütter neigen natürlich im gegebenen Fall, ach ja! Sie ist ein bisschen ängstlich, stellen Sie sich vor, Sie wären in ihrer Situation, selbst für jemanden wie Sie wäre das kein Pappenstiel. Also ich würde erst einmal in Ruhe abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, nichts überstürzen, manchmal zeigt sich dann schon ein Lichtchen, ein kleines feines Leuchten, Sie wissen schon. Ist er denn gut? Also Sie müssen mir die Frage jetzt nicht beantworten, wo kämen wir da hin. Nehmen Sie’s mir nicht übel, war nicht so gemeint. Ich bin so ein Typ, mit mir könn’ Sie Pferde stehlen.

Tronka
3

  • ―Tronka mein Name« – er hielt mir die Hand hin –, Sie müssen entschuldigen, aber die junge Dame ging vor. Nun aber zu Ihnen. Sie fühlen sich gut? Ich sah Sie nur beim Leckebusch stehen und dachte mir gleich, dass Sie damit Schwierigkeiten haben würden. Janein, natürlich nichts Ernsthaftes, wie kommen Sie darauf? Nichts dergleichen möchte ich auch nur im Traum angedeutet haben. Im Gegenteil: Ich sehe Ihnen an, dass Sie sich köstlich amüsiert haben. Welche Masche hat er heute drauf? Die Sokrates-Masche oder die Hegel-Masche? Janein, einen Unterschied gibt es da schon. Die Hegel-Masche hat den Vorteil, dass er weitschweifiger werden kann. Stellen Sie sich so ein System wie das Hegelsche einmal in seiner ganzen ausladenden Breite vor, da kann einer leicht ins Schwitzen kommen. Und dann das Absolute! So ein armer C4 muss da irgendwann rammdösig werden, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Nein, Leckebusch nicht, der hat die Sache im Griff. Ja man könnte sagen, er hat es inne. Was immer das heißen mag. Oder es ihn. Sehen Sie da, unter uns, einen Unterschied? Janein, das würde mich ernsthaft interessieren. Also ich denke, wenn einer so weit gekommen ist, dann hat er für alle Fälle ausgesorgt. Der hat seinen Hegel für jede Gelegenheit. Und nicht nur für jede Gelegenheit: für jede Stimmung, für jedes Wehwehchen, für jede Steißgeburt. Ein bisschen Dialektik und wir werden das Kind schon schaukeln. Köstlich!
  • ―Ich schätze, Sie mögen Hegel nicht.
  • ―Aber wo denken Sie hin! Hegel ist großartig, Hegel ist eine Wucht! Lesen Sie die ersten dreihundert Seiten der Phänomenologie des Geistes und Sie können alles vergessen, was man Ihnen vorher gesagt hat. Der Mann war wirklich einsame Klasse. Danach kommt nicht mehr viel. Ach wissen Sie, man darf es dem alten Hegel nicht krumm nehmen, dass er die Flaschen in alle Ewigkeit mit Stoff versorgt hat, einer musste es schließlich tun. So ist wenigstens ein Quäntchen Vernunft in dem, was sie sagen. Aber um welchen Preis! – Was haben Sie?

Tronka
4

Über den Rasen – es däm­mer­te in­zwi­schen stark und auf der Ve­ran­da brann­ten die Lich­ter – ging, nein schritt Eli­sa­beth, ohne das Trei­ben auf der Ter­ras­se zu be­ach­ten. Im Schat­ten des Rho­do­den­dron schneuz­te sich ge­räusch­voll, so dass es noch auf die Ent­fer­nung zu hören war, der Faun und folg­te ihr.

  • ―Ist Ihnen nicht gut? War­ten Sie, ich brin­ge Ihnen einen Stuhl, wir set­zen uns dort in den Schat­ten. Ich seh es Ihnen an, Sie lei­den ein biss­chen unter der Schwü­le. Manch­mal ist das Klima hier ganz schön an­stren­gend. Darf ich Sie fra­gen (Sie kön­nen die Ant­wort na­tür­lich ver­wei­gern, das ist aus­schlie­ß­lich Ihre An­ge­le­gen­heit): Wann waren Sie das letz­te Mal in Flo­renz? Vor fünf Jah­ren? Das ist zu lang. Ent­schul­di­gen Sie, aber da muss ich Sie ganz bru­tal be­leh­ren. Ver­ges­sen Sie Hegel, ver­ges­sen Sie Le­cke­busch! Ich kann ver­ste­hen, wenn Sie keine Lust haben, sich vor den Uf­fi­zi­en die Beine in den Bauch zu ste­hen, ob­wohl sie na­tür­lich ein Muss sind. Gehen Sie nach San Marco und zie­hen Sie sich die An­ge­li­cos rein! In Santa Maria del Car­mi­ne wer­den Sie kein Glück haben, die Ma­sac­ci­os wer­den ge­ra­de re­stau­riert – was auch nötig war, mein Gott –, aber Fra An­ge­li­co ist Spit­zen­klas­se. Und ver­ges­sen Sie um Got­tes wil­len nicht das Barg­hel­lo-Mu­se­um.

Vergnügt streckte er sich auf seinem Stuhl und strahlte mich an. Dann wandte er sich ab, was mir Gelegenheit gab, die Falte zu bemerken, die sich vom schweren Lid fast bis auf den Wangenknochen zog. Selbstverständlich kannte ich die Uffizien. Wie zum Teufel hatte er es fertiggebracht, meine Erinnerung neben den von ihm in Aussicht gestellten Genüssen dünn und fade aussehen zu lassen, als sei ich mein Leben lang durch Museen geschlendert, nur um ahnungslos alle Exponate, die wirklich zählten, verpasst oder gerade dasjenige an ihnen, worauf es ankam, übersehen zu haben? Betont beiläufig erwähnte ich mein schon länger zurückliegendes Erlebnis mit der mediceischen Venus. Am hohen Vormittag – also zur Stoßzeit! – hatte ich mich mit der steinernen Schönen allein im Raum befunden. Nur einen Augenblick, aber die Geschichte ging weiter. In die vom Geschlurre der Menge umsponnene Stille taperte eine uralte Frau herein, das Enkelkind an der Hand. Ächzend beugte sie sich über den Sockel und begann mühsam die allzu bekannte Aufschrift zu entziffern. Und siehe: kaum hatte sie den magischen Namen geradebrecht, füllte sich der Raum schlagartig von allen Seiten her wieder mit Besuchern, als seien sie, jeder einzeln, auf seine Nennung hin herbeigestürzt.

Ich redete, aber ich fühlte mich unbehaglich.

  • ―Da haben Sie aber Glück gehabt. Normalerweise ist es fast unmöglich, eine ungehinderte Sicht auf die Exponate zu ergattern. Sei’s drum! Sie fahren nach Florenz und erzählen mir, wie’s gewesen ist. Darf man erfahren, wie Sie heißen? Nein, nein, behalten Sie’s für sich. Aber Sie verraten mir, warum Sie hier sind. Ein Freund des Hauses? Oder sind Sie beruflich an dem Laden interessiert? Nein? Sie möchten herausbekommen, was Philosophie ist? Aber das, lieber Freund, erfahren Sie nicht hier. Fahren Sie auf die Insel, meinetwegen Rhodos, kaufen Sie sich eine Kiste Rotwein und lesen Sie die Kritik der reinen Vernunft. So einfach geht das. Meinetwegen nehmen Sie auch Aristoteles, Metaphysik A, oder die Phänomenologie des Geistes, ist ja egal, machen Sie, was Sie wollen, aber trinken Sie den Rotwein und freuen Sie sich. Mir schulden Sie dafür gar nichts. Trinken Sie einfach und seien Sie froh. Und wenn Sie Lust haben, lesen Sie die Kritik der reinen Vernunft. So einfach ist das. Ja, so einfach.

Tronka
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Wenn es so einfach sei, versuchte ich lächelnd einzuwenden, weshalb gebe er sich dann all die Mühe mit seinen Studenten?

  • ―Sie haben Studenten, nehme ich an?
  • ―Wissen Sie, das ist eine Frage, die können wir hier nicht klären. Darüber reden wir mal nach einem ausgedehnten Kneipenbummel im Bermudadreieck. Das eine können Sie mir glauben: Ich habe damit keine Probleme. Aber überlassen Sie den Betrieb doch sich selbst. Was geht Sie der Betrieb an? Sie gehen auf die Insel, trinken den Rotwein, und alles andere ergibt sich dann.
  • ―Oder auch nicht.
  • ―Oder auch nicht. Damit werden Sie leben.

Mich ärgerte diese Abfertigung.

  • ―Noch war ich nicht dort. Sie könnten mir ja, sozusagen als Wegzehrung, vorher verraten, was Sie von der sokratischen Dialektik halten. Herr Leckebusch sagt, sie sei ein Auseinander-Legen. Er hat aber nichts über das Zusammen-Legen gesagt.
  • ―Er wird seine Gründe haben. Es gibt da eine ganz witzige Stelle im Philebos, wenn Sie unbedingt Platon lesen wollen. Sokrates nennt sie dort eine Gabe der Götter an die Menschen, das Ganze ist ungeheuer witzig, ich weiß nicht, ob ich’s wörtlich zusammen bekomme. Platon schreibt nämlich, irgendein Prometheus habe sie von irgendeinem Göttersitz herabgebracht, von einem edlen Feuer umstrahlt, und unsere Alten, hören Sie gut zu, die nämlich edlerer Natur waren als wir selbst und deshalb näher bei den Göttern wohnten, hätten uns dies als Kunde überliefert, sehr komisch, wie gesagt, dass nämlich das Viele aus dem Einen hervorgehe und wir deshalb das Eine im Vielen suchen müssten undsoweiter undsoweiter. Also wenn Sie eine Vorliebe für das Edle haben und Ihr Stammbaum einigermaßen intakt ist, sollten Sie sich dafür interessieren.
  • ―Ich verstehe, Sie halten es mehr mit dem Vielen. Etwa so wie Nietzsche –: ›Kultur der Oberfläche‹.
  • ―Darin muss man Nietzsche nun in der Tat Recht geben: er hat gewusst, wo er hingehört. Die Flachköpfe haben es ihm aber auch gedankt. Wer an der Oberfläche klebt – und das tut Nietzsche, weiß Gott! –, der wird nie begreifen, woher die schönen Dinge kommen, die er so beeindruckend findet. Die Herren Ästheten machen es sich verdammt leicht: sie zerlegen die Welt in einen schönen und in einen hässlichen Teil. Den schönen Teil haben sie gepachtet, im hässlichen Teil wird gearbeitet. Sie vergessen aber, dass das, was sie glauben gepachtet zu haben, erst hergestellt werden musste – auf der hässlichen Seite, versteht sich. Die Kultur der Oberfläche ist die Kultur der Ignoranz. Auch der schöne Schein ist nur Schein.
  • ―Ich weiß schon. Darauf hat Adorno in den Minima Moralia hingewiesen…
  • ―… die nicht nur so heißen. Wie ich sehe, sind Sie belesen. Gut so! Vergessen Sie den ganzen Bildungsschrott! Gehen Sie auf die Insel! Nein, nehmen Sie den Flieger! Das geht schneller und ist bequemer. ›Kultur der Oberfläche‹. So ein Blödsinn!

Ngorongoro

Ngorongoro
1
Renate Solbach: Figur 14
Scheveningen

Strand, aufgeräumt bis zum Horizont … du blickst in das aufgerissene Maul des niederländischen Löwen und denkst: nichts. Pursuit of Rare Meats. Ein paar Strandgänger, die Salzluft wie ein bitter entbehrtes Lebenselixier in ihre mageren Lungen saugend, haben dem Pulk der Urlauber ein Schnippchen geschlagen und stochern unbehelligt ins Weite. Ungefähr hier, versteckt hinter den Dünen, lag im letzten Jahrhundert ein gottverlassenes Fischernest unter dem eisgrauen, gelegentlich blutrote Sonnenuntergänge fabrizierenden Himmel. Die kleine Eiszeit taperte ihrem Ende zu und gestattete den mondänen Kreisen des Landes den bis dahin unvorstellbaren Luxus, ein Bad in den Wogen des nördlichen Meeres zu nehmen, ohne sich eine Lungenentzündung zu holen.

STOP CLIMATE CHANGE NOW!

An diesem zugigen Vormittag ist kein climate change angesagt. Stattdessen keimt angesichts der ebenso geschmack- wie gesichtslosen Hotelgebäude, die das zentrale Kurhaus flankieren, inmitten des allgegenwärtigen, umweglos den Wellen entströmenden Geruchs nach Pommes frites der Wunsch, sich in die alten Zeiten zurückzuversetzen. Augenblicklich schlagen die Wellen schwerer an den Strand. Dünnes Gewölk, westwärts ziehend, ballt sich zu bedrohlichen Massen, ganz wie die famosen Wolkenputti auf dem Bild von Jacob Joerdens im Mauritshuis, das angeblich eine ›Anbetung der Hirten‹ zeigt. Nun gut, die Zeiten waren fromm und der Maler tat, was er konnte, um seine Klientel hinters Licht zu führen. Schaulustige, die der koketten Versunkenheit einer jungen Mutter mit ›Neugier und Anteilnahme‹ begegnen, wird es auch damals gegeben haben.

Ngorongoro
2

Die idyllische Enge des Ngorongoro-Kraters, die zugleich Weite ist, Weite und der Geschmack der Freiheit, enthält sie alle: Jäger und Gejagte, die ganze Skala, versammelt in Koexistenz, gegründet auf ständigen Blickkontakt zwischen Tätern und Opfern, Löwen und Antilopen, auf eine Distanz also, die Nähe und Ferne zu einem Schauspiel verbindet, ganz wie das rasch sich verdichtende Strandgewölk und den einsamen Strandspaziergänger vor der ins Unsichtbare entrückten Kulisse der knapp den Sand überragenden Dächer und Türme Den Haags.

Wo aber Gefahr ist, wächst…

Die Angst? Die Inkompetenz? Die Ergebung? Dem Spaziergänger gefielen die Himmelsgesichter und ihre Drohungen schreckten ihn nicht. Schwerer fiel es ihm, in das spontan entstandene Pleinairgemälde die obligaten ›Fischerboote am Strand‹ mit ihren ausgebreiteten Netzen und den malerisch im Gelände verteilten Gruppen teils feilschender, teils zupackender, ihre Beute heimwärts tragender Frauen einzutragen. Der erforderliche kompositorische Akt wollte sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht einstellen. Schade eigentlich, zweifellos hätte erst er das Gemälde komplettiert.

Konstante Witterung der Gefahr, das Salz des animalischen Lebens, auf welcher Stufe der Nahrungspyramide auch immer es spielt, zugleich das Geheimnis der Kunst, aller Kunst, soweit sie aus dem Geheimnis kommt und, nach eingehender Betrachtung, in es zurückkehrt: in diesen Gedanken war der Spaziergänger versunken und hatte darüber vergessen, dass er selbst sich in einer extrem künstlichen Zone bewegte. Nichts an diesem Strand war naturbelassen, das Wort ebenso vollkommen sinnlos wie der Versuch, die heranrollenden Wellen einzeln zu berechnen, um daraus ein tieferes Verständnis für den Wechsel von Ebbe und Flut zu gewinnen. Trotzdem war dies alles Natur, vom Sandkorn, das an seiner Schuhsohle klebte, bis zu der silbrig schimmernden Weite, die dort draußen den triefgrauen Horizont unterlegte. Ein System der Täuschungen, tickte es in ihm. Wie hybrid ist das denn?

Wir finden dich
Ngorongoro
3

Dem Spaziergänger blieb keine Zeit, der Untröstlichkeit zu verfallen. Das Knattern eines durch die Lüfte sausenden Lenkdrachens schickte seine Aufmerksamkeit in eine neue Richtung. Am Ende der Leine entdeckte er einen erwachsenen Mann, der mit seinem Gesäß den Sand pflügte und rasch auf ihn zu- und an ihm verbeischoss. Zwei Augen blickten dem Wunder ungläubig nach. Hin und her, her und hin hoppelte der Punkt in der Ferne, bis er verschwand –

Verdächtig leuchtet das Meer,
Da schwimmt mit Thränen im Auge
Ein Ichthyosaurus daher.

Das fehlte noch. Ein Ego, aber ach ein Ego nur. Die Natur macht keinen Sprung. Sprünge macht nur der Mensch. Der Strandgänger bilanziert das akkumulierte Entzücken und findet den Ertrag mager. Es bedarf, wie er findet, doch eines gewissen Mutes zur Lächerlichkeit, sich auf so erregend sinnlose Weise von einem flatternden Spielzeug durchs Gelände zerren zu lassen. Eines gewissen Mutes ... aber was für ein Mut mag das sein? Der Mut zur wieder entdeckten Kindlichkeit? Oder der Mut des Testpiloten, der das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit für einen kurzen Rausch dahingibt? Vielleicht ein dritter, der beide Spielarten einschließt.

Wenn nicht, welche Deutung verdient dann den Vorzug und aus welchen Gründen? Zulässig scheinen beide, sie sind sogar, wie der Strandgänger nur zu genau weiß, gesellschaftlich erwünscht. Beide geben Rätsel auf, die auch dadurch nicht verschwinden, dass die Sache unentwegt propagiert wird. Rätselhaft ist bereits die Propaganda. If it doesn’t challenge you, it doesn’t change you. Eine Drohung, unbestimmt welche, die alles Lästern hinter die vorgehaltene Hand verbannt. Change! Fakt ist, dass Sportartikel-Hersteller Gerätschaften wie dieses hier auf den Markt bringen und in Massen verkaufen. Von allen Tatsachen ist das die unbestreitbarste.

Ngorongoro
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Technophanie

Auch dieser Markt, wie alle Märkte, wie die Marktwirtschaft insgesamt, beruht auf Ideen. Ideen verhelfen denen, die sie haben und ›umzusetzen‹ verstehen, zu Wohlstand und sogar Reichtum sowie der angenehmen Überzeugung, den Menschen dieser Erde zu geben, wonach es sie gelüstet, auch wenn letztere vorher keinerlei Verlangen danach hegen. Die Ökonomie der Ideen hat sich vom Bedürfnis gelöst und zur autonomen Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit aufgeschwungen. Die Verschmelzungszone der Sphären nennen wir Sport. Der unbestimmte Appetit auf Neues – cupiditas rerum novarum –, Motor der Kunst von Leonardo bis zu den Abstrakten, hat sich der Körperwelt bemächtigt und treibt die Mensch-Technik-Maschine an. Natürlich wirst du es schaffen. Du musst dich bloß entscheiden, ob du es willst.

  • Was sich in Gedanken komisch ausnahm, war also wohl eine ernste Sache. Wenn diese Sache den Sand von Scheveningen umpflügte, löste sie nicht etwa Hohngelächter aus. Man sah ihr nach, wie man einem Engel nachgeblickt hätte, wäre man seiner an einem solchen Vormittag ansichtig geworden – zweifelnd, mit einem Zusatz von Begierde, in die Erscheinung aufgenommen zu werden und mit ihr zu kommunizieren, auch wenn die eigene Konstitution jede erdenkliche Praxis dem Bereich des Möglichen entrückte.

Wer bist denn du, zirpt das Geschlecht der Sonnenanbeterinnen, die hier sonst ihre Nachmittage verbringen, träge dem Drama der Bräunung Raum gebend, hüllenlos zumeist, zumindest an den Stellen, auf die es ankommt. Auch hier hat der technophane Mensch Einzug gehalten. Niemand, außer vielleicht dem begleitenden Arzt, weiß, was da erbräunt. Für wirkliches Wissen müsste man schon in die Labors eindringen, in denen man am Biomaterial forscht. Wer bist denn du, schwirrt es in seinem Kopf, nicht Frage, nicht Antwort, nicht Schmerz, nicht Lust, nur ein Sausen wie von tausend Drachen, es können auch neunhundertneunzig sein, wer will da rechten.

Ngorongoro
5

Der da ging, er hätte große Schwierigkeiten gehabt, sich als Strandmensch zu verstehen. Der Anblick in den Sand gestreckter Menschenleiber mitsamt ihrer quiekenden Brut bereitete ihm Kopfzerbrechen. Die leergeräumten Flächen empfand er als beruhigend, um nicht zu sagen angenehm. Der Irrwisch hatte seine Gemütsverfassung nicht wirklich beeinträchtigt. Der rasch verblassende Eindruck war gerade stark genug gewesen, um die Gedanken – sofern es sich beim Einströmen vager Bilder einer transpersonalen Vergangenheit um Gedanken handelt – kurzfristig in eine neue Richtung zu leiten. Bevor der versuchs- und einfachheitshalber von jetzt an Ich zu nennende Spaziergänger sich über diesen Mechanismus genauer Rechenschaft ablegen konnte, trug der Wind Laute an sein Ohr, deren Vertrautheit sie eine Zeitlang mit dem Geräusch von Wind und Wellen verschmolz, bis ihm aufging, dass er angesprochen worden war. Die Person, die sich, nicht übermäßig aufdringlich, zu ihm gestellt hatte, erwartete offenbar eine Antwort oder schloss sie nicht von vornherein aus. Jedenfalls sandte sie grübelnde Blicke aufs Meer hinaus, die scheinbar dem Element, nach menschlichem Ermessen aber dem Nebenmann galten.

Den Klang der Stimme hatt’ ich wohl vernommen.

Untergründig hatte ich registriert, dass sie sich meiner Sprache bediente. Vielleicht lag hier der Grund, warum ich sie an einem Ort wie diesem ausgeblendet hatte. Nicht mitbekommen hatte ich, was sie mir zu sagen wünschte. Ich war, ehrlich gesagt, auch nicht erpicht darauf, es zu erfahren. Das Äußere der Person weckte kein Bedürfnis, mich auf ein Gespräch einzulassen. Also begann ich meinerseits das Meer zu erkunden, konnte aber außer einer Möwe, deren aufdringliches Gekreisch ich noch Sekunden vorher ignoriert hatte, kein zeichentaugliches Element entdecken.

Ngorongoro
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Fütterung

Also wandte ich mich, nicht ohne Überwindung, meinem Nachbarn zu und bat ihn höflich und mit einer gewissen Reserve, seine Frage zu wiederholen.

  • ―Ich glaube nicht, dass ich das sollte. Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich nicht, dass ich Ihnen eine Frage gestellt habe. Interessant. Wissen Sie, ich gehe seit Tagen an den Strand und sehe mir die Leute an. Die meisten kann man leicht klassifizieren. Bei Ihnen will mir das nicht so richtig gelingen. Sie sind befremdet? Das kann ich verstehen. Vielleicht fällt uns beiden ja das Verstehen leichter, wenn ich mich erst einmal vorstelle.

Er reichte mir eine Hand, die ich ohne rechte Überzeugung ergriff. Der Name sagte mir nichts, er entfiel mir gleich wieder. Den, der ihn, nicht ohne Stolz, wie ich zu bemerken glaubte, genannt hatte, hielt ich für einen aus der nicht allzu kleinen Schar der Spinner, die in ihrer Freizeit fremde Menschen mit ihrer angeblichen Menschenkenntnis belästigen. Bei mir lösen solche Leute Beklemmungsgefühle aus und augenblicklich versuche ich, mich ›zu verdrücken‹. Daran war hier am Strand natürlich nicht zu denken. Wie auch immer, die kleine, hagere Statur meines Gesprächspartners, der schüttere, das Kinn und die Backen nach Art eines Bodendeckers überziehende Bart, seine etwas wuselige Art zu reden deuteten auf eine aus der Bahn geratene Handwerkerseele, die sich so ihre Gedanken macht, vor allem über Mitmenschen, die mit dieser Art von Zuwendung wenig anfangen können.

Als habe er mich durchschaut, sagte er einen Satz, der mir gut im Gedächtnis geblieben ist, weil er als Kommentar zu meinen Befürchtungen durchgehen konnte.

  • ―Das Strandleben bekommt Ihnen nicht.
Ngorongoro
7

Was lässt sich darauf antworten?

  • ―Sie meinen, ich soll hier verschwinden?
  • ―Machen Sie, was Sie wollen. Aber Ihre Welt ist das nicht.
  • ―Ich bestaune das Meer.
  • ―Das haben schon andere bestaunt. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich wollte Ihnen keine Ratschläge geben. Es fiel mir nur so auf, wie ich Sie gerade da stehen sah.
  • ―Ich war noch etwas verwundert.
  • ―Das hat man gemerkt. Sie müssen wissen – das ist so eine Phrase, eigentlich müssen Sie gar nichts wissen, aber bitte –, ich war seit Jahren nicht mehr am Meer, aber seit zwei Tagen komme ich, sooft es geht, hierher, immer an die gleiche Stelle. Ich frage mich, aus welchem Grund die Leute sich auf diesen Sandstreifen stürzen. Was gibt es hier, frage ich mich, worauf sie so wild sind, dass sie alles vergessen, was sie sonst so leidlich zusammenhält.
  • ―Die Sonne, den Wind, die Weite…
  • ―Sie verstehen mich ganz gut. Ich weiß, dass es den Leuten gefällt. Aber warum? Nun mal ruhig, jetzt schauen Sie mich nicht so entgeistert an, als wäre ich gerade aus einem Ufo geklettert. Sie müssen doch zugeben: man lässt nicht gleich die Hosen herunter, nur weil man sich wohlfühlt.

Da hatte er zweifellos recht.

 

Meine neue Bekanntschaft gehörte zu den Eisgrauen – grauer Bart, graue Augen –, und gerade jetzt, da für einige Augenblicke die Sonne hinter einer rasch dahingleitenden Wolke verschwand, wirkte die Vorstellung, einer wie er könne ›die Hosen herunterlassen‹, einigermaßen befremdlich. Allerdings trug er Shorts. Mit den nackten Zehen stocherte er im Schlick, als erwarte er, einen Hundert-Gulden-Schein zu Tage zu fördern.

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  • ―Sie wissen doch, sagte ich, plötzlich im Bann dieser Stimme, der moderne Mensch entsublimiert, wann und wo er kann.

Ich sah, wie seine Augen aufklappten, und legte nach.

  • ―Eros und Thanatos: ein altes Paar. Man könnte fast sagen, ein Liebespaar, wenn es nicht so verrückt klänge. Geburt und Grab, ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, ein glühend Leben…«
  • ―Ich weiß. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Er hatte die Notbremse gezogen. Darauf war wenig zu entgegnen. Oder doch? Den Blick fest auf ein Loch geheftet, das er soeben mit der großen Zehe in den Sand gebohrt und das sich sofort mit Wasser gefüllt hatte, brummelte er halblaut vor sich hin.

  • Herr, ein Gewitter ist im Anzug, improvisierte ich meine Lieblings-Klassikerstelle.

Das klang zwar übertrieben, doch ein paar Tropfen, die just in diesem Augenblick auf uns niederklatschten, gaben meinen Worten unvermutet Nachdruck. Er ging umstandslos darauf ein.

  • ―Wenn Sie hier keine Verabredung haben – er stieß einen kurzen Pfeiflaut aus – oder auf die Straßenbahn warten, können wir uns eigentlich gleich hinter die Schaufenster da drüben zurückziehen. Ich lade Sie übrigens ein, ja.

Das nachklappende, durch die Nüstern gesprochene ›ja‹, das genauso gut ›eh‹ heißen konnte, gab mir zu denken, indessen wir durch den Sand zu einer großzügig verglasten Baracke wateten, an deren Front der Schriftzug The Flying Dutchman ein gewisses, sagen wir, Eigenrecht auf Aufmerksamkeit beanspruchte.

Ngorongoro
9
The Flying Dutchman
Die schwungvoll hingesetzten Lettern glühten in einem Rot, von dem mein Begleiter behauptete (während ich mich mit der rechten Sandale in einem Sandloch verhedderte und beinahe gestürzt wäre), es sei in der europäischen Malerei vielleicht erst zehnmal glücklich zum Zug gekommen, am effektvollsten in den Papstbildern von Bacon:

  • ―Nehmen Sie einmal aus ein oder zwei Bildern exakt dieses Rot heraus, und sie fallen einfach in sich zusammen. Dabei müssen Sie es erst suchen, falls Sie überhaupt davon gehört haben, was erschwerend hinzukommt, ja. Die Schlaumeier behaupten immer, man sieht, was man weiß. Aber das stimmt nicht. Man sieht, was man sehen soll.
  • ―Und das heißt?
  • ―Naja, so ein Maler will schließlich einen bestimmten Effekt erzielen. Entweder er schafft es oder er hat verloren. Die Sache ist doch ganz einfach: a) der Betrachter sieht, was der Maler ihn sehen lassen will, b) er sieht etwas, was er nicht sehen sollte, ja.

Ich gab es auf, meinen Mann taxieren zu wollen. Das sei schon richtig, gab ich zurück, während der Oranje-Kaffee in meinem Magen zu brennen begann (wir saßen im Pavillon, keinen Augenblick zu früh, denn draußen hatten sich die Schleusen des Himmels weit geöffnet), nichtsdestoweniger sei es unzureichend gedacht. Was der Maler sehen lassen wolle, hänge schließlich nicht zuletzt davon ab, was er selbst ›rein mental‹ zu sehen in der Lage gewesen sei, so dass ein geübter Betrachter immer auch die Vorlieben und Beschränktheiten des Malers aus so einem Bild herauslesen könne.

Er ging mit.

  • ―Und was folgt daraus, ja? So ein ›geübter Betrachter‹« – er ätzte das Wort – »stellt natürlich mit Vorliebe da Zusammenhänge her, wo beim Maler längst der Krampf herrscht und vom objektiven Können keine Rede sein kann. Sie folgen mir nicht? Ich weiß schon, ›objektiv‹ ist in Ihren Kreisen ein Schimpfwort.

Aha. Da war er wieder, der Menschenkenner.

Ngorongoro
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Er warf mir einen kurzen Blick zu und begann mit dem Finger Kreise auf den etwas schmuddeligen Tisch zu zeichnen. Er nuschelte. Ich beugte mich vor, um ihn zu verstehen.

  • ―Ich begreife sehr gut, was Sie sagen, aber Sie sollten auch mich verstehen. Wenn Sie da draußen ein Loch in den Schlick bohren – ich habe Sie beobachtet, Sie sind nicht der Typ dafür, aber egal –, dann haben Sie etwas getan, nicht viel, ein bisschen schon, aus der Perspektive der Plattwürmer sogar eine ganze Menge, etwas Gigantisches« – er lachte glucksend –, »aber wenn Sie geduldig sind und einfach nur hingucken, dann merken Sie, wie das Wasser, das sich in dem Loch gesammelt hat, und das erst klar und durchscheinend ist wie der junge Morgen, Sie merken, wie sich das Wasser eintrübt, ja, und wenn Sie sich nach ein oder zwei Minuten platt auf den Bauch legen, dann stellen Sie fest, dass Ihre Puste mühelos ausreicht, um den Sand wenigstens oberflächlich zu trocknen, und Sie haben wieder die glatte Oberfläche, von der wir ausgegangen sind. Ich weiß, für Sie hat das keine Bedeutung, aber für mich gehören Sie zu den Leuten, die nur den Sand sehen. Verstehen Sie mich? Nein, Sie verstehen mich nicht. Aber das macht nichts, ja.

Tenborch oder Die Effekte

Tenborch oder Die Effekte
1
Renate Solbach: Figur 15

 

Übergangslos rief er

den Kellner und griff nach der Brieftasche. Im übrigen traf er so wenig Anstalten wie ich, sich zu erheben. So saßen wir, jeder in seine Gedanken versponnen, auf unserem Plastikgestühl, warfen hin und wieder einen Blick auf das in der Ferne aufblitzende Meer, über dem sich die eben noch Ehrfurcht gebietenden Regenwolken in eine dicht gedrängte Lämmerherde verwandelt hatten, und stillten uns an der klappernden Ruhe, durchsetzt mit dem gelegentlichen Stühlerücken des Kellners und sporadisch aufflackernden Unmutsäußerungen eines bedienungshungrigen Gastes.

Es dauerte nicht lange und ich empfand ein vom Bewegungsdrang diktiertes Bedürfnis, mich zu erheben und das miese Lokal zu verlassen. Dass ich mich nicht rührte, hatte nichts mit Neugier zu tun. Der Fremde hätte, mein Schweigen missdeutend, aufstehen und fortgehen mögen, ich hätte ihm vermutlich nicht einmal nachgeblickt. Aber auch er bewegte sich nicht. So blieben wir beide sitzen, schlapp und störrisch wie zwei Kartoffelsäcke auf Abruf.

Ich vermisste R. Wäre er mit am Tisch gesessen, ich hätte ich das stockende Gespräch mit Leichtigkeit wieder in Gang gebracht.

R hätte gelacht – ein wirksames Korrektiv, leider bloß in Gedanken, zu dem dumpfen Schweigen, in dem mein Gegenüber und ich realiter verharrten. Stattdessen versank ich in die Betrachtung der seltsamen Mechanik, die hier am Werk war. Binnen kurzem zog ich daraus jene tiefe Befriedigung, die fast jedes Nachdenken erzeugt, besonders dann, wenn sein Gegenstand umso befremdlicher wird, je mehr man sich mit ihm befasst.

Tenborch oder Die Effekte
2
Ein Gegenstand!

Auf ein geheimes Signal hin erschien an den entgegengesetzten Rändern des Nebels, der gerade noch mein Bewusstsein erfüllt und zu einem ungemütlichen Feuchtraum degradiert hatte, ein Etwas, das sich nicht gleich zu erkennen gab. Seine Ankunft verwandelte die stockende Innenaußen-Empfindung, die sich durch das langsame Ausdrücken einer Zigarette bestimmt, in einen gerichteten Ablauf, etwa so, als studierte ein etwas weitsichtiger Mensch eine Zeichenrolle, deren Anfang sich bis an den Horizont erstreckt, während das greifbare Ende unmittelbar unter den Augen verschwimmt.

Vergessen mein Gegenüber, vergessen die Lähmung. Zeit, Raum, Aktion strömten zurück und ergossen sich in eine Bilderfolge, deren Sinn ich nicht lange zu entziffern brauchte, weil er mir – nun ja – gegeben wurde. Umschrieb der zentrale Nebel den Zustand der Indifferenz des Körpers und des Geistes, dann signalisierten diese Scharen den Aufbruch, der in einer solchen Pause angelegt ist, sowie, als sei das nicht schon genug, die schiere Unmöglichkeit, die sich zersetzende Indifferenz zu leben, womit ich die Unruhe in der Ruhe meinte, die mich soeben befallen hatte. Folgerichtig begann sie sich im Wechsel der Bilder zu verlieren, mit deren Hilfe ich sie mir zurechtlegte. Unklar blieb, was ich mit ›leben‹ meinte. Es steckte ein Bedeutungsüberschuss in dem Wort, der sich mir spontan nicht erschloss.

Ich war gerettet, ohne verloren gewesen zu sein, ein dankbar begrüßter Zustand, der mich dazu veranlasste, an der leeren Kaffeetasse zu nippen, als hegte ich keinen Zweifel daran, dass auch sie an der wundersamen Erkräftigung teilgenommen und sich mit neuem Inhalt gefüllt hatte.

Tenborch oder Die Effekte
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TenborchIch wusste schon, wie diese Bilder in mich hineingekommen waren. Es war nur ein paar Stunden her und doch war es ein Vorgang aus einer anderen Zeit. Nach einer unerwartet kurz verlaufenen geschäftlichen Unterredung war ich ins Gemeente-Museum gegangen. Dort hingen die Bilder des Malers Tenborch, der eigentlich Zeichner gewesen war und nie etwas anderes hatte sein wollen. Meine Enttäuschung war … gemessen, aber deutlich. Die Ausstellungsmacher hatten ein paar erreichbare Exponate zusammengetragen, von denen fast keines die Klasse aufwies, die ich aufgrund der mir vertrauten Bilder erwartet hatte. Tenborch gehört zu meiner Studentenzeit wie Mensa-Megaphone und Mao-Konterfeis, ein Mann der massenhaft ausliegenden Poster, an Eingängigkeit nur von den Warhols und Lichtensteins übertroffen. Außer den üblichen Mystagogen, deren Kauderwelsch niemand verstand, wusste kein Mensch zu sagen, was sie bedeuteten, aber dass sie vieles, wenn nicht alles bedeuteten, schien den meisten evident zu sein. Seine verdrehten Geometrien entzückten die jungen Leute, die sich gerade in Massen daranmachten, die akademische Welt zu entdecken, zu der andere ihnen die Wege geebnet hatten. Sie hielten, was sie da sahen, für einen Ausdruck ihres Programms, die Regeln auszusetzen und zu schauen, was dann geschah. Ich hatte öfters mit angesehen, wenn sie, meist in Grüppchen, die Plakate in den Händen drehten, ›stark‹, ›echt stark‹ riefen und sie wieder in die Behältnisse zurückstopften, weil das Mao-Bild nebenan oder ein Hundertwasser mehr Prestige pro Wohneinheit versprachen. Manchmal kam es vor, dass einer still zurückkam und das ›starke‹ Bild noch einmal entrollte, bevor er sich den anderen wieder anschloss.

Mich erinnerten Tenborchs Motive an Erzählungen des argentinischen Dichters Borges, von dem ein schmaler Band Übersetzungen mein kurzes Bücherregal bereicherte. Gleich Tenborch hatte Borges ein Leben damit zugebracht, Labyrinthe zu ersinnen, Areale, an denen die Einbildung an sich selbst irre wurde und sich, wie in einem Laufrad, auf einem endlosen Rückweg zu ihren Ausgangspunkten befand. Auch ich hatte mich in ihnen verlaufen, doch zu meinem Glück genügend Standfestigkeit besessen, das Buch zur rechten Zeit zuzuklappen und zur Mathematik zurückzukehren. Doch während Tenborch in war, war Borges out – aus politischen Gründen, denn andere zählten nun einmal nicht. ›Mega-out‹, wie mir eine verdächtig an die spätere Elisabeth erinnernde Kommilitonin steckte, die darauf brannte, Germanistin zu werden.

Tenborch oder Die Effekte
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In der Laufstall-Atmosphäre des Museums, durchzogen vom Kaffeegeruch und Tassengeklirr des tafelnden Aufsichtspersonals, war davon wenig zu spüren gewesen. Befragt, ob dies die ganze Ausstellung sei, hatte das Kränzchen freundlich genickt. Einer der Herren war sogar aufgestanden und hatte sich erboten, mir die Bilder einzeln zu erklären. Da gab es nichts zu erklären. Nicht der Hauch einer Revolte strahlte von diesen Wänden. Bieder bis zum Abwinken war alles, was ich hier sah. Fast kam es mir vor, als habe dieser Tenborch den Beweis antreten wollen, wie schnell Kunst vom Abgründigen ins Dekorative gerät, wenn sie, vorsichtig gesprochen, das Auffassungsvermögen des denunziationslüsternen Nachbarn nicht überfordern möchte. Es war eine Zeit, in der Künstler, die versuchten, sich dem Zugriff einer ihnen gnadenlos ins Handwerk pfuschenden Exekutive zu entziehen, so etwas häufiger machten. Nur die Mittel variierten von Fall zu Fall. Der berühmte Avantgardist, der vor den Häschern aus der thüringischen Provinz nach New York entwich, um sich dort mit Malereien durchzuschlagen, die er bequem am Quai du Louvre hätte verkaufen können, ist so ein Fall. Offensichtlich hatte Terborch beschlossen, die Jahre der Okkupation im Pantoffel zu überwintern. Dann kam eine andere Zeit, eine, in der das Abgründige in die Konstruktion verlegt werden musste, weil die Weltauslegungen klar und Abweichungen unerwünscht waren, während die Katastrophen sich weiterhin vor und hinter den Türen die Hand gaben, bis auch jene in einer letzten absurden Wallung in sich zusammenfielen.

Tenborch oder Die Effekte
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  • ―Das rekursive Denken…

Das runde Augenpaar, mich minutenlang fixierend, hatte sich entschlossen, das Wort zu ergreifen.

  • ―… ist doch nichts weiter als eine Methode. In Zeiten des triumphierenden Wissens besteht die Aufgabe darin, seine Sinne beisammen zu halten.

Was verstand der Mann vom rekursiven Denken? Wie kam er überhaupt darauf? Im Geiste sah ich die alt gewordenen Revoluzzer meiner Jugendjahre mit Mienen umherwandeln, als gehöre ihnen der ganze Bestand an Terborchs und als sähen sie nur vorbei, um ihr Gedächtnis aufzufrischen und sich zu vergewissern, dass alles an seinem Platz hänge. Dieser Mann sah aus und gebärdete sich, als sei er einer von ihnen. Was sollte die geschwollene Rede vom triumphierenden Wissen? Offenkundig reichte es ihm nicht, gesiegt zu haben, und er wollte auch auf der anderen Straßenseite kassieren. Daraus wird nichts, Freundchen.

  • ―Was verstehen Sie…?
  • ―Ich verstehe nichts. Aber ich verstehe Sie sehr gut.

Schweigen. Schweigen, das langsam wegbröselte wie ein vertrocknetes Stück Brot.

  • ―Sie glauben mir nicht. Das rekursive Denken ist das Denken der Emotion.
  • ―Sie meinen, die Emotion denkt?

Die Stimme versank, das lebendige Nachdenken, und kam am andren Ende wieder empor.

  • ―Die Emotion denken heißt nicht emotional zu denken. Es ist auch kein Nachdenken über die Emotion, wie sie jetzt vielleicht annehmen. Es ist, ich sag’s mal im Bilde … Sie haben etwas gebaut, mit Ihren eigenen Händen, wie eines dieser kleinen Ungeheuer, die wir Kinder nennen. Und plötzlich durchfährt Sie der Impuls: da fehlt was. Sie wissen nicht, was fehlt, Sie wissen nur – mit einer plötzlich aufflammenden Gewissheit, dass es fehlt. Sie wissen, der ganze Bau ist falsch, aber es hat keinen Zweck ihn einzureißen. Sie wissen schon, dass Sie die besagte Stelle nicht finden würden, und wenn Sie sie fänden, wüssten Sie nicht, was Sie einfügen müssten.
  • ―Sie meinen, das ist eine Frage der Sinne?
  • ―Sehen Sie, an dieser Frage zerbrechen Ehen. Ich bin ein Mann der Sinne. Sie sind es auch, wenn ich Sie richtig taxiere. Aber Sie wollen nichts davon wissen.

Stand auf und ging. Schon an der Tür, kehrte er um und legte mir seine Karte auf den Tisch.

Tenborch oder Die Effekte
6

Ich blieb. Ich befand mich wieder im Museum. Fragend hingen die Tenborchs an ihren Haken.

  • ―Kraft, sagte der alte Mann. Wo bleibt die Kraft?

Die Kraft der dürren Jahre. Ein Pulk Holländer trudelte herein, lachend, plaudernd. Einer stellte sich breit vor die Bilder, offenbar erzählte er eine Anekdote. Eine runde Person gluckste, der Rest zerstreute sich. Ein Professorenpaar trat ein. Die Frau, hochgewachsen, ganz in Kirschrot, pirschte sich, unentwegt in alle Richtungen sichernd, auf ihren Slippern in die Mitte des Raumes.

  • ―Das ist wunderschön.

Der Mann schob seine Nase dicht an die Leinwand und trat zurück.

  • ―Man sagt, er soll das Atelier die ganze Zeit über nicht verlassen haben.
  • ―Aber er war gut versorgt. Ich habe einmal gelesen, seine Nachbarin hätte…
  • ―Er hasste die Nazis.
  • ―Kein Wunder, dass die Bilder so leuchten. Selbst das Schwarzweiß leuchtet. Das ist wunderschön.
  • ―Hast du die Preise gesehen? Ich wusste gar nicht, dass man Tenborchs noch kaufen kann. Das Interesse scheint nicht so groß zu sein. Häkelarbeiten, würde ich sagen. Großformatige Häkelarbeiten. Ästhetisch gesehen, ist das hier Kollaboration.
  • ―Leise. Wir sind nicht allein.
  • ―Und wenn schon. Wo bleibt eigentlich Wegenaer? Er wollte uns alles erklären. Hoffentlich steckt er nicht im Stau. Ehrlich gesagt, ich habe genug gesehen. Der Mann wäre besser emigriert. Schau mal dort drüben, es gibt auch Kaffee.
  • ―Erkennst du das Motiv wieder? Es ist dasselbe wie auf deinem Pyjama. Dir fehlt übrigens ein Knopf.

Tenborch oder Die Effekte
7

Professoren, pardon – seit meinem ersten Besuch bei Leckebuschs hatte ich ausgiebig Gelegenheit, mich mit den Besonderheiten dieses Berufsstandes vertraut zu machen, und bis heute kann ich nur mutmaßen, wie gut oder schlecht mir das bekommen ist. Eines weiß ich mit Sicherheit: unter ihnen wie überhaupt unter Angehörigen intellektueller Berufe trägt das Banausentum oft ausgeprägtere Züge als unter den eher schlicht gestrickten, die Welt ausschließlich nach den Regeln des Geldverdienens taxierenden Zeitgenossen. Schon die Episode um Professor Kuckuck hätte mich das lehren können und ein Hauch davon hatte mich auch wirklich angeweht. Aber die Sache lag tiefer und wurde ernsthafter, je weiter man grub. Sicher, Konkurrenzdenken ist immer im Spiel, wenn eine Elite sich über die andere Gedanken macht. Vielleicht spielt angesichts der pinselnden, stichelnden und kratzenden Publikumslieblinge sogar etwas Neid mit. Doch lässt sich damit bei weitem nicht das ›harte Faktum‹ erklären, dass man gerade bei den elaborierten Interpreten der Kunst gelegentlich eine unausgesprochene Verachtung ihres Gegenstandes findet. Das erstaunt – und es macht nachdenklich. Wer an der Bewunderung für die Künste kratzt, stößt schnell auf Verachtung. Ich erinnere mich gut an die Bemerkung eines Tronka-Jüngers, die mich seinerzeit ob ihrer prägnanten Ignoranz faszinierte:

  • ―Ich glaube nicht, dass Gott sich in Mosaiken offenbart.

Der Ausspruch hätte auch von R stammen können, der, sehr zu meinem Leidwesen, gegenüber den bildenden Künsten eine beinharte Reserve an den Tag legte. Museen und Ausstellungen waren ›Anathema‹, jeder Versuch, die Rede auf sie zu bringen, wurde mit abgründigem Schweigen quittiert. Mit einem wie Tenborch brauchte ich ihm gar nicht zu kommen.

Tenborch oder Die Effekte
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Zwischenbemerkung

Es berührt seltsam, dass die Herablassung gerade in Fächern subtile Triumphe feiert, die sich blendend von den Künsten und verwandten Tätigkeiten ernähren. Dass dem so ist, zeigt sich in Ausdrücken wie ›bloß ästhetisch‹ oder ›bloß metaphorisch‹ – Kleingeld, mit dem die Gedankenlosigkeit gern ihre spärlichen Ausgaben zu begleichen pflegt –, aber genauso gut bei der penetranten Ausgrenzung des Wortes ›Dichtung‹ in der Literaturwissenschaft. Der zwischen zwei Anführungszeichen gepackte Dichter ist so etwas wie das Vorführmodell des mediensoziologischen Kauderwelsches, das sich wie ein Ascheregen auf die Literatur gelegt hat. Für alle, die von diesem Dämon besessen sind, gilt das Wort: They never come back. Andererseits: warum sollten sie? Germanist Rosshammer hatte mir das in Leckebuschs Beisein erklärt:

  • ―Endlich haben wir eine gemeinsame Sprache mit den Kollegen gefunden. Das wertet unsere Arbeit ungemein auf, auch auf dem Stellensektor. So etwas gibt man nicht wieder her.

 

Aber Herablassung, wirkliche Herablassung besitzt ein anderes Kaliber. Sie entsteht daraus, dass intellektuelle Berufe zwanghaft nach Superiorität streben – nicht im wirklichen Leben, wo sie ihnen auf ewig verschlossen bleiben wird, sondern in der Sprache. Die Kunst, die es in die Tempel und auf die Piedestale der öffentlichen Aufmerksamkeit geschafft hat, muss sich beugen. ›Prägnante Ignoranz‹ ist der Schlüssel zur Macht der Interpreten wie aller Machtergreifung, die auf der Macht der Interpretation beruht.

Tenborch oder Die Effekte
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Unerträglich? Fragt sich, für wen.
Ich hörte die Stimme des ›Kollegen‹ wie ein fernes Gemurmel, unterbrochen durch das Klirren von Kaffeetassen, und fühlte mich gestört.
Die Tenborchs hatten die Fragehaltung verloren und hüllten sich in ein Schweigen, das ich düster genannt hätte, wäre nicht in diesem Augenblick – wann sonst? – ein Lichtstrahl in den hermetisch abgedunkelten Musensaal eingedrungen.
Ein Kasten, dem ich bisher keine Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen, begann Licht auf eine freigebliebene weiße Wand zu spucken, Licht, Licht und immer noch Licht, unregelmäßig zerschnitten von kantigen Schriftbändern, bis endlich der Maler Tenborch selbst, achtunggebietend in seiner Atelierkluft, mit schwarzer Fliege und scharfgeschnittenen, vom Alter gezeichneten Gesichtszügen im Garten seines ländlichen Anwesens auftauchte. Er hatte sich auf einem Plastikstuhl niedergelassen, vergleichbar dem, auf dem ich selbst gerade saß, die linke Hand flach auf den Tisch gepresst, als müsse er jedem seiner Worte einzeln Nachdruck verleihen, und redete. So sehr war ich in die Betrachtung dieser Person vertieft, dass ich den Anfang des Interviews glatt verpasste.

  • ―… dass sie die Kunst als eine Art kindlichen, jedenfalls dem Ernst des Lebens vorgelagerten Spiels betrachten, das dem Künstler deshalb gelingt, weil seine Biographie eine narzisstische Aberration enthält, der man als später Interpret mit wohlwollendem Befremden auf die Schliche kommt. Hätte der Künstler, so darf man folgern, sich zu einem erwachsenen Menschen fortentwickelt, so hätte er ganz gut einen anderen Lebensweg einschlagen können und sogar müssen, wenn es ihm mit seinem ursprünglichen Impuls ernst geblieben wäre. Ich weiß nicht, wie ernst es den Biographen mit dieser Einstellung ist, aber die meisten von ihnen haben sie nun einmal und ich erkläre mir das aus einer gewissen Konkurrenz-, wenn nicht Neidsituation heraus, weil der Künstler nun einmal der Gefeierte, jedenfalls die Mittelpunktsfigur ist, um die eine Biographie sich dreht. Es gibt psychische Gründe, sich so etwas vorzunehmen, sie mögen ehrenwert sein, aber ob sie gesund sind, darüber gestatte ich mir eine abweichende Meinung … Ich lebe jetzt ein halbes Leben mit diesen Vorwürfen, eigentlich sind es ja keine Vorwürfe, sondern latente Unterstellungen, und ich bin ein bisschen müde, mich für etwas zu rechtfertigen, was andere Menschen nachträglich in mein Leben hineinmontiert haben, ehrenwerte Menschen einer ehrenwerten Gesellschaft, in meinem Fall vielleicht nicht ganz so ehrenhaft, wie ich das eigentlich von ihnen erwartet hätte. Warum schreiben sie dicke Wälzer über mich, wenn sie mich nicht mögen? Manchmal kommt es mir so vor, als wollten sie auf diese Weise das Verdienst an meinen Bildern aufs Konto ihres eigenen Lebens überweisen, natürlich nicht ihres wirklichen, sondern eines Hybrids aus meinem und ihrem, eines vielleicht ungelebt gebliebenen Lebens, an dessen Möglichkeit ich sie erinnere … als ob ich wüsste, warum es ungelebt geblieben ist, was natürlich nicht der Fall ist…

 

In diesem Tonfall redete er noch eine Weile fort. Ich aber hatte den Ton abgeschaltet. Das, wovon er sprach, war erbärmlich genug, dennoch entbehrte es nicht einer gewissen, sagen wir: Grandezza, verglichen mit dem ›Ethos‹ von Sätzen, die ich als stummer Teilnehmer einmal auf dem Campus einer Provinzuniversität hörte, als ein – nach akademischen Maßstäben junger – Professor im Kollegenkreis die Erinnerung an den Tag zum Besten gab, an dem er mit dem Schriftsteller Handke im Taxi zu einer Veranstaltung fuhr und der andere, aus welchem Grund auch immer, während der ganzen Fahrt »keine zwei Sätze herausbrachte«:

  • ―Da gehören wir doch lieber auf die Seite der Normalen, wenn das der Preis ist!

Tenborch oder Die Effekte
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Im übrigen bin ich der Auffassung, dass er sich täuschte. In Zeiten, in denen an die Kunst strengere Maßstäbe angelegt wurden, wäre er als pictor minor allenfalls im Anhang einer der großen Künstlerbiographien aufgeführt worden. Dass über ihn dickleibige Biographien existierten, konnte Leichtgläubige zu der Annahme verführen, dass dieser Weg zum Ruhm jedem offenstand, also auch ihnen, und dass nur die üblichen Widrigkeiten des Schicksals sie den ihren hatten verpassen lassen. Da aber Hierarchien gewahrt werden müssen, auch wenn ihr Sinn unklar geworden ist, was liegt da näher, als dem erkorenen Helden ein paar dunkle Flecken in die Vita zu zaubern, um damit dem Publikum klarzumachen, dass da noch Luft nach oben gewesen wäre oder wie man dergleichen ausdrückt. Vielleicht bereden sie sich damit auch selbst, es mit einem der ihren zu tun zu haben. Da Biographen, gleich welcher Disziplin, unter dem Dauerverdacht leiden, von der Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen zu werden, obwohl das Gegenteil der Fall ist und sie eine völlig übertriebene Wertschätzung genießen, nützen sie natürlich die Gelegenheit zur Propaganda. Fast könnte man sagen, ihre lächelnde, mit allerlei Reserviertheiten ausstaffierte Begeisterung habe diesem Künstler erst den verdienten Platz in der öffentlichen Aufmerksamkeit erobert. Auch wenn es paradox klingt, Tenborchs Publicity gründete sich weniger auf den visuellen Teil seiner Arbeiten und schon gar nicht auf die didaktischen Anweisungen, mit denen er selbst sie versehen hatte, sondern auf das, was man auf ihnen nicht sehen konnte, obwohl alle Welt behauptete, es zu sehen: die intime Beziehung, die zwischen ihnen und der Zeitgeschichte bestand, also gerade das, was er im Interview wortgewandt abstritt.

Tenborch oder Die Effekte
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Ich hockte im dunklen Schlund eines Kinos, Elisabeth fast liegend auf meinen Knien, ich spürte das Pochen der Lust in ihren Adern, wir küssten uns und ich hoffte inständig, es werde sich ein Biograph finden, der diesen Traum, gleichgültig gegen unser beider Dementis, in mein Leben einfügt – sie aber richtete an mich, den Blick zur Decke gewandt, das inhaltsschwere Wort ›Tenborch‹. Sonst nichts. Ich sah die Bilder, die Postermotive und die anderen, unbekannten, auf der inneren Leinwand abrollen, so dass ich vergaß, an welchem Ort wir uns befanden, aufsprang und rief: Ja, das bin ich. Wer sonst hätte diese Dinge so malen können? Und ja, ich bin kein Kollaborateur, weder offen noch geheim. Doch da ich ohne Zollpapiere reise, ist abzusehen, dass mein Ruhm peripher bleiben und man meine Werke in künftigen Jahrhunderten vorzugsweise auf Ausstellungen zu sehen bekommen wird, die dem kuriosen Unterfutter der gegenwärtigen Katastrophe gelten. Was niemandem schadet, weder der Epoche noch dem Künstler, denn es sind die originelleren, jedenfalls interessierteren Augen, die auf Arbeiten wie den meinigen ruhen. Elisabeth aber…
Das geht niemanden etwas an.

Momptis Huhn

Momptis Huhn
1
Renate Solbach: Figur 16

 

Wo war ich stehengeblieben?

Floskel, tausendfach verwendet, und doch bringt sie es auf den Punkt. Die Sprache ist ein Wiederholungstäter und jeder von uns folgt ihr willig. Ein Geschäftsfreund, dessen Name hier nichts zur Sache tut, lachte schallend auf, als ich ihm bei einem Glas Champagner von meinem Gespräch mit dem Verleger erzählte.

Seine Begleiterin lächelte mich eine Spur zu liebenswürdig an. Wahrscheinlich wusste sie, was nach meinem Abgang nachkommen würde.

A DIEU

Mompti ist tot. Zerquetscht von den Zeitläufen, aber vielleicht würde er die Lesart auch ablehnen. Zu pathetisch. Die Information verdanke ich Rs Manuskript. Den lebenden Mompti – er war mein Unbekannter – traf ich am folgenden Nachmittag wieder, nachdem mich eine leise Erwartung erneut in den Flying Dutchman getrieben hatte. Ich setzte mich möglichst geräuschlos an seinen Tisch und wartete ab. Ich weiß nicht, wie ausgeformt die Gedanken waren, die damals mein Gehirn durchströmten. Währenddessen hatte mein schweigsames Gegenüber den Kellner ein zweites Mal gerufen und widmete sich, fast hätte ich ›beherzt‹ gesagt, einem Teller, auf dem eine reichliche Portion Pommes frites mit einem fast ebenso großen Hügel aus frittiertem Fisch und einem Klacks gelblich glänzender Mayonnaise um Platz und Aufmerksamkeit rangelten.

Er beendete sein Schweigen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er mich am Strand zum Teilhaber seiner Menschenkenntnis gemacht hatte. Brüsk schob er den Teller von sich, die zerknüllte Serviette als Mount Everest obenauf.

Gedankenverloren starrte er seinen Genüssen nach, deren Überreste der Kellner bereits entführte.

Ich zuckte die Achseln.

Langsam taute der Schweigerest auf. Es stellte sich heraus, dass mein Gegenüber Tenborchs wegen die weite Anreise auf sich genommen hatte. Nach jedem Gang in die Ausstellung lief er stundenlang am Strand entlang, um sich mental ›in Form‹ zu bringen und das Gesehene zu überdenken. Diese Intensität war mir neu.

Momptis Huhn
2

Wort- und gestenreich begann er zu bilanzieren. Schnell merkte ich, dass ich es mit einem Mann vom Fach zu tun hatte. Schnell korrigierte ich meine früheren Eindrücke und folgte den Belehrungen ohne Hochmut. Den Namen hatte er am Strand wohl deshalb so nachlässig gemurmelt, weil es ihm lästig war, zuzugeben, ja, er sei der und der. Es war nicht Überdruss an seiner tatsächlichen Bekanntschaft, die sein Verhalten steuerte – wie alle Künstler konnte er davon nicht genug bekommen –, sondern der Ärger darüber, in der falschen Kategorie gelandet zu sein, wenn die Entdeckung, einen Künstler vor sich zu haben, routinemäßige Bekundungen des Entzückens bei seinen Gesprächspartnern auslöste.

Kontrast 1Ich verstand den Missmut des Künstlers spontan, als ich den gleichen Impuls bei mir registrierte, was mich überraschte und ein bisschen kränkte. Ich war beredt und gehemmt zugleich: ersteres, weil es wirklich ein Vergnügen war, sich mit diesem klugen und sachkundigen Menschen zu unterhalten, letzteres, weil ich dauernd das Gefühl hatte, über unserer Plauderei ein anderes, möglicherweise gehaltvolleres Gespräch zu versäumen, in dem sich meine Rolle fühlbar von der gegenwärtigen unterschied. Das ist ein seltsamer Effekt, geeignet, sich anbahnende Freundschaften zu zerstören. Etwas schien sich hier anzubahnen, also unterdrückte ich meinen Impuls und blickte ihm frei ins Gesicht.

  • Nicht jeder ist ein Boswell oder hat den inneren Boswell zur rechten Zeit parat. In der Regel gilt: die Anspannung, die der Vorsatz, eine seltene Gelegenheit optimal auszunützen, mit sich führt, deformiert die Gelegenheit, so dass das, was an Themen in der Luft liegt, plötzlich unerreichbar scheint, während das reale Gespräch, das munter fortgeht, dem Torquierten unendlich banal vorkommt. Der andere hat es gut – eingesponnen in die Komplexität seiner Existenz, versäumt er, wie es scheint, nichts. Er scheint sich zu unterhalten oder sogar zu amüsieren, was man nur schwer verstehen kann, es sei denn als Herablassung, und die wäre schlimm.

Momptis Huhn
3

Nein, herablassend wirkte Mompti nicht. Wenn es seine innere Einstellung mir gegenüber war, dann hielt er sie gut versteckt. Da mir aber bewusst war, dass ich mich noch vor ein paar Minuten über ihn erhaben gefühlt hatte, entstand daraus ein schwer kontrollierbarer Unruheherd. Er konnte, er musste etwas bemerkt haben. Schlimmer noch: ihm konnte der Umschwung nicht verborgen geblieben sein. Je banaler sich jetzt das Gespräch gestaltete, desto mehr genoss er das Spiel. Dabei war es nur an der Oberfläche banal. Eigentlich verlief es, fern aller Banalität, ziemlich konzentriert in all in seiner Was-soll-schon-sein-Lässigkeit. Es ging dahin, wie es eben so geht, wenn man sich mit jemandem unterhält, der, eingesponnen in sein Wissen und seine Gedanken, nur Brocken mitteilt und nach losen Floskeln fischt, um dem Fremden ›nicht auf den Geist zu gehen‹, wie immer das aussehen würde.

Schon mochte ich ihn. Mehr, ich fühlte eine Art Geistesverwandtschaft in mir keimen. In meinem Herzen war unsere Freundschaft bereits beschlossene Sache. So, wie er mich ansah und gelegentlich freundlich nickte, ahnte er nichts davon, wusste aber bereits, dass es so kommen würde, und stellte seine Antennen auf Empfang. Reifte hier ein Freund? Eigentlich wusste ich es nicht und weiß es bis heute nicht.

De mortuis nihil nisi bene

Kontrast 2
Momptis Huhn
4
Konfusion –

schönes Wort übrigens, in dem das Durcheinandersein konzentrische Ringe bildet – sie macht es, immerhin, denkbar, dass einige meiner oben vorgetragenen Überlegungen nicht einem stummen, in meinem Inneren verbürgten Sinnieren entsprangen, sondern sich in Rede und Gegenrede ergaben, während ich sie heute nur noch als erbrütete und damit als die meinigen wiederholen kann. Immer wieder habe ich festgestellt, dass Gedanken niemandem gehören. Wer ein Preisschild an einen Gedanken heftet, der verfälscht ihn nicht allein in soundsovielen Fällen, er macht sich selbst oft genug in den Augen seiner nächsten Umgebung zum Dieb.

  • ―Sehen Sie, sagte er und ich sah, aber was ich sah, hatte mit dem, was er mich sehen lassen wollte, vielleicht nicht mehr Ähnlichkeit als ein Huhn mit einem Papagei, und dieses Huhn spukt unweigerlich in meiner Erinnerung herum, es ist aber mein Huhn und ich kann nicht wirklich wissen, wie es dort hinein gekommen ist.

Die Osmose, der jedermann fortwährend unterliegt – und die ihn zu dem macht, was er ist: ein Mensch – könnte ihre wohltätigen und manchmal zerstörerischen Wirkungen nicht entfalten, würde die Person all das, was ihr darin zugetragen wird, in dem anfänglichen Zustand festhalten, in dem es weder ihr noch einem anderen Wesen zugehört, sondern, wie der Ausdruck nicht ohne Verschmitztheit lautet, ›frei flottiert‹. Das hieße ja, das eigene Innere zu einem Äußeren eigener Art zu machen, zum Jenseits eines völlig verstockten wirklichen Selbst, in das so wenig hineingelangte, dass es von sich nichts weiter mitzuteilen wüsste, so dass sich, genau genommen, alle Mitteilung ein für allemal erübrigte. Dieses ›wirkliche Selbst‹ wäre demnach ein Wesen, das unbeteiligt den Lebensprozessen beiwohnt und seine Aktivität auf den stehenden Kommentar beschränkt, dass von ihm nicht die Rede sei. Und darin hätte es dann wohl recht.

Druckstellen

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1
Renate Solbach: Figur 17

 

Ich frage mich, ohne dass ich eine klare Antwort erwartete, wann genau der Gedanke in mir Gestalt annahm, eine solche, mich eher befremdende Kernspaltung könne ganz gut R’s Manuskript zugrunde liegen. Ein wenig Gedankengymnastik war schon notwendig, um die entscheidenden Schritte fehlerfrei auszuführen.

So ein schwaches Selbst, kombinierte ich, ließ sich dann genauso gut als stark und sogar überstark verstehen. Aus irgendeinem Grund wird die Kraft der Anverwandlung, wenn sie ins Bewusstsein tritt, als Schwäche erfahren. Wo das nicht der Fall ist, liegt der Gedanke nahe, dass die Stärke, die jemand braucht, um das Geschehene von sich entfernt zu halten und dennoch nicht zu verlieren, zu einer derart dominanten Größe angewachsen ist, dass sie dem Ich keine Illusion über sich selbst erlaubt und es so an seiner natürlichen Entfaltung hindert.

 

Ein Einfall nur, eine Hypothese vielleicht, aber nicht ungeeignet, einen Zug an R (dem R, den ich kannte) zu erklären, der hervortrat, als ich bei unserem nächsten Treffen die gegenwärtige Begegnung erwähnte.

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2
Antipoden

Und wie ich Mompti kennenlernte! Seinen schweifenden Ausführungen merkte man ohne weiteres an, dass er sie am liebsten in Anekdotenform vorgetragen hätte. Irgendein Umstand stoppte ihn aber auf der Schwelle zum Erzählen und bewirkte, dass seine gelegentlich überfließende Rede nirgends über ein Getümmel unklarer Andeutungen hinauskam. Auf diese Weise erzeugte sie einen beträchtlichen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich befand mich deshalb in der etwas misslichen Lage, fortwährend zu etwas nicken zu müssen, das ich nicht immer verstand, wollte ich nicht den Faden verlieren oder das Gespräch abreißen lassen, da ich nicht wissen konnte, wovon gerade die Rede war und auf welche speziellen Gegebenheiten sie anspielte.

Man konnte ihn also mit Fug einen Antipoden Rs nennen, dessen Rede so im Allgemeinen zu Hause war, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich zu fragen, welche Erlebnisse sich wohl dahinter verbargen. Mompti, der Ältere, konnte nachlegen, wie er wollte, das Einzige, was er damit erreichte, war, dass seine Rede an Stellen in Gestammel aus- und abbrach, wo R eine völlig disziplinierte Sprache zur Verfügung stand. Gleichzeitig strahlte er an solchen Stellen ein Selbstgefühl aus, das keinen Zweifel daran erlaubte, dass er es gerade so und nicht anders zu haben wünschte. Denn an dieser Stelle begann die Kunst, der er sich nun einmal mit Leib und Seele verschrieben hatte.

Hätte ich in Den Haag gewusst, dass er die Reise eigens unternommen hatte, weil er sich von den in ›bisher ungesehener Fülle‹ ausgestellten Bildern Tenborchs einen ›wichtigen Schaffensimpuls‹ und sogar eine Wende für seine eigenen Arbeiten erwartete – er war Maler –, vielleicht hätte ich aus seinen Reden das Ausmaß der Enttäuschung heraushören können, mit der er sich an einem der kommenden Tage auf die Rückfahrt begab. Armer Mompti! Die Rhetorik, die er pflegte, konnte man, bei hinreichend sarkastischem Willen zur Wörtlichkeit, ›erbaulich‹ nennen: Niederschlag der Überzeugung, dass alles, was ihm in diesem Leben begegnete, am Aufbau seiner Künstler-Persönlichkeit beteiligt und also ein wichtiger Teil dieser Persönlichkeit sei. Bescheiden wie er war, konnte er sich, um dieses imposante Ich zu inspizieren, hin und wieder in seinen weitläufigen Anlagen verlaufen. Damit nicht genug: sobald er den Mund aufmachte, um von einer seiner Exkursionen zu berichten, trat der geschilderte Effekt ein, der auch den willigsten Zuhörer aus dem, was er sagte, nicht recht schlau werden ließ – eine Art Kurzschluss zwischen zwei unterschiedlichen Ichs, die, während sie ›schlagartig‹ ihrer Identität inne wurden, entdeckten, dass sie sich im Grunde nichts Rechtes zu sagen hatten.

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3
Von Haus aus

war Mompti Zeichner. Die Zeichnung stand im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Sie bestimmte das Spiel seiner Finger, selbst wenn er sich einen Zigarillo anzündete oder einen Leimtopf vom Herd nahm, um einen verwitterten Bilderrahmen zu reparieren oder einen Schemel, der unter der Last anonym verbrachter Jahre zusammengebrochen war. Als Musiker wäre er Pianist geworden. Nie hätte ich gedacht, dass er sie einmal dem Wahn opfern könnte, mit der Kraft seiner Hände ein Haus sanieren zu müssen, das er besser nie hätte erwerben sollen.

Seiner Kunst fehlten die aufgeblasenen Backen, sie atmete ruhig, zuweilen kaum, dann wieder fest und entschieden. Wer sie betrachtete, fühlte sich von der Notwendigkeit entlastet, in ihr dem Künstler Tribut zu zollen, der ›Druck macht‹, um ihn je nach Laune und Denkrichtung als gewichtige Persönlichkeit oder als peinliche Null zu taxieren.

Graf Fit (o)

Dieselben Farben, die mir matt und sozusagen nachgetragen vorkamen, wenn ich ihrer im Atelier auf gelegentlich auch entstehenden Aquarellen und noch gelegentlicheren Ölmalereien ansichtig wurde, entfalteten eine Kraft der Verwandlung, die mich immer wieder in Erstaunen versetzte, sobald ich eine seiner Druckgrafiken in Augenschein nahm. Es handelte sich um Offset-Drucke, zu denen er Zeichnungen auf Folien lieferte, die sich erst im Druck zu ›fertigen‹, auch für den Laien erkennbaren Bildern zusammensetzten. Im Computerzeitalter gilt dieses Verfahren ›rein technisch‹ als überholt und daher kunstnah. Zu Momptis Lehrzeiten sah man darin nichts als eine billige Art der Reproduktion und er, der genau darin einen Reiz fand, den er benötigte, hatte in jüngeren Jahren eine Art Manifest verfasst, in dem er, aus eher kaufmännischen Überlegungen, die angeblich verloren gegangene und unter Modernisten verhöhnte Aura ausdrücklich für die billige Reproduktionstechnik reklamierte, die bei dem Aufwand, den er zusammen mit seinem Drucker trieb, so billig nicht war.

Die Broschüre war, wie manches andere, liegen geblieben, während sein Ansehen wuchs. Aus der Beiläufigkeit, mit der er sie mir eines Tages zuschob, schloss ich, dass er in mir einen aufmerksamen Leser gefunden zu haben glaubte, einen von denen, die nicht nur sehen wollen, um überzeugt zu sein. Es blieb eine stumme Geste, deren Bedeutung sich mir erst ergab, als ich in Nöte geriet, die den seinen, von denen ich nichts wusste, in nichts nachstehen sollten – Nöte, die zuverlässig verhinderten, dass wir noch einmal zusammenkamen, obwohl wir es vielleicht beide bitter nötig gehabt hätten. Mompti – auch er – ist in dem Jenseits verschwunden, das R mir zum Geschenk machte, als er auf die Idee kam, mir das Manuskript auszuhändigen, dessen Entzifferung und diaphane Sichtbarmachung seither den ›Aufwand‹ meines Lebens bestimmt.

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Die Druckgrafiken lagerten in unterschiedlich hohen Stapeln auf eigens dafür geschaffenen Ablagen sowie einem langen, überaus solide gebauten Tisch, dessen Arbeitsfläche von seltsamen Sticheln und Holzschneidewerkzeugen wimmelte. Sie bedeckten mehrere Druckmaschinen, die den Eindruck erweckten, einem schwäbischen Technik-Museum entwendet worden zu sein und an diesem Ort ein geisterhaftes Nachleben zu führen. Etliche Wunder lagerten in Kartons verpackt, andere ruhten in großen Mappen in hundertjährigen Regalen und einem Setzschrank, der durch sein bloßes Format Bewunderung hervorrief. Es war aber nicht der Setzschrank, der mich bei meinen zeitweise recht häufigen Besuchen in eine Art Delirium versetzte, sondern das Durcheinander aus merkwürdig modifizierten Gerüchen, aus Licht- und Farbeindrücken, darunter der in stumpfen Metallblautönen über unwirklich satten Wiesen aufgehende Himmel, den ein, zwei große Fenster in den Raum einfügten, und dem nicht abreißenden Parlando des Hausherrn, der hin und herschlurfte und dem Gast manchmal eine Tasse Tee, manchmal einen Keks aus einer zu diesem Zweck aufgebrochenen Tüte anbot, die ein anderer Besucher hinterlassen haben mochte.

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Er wohnte auf dem Lande, der Eingang zu seinem Reich war durch mancherlei Gerümpel verstellt und glich – was Mompti, wie ich glaube, genoss – dem Eingang zu einem Stall. Umso heftiger reagierten meine Sinne nach dem Überschreiten der abgewetzten Steinschwelle, als ich zum ersten Mal im Chiaroscuro des geräumigen Ateliers eines riesenhaften Druckes ansichtig wurde, der gleich neben der Tür oberhalb des Sturzes hing. Auf einem blauen Grund, den man je nach Gemütsverfassung als giftig oder verhalten empfinden konnte und der mir absolut künstlich vorkam, bis ich bei stürmischem Wetter exakt das gleiche Spektrum über der Landschaft entdeckte, die Mompti Tag für Tag durchstrich, eilten, hasteten, flogen Figuren und Gegenstände dahin, von einer stillen Explosion auseinandergetrieben, deren Zentrum leer gelassen war. Allein für sich wäre das ein abgegriffenes Motiv gewesen, hätte der Künstler es nicht fertiggebracht, das Durcheinander, statt es effektvoll um die leere Mitte zu gruppieren, in einen fragmentiert wirkenden Bildraum zu entlassen, in dem es die auf Einheit ausgehende Wahrnehmung narrte, als wollten seine Bestandteile sagen:

  • ―Warum das Ganze? Nimm mich!

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6

Es gab da ein durch die Lüfte sausendes Floß, besetzt mit kopflastigen Zweibeinern, von denen einer, der zufällig in der ersten Reihe stand, die Gelegenheit nützte, um mit ausgestrecktem Arm in eine ungewisse Zukunft zu weisen, daneben eine eher gemütlich dreinblickende Person, die mit einer Taschenlampe spielte und bequem in einem Pappkarton dahinsegelte, dieweil in unmittelbarer Nachbarschaft riesige Scheren, Dosenöffner, Glühbirnen, Blätter, Reißzwecken, Gebäudereste und sogar Buchstaben vorbeiflogen. Doch das war nur der Bruchteil eines schier unübersehbaren Tohuwabohus, das einer genauen Betrachtung immer neue Details preisgab. Das ganze Blatt war ausgesprochen filigran gearbeitet. In bestimmten Regionen ging die Szenerie der Lüfte – oder eines mondnahen Raumes – in eine Tiefseewelt über, ohne dass man den Übergang hätte bestimmen können. Ein lichtscheuer Rochen, auf dem ein vermummter Taucher ritt, verschlang ein Automobil, anderes, schwer zu taxierendes Meeresgetier raste in ungebremster Fresssucht über die beiden hinweg.

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Hier fand ich auch den Drachenlenker wieder, der mich am Strand von Scheveningen beschäftigt hatte. Ohne eigenes Zutun hatte er sich in die Lüfte erhoben und brauste mit wehendem Haar und geöffnetem Mund an mir vorüber. Diesmal konnte ich ihn in aller Ruhe betrachten. Seine Augenbrauen wölbten sich hoch und bildeten einen ausgeprägten Winkel, unter dem die aufgerissenen Augen einen gleichermaßen gläubigen und entsetzten Eindruck machten. Die Gläubigkeit schien mir jedoch zu überwiegen. Seine Knie waren angewinkelt und die Beine schwangen nach hinten, als säße er in einer Schaukel und versuchte der Vorwärtsbewegung zusätzlichen Schub zu geben. Das unterstrich die Kindlichkeit der Person, die in anderer Hinsicht einem Propheten ähnelte. Der Drachen spannte sich mächtig im Sturm, eine Stelle war geflickt, eine andere gerissen, an quer gespannten Schnüren flatterten Wimpel und über allem eine Fahne, die sich wie eine Orchidee himmelwärts öffnete.

  • ―Ich werd’s irgendwann zerschneiden, sagte die Stimme Momptis, der hinter mich getreten war.
  • ―Zerschneiden?
  • ―Ich denke, ich werd’ eine Serie von Einzelstücken draus machen und sie verkaufen. Ehrlich gesagt, ich kann’s nicht mehr sehen.

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8

Das klang hart. Besonders für mich, der ich, noch überwältigt von der Fülle des Erschauten, mich in immer neue Details versah. Jetzt, da er das Ganze in Frage gestellt hatte, blickte auch ich mit kritischem Auge auf die Komposition und schon fand ich Grund, sie für problematisch zu halten. Fehlte ihr nicht doch, rein malerisch, der Zusammenhalt? Bildeten die Gruppen, die einen verzauberten, sobald man sie einzeln ins Auge fasste, vielleicht bloß Flecken unterschiedlicher Dichte, die keinen Gesamteindruck aufkommen ließen? Was mich Sekunden vorher fasziniert hatte, war in sich zusammengefallen und ich stand dicht davor, dem Künstler gute Ratschläge für die Zukunft zu erteilen. Dennoch fand ich, dass dies allein ein Zerschneiden nicht rechtfertigte. Im Gegenteil, ich hielt es für einen Akt der Barbarei. Mompti zuckte die Achseln.

  • ―Ja, es hat ja was. Aber die Farben sind ungleichmäßig. So ein großes Stück kannst du nicht auf einmal drucken. Du kannst machen, was du willst, du kriegst es nicht hin. Du siehst die verschiedenen Platten. Du vielleicht nicht, aber ich seh’ sie. Eigentlich schade, die Idee war gar nicht so schlecht.

So sehr ich mich auch anstrengte, die verschiedenen Platten, wie er sich ausdrückte, zu sehen – ich konnte nichts davon entdecken. Dabei zweifelte ich nicht daran, dass er sie sah, schon aus dem einfachen Grund, weil er sie angefertigt oder zumindest ihre Anfertigung veranlasst hatte. Aber dass die ›Idee‹ zurücktreten musste, wenn die Ausführung versagte, das verstand ich. Allerdings war mir nicht klar, in welcher Weise sie zurücktreten konnte, da ich fest davon überzeugt war, dass sie es war, die das Kunstwerk veranlasst hatte, und dass sie deshalb nicht einfach aufgegeben werden durfte, nur weil die Ausführung sich als schwierig oder – ich zögerte in Gedanken – als unmöglich erwies. Schon wurde ich unsicher.

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9
Gab’s das –

ein unmögliches Kunstwerk? Wenn mich meine Museumsbesuche etwas gelehrt hatten, dann, dass dem einen Künstler ganz leicht von der Hand ging, was dem anderen, früheren, das Äußerste abverlangt hatte und woran er schließlich doch gescheitert war. In meinem Gedächtnis hatte ich einen Extraplatz für ungleiche Zwillinge dieses Formats reserviert, deren Biographien gelegentlich durch Jahrhunderte und Kontinente auseinanderlagen. Es genügte, dass sich einer der Sache aus einem anderen Blickwinkel und mit anderen Mitteln annahm, und das Unmögliche gelang.
Auf diese Weise hatte ›der Mensch‹ fliegen gelernt, warum also nicht malen?

  • ―Vielleicht solltest du die Differenz der Platten nicht zum Verschwinden bringen wollen, sondern hervorheben, sie sozusagen ins rechte Licht rücken?

Mompti lächelte auf eine besorgte Weise nachsichtig. Ich verstand, dass ich eine rote Linie überschritten hatte.

Aber so leicht wollte ich nicht aufgeben.

  • ―Du spielst doch sowieso mit der Uneindeutigkeit der Räume. Ich sehe nicht, dass sich das alles in einem Raum darstellt. Ich glaube nicht einmal, dass diese verschiedenen Räume in einem umfassenden Raum aufgehen. Alles, was man sieht, hat seinen Raum. Es gibt kein Dazwischen.
  • ―Deshalb will ich das Blatt ja zerschneiden.
  • ―Aber damit ist die Konzeption verschwunden.
  • ―Das wird schon nicht so schlimm sein. Wird schon nicht so schlimm sein.

Und er schlurfte davon.

Was hätte R wohl dazu gesagt? Aber er hielt nichts von Kunst, insofern erübrigte sich die Frage.

Das absolute Wissen schätzt seine Feinde

Das absolute Wissen schätzt seine Feinde
5
Renate Solbach: Figur 18

 

Schafft zwei, drei, viele Tronkas
Latrinenparole, studentisch

Sollte es jemals ein Sturmgeschütz der Philosophie gegeben haben, so hieß es Tronka. Während Mompti seine Kunst gegen eine unsichtbare Wand fuhr, brauste Tronka den Weggefährten davon, so dass die Aufstiegsfreudigen unter ihnen bald nur noch wenig mehr von ihm sahen als der Spaziergänger, der auf dem weißen Scheveninger Sand dem hoppelnden Drachenlenker hinterhergeblickt hatte. So jedenfalls wirkte auf mich, was ich im Hause Leckebusch nach und nach über ihn zu hören bekam. Nicht, dass er aufstiegsunwillig wirkte –: das nun gerade nicht, hätte die einzige Studentin aus dem Kreis seiner Getreuen mit gespitzten Lippen dazu bemerkt, aber:

Sie hätte es gesagt und einmal sagte sie es auch, wenngleich der Zusammenhang etwas anderes suggerierte, aber was sie meinte, das konnte keinem Zweifel unterliegen.

Irgendwann nach dem Abend im Hause Leckebusch hatte ich den Rat des Assistenten befolgt und mich ›auf die Insel‹ begeben. Mir war klar, dass er dabei an mediterrane oder verwandte Regionen gedacht hatte: etwa an das von ihm erwähnte Rhodos, an Kios, Naxos, Delos, deren vertraute Namen mich eher an Eckkneipen im ›Pott‹ erinnerten als an die versprochenen Abenteuer des Denkens, aber das lag sicher an meiner nichtgriechischen Seele und kam nicht weiter in Betracht. Die Balearen, die mich flüchtig an Baalskulte erinnerten, verboten sich aus hier nicht zu erörternden Gründen, desgleichen die Kanarischen Inseln, auf denen wenig später ein von R Amenophis der Vierte getaufter bedeutender Gelehrter sich im Kreise seiner Getreuen dem Weltgespräch widmen sollte, ohne dass mein Bekannter mich in irgendeiner Weise davon in Kenntnis gesetzt hätte.

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Angram

Mein Ziel lag näher und ferner: Angram, die ›Perle des Nordens‹, die mir später noch tiefe Lust und ebenso tiefes Unbehagen bereiten würde, ein runder grüner Klacks in der Nordsee, nicht gelb und glänzend wie der Klacks Mayonnaise auf Momptis Teller, doch kaum höher aus der See aufragend, jedenfalls dann, wenn man die imponierenden Deiche abrechnete, die es umgürteten. Nach ersten Tagen, die ich, vom lausigen Wetter überrannt, mit Kopfschmerzen im Bett zugebracht hatte, hatte ich mich langsam, auf respektvolle Entfernung achtend, der Aufgabe genähert, die Scharen der Wattwanderer auf ihren scheinbar ziellosen Wegen zu begleiten. Ferner hatte ich begonnen, durch spontane Quergänge das Inselinnere zu erkunden, das zwischen fetten Wiesen und schütteren Wäldchen mit Ortschaften aufwartete, die bloß aus ein paar Gehöften bestanden, aber dafür so geheimnisvoll schillernde Namen wie Fartsum, Bergsum oder Nidsum trugen. Ihr Klang musste, wie aufgewirbelter Staub, ein paar Tage lang in meinem Bewusstsein kreisen, ehe er sich setzte und mir aufging, dass ich in einen Landschaft gewordenen Volkshochschulkurs für Altfriesisch geraten war. Das amüsierte mich. Suche A und du findest B, sagte ich mir, ich sagte es mir laut und leise vor, aber eine trotzige Stimme hielt dagegen und bestand darauf, dass ich hergereist war, um der Philosophie auf die Schliche zu kommen. Dumm nur, dass im hiesigen Klima der Rotwein nicht schmeckte und der Seewind dem Philosophieren zwar nach Kräften vorarbeitete, insofern er jede banale Gedankentätigkeit zum Erliegen brachte, aber mit gleichen Kräften auch verhinderte, dass es in Gang kam.

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Die Rotweinfrage

beschäftigte mich. Das Bett aufschüttelnd – ich wusste bereits, dass der eigenwillige Hausherr hinter meinem Rücken das Zimmer kontrollierte – stellte ich mich diesem wirklich wichtigen Sachverhalt. Ich zog das Kopfkissen an beiden Ohren, als ließe sich auf diese Weise ein Assistent erschaffen, der mir bei der Lösung der Denkrätsel zur Seite stehen würde. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, wie mürbe der Stoff bereits war und welch unerfreuliche Szene auf mich wartete, sollte er unter meinen Fäusten zerreißen.

War ich hier auf einen umfassenderen Sachverhalt gestoßen, eine Faustregel sozusagen oder gar ein allgemeines Gesetz? Möglich, sagte ich mir, gut möglich (ich fing bereits an, mich in die gemächliche Denkart der Insulaner einzuhausen), dass es so ist. Gut, sagte ich mir, dann soll es so sein. Wenn es aber so ist, was folgt daraus? Nicht viel vorderhand, es sei denn, du machst etwas draus, und zwar so schnell es geht und so gut es geht. Ich schlich, das Knarren der Treppe vermeidend, aus dem Haus und ging auf Zehenspitzen in Richtung Hafen, wo ich bei der Ankunft einen größeren Lebensmittelmarkt ausgemacht hatte.

Mach was draus.

Und wenn ich nichts draus machte? Niemand würde es mir vorwerfen oder auch nur bemerken, denn die Sache betraf nur mich selbst. Die Straße fühlte sich kalt und spitz an.

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Binnen weniger Tage gab ich eine Menge Geld aus, immer auf der Suche – schmeckt, schmeckt nicht – nach einem positiven Erlebnis, einem Durchbruch, wie ich es bei mir selbst nannte, denn mich dürstete nach Gewissheit. Sooft er konnte, stieß ich mit dem Vermieter an, er konnte von Mal zu Mal länger, aber zur Entscheidungsfindung trug er nicht bei. Auf der Insel, bilanzierte ich, wird einer schneller zum Säufer als zum Connoisseur. Irgendwann, als das Ergebnis immer gleich negativ blieb, beließ ich es bei dieser vorläufigen Erkenntnis.

Da hast du deine Gewissheit.

Eigentlich war ich froh, auf diese Weise zum Erkenntnisrelativisten erzogen zu werden. Denn dadurch erhielt meine deprimierende Einsicht die Chance, irgendwann durch einen Zufallsfund, der natürlich erhöhten Kapitaleinsatz voraussetzte, ausgehebelt zu werden.

  • ―Herr Leckebusch, deklamierte ich, Sie irren. Es gibt den Teutoburger Wald, es gab die Germanen, da wird es wohl auch diese vermaledeite Schlacht gegeben haben, egal, was damals gerade auf dem Kapitol verhandelt wurde oder auch nicht. Genauso besteht die Möglichkeit weiterhin, dass ich an den richtigen Wein gerate, sie ist nur, sagen wir, aus dem Bereich des gerade Erreichbaren hinausgerückt, was zwar bedauerlich ist, aber sich im gegebenen Rahmen nun einmal nicht ändern lässt. Vermutlich ahnen Sie nicht einmal, was der richtige Wein in diesem Moment meines Lebens für mich bedeutet. Statt im geschlossenen Coupé das Fachgespräch mit Professor Kuckuck zu suchen, sollten Sie die Jalousie aufziehen und die Landschaft inhalieren, ja inhalieren, das tut den Lungen gut und auch den Bronchien, wie ich mir habe sagen lassen. Übrigens liegt das Sanatorium hier gleich um die Ecke. Wir können uns auch duellieren, ich übernehme gern den Part des angenehmen, obschon philosophisch unzuverlässigen Herrn Settembrini und überlasse Ihnen den Rest. Cherchez la femme.

Wie gesagt – der falsche Rotwein.

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Ich saß am Meer, staunte Bauklötze und half einem kleinen Jungen beim Burgenbau, bis ein Panikblick seiner Mutter unsere erfolgreiche Kooperation beendete. Das war die Hoffnung, die alle Naturwissenschaftler seit Archimedes beseelte. Wie die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation bewies, hatte es bisher immer geklappt. Tronka, soviel hatte ich schon gelernt, bewunderte die Naturwissenschaften. Sie waren für ihn der Heilige Gral der Erkenntnis, an dem sich alle anderen messen lassen mussten, ohne jede Aussicht, auch nur entfernt an ihn heranzureichen. Ich selbst, unterwegs zum Mirakel der Heiligen Flasche, musste ihm in einem Punkt Recht geben: es gab den empirischen Befund (das Sinnesdatum) und er machte den Unterschied.

Tronka, soviel wusste ich schon, war ein Freund der Flasche. Anders als Leckebusch, der sich hin und wieder ein Gläschen genehmigte, ›sprach er dem Weine zu‹, Abend für Abend, soweit ich die Sache überblickte, offenkundig stimulierte er ihn, aber es war auch etwas von jener abnormen Männlichkeit im Spiel, die sich zwischen Schreibtisch und Seminar gebildet hatte und schwer mit anderen Ausprägungen vergleichen ließ. Ein feminisierter Macho, so konnte man ihn nennen, einer, der sein theoretisches Verhältnis zu den Frauen mit allerlei Wort- und Gestenzinnober übergoss, um am Ende meist allein zu sein, dort, wohin es ihn ohnehin zog.

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Flaschenhals

Kaum hatte ich begriffen, was auf dem Spiel stand, verstand ich auch, wie dilettantisch mein Vorgehen war und bleiben würde, egal, wieviel Geld ich noch drauflegte. Um systematisch an die Sache heranzugehen, hätte ich in ganz anderen Dimensionen denken müssen. Es gab da die Dimension der Zeit, im Grunde der entscheidende Faktor, denn meine Verfügung über sie hielt sich in gewissen Grenzen, ich mochte meinen Etat schütteln und rütteln, wie ich es auch bereits tat. Das wiederum hing eng mit dem anderen Faktor zusammen, dem pekuniären, der mich zwar momentan wenig beschäftigte, aber eine alternative Herangehensweise nahelegte. Ich hätte anderer Leute Geld mit in die Sache hineinziehen müssen (›Drittmittel‹, wie der praktische Ausdruck lautet, den man in der Wissenschaft dafür verwendet), ich hätte Mitarbeiter beschäftigen und Versuchsreihen ansetzen, ich hätte die Arbeit fremder Menschen kontrollieren und auswerten müssen und hätte mich darüber wahrscheinlich dem Kern der Sache, dem Trinken, völlig entfremdet. Schon graute mir davor, das Ergebnis vermarkten zu müssen, um die entstandenen Kosten wieder einzufahren und das Projekt womöglich doch noch in die Gewinnzone zu bringen. Ich hatte mir frei genommen und ich war so frei, mich all dieser aufwendigen Dinge zu entschlagen. Nach einem trüben Versuch mit einer Flasche Ale löste ich die noch vorhandenen Bremsen, schlug den Kragen hoch und trank, als sei ich bereits Insulaner,

TEE
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7

Ich begann mit einem kräftigen Darjeeling. Der bewirkte zwar eine neue Form der Benebelung, aber er errichtete gegen den ständigen Meerwind eine Art Windfang, in dessen Schutz die Gedanken kamen und gingen, so dass ich ihnen, wissend, dass jeder Versuch, sie aufzuhalten, vergeblich war, hätte zurufen mögen wie einst Faust im Mai:

Verweile doch, du bist so schön.

So einen Zustand hatte ich nicht erwartet und schon gar nicht herbeigewünscht. Ich hätte ihn, überzeugt, dass er keinerlei Erkenntnispotential barg, nicht einmal herbeiwünschen wollen. Doch nachdem er sich einmal eingestellt hatte, war er mir angenehm. Ich wunderte mich nur, dass ich ihn angesichts der vor mir liegenden Strecke nicht schon früher ins Auge gefasst hatte.
Etwas verstand ich nicht.
Warum hatte Mompti am Scheveninger Strand von ›meinen Kreisen‹ gesprochen, in denen ›Objektivität‹ angeblich ein Schimpfwort war? Sicher hatte er mich für einen von diesen Intellektuellen gehalten, für die der modische Reiz einer Theorie darin liegt, dass sie möglichst viele paradoxe Behauptungen erlaubt. Jedenfalls schwang diese Bedeutung mit, wo immer die Bezeichnung in der Öffentlichkeit kursierte, es sei denn … es sei denn, es handelte sich um Schriftsteller, welche die Nazi-Verfolgung oder das eiserne Gesinnungsregime des Ostblocks überlebt hatten oder sich irgendwo auf der Welt in ernsthaften Schwierigkeiten befanden – in diesem Fall war ›Intellektuelle‹ ein Ehrentitel, unangreifbar und ohne jede weitergehende Bedeutung.
Gab es solche Leute überhaupt? Mein inneres Auge glitt über die regenbogenfarben angeordneten Reihen jener Edition, die in den besseren Buchhandlungen die vorderen Regale füllte: wenn überhaupt, dann mussten sie hier zu finden sein – und wenn schon nicht sie selbst, so wenigstens der Stoff, den sie, unentwegt Zerstreuungen kauend, wie Rilke schreibt, sich gegenseitig aus dem Mund nahmen und wieder zurückerstatteten. Waren das Intellektuelle? Waren das die Intellektuellen? Der Wind stockte, er schien, fast erstaunt, über dieser Frage zu grübeln, dann bestrich er sacht die Kappen der in gelbes Plastikzeug gewickelten Promenadenbummler, ehe er ihnen hart ins Gesicht schlug.

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Förmchen und Schäufelchen

Ich rückte den mit weißen Kunststoff-Strippen bespannten Stuhl an die Balkonbrüstung, von der hier und da der Putz zu bröckeln begann, legte ein Kissen auf, wickelte mich in eine Decke und blickte aufs Meer hinaus, wo die Fähren ihre Bahn durch eine schmale Fahrrinne zogen, die parallel zur Promenade verlief. So blieb den sich dort drängenden Inselbesuchern immer etwas zu schauen, sobald sie, was selten genug der Fall war, ihre Blicke von den in jahrzehntelanger Kleinarbeit an den Geschmack der zusammengewürfelten, aber ziemlich uniformen Kundschaft angepassten Ramschläden lösten. Die Saison war kurz. Die Einnahmen mussten reichen, um das restliche Jahr abzudecken: harte Bedingungen, die sich in Buddelschiffen, Sandschaufeln und Lenkdrachen verbargen, der zwischen Wollmützen und Friesennerzen hervorstürzenden Reizwäsche einen träumerischen Sinn verliehen und als vergoldete Seepferdchen und Muschelgehänge auf Kundenfang gingen.

Mein Blick glitt über die stetig schiebende Menge, aus der mich hin und wieder neugierige Blicke streiften – schließlich saß ich dicht über ihren Köpfen –, er ruhte flüchtig auf zwei halbwüchsigen Spielern, die kindergroße, schneeweiße Schachfiguren mit den Füßen hin und herschoben, und erwartete träge den Zusammenstoß zweier tutender Fähren, die in Wirklichkeit mit sicherem Abstand aneinander vorbeirauschten. Er inspizierte den dünnen Faden der Halligen und geriet auf Abwege, als wanderte er erneut in den dämmrigen Garten hinein, in dem Elisabeth sich von ihrem Rasensitz erhob und davonging, während der Faun sich aus dem Schatten des Rhododendron löste.

Diese Gleichgültigkeit zwischen Elisabeth und ihrem Mann, die sich in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber seinen Gästen brach und vervielfältigte – sie war weder gespielt noch persönlich, sie galt keiner Person oder, wenn doch, der ›persona‹, der Maske, die all diese Menschen angelegt hatten, um – das war es! – ›akademisches Leben‹ zu spielen. Jeder von ihnen hätte sich mit Blick auf Elisabeth sagen können – und mancher von ihnen tat es sicher auch –: Sie ist keine von uns. Doch als Frau Leckebusch war sie Teil des Ensembles und einige von ihnen schienen es darauf anzulegen, ihr aus der Hand zu … fressen.

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Sie spielten nicht gut, eher schlecht, nur eines stand ihnen, wie ich deutlich gespürt hatte, nicht frei: ihre Masken abzulegen und in eine Normalität zurückzukehren, die Elisabeth von ihnen zu fordern schien.

Masken mit maskenlosen Gesichtern, frei von Grübchen

Wobei es für mich mehr als zweifelhaft war, ob die Frau, die ich kannte, an ›normalen‹ Charakteren etwas gefunden hätte, das sie reizte. Es stand ihnen nicht frei, weil ein langes Studium und ein mühsamer Aufstieg, den nach Medienbrauch ›Karriere‹ zu nennen wie eine Verhöhnung klang, an die Stelle von Normalität eine Leere gesetzt hatten, die sie, so gut es ging, mit den Insignien des Wohlstands und einer antiquarisch geprägten ›Kultur‹ ausstaffierten.
SendungNach meiner Überzeugung hatte Leckebusch nur deshalb nach Manns Krull-Fragment gegriffen, weil in seinem Klassiker-Universum Thomas Mann gleichauf mit einem Arnold Gehlen oder Ernst Bloch rangierte. Aus diesem Grund hatte er auch dieselben Lektüre-Maßstäbe angelegt und war damit gescheitert, ohne es zu bemerken. Im Gegenteil: die Kollegen und Mitarbeiter mussten an seinem einsamen Triumph teilnehmen, sie mochten im übrigen darüber denken, was sie wollten. Ein Mann wie Leckebusch konnte ›mit Sicherheit‹ nichts Komisches an sich entdecken, wenn er die Wirkung seines Auftretens auf die Kollegen und das jüngere Publikum taxierte. Das erstreckte sich auch auf seine zahlreichen Ticks. Und er hatte vollkommen Recht: als Platzhirsch setzte er Maßstäbe. Vom Schieflegen des Kopfes über die seltsame Schmallippigkeit, die sich in seine Sprechweise hinein verfestigt hatte, bis hin zum ›überhaupt‹ offerierte er seinen Hörern eine Reihe von Identifikations-Elementen, die früher oder später, auf jeden Fall schleichend (ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand sich willentlich solche Marotten zulegte) Einzug in die habituellen Gepflogenheiten seiner Schüler und Mitarbeiter hielten. Einhart und Tronka boten dafür nicht besonders auffällige – da sollte ich bald anderes kennenlernen –, aber vielleicht umso hintergründigere Beispiele.

Einhart, dieser schmale Mann mit einer Neigung zum Aparten, hatte sich in die Rolle des maliziösen Kommentators begeben, der durch Schiefstellen des Kopfes an bestimmten Stellen seiner Rede gestisch zu verstehen gab, an welchem Primärtext er sich wirklich abarbeitete. Sein analytisches Verfahren unterschied sich von Leckebuschs Hermeneutik wie der Schokoladen-Osterhase vom Weihnachtsmann. Das unterschiedlich bedruckte Stanniol-Papier beziehungsweise der divergierende Ausgangstext, sorgte dafür, dass die Studenten in ihren Lehrern ›wirkliche Alternativen‹ sahen. Währenddessen sorgte die gar nicht so verborgene Maschinerie der Aneignung und Zurichtung sogenannter philosophischer Gedanken dafür, dass der Weg vom einen Seminar ins nächste nicht länger ausfiel als die Wahl zwischen zwei Mensagerichten und es alles in allem auf einen harmonischen Seminarbetrieb und den gesitteten Austausch in einer ansonsten auf Neid und Missgunst getrimmten wissenschaftlichen Gemeinde hinauslief.

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Eine Spur des Bedauerns durchläuft mich, denke ich an den Assistenten Tronka: ein feiner seidener Faden, gut, jemanden damit zu erdrosseln, der als Kraftbündel, jedenfalls im mentalen Sinn, in meinen Gesichtskreis trat. Damals wusste ich nicht, in wessen Händen die Enden lagen. Doch wehte mich eine Ahnung an, als ich, unser stilles Abkommen durchbrechend, in Rs Gegenwart über ihn sprach. Die Antwort war dazu angetan, mir den Mund für alle Zukunft zu versiegeln. Sie klang herablassend-nüchtern wie gewohnt und verletzte mich in einer Tiefe, in der ich keinen Tronka anzutreffen erwartet hatte. Die Welt ist voller Zwillinge. Bedauerlicherweise konkurrieren sie miteinander – herausgeputzte Pinscher, die keine Gelegenheit auslassen, übereinander herzufallen. Manchmal erweisen sich die eingesetzten Mittel als subtil, ein anderes Mal sind sie brachial, doch stets treffen sie den, der sie zusammenbringen möchte und sich nichts Arges dabei denkt. Ich zum Beispiel… Was rede ich? Ich besaß keine Ahnung, wie tief Tronka in R eingedrungen war oder, besser gesagt, noch eindringen sollte, denn der Tronka, dem ich im Manuskript begegnete, ist nicht länger Leckebuschs Assistent, er ist ein Unglück, das auf zwei eigenen Beinen wandelt, abhängig allein von den Unwägbarkeiten des Geschicks, das sich die Lieblinge des Geistes mit besonderer Perfidie vorzunehmen pflegt. Nichts ist geblieben von den unzertrennlichen Zwei, die Tronka und Einhart zu der Zeit bildeten, als ich sie kennenlernte, Pat & Patachon, wie Anita dergleichen Paare zu nennen pflegte, wobei ich mich fragte, wie zwei Stummfilmkomiker in ihren Sprachschatz gekommen sein mochten. Sie wusste es selbst nicht. Auch von Tronka und Einhart wusste sie nichts, und wenn sie von ihnen wusste, dann ahnte ich nichts davon.

Wohin ist Einhart verschwunden? Meines Wissens hat er nie den Absprung geschafft, den berühmten Absprung, der das A und O der universitären Karriere bildet. Ruflos unter Ruchlosen lebt er als Familienvater dahin, manchmal erscheint ein kluger Aufsatz von ihm in einer Zeitschrift, von deren Existenz nur die Eingeweihten einer bestimmten Denkschule wissen, seltsam echolos, obwohl er damals, als er in meinen Gesichtskreis trat, verglichen mit heutigen Stars des Betriebs über die besseren Karten verfügte.

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In die Sonne blinzelnd, leuchtete es mir völlig ein, dass ein schier unüberwindlicher Zwang die von Leckebusch herrührende Schieflage des Kopfes herbeiführen musste, sobald Einharts Rede einen der Lieblingsgegenstände des Chefs oder gar dessen eigene Reden berührte – nicht, weil er sich damit identifizierte, sondern weil er sich zwanghaft nicht damit identifizierte. Noch ausgeprägter trat dieser Zug bei Tronka auf. Dessen eifriges Naturell strebte gleich intensiv, sich über seine Umgebung zu erheben, wie, sich ›blendend‹ in sie einzufügen. Im Ergebnis misslang beides. Der Dauerkonflikt schuf eine Art von stornierter Rede, Verachtung und Loyalität rangen darin auf allzu knappem Raum miteinander.

Ein gutes Beispiel dafür, fand ich, boten seine Bemerkungen über Leckebuschs Hegelianismus. In ihnen mischten sich ehrliche Begeisterung über den idealistischen Philosophen (die den Wunsch, sich an ihm zu reiben, einschloss), die Empfindung, in diesem Punkt mit dem Professor an einem Strang zu ziehen, und der ungebremst zur Schau getragene Wunsch, Leckebuschs von der Forschergemeinde und bestimmten Teilen der Öffentlichkeit honoriertes Bemühen um das Hegelsche Œuvre mit Hohn zu übergießen, es irrelevant und sogar unsinnig erscheinen zu lassen – worin er sich mit dem bekennenden Anti-Hegelianer Einhart traf.

  • Heute darf ich ergänzen: Hätte ich die Schriften der beiden damals zu gleichen Teilen gekannt, so wäre mir bestimmt nicht entgangen, dass die wütende, aber anonym bleibende Opposition, die aus Tronkas Prosa sprach, mit einer stilistischen Unfreiheit einherging, deren körperliches Pendant in Einharts schiefgelegtem Kopf zutagetrat.

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Ernst bleiben

Ja, ich las mich ein. ich hatte ein paar Bücher mit auf die Insel genommen, sie lagen in lockerer Ordnung in meinem von Tag zu Tag mehr versandenden Strandbag, so dass der Zeitpunkt absehbar war, zu dem der Sand auch von Seiten Besitz ergriff, die dazu bestimmt waren, von mir Besitz zu ergreifen, zumindest meinen Geist in Reviere aufbrechen zu lassen, von denen ich keine Ahnung besaß, um das Mindeste zu sagen, denn das Vorurteil gegen philosophische Wälzer sitzt tief. Regelmäßig nahm ich sie auf meine mit der Zeit immer häufiger in einem fast leeren Café hinter dem Deich endenden Gänge mit, das zufällig – vielleicht weil nah und fern für den romantisch gestimmten Teil der Touristenschaft kein Schloss aufzutreiben war – den Namen ›Schloßcafé am Strand‹ trug.

In dieser herrschaftlichen Umgebung sollte es sich begeben, dass ich das erste Mal Tronkas Doktorarbeit aufschlug (Einharts sagenumwobener Erstling war ausgeliehen gewesen): einen annähernd quadratischen, in wässriges Leinen-Imitat gebundenen, beim Blättern in seine Bestandteile zerfallenden Band aus einer ›Exempla critica humana‹ genannten Schriftenreihe, in der man sich ebenso intensiv über Spinozas Seinslehre im Lichte der neuzeitlichen Metaphysikkritik informieren konnte wie über Heideggers gescheiterte Kehre, die Grundlagen einer Dialektik des Anderen oder, falls Bedarf daran bestand, Das Nicht-Fremde des Fremden. Achtlos rührte ich in einer Tasse Friesenmischung. Die großen, seewärts gerichteten Scheiben fingen den Anprall des Windes auf, der eben noch meine Ohren durchwühlt und meine Denkfunktionen radikal reduziert hatte. Das sollte jetzt anders werden? Schon achtete ich auf das leise Ächzen, das von der Fensterfront her an mein Ohr drang. Ich fühlte mich auf gefährlichem Posten.

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Sehe ich Liz im Hintergrund sitzen, lesend, das eine Bein hochgezogen, so dass die Linie des Fleisches, bestrumpft, wie es sich gehört, den männlichen Blick seitwärts abirren lässt, der doch von den Buchstabenkolonnen gefesselt sein sollte, die unerbittlich vor ihm abrollen wie das Schienenwerk, auf dem der TGV Paris – Nizza sich seinen Weg in den Süden bahnt? Hier lag der Süden des Geistes, gleißend unter den Strahlen einer Sonne, von der in der wirklichen Welt nichts zu sehen war, es sei denn, man nahm das von überallher eindringende edle Grau für ein Zeichen ihrer Anwesenheit. Es war auch nicht Liz, die dort saß, sondern eine schnatternde Gruppe von Freundinnen, aus deren Konzert eine Stimme besonders störend hervorstach, die Beine nackt, wie der Strand sie schuf. Ansonsten hatte ich meine Ruhe, wie man das in meinen Kreisen so nennt.

Tronka – ich hatte es mir fast gedacht – präsentierte eine kritische, fast grimmig zu nennende Lektüre Hegels, und zwar, wie er das nannte, des »Kernprogramms«: der Dialektik des Absoluten. Was das sei, war mir, dem Nicht-Kenner Hegels, nur schwer zu vermitteln. Dankbar nahm ich zur Kenntnis, dass der zappelige Charmeur, den ich kannte, nicht den leisesten Versuch dazu unternahm. Er setzte die Kenntnis des Grundtextes so rigoros voraus, dass sie auch wieder gleichgültig wurde. Ich habe diesen Effekt später noch mehrfach beobachten können. Tronka war so durch und durch systematischer Denker, dass selbst seine Polemik autistische Züge trug. Er kreierte den Feind, den er verdammte, so wie er das, was er an seinem Denken bewunderte, eigenhändig aus der Retorte zog.

Ob Tronka die einzig wahre Dialektik entmystifiziert oder sich selbst eine für den Hausgebrauch erfunden hatte, ist mir bis heute schleierhaft und, oh Wunder, auch gleichgültig geblieben. Es war ein Vergnügen, seinen Gedankengängen zu folgen, wohin immer sie einen führten – jedenfalls nicht ins Absolute, vor dem, wie er ausführte, alle konstruktiven Mittel versagten, so dass es am Ende als ein Wort dastand, das nicht nur nichts bedeutete, da auch ›nichts‹ noch einen Rest an Bedeutung trug, sondern als ein Zwitter aus Ding und Wort, aus Versprechen und Betrug, aus Erfüllung und Leere, ohne dass diese Wörter mehr zu seinem Verständnis beitrugen als die durch ihre Aussprache verursachte Luftbewegung.

Das Ergebnis erinnerte mich an verblasste Schullektüren von Nietzsche bis Camus, die allerdings mit weit geringerem logischem Aufwand ausgekommen waren. Dieser Aufwand wiederum, verbunden mit einer gewissen rhetorischen Schärfe, erweckte mir den Eindruck einer coram publico ausgetragenen Schachpartie – Tronka gegen Tronka –, in deren Verlauf ein zur Dramatisierung neigender Reporter die einzelnen Züge des jungen Herausforderers wie Vernichtungsschläge hinausposaunt, während der Champion seelenruhig in seinem Spiel fortfährt, was angesichts des unerbittlich scheinenden Scharfsinns seines Gegners nicht nur erstaunt, sondern ins schier Unerklärliche ausartet. Gemessen an der Propaganda hätte die Partie längst zu Ende sein müssen, aber ich wusste bereits, dass eine philosophische Doktorarbeit eine gewisse Länge aufweisen musste, und sah die Sache daher in einem gelasseneren Licht.

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Der Mädchenschwarm war lärmend abgezogen, mit ihnen drei Viertel des Tageslichts, nur die Kellnerin, bereit zum Kassieren, strich zwischen den Stühlen umher, schob und zupfte an den Tischdecken und machte sich auf jede erdenkliche Weise bemerkbar, die geeignet war, den Unwillen des Gastes über die Störung in engen Grenzen zu halten. Ich erwartete Tronka, teils, weil ich für meine Ausdauer angesichts der fremdartigen Gedankengänge gelobt werden wollte, teils, weil ich fand, dass das Buch das Feuer seiner Persönlichkeit nur stümperhaft wiedergab und ich eine Art Zugabe erwartete. Ich hätte ihn gern gelobt, ganz abgesehen davon, dass er mich überzeugt hatte – von was auch immer. Nie wieder würde ich vom Absoluten unbekümmert Gebrauch machen, nie wieder würde ich versuchen, mit dem Wort einem Maximum an Bedeutung Ausdruck geben zu wollen. Ehrlich gesagt, ich hatte es auch bisher selten, vielleicht nie mit der notwendigen Emphase getan, mir allerdings die Möglichkeit offengehalten, mit der es jetzt ein für allemal vorbei war. Dann wieder überzeugte ich mich davon, dass meine Erwartung eitel war. Hier war keine Rotweinzone, an einem solchen Ort würde ich immer vergeblich auf ihn warten.

 

Später – ich schiebe das hier ein, weil es meinen damaligen Lektüreeindruck sowohl bestätigt als auch kommentiert – erzählte mir Tronka, er habe die Arbeit mit dreiundzwanzig Jahren ›heruntergeschrieben‹, in einem Alter also, in dem ein durchschnittlicher Student gerade einmal daran denkt, dem Gedanken an eine Abschlussarbeit näher zu treten, um sich, welch Wunder, urplötzlich von unerklärlichem Fernweh heimgesucht zu fühlen. Umso heftiger hatte es ihn später befallen und der Rotwein war zum allnächtlichen Stellvertreter des südlichen Lebens geworden, das ein kurzer Rausch über ihn ausgegossen hatte.

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War Tronka schwul? Ich wusste es nicht und frage mich heute, durch welche Ideenassoziation ich auf den Gedanken verfallen war. In den Medien proklamierten Homosexuelle reihenweise ihr ›Coming out‹. Allerdings handelte es sich in der Regel um Fußballer- oder Schauspielerprominenz, die sich einen sicheren Platz als Leistungsträger in der Gesellschaft erobert hatte. Andere ließen es mit dem Bekennen langsamer angehen. Auch Bekenntnisse werden gefragter, sobald sie einen sozialen, vielleicht sogar finanziellen Mehrwert abwerfen. Soweit hatte man sich an den Stätten der Wissenschaft noch nicht aufgeschwungen und es gibt Zeitgenossen, die sie auch heute, inmitten des allgemeinen Gender-Laissez-faire, in dieser Hinsicht nicht für angekommen halten.

In Tronka stieß ich zum ersten Mal – eine Unrichtigkeit, wie ich dank Rs Aufzeichnungen erfahren musste – auf den Typus der akademischen Schweigefigur, den Mann, der sich nicht erklärt: den Mann, wohlgemerkt, denn die Frauen, die bei Leckebuschs über ihren Uni-Job Auskunft erteilten, plagten offenkundig andere Probleme. Damals erschienen sie mir auf eine geradezu obszöne Weise durchsichtig … womit ich einer weiteren Täuschung erliegen sollte. Denn auch bei der Schweigefigur, wie ich sie ab sofort nennen möchte, lief es letztlich auf Täuschung hinaus, wobei ich nicht weiß, ob sie vorsätzlich genannt werden muss oder ob sie sich aus der Sache ergab, der berühmten ›Sache‹, von der die Philosophen redeten, sobald sich der geringste Anlass dafür ergab. Ich kann nicht behaupten, dass es von meiner Seite bewusst geschah, sicher nicht unbewusst, vielleicht so: merklich. Dabei möchte ich es im Augenblick belassen.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.

Das Wort blieb dunkel, in der Tat, obgleich es messerscharf die Distinktionen auf den Tisch zählte, die der Philosoph mitzuteilen für nötig hielt. Ich verstand, rein technisch gesprochen, jeden einzelnen Zug. Aber im Hinblick auf das Ziel verriet ihr wachsendes Ensemble mir wenig, außer, dass es das Ziel war und am Ende auch wirklich erreicht wurde. Wie wirklich war ›wirklich‹? Hätte er die ›Sache‹ nicht auch ganz anders konstruieren können und wäre das Ergebnis dann wirklich dasselbe geblieben?

Nicht, dass ich an Tronkas Sachverstand zweifelte. Eher vertraute ich, ein wenig naiv, ehrlich gesprochen, seinen einsamen Winkelzügen. Seltsamerweise verringerte sich aufgrund der nachgereichten Information die Hochachtung, die ich angesichts des Büchleins empfand. Es kam mir vor, als versuchte mich Tronka zu zwingen, eine Sache als unreif anzusehen, die mich gerade noch durch ihren logisch gebündelten Elan von der völligen Ernsthaftigkeit der Absichten ihres Verfassers überzeugt hatte.

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Bei alledem wurde ich den Verdacht nicht los, dass im Herunterreden der frühen Schrift System steckte und es mehr mit der Person des Verfassers zu tun hatte als mit seinem Werk. Den Philosophen aus Passion hatte das Leben mit einem unbändigen Ehrgeiz geschlagen, für den kein Auslauf in Sichtweite lag und den er deshalb sorgfältig zu verstecken versuchte. Das war ein vergebliches Unterfangen. Es verleitete ihn dazu, sich zwanghaft die Formeln der notorisch Ehrgeizigen anzueignen und unter lachend vorgebrachten Beteuerungen, er sehe das ›völlig locker‹, ›völlig frei‹, er habe damit ›überhaupt keine Probleme‹ (überhaupt!), in seine Reden einzustreuen, wann immer – wann eigentlich? – sich ein Anlass dazu bot … oder auch nicht.

  • ―Oder auch nicht!

Ich höre förmlich Elisabeths spöttisch vibrierende Stimme. Das Taxieren der Charaktere war das Feld der Frauen, und es wunderte mich nicht, dass Elisabeth ihm mit einer Missachtung begegnet war, die sie als Abgelenktsein kaschierte, wofür die Tochter stets gute Vorwände lieferte. Der Mutter (nie zuvor hatte ich Elisabeth in dieser Rolle erlebt) boten sich Gründe genug, einen wie ihn links liegen zu lassen. Sicher erschien ihr einer wie er geeignet, den Partner (die Partnerin), wenn er dergleichen fand, mit seiner Unausgeglichenheit zu quälen und zu schikanieren, ohne durch einen großzügigen Lebensstil für die erlittene Unbill zu entschädigen. Offenbar wusste sie ebenso wenig wie ich, dass Tronka einen Sohn besaß. Und wenn schon: es hätte sicher nichts an ihrem Gebaren geändert. Es war auch nicht so, dass sie fürchtete – soweit kannte ich sie –, Tronka habe ein Auge auf ihre Tochter geworfen. Eher traute ich ihr zu, dass sie ein entsprechendes Signal sich selbst gegenüber vermisste.

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War das gerecht? War es ungerecht? Vorausgesetzt, niemand, auch Tronka nicht, konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen, dann zwang sie ihn durch ihr Gebaren förmlich dazu, Komödie zu spielen, wie es bald darauf tatsächlich eintreten sollte. Sie selbst ließ sich, wie ich wusste, Komödien gern gefallen, selbst dann, wenn der Dritte, wie ich, sie gar nicht komisch fand. Wer war schon der Dritte? Die Zeiten waren promisk und sie, sie war es auch. Sie wäre es vielleicht immer gewesen, unter exotischen Sternen und unter Verhältnissen, von denen wir beide keine Ahnung hatten, aber die Zeit hatte ihren Typus der Privatheit entkleidet und zu einem öffentlichen Versprechen umgedichtet. Hier und nirgendwo anders lag die Zukunft. Sie lag, wann immer es ihr passte, auf weichen Kissen und bot sich dem, der zugreifen wollte, an: selbstbestimmt und selbstsicher, befreit, wie der Terminus lautete (denn die 68er taten sich viel darauf zugute, ›die Frau‹ aus dem Käfig der bürgerlichen Repression befreit zu haben), auch wenn Elisabeth laut aufgelacht hätte, wäre ihr persönlich jemand mit diesem Märchen gekommen.

  • ―Mich hat niemand befreit. Wovon auch? Ich muss schon bitten.

So wie ich Tronka augenblicklich kannte, bot er zu Interpretationen weder in der einen noch in der anderen Richtung Anlass. Das war ein Fehler. Elisabeth, die, zu meinem gelinden Erstaunen, bei einer Gelegenheit befand, ein offen homosexueller Bekannter, ein ›wirklich netter Kerl‹, sei nicht unbedingt der richtige Umgang für die Tochter, lehnte es ab, mit einem Tronka näheren Kontakt zu pflegen. Aber Tronka bezeichnete nur die Spitze eines Eisbergs – sie hätte (mit einigen wenigen Ausnahmen) alle Bekannten ihres Mannes meinen und ihn nennen können, wie auch umgekehrt. Diese Leute – fast ausschließlich Männer –, die sich im Dunstkreis ihres Mannes bewegten, hatten für sie keine Bedeutung. Der Umstand, dass sie selbst mich zu diesem und den folgenden Abenden eingeladen hatte, reichte nicht, mir die Erfahrung zu ersparen: als guter Bekannter, der in ihrem Haus ein und aus ging (was ich wirklich nach und nach tat), wurde ich mit der gleichen spöttischen Gleichgültigkeit bedacht wie die anderen. Gut konnte ich mir daher vorstellen, dass sie in Zeiten, in denen sie sich mit Leckebusch verstand, gemeinsam mit ihm sich über Tronka mokierte, der auch ihm zu ›scharf‹ sein mochte. Ein Ehrgeiz, der sich über den des Professors erhob, war sicher nur zu ertragen, wenn man ihn komisch fand.

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Schrecken mit Sahne

Sollte mir bei der Beschreibung meiner Lektüre – nicht der Dissertation Tronkas, sondern des Manuskripts – ein Fehler unterlaufen sein, so wäre es nun an der Zeit, ihn zu korrigieren. Eigentlich fällt mir erst jetzt auf, wie sehr sich die beiden Lektüren, wenigstens in einem Punkt, glichen. Ich, der unbedarfte Leser, hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ, wovon die Rede war, worum es eigentlich ging, oder wie immer man eine solche Lektüreerfahrung beschreibt. Im Tronka-Fall legte sich diese Empfindung bald, ohne ganz zu verschwinden. Tronka war Philosoph und alles, worüber er sich schreibend den Kopf zerbrochen hatte, war Philosophie. Einer wie ich, der keine Ahnung von Philosophie hatte (wie oft habe ich mir diese Phrase seither, meist unter Philosophie-Studenten, anhören können!), musste eben Philosophie lernen und lernte sie, indem er weiterlas, immer weiterlas und sich die Ausdrücke samt den dazugehörigen Sätzen merkte, bis er sie aus eigenem Antrieb zu wiederholen imstande war. R, ich nehme an, Sie haben es schon erraten, war, wie ich aus dem Manuskript erfuhr, ein Teil dieser Academia, aber dieser R war nicht Rennertz, nicht mein Rennertz, und er trat mir nicht als Vertreter eines Fachs gegenüber, für das ich mich hätte erwärmen können. Stattdessen –

… ich vergaß: wie anzunehmen hatte ich, gefangen im Dickicht der ersten sich nach und nach zu Kapiteln ausweitenden Sätze, an meinem ersten Café-Nachmittag vorgeblättert und war so dem Absoluten rascher als vom Autor vorgesehen auf die Schliche gekommen. An den Folgetagen trieb ich die ordnungsgemäße Lektüre weiter. Vergeblich versuchte ich, den Einband des Buches zu spreizen, ohne die schlechte Bindung vollends zu zerstören. Umsonst – Seite um Seite brach der Band auseinander, so dass ich sagen kann, dass jenes Amalgam aus Sätzen, deren Ernsthaftigkeit ich vor wenigen Stunden und Tagen noch für ausgeschlossen gehalten hätte, sich mir im Lesen weniger erschloss als erbrach oder erfiel – nämlich auseinander.

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Sie glauben mir nicht? Hören Sie – mit dem inneren, nicht dem heillos überforderten äußeren Ohr – selbst:

Die Theorie des Denkens als Grundlage einer jeden Theorie der Erkenntnis sieht sich der nicht zu unterschätzenden Schwierigkeit gegenüber, die Beziehung des Denkens zu einem Gebiet, auf das es zwar verweist, das es aber nicht enthält – soll heißen nicht durch Entfaltung seiner, wie behauptet, in interner Reflexion zugänglichen Strukturen bestimmen und damit auflösen und in seinem Eigenrecht beseitigen kann, will es nicht die jeder logische Analyse inhärente Differenz zwischen Grund und Folge eliminieren…

In diesem Stil lief der Satz noch über ein paar Seiten weiter, aber ich denke, die Kostprobe sollte genügen: wenn das Philosophie war – und es war Philosophie, die Arbeit war angenommen und mit Summa cum Laude benotet worden, ein renommierter Verlag hatte sie herausgebracht und die zuständigen Fachreferenten einschlägiger philosophischer Zeitschriften hatten sie wohlwollend, wiewohl mit einer Prise Skepsis besprochen –, wenn das Philosophie war, dann war es das gute Recht des Philosophen, vom Leser ungeteilte Aufmerksamkeit zu verlangen und mit dem Hauptgedanken zugleich auch die Fülle der eingebauten Nebengedanken zu denken, so dass aus dem gelesenen Satz im Handumdrehen so etwas wie ein kompaktes, luftiges und zugleich üppig ausgestattetes Gebäude im Denken entstand, vielleicht auch bloß, in Anbetracht dessen, dass der Autor unaufhaltsam Satz an Satz in ähnlicher Dichte aneinander reihte, eine Etagenwohnung oder ein Chambre séparée im Parterre eines Hochhauses.

Überdies hatte ich nicht lange zuvor gelesen, dass ein Zweig der Intelligenzforschung Intelligenz anhand der Menge der gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis festgehaltenen Details einer Information misst. Die kleine Zusatzinformation verwandelte jeden Tronka-Satz umgehend in einen Intelligenztest – was sich auf meine Lektüre eindeutig stimulierend auswirkte. Allerdings entnahm ich ihr auch, vielleicht voreilig, dass es nicht möglich war, ein und denselben Gedanken zweimal zu denken, da in jeden Versuch der Wiederholung das Wiederholte eingeht und dadurch den Gedanken verändert.

Das machte mich – über den bereits erreichten ›Level‹ hinaus – nachdenklich. Es legte den Schluss nahe, dass jeder Versuch, das Gelesene besser zu verstehen, indem ich auf einen der vorigen Sätze zurückblätterte, diesen Satz weiter von der Bedeutung entfernte, die der Autor bei der Niederschrift in ihn gelegt und von der mich bei der ersten Lektüre noch ein Hauch gestreift haben mochte. Da kam es mir nach dem ersten Schreck recht und billig vor, dass meine Lektüre auch den materiellen Aspekt des Buches ergriff und jede wiederholende Lektüre zwang, sich mit einzelnen Seiten zu befassen, die der ersten, aufs Ganze gerichteten Lektüre so noch nicht vorgelegen hatten.

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Einhart,

mit dem ich dann und wann einen kurzen Gedankenaustausch pflegte – wir zogen uns zu diesem Zweck hinter den Rhododendronstrauch zurück, in dessen Schatten Elisabeth in Anbetracht des stabilen Sommerwetters eine Art Außensofa hatte aufstellen lassen –, Einhart lächelte nachsichtig, als ich ihm von meiner Insel-Entdeckung berichtete:

  • ―Fragen Sie ihn selbst. Tronka liebt es nun mal, im Feuerwagen à la Elias den Ideenhimmel zu stürmen. Aber er weiß viel. Ich habe es lieber pedestrian. Jeder nach seinem Geschmack!

Draußen erkannte ich ihn, offenbar unterwegs ins Seminar, in einem Radfahrer wieder. Er trat bedächtig in die Pedale, orientierte sich sorgfältig nach links und rechts und brachte bei Rot den Drahtesel einige Meter vor der Ampel zum Stehen, offensichtlich darauf bedacht, keinem Raser versehentlich in die Quere zu kommen. Eile mit Weile! Beim nächsten Mal erzählte er mir, dass ihn die Grünen als Kandidaten für den Bezirksrat aufgestellt hatten, wo bereits Ruffmann wirkte und auf einen größeren Wirkungskreis sann. Einhart wirkte sehr zufrieden. Ich erkundigte mich, ob seine Partei bei Aristoteles etwas lernen könne.

  • ―Ich denke schon. Sie etwa nicht? Naja, Sie kennen ihn nicht so gut. Man hält ihn ja im Großen und Ganzen für einen Realisten und da ist ja auch was dran. Aber das revolutionäre Potential ist gewaltig.
  • ―Sicher?
  • ―Ich weiß, Sie sind Ironiker. Kollege Schwansteiner hat einen verteufelt guten Aufsatz über die Natur bei Aristoteles geschrieben, den sollten Sie sich einmal ansehen. Ich wäre schon froh, wenn meine Parteifreunde hin und wieder philosophischen Rat annehmen wollten.
  • ―Keine Chance?
  • ―Bisher nicht. Aber was nicht ist, kann noch werden.

Mehr und mehr fand ich, dass Tronka, die Geschraubtheit seiner Sätze abgerechnet, recht hatte. Ich kannte seine Widersacher nicht und Hegel war mir Hekuba, aber je öfter ich darüber nachdachte, desto heftiger überkam mich ein regelrechter Abscheu vor dem absoluten Wissen und das Bedürfnis, seine Vertreter, wo immer sie auf dem Globus ihrer verderblichen Tätigkeit nachgehen mochten, zu demütigen und ›in den Staub zu treten‹, wie das geflügelte Kleist-Wort lautete, mit dem die Theatermacher des Westens hausieren gingen, wenn sie fanden, dass etwas für die Kasse getan werden musste:

In Staub mit allen Feinden Brandenburgs

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Das Land Brandenburg –

untergegangen im ersten Etceterastaat auf deutschem Boden, einem fehlkonstruierten Halloween-Gespenst, dessen Staats-Charmeure, sobald sie ins Zetern gerieten, zu ähnlich aggressiven Phrasen griffen, um den Blick der Getreuen auf die gähnenden Höhen zu fixieren, das Reich der finalen Errungenschaften, nach dem das ›System‹ durch Zeit und Raum mit der Geschwindigkeit eines Eselskarrens unterwegs war –: mittlerweile hat die herbe Schöne ihre Auferstehung aus den Ruinen sozialistischer Misswirtschaft hinter sich und steuert, wenn die Zeichen nicht trügen, vorsichtig tastend erneut ins Auge des Zyklons.

Nein, das ideologische Wetterleuchten unter verhangenen Himmel ist niemals wirklich erloschen. Noch immer befindet es sich auf Kriegsfuß mit dem ›bürgerlichen Subjekt‹, sprich: dem Individualismus, den die Aufklärung einst in die Welt brachte. Ressentiment geht nie weg. So verschwindet die Zukunft in der Vergangenheit und kommt als vergangene und vergeblich ersehnte oder verfluchte Zukunft in die Gegenwart zurück, die selbst nichts weiter darstellt als einen Übergang zwischen dem gähnenden und dem fordernden Nichts.

  • Was, bitte, hat das alles mit Tronka zu tun? Nichts, wenn ich dem Brausekopf glaubte, der politisch einem geläuterten Individualismus anhing, viel, wenn ich die Spur des Denkens mitlese, die mitnichten von ihm gelegt worden war, der er selbst vielmehr besinnungslos folgte, wenn er seine Satzungetüme Zug um Zug ins Ziel lenkte.

Denn darum ging es – und geht es noch immer: Ergebung in die Endlichkeit des Denkens und seiner Resultate. Tronkas Botschaft mochte, verglichen mit dem Geschichtsfuror der Stalin-Erben, ein wenig hausbacken klingen, aber die Inbrunst, mit der sie gegen ein älteres Modell, das dem Denken die Möglichkeit eröffnet hatte, sich in sich selbst zu vollenden und ›absolut‹ zu werden, in Anschlag gebracht wurde, zeitigte die seltsame Wirkung, alle Affekte zu mobilisieren, die sich mit der Sterblichkeit, und sei es die von Gedanken, gerade nicht abzufinden wissen und darum immer neue Ausflüchte mobilisieren, um wenigstens einen, den Königsgedanken, festhalten zu dürfen und von ihm ausgehend – denn ein Gedanke kommt selten allein – die ganze unbezweifelbare Reihe von Sätzen abzuspulen, die wie eine Strickleiter geradewegs in die Tiefen hinabreichen, in denen ›Tod‹ nur ein unbedeutendes Wort und ›Differenz‹ ein anderer Ausdruck für ›Übergang‹ ist.

Ja, ich las ihn langsam und gründlich, den jungen Herrn Tronka, so wie er selbst, wenn ich ihn beobachtete, seine Mahlzeiten einnahm, denn er war ein Feinschmecker.

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Aber, dachte ich mir, von einer tutenden Fähre aufgescheucht und urplötzlich ins Licht einer Sonne getaucht, die es geschafft hatte, den gerade noch grauen Himmel in einen gleißenden Vorhang zu verwandeln, ohne mir den eigenen Stand zu verraten –: was ich hier lese, das sind doch ebenfalls nur pro forma bezweifelbare Sätze, einfach, weil jeder Gedanke bezweifelbar sein muss, wenn sich das Schicksal der Endlichkeit an ihm vollziehen soll, jedenfalls wirkt die Aufforderung zum Zweifel eigentümlich kraftlos, sobald er sich diesen Sätzen nähert. Ist es also kein absolutes Wissen, das sich in ihnen ausspricht, oder ist es ein absolutes Wissen, das um jeden Preis vermeiden will, Aufsehen zu erregen, um Scherereien zu vermeiden? Ich weiß nicht, war es Auflehnung, die mich so denken ließ, oder der Wunsch, mich näher mit der Materie zu befassen, jedenfalls hatte es die verblüffende Wirkung, dass ich mich unversehens eingeengt fühlte und mir bewusst wurde, dass ich höllisch aufpassen musste, wenn ich in kommenden Diskussionen das Wort ergreifen oder mich nicht unversehens in meinen Lektüren vergaloppieren wollte. War das Gehorsam? Voreilender Gehorsam vielleicht? Welche Art von Autorität beanspruchte dieser nur wenig mehr als zwanzigjährige Hitzkopf über meine Art zu denken? Warum gelang es mir nicht, sie abzuschütteln, obwohl sie so unbestreitbar komische Züge trug?

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Renate Solbach: Figur 19
Think it might be

In der kalifornischen Wüste, umgürtet von einer toten Landschaft, bestehend aus Fels, Fels, Geröll und sonst nichts, auf dem Punkt geronnener Einsamkeitsschübe und nächtlicher Kältestarre, steht, vergleichbar einem überdimensionierten Container, ein langgestrecktes Gebäude. Auf allen Seitgen verspiegelt, scheint es weder Tür noch Fenster zu kennen. Kein neugieriger Blick dringt ins Innere. Kein Vogelschrei durchschneidet die Luft, kein Komma, die Ente verbrennt lässt Innen und Außen zusammenlaufen. Du trittst ein und der Blick, kaum mehr der deine, geht unflankiert in die Wildnis. Die kühle Eleganz der Wände und des Mobiliars, glücklich verankert in der wohltemperierten, alles umfließenden Kühle, kann das Auge keinen Moment betrügen: unfähig loszulassen, saugt es sich am Panorama fest, der Ferne, so nah sie auch sein mag. Aber das stimmt nicht, sie ist ungeheuer draußen und ungeheuer fremd und diese eine klitzekleine Drohung enthaltende Fremde kommt dir so nah wie sonst nie. Entzückend, sagt der Verstand, ein idealer Beobachtungsposten, und das Gefühl sagt: Das alles starrt mich an, es ist ganz und gar in der Bewegung erstarrt, so sehr geht es in diesem Starren auf … das ist mir unheimlich und es gruselt mich. Frage nicht, wer von beiden recht hat. Das Haus ist so konstruiert, dass es genau diese Wirkung hervorbringt. Zu keinem anderen Zweck wurde es entworfen und gebaut und der Effekt tritt so sicher ein wie…

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… wie die fast hypnotische Wirkung, die Rs Manuskript auf mein unbescholtenes Gemüt übte, als ich es zum ersten Mal aufschlug und zu lesen begann.

Ich habe lange nach einem Gleichnis gesucht, um zu illustrieren, welcher Umschlag sich in dieser Lektüre, für die ich keine Worte fand, abspielte, und zwar nicht einmal, sondern immer wieder, in einer Fülle von Mikrobewegungen, die zu beschreiben geheißen hätte, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, während der weiße Elefant weiterhin ungesehen im Raum stand. Ein Werbevideo hat mich zurechtgerückt. Lassen Sie es mich so ausdrücken: All diese Eingriffe in den Wahrnehmungshorizont des Einzelnen sind miteinander verwandt. Ich behaupte nicht, sie bewirkten das gleiche, das wäre schon Theorie, für die ich mich nicht verbürgen kann. Man verbürgt sich für eine Theorie, nicht wahr? Ich rede vom Einzelnen und seinem Wahrnehmungshorizont. Ich nehme an, die Gesellschaft der Drücker (und ihrer Opfer) wird immer nur einen mehr oder weniger gelungenen Gag sehen und entsprechend darauf reagieren.

 

Geschenkt. Der Punkt ist erreicht, an dem alles ineinander übergeht: Tronkas Dissertation und meine einsame Lektüre im Schlosscafé am Meer, gegen dessen Scheiben der West anbraust, als stehe das Bersten unmittelbar bevor, mein Studium des Manuskripts, der kalifornische Wüsten-Container und die mächtigen Fenster des Cafés selbst, die zwar nicht entfernt an das amerikanische Designwunder heranreichen, aber dafür in der Erinnerung gegenwärtig sind. Auch waren sie nicht dazu gedacht, das Fremde auszuschließen oder durch Ausschluss zu erzeugen, sondern dazu, Seinesgleichen zu beobachten, während ich selbst, den Tee genießend, mich halbwegs unbeobachtet fühlen durfte … etwa so, als hätte die Leitung den ganzen Zoo, einschließlich der Besucherwege, den Affen überlassen, damit sie sich einen guten Tag machten. Wäre nicht die Dauerbrise gewesen, die Rechnung wäre sicher aufgegangen.

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Der springende Punkt

ist doch der. All diese Bilder und Erinnerungen stehen für etwas, das Soziologen ›Inklusion durch Exklusion‹ nennen. Also etwa: ›Einschluss durch Ausschluss‹. Was nicht unbedingt meinen Hauptpunkt bei der ganzen Sache bezeichnet, ihm aber erstaunlich nahekommt.

Das einfachste Modell, an dem sich Inklusion durch Exklusion demonstrieren lässt, ist die Haftanstalt. Ich zitiere damit Rennertz, der daran Gefallen zu finden schien. Der Weggesperrte ist weder weg noch draußen, er wäre es gern, sein ganzes Sinnen und Trachten geht auf Wegsein und Weite, aber darum geht es nicht. Es geht darum, der Gesellschaft dem Verurteilten gegenüber zu ihrem Recht zu verhelfen, und dieses Recht besteht darin, in ihren regelhaften Abläufen nicht gestört zu werden. Nicht die totale Überwachung, wie viele meinen –: die radikale Verengung der Aktionsräume zeichnet den Häftling, den Verbannten wie den Entmündigten oder Zwangseingewiesenen gegenüber dem Rest der Gesellschaft aus.

Am raffiniertesten scheint mir das Modell R zu sein. Während Tronka sich durch sein unentwegtes Einreden auf sie, als habe er in seinen Schachtelsätzen die Wahrheit geparkt und den Schlüssel abgezogen, von der restlichen Kollegenschaft ausschloss, obwohl seine Zielperspektive sich nur unwesentlich von der ihren unterschied, richtet sich Rs Ansprache an niemanden, jedenfalls an niemand bestimmten, allenfalls das Weltall oder eine vollends unzugängliche Instanz, so dass er mir, dem Zufallstreffer, am Ende einer langen, vielleicht überlangen Reise in aller Ruhe den Zuschlag geben konnte.

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  • ―Schon gut, höre ich meinen neuen Gesprächspartner sagen, R hat sich selbst weggesperrt, das habe ich mittlerweile begriffen, er hat sich in den verspiegelten Raum begeben, freiwillig, auch das habe ich bereits begriffen, nicht, um sich blind zu machen, sondern um zu sehen, ohne gesehen zu werden. Ist das korrekt? Wie weiter? Wie geht’s weiter?

Das ist Quatsch, großer Quatsch, denn mein neuer Gesprächspartner (es gab ihn tatsächlich, ihm gehörte der rückwärtige Wohnbereich des verwinkelten Hauses gleich neben meiner kleinen Pension) wusste von meinem Problem ebenso viel und ebenso wenig wie ich damals. Doch gelegentlich genügt die Erinnerung an die bohrende Art der Gesprächsführung eines anderen, um dem Denken auf die Sprünge zu helfen. Tatsächlich verändert Rs Manier das Gesehene – ich schreibe ausdrücklich nicht ›zur Kenntlichkeit‹, wie die modische Sprachregelung lautete, denn sonst hätte ich ja spontan erkennen müssen, worum es R ging –, sie verleiht dem Schauplatz den Schrecken der Wildnis, die Ngorongoro-Dimension, die jedem Leben eignet, warum nicht diesen?

Mein neuer Gesprächspartner wollte Jäger sein, nicht Gejagter. Er gehörte zur Tronka-Riege und hatte mir die Pension vermittelt. Ein-, zweimal saßen wir beim Bier in einer landeinwärts gelegenen Mittelpunktskneipe, einer Dorfkneipe ohne Dorf, mit Buddelschiffen und antiquierten Fangutensilien an den Wänden und einer von allen vier Seiten her zugänglichen Theke – ein schwankender Kutter inmitten eines brodelnden Heringsschwarms, der dann und wann unterzutauchen drohte, wenn die Wogen des Gesprächs hochgingen und Handgreiflichkeiten in Reichweite kamen. Meine Ngorongoro-Impressionen konterte Hiero mit Szenen aus dem Inselleben – wobei seine Stimme sich, wie ich fand, über Gebühr senkte –, um allzu zügig, wie mir schien, die Zeiten aufzusuchen, in denen sein Vater und ein Onkel, Leiter eines Kurhauses, protestantische ›Halbjuden‹ beide, Berufsverbot erhalten und die Insel hatten verlassen müssen.

Die verschwiegenen Schrecken, lernte ich (oder hätte ich gelernt, wenn ich es nicht längst gewusst hätte), sind die gegenwärtigsten. Sie sind immer da, sie gehen nicht weg und tingieren jede hinzukommende Erfahrung. Ich fragte mich, wie mein Gesprächspartner reagieren würde, sollte ich das Wort ›Trauma‹ in den Mund nehmen, und verzichtete, angetrieben von großer Vorsicht. Ein Shanty-Sänger zückte sein Akkordeon, entlockte ihm Töne, heraufgestiegen aus den grausigen Tiefen eines namenlosen Ozeans, und entfesselte, unter beifälligem Nicken des Wirts, seine Stimmgewalt, die Züge meines Gegenübers verklärten sich und erklärten zugleich unsere so gehaltreiche Unterhaltung für beendet.

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Plötzlich

erhebt sich die Wand von Männlichkeit, die ich lange in Elisabeths Armen geahnt hatte: der junge Mann mit den verschwommenen Gesichtszügen und dem Vollbart, stark genug, um darin Schiffeversenken zu spielen, der Blonde mit den fettig-langen Strähnen, die er sich ununterbrochen aus dem Gesicht wischte, der Schlaksig-Unbeholfene, der so von sich selbst überzeugt daherkam, dass man wusste, es musste sich um einen künftigen Provinz-Parteifürsten handeln oder um einen angehenden Deutschlehrer, der Korpulente mit der flinken Zunge und den seltsam fertigen Urteilen, der muskulöse Beau, um dessen Lippen sich dieses penetrante, zu Handgreiflichkeiten einladende Dauerlächeln kräuselte, der klassische Pinscher mit dem monophysitischen Haarschnitt … sie alle strömten ins Kollegienhaus und wieder heraus, verteilten eilig bedruckte Handzettel zwischen Mensa und Hörsaal und rauchten ihre Joints; im Zeichensalat aus speckigen Wildlederjacken, bunt klaffenden Hemdbrüsten und Jeanskult verwischten sich die Übergänge zwischen Studenten und lehrendem Jungvolk. Angestiftet durch die Tronka-Riege hatte ich vorsichtig angefangen mich auf dem Universitätsareal umzusehen, und was ich sah, das zeigte mir Elisabeths Zustände in einem neuen Licht.

  • Und ich begriff. Die reife Frau, die sich mit mir eingelassen hatte, stand unter Druck. Auf ihren delikaten Schultern lastete, unsichtbar für mein damaliges Ich, die Aufgabe, diesem Milieu gegenüber … nicht bloß sich zu behaupten – vielleicht lag da der einfachere Teil –, sondern eine Identität ›aufzubauen‹ (ein Ausdruck, der da und dort auftauchte), nicht anders übrigens als Leckebusch, der sie, sehr gegen seinen Willen, durch seine Karriere in diese Zwickmühle gebracht hatte.

 

Der auffällige Teil der Jahrgänge, die da vor mir kreuzten und sich selbst das Etikett ›links‹ eintätowiert hatten, war vor allem eines: rüde. Und zwar in Wort und Geste, wie ich erfuhr, sobald ich mich neugierig-probeweise unter die Hörerschaft mischte. Ich weiß nicht, welche Figur der Philosoph vor seinen forscheren Studenten machte, ich hütete mich vor der Lockung, es erfragen zu wollen, aber im Lauf der Zeit sammelte ich ein paar Erfahrungen, die mir, dem Mann der Wirtschaft, dann doch den Atem verschlugen. Wenn ich heute poltern höre, die Geisteswissenschaften, ergänzt durch ihren Wurmfortsatz, die reflexhaft verachtete Soziologie, seien schuld an unserem Unglück, dann höre ich, ebenso reflexhaft, den älteren antisemitischen Subtext heraus und reagiere verstimmt. Aber heucheln müsste ich, wollte ich vorgeben, ich wüsste nicht, auf welchen Reminiszenzen das triste Spiel der Schuldzuweisungen aufruht.

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Leckebusch, soviel hatte ich gesehen, verstand nicht, dass Elisabeth ihn herabsetzte, wenn sie seinen Assistenten lächerlich fand, und dass er sich selbst demütigte, wenn er in ihre Reden einstimmte und seine eigenen Beobachtungen beisteuerte. Das lag daran, dass er ihre Beweggründe nicht verstand. Elisabeth verachtete das Milieu, in das er sie gebracht hatte, sie verachtete ihn und Tronka und all die anderen, die sich an jenem Nachmittag bei ihnen getummelt hatten. Sie verachtete sie nicht über die Maßen, sondern mit einem diskreten Zusatz, der sie den einen oder anderen von Zeit zu Zeit ›interessant‹ oder ›lustig‹ oder ›schon eindrucksvoll‹ finden ließ. Jedenfalls redete sie so, wenn sie sich einmal zu einem Gespräch mit mir herbeiließ.

TubeAndererseits war sie klug genug zu sehen, dass dies hier kein ›Milieu‹ wie andere war, sondern, nach einem gern genützten Ausdruck, ein elitärer Haufen, Teil einer größeren, Kontinente überspannenden Elite des Geistes, auch wenn das Wort verpönt war und unbedingt substituiert werden musste, selbst wenn man es meinte. Die professorale Elite, neben ihren Forschungen praktisch mit nichts anderem als der Ausbildung der Nachfolgegeneration beschäftigt, hatte mühsam gelernt, das studentische Pressing durch Anpassung auszuhalten, und dadurch der ergrünten, aber im Kern weiterhin dem leninistisch-maoistischen Trott verpflichteten Ideologie ermöglicht, die Universität im Flug zu erobern, ohne die alten Feindbilder deshalb aufzugeben.

Kein Wunder also, dass Elisabeth, ohnehin jünger als ihr beruflich erfolgreicher Ehemann, sich zu den Studenten, dem eigentlichen Kraftkern des akademischen Lebens, hingezogen fühlte und mittels einer gar nicht so verschwiegenen Osmose ihren Wertekanon in sich aufnahm. Zweifellos stellte das libertäre Erbe der verjährten Revolte den Kern dieses Kanons – schon deshalb, weil die subversive Kraft des Sexus in praktisch alle umlaufenden politischen Konzepte eingeflossen war, in denen das Wort ›Emanzipation‹ vorkam, und als eine Art Innenfutter des alle wärmenden gesellschaftlichen Mantels fungierte. Und da auf dem Gebiet der Lüste und ihrer Befriedigung nichts wirklich Neues geschieht, hatte ich unwissend die Ehre genossen, einer Elisabeth zu Willen zu sein, die wiederum, wenngleich nur schattenhaft, sich willig einer ganzen Generation männlicher Rabauken unterwarf, deren Glaube an sich auf dem Überzeugungsfelsen ruhte, sie hätte das Geschlecht neu erfunden.

  • Ich bezweifle übrigens, dass Leckebuschs Studenten ›promisker‹ waren als der Rest der Gesellschaft. Ihre Promiskuität steckte im Kopf. Ungefragt bestätigte mir das Hiero, als er, leicht verstiegen wie gewöhnlich, von seiner paradiesischen Jugend auf Angram berichtete. Prüde sind immer die anderen.

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Das Schwein Leckebusch – ich hegte keinen Vorbehalt gegen Leckebusch und ich hütete mich, ihm gegenüber mich in Szene zu setzen. Aber ich konnte nicht verhindern, ihn so zu sehen, wie meine verlorengegangene Beziehung zu Elisabeth ihn mich sehen lehrte. Mit Tronkas Dissertation als Augenöffner lernte ich auch sein Verhältnis zum Untergebenen Tronka neu zu gewichten. Ich begriff, dass jenes Überlegenheitsgefühl, das er gegenüber seinen Mitarbeitern empfand und das sich zum größeren Teil aus seiner hierarchischen Position, zum kleineren aus der schlichten Altersdifferenz nährte, gegenüber Tronka nicht recht zum Zuge kommen wollte. Es äußerte sich nicht in Nickligkeiten, die wenn ich Tronkas Schwarmgeistern glauben wollte, bei manchen Kollegen an der Tagesordnung waren, es äußerte sich auch nicht verbal, im Gegenteil: er achtete peinlich darauf, sich redend unter Gleichen zu bewegen, was diese ihm mit weitgehender Neidlosigkeit dankten. Unnachsichtig wurde er bloß, sobald Zukunftsplanung und, damit verbunden, kluges Verhalten angesagt war. Zu rasch aufgestiegen, als dass er Umwegen, geschweige denn selbstverfertigten Hindernissen auf dem direkten Weg in die Chefetage etwas hätte abgewinnen können, nötigte ihm Tronka, gelinde gesagt, nur Kopfschütteln ab.

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Leckebuschs Sinn für das soziale Signalement mochte beschränkt sein, derjenige Tronkas hingegen war einfach gestört. Der Tronka, mit dem ich mich im Schlosscafé am Strand herumschlug und der dort seine Krallen in mich eingrub (so tief, dass ich mich noch heute nicht zur Gänze davon befreit habe), – dieser Tronka dachte nicht im Traum daran, sich einer Hierarchie zu unterwerfen, in der ein Leckebusch über eine führende Position verfügte. Eine solche Hierarchie kam bei ihm schlechterdings nicht vor. Er selbst sah sich in einer Reihe mit den ›großen Philosophen‹, den Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel, Husserl, schon Fichte passte nicht in seine Genealogie und die Schopenhauer, Nietzsche oder Wittgenstein boten eher Gelegenheit, Witze zu reißen, als sich ernsthaft an ihnen zu messen.

Und das galt keineswegs bloß für die Schriftform.

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Ich erinnere mich an ein Treffen – es lag damals noch in der Zukunft, heute ist es dunkle, kaum einer zeitlichen Bestimmung zugängliche Vergangenheit –, bei dem Tronka in einer Mischung aus Überheblichkeit und ehrlicher begrifflicher Entrüstung sich mir gegenüber zu der Bemerkung verstieg, ›das alles‹ sei doch unbewiesenes Zeug – er wischte damit Nietzsches Zarathustra vom Tisch und schickte seine Aphorismenbände gleich hinterher. Dagegen hatte die ›Kultur der Oberfläche‹ noch einigen Charme besessen. Zwar verfügte ich über keine philosophische Ausbildung, aber ›meinen‹ Nietzsche kannte ich seit der Schulzeit und ich spürte ein leichtes Vibrieren unter der Zunge, die ich inzwischen jedoch im Zaum zu halten wusste. Es wirkte aufgeblasen, maßlos und vor allem unklug, so zu reden, besonders in Fällen, in denen es sich nicht um die Schriften eines toten Denkers, sondern um Äußerungen quicklebendiger Adressaten im akademischen Geschäft handelte, die ihm in künftigen Konstellationen unermesslichen Schaden zufügen konnten.

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Was mich betrifft, ich wollte ihm nicht schaden. Ich staunte nur. Das Staunen ist seither abgeflacht, doch ganz verschwunden ist es auch heute nicht. Für mich fallen die Nietzsche-Bemerkung und der ähnlich unbedacht wirkende Satz, Gott offenbare sich nicht in Mosaiken, in ein und dieselbe Kategorie. In beiden gibt sich eine Katheder-Leidenschaft kund, die zwanghaft mit der Gegen-Autorität hadert und lieber der Ignoranz huldigt als der Gerechtigkeit.

  • Leider, leider besitzt Luthers Diktum Hier stehe ich, ich kann nicht anders, sollte es auch nicht authentisch sein, im akademischen Alltag einen unangenehmen Beigeschmack, und wenn Tronka mir ganz bequem gegenüber saß, als er sich über die Lehre von der ewigen Wiederkehr verbreitete, als gelte es, eine Seminararbeit zu taxieren, so täuschte dieser Anblick. Dieser Tronka war genauso wenig entspannt wie der andere, der lieber über seine kleinen Eitelkeiten lästerte als sich dem Argwohn auszusetzen, seine pathetische Existenz könne schon im Universum Einharts, der ihn schätzte und mit dem er gut zurechtkam, nichts Besonderes darstellen, sondern nur als ein weiteres Beispiel für all die pathologischen Inszenierungen gelten, von denen es im akademischen Alltag nur so wimmelt.

Einhart: gleich dem Strahl einer Taschenlampe blitzte an dieser Stelle vor mir der Zwilling auf, ein streitbarer Mann, nebenbei, sobald die Konstellation es ihm abverlangte, und keineswegs nur in der Politik, sondern auch angesichts der Fallgruben der sprachanalytischen Schule, der er sich seit seinen Oxforder Tagen zurechnete und die in diesen Tagen am Institut Zuwachs bekam. Fast war ich mir sicher: hätte ich ihn befragt, er wäre eher geneigt gewesen, die eigene, zum Unauffälligen tendierende und sorgsam sichernde Weise für ungewöhnlich zu halten (was sie nun wirklich nicht war) als das auftrumpfende Wesen Tronkas. Sie alle wollen etwas Besonderes sein. Es steht in ihr Bewusstsein geschrieben, mit unsichtbarer, unter der Leidflamme sichtbar werdender Tinte. Zwillinge sind leidensfähig.

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Bekanntlich gehört es zum Wesen

des Unauffälligen, nicht aufzufallen. Selbst ein auf Korrektheit pochender Einhart hätte diesen Satz als logisch harmlos weitgehend unbeanstandet passieren lassen müssen. Daher konnte ich seiner Sicht der Dinge leichter zustimmen als Tronkas, der nicht begriff, warum das Unübersehbare seines Auftritts automatisch dazu führte, dass man sich ihm entzog – meistens schon in der Situation selbst, spätestens aber konfrontiert mit der Auslegung, die er ihr beim Nachkarten verpasste. Er konnte und er wollte es nicht begreifen. Ich denke also, nicht gänzlich ungeschützt, wie Sie im Weiterlesen noch sehen werden, dass es dafür Gründe gab, die in anderen Lebenszusammenhängen gesucht werden mussten. Er war es so gewohnt, dass die Menschen sich ihm entzogen, dass er damit nichts anfangen konnte, wenn einmal das Gegenteil eintrat. Eher blieb er denen zu Dank verpflichtet, die ihn hintenherum verhöhnten.

Es war nichts Besonderes und es hatte mit der Philosophie nichts zu tun, wenn er sein Rad vor einem leeren Haus oder einem Publikum von Zaungästen schlug, das ihn, wie ich an jenem Abend, noch nicht kannte und den klassischen Fehler beging, in dem, was ihn so krass von seinesgleichen unterschied, die Erscheinung des Philosophen zu sehen, die ihm sonst niemand abnahm.

Zu verstehen war Leckebusch also schon, wenn er Gründe zu haben glaubte, in Elisabeths Spott über seinen Assistenten einzustimmen oder zumindest lächelnd das Haupt zu wiegen … gute oder nicht gute, das ›stand‹ hier nicht ›zur Debatte‹. Darüber nachzudenken verbot sich nahezu von selbst, denn darum ging es ja: diesen Gernegroß, in dem vielleicht ein Großer steckte, in den vier Wänden des eigenen Bewusstseins zu demütigen oder wenigstens für eine Weile in Schach zu halten.

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Nüchtern besehen, sagte ich mir

und patschte in eine Pfütze (denn an diesem Tag war Watttreten angesagt), nüchtern besehen stellte Einhart den sozial erfolgreicheren Typus dar. Heute weiß ich: Leute wie er sollten in den kommenden Jahren die akademische Landschaft einer peniblen Flurbereinigung unterziehen, so dass eine Dekade später die Heiligen Schriften des Deutschen Idealismus – mitsamt den hermeneutischen Bibliotheken, in denen die höhere Hörigkeit der Generation Leckebuschs sich ihre Tempel und Altäre geschaffen hatte – bei den Akteuren des Betriebs nur noch ein begütigendes Lächeln hervorriefen. Tronka hingegen, mit einem gewiss nicht minder revolutionären Impetus ausgerüstet, sollte in eine Sackgasse hineinlaufen, an deren Ende ihn die obligaten drei Schaufeln Erde erwarteten und ein Sohn, der schon vorausgegangen war. Die philosophische Zeitenwende lässt auf sich warten.

(Ich riskiere als blutiger Laie, der ich nun einmal bin, nicht gern eine Lippe, aber –:)

… teils lag das an den konservativen Motiven seines Philosophierens, in denen sich der Gestus des Anfangs mit dem vielleicht allzu ausgeprägten Bewusstsein vergangener Kulturleistungen verband, die allesamt überboten – und überschrieben – werden mussten, wenn man sich mit denen messen wollte, die sie hervorgebracht hatten. Zum anderen … daran, dass die Ebene, auf der er sich in einem Akt der Selbstermächtigung ›positioniert‹ hatte, in dem sozialen Spiel, das die Philosophie nun einmal darstellte, gar nicht vorgesehen war … jedenfalls nicht für jemanden, der an ihm teilnehmen wollte. Ohne es zu bemerken hatte sich Tronka mit allen gesellschaftlichen Instinkten, die ihm eigen waren, als lebendige Person auf die Ebene der Bücher begeben und musste bald – und zwar heftig – erfahren, dass er unter die Kannibalen gefallen war und bei lebendigem Leib von den Furien seines ungesättigten Ehrgeizes gesotten wurde.

Patsch.

Formationsflug
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Graugänse

  • ―Die sind doch am Ende.

Das Gläschen Rachenputzer, randvoll, verschwand mit einem Ruck. Der Vermieter, hager wie gestern und morgen, schwenkte die Flasche bedeutungsvoll, doch ich lehnte ab. Er meinte den Osten.

  • ―Was nun?
  • ―Abwarten.
  • ―Gibt’s eigentlich Graugänse auf der Insel?
  • ―Früher mal. Heute nich. Bloß Grauköppe wie mich.
  • ―Graugänse besitzen ein Selbstwertgefühl. Fast wie Menschen, wussten Sie das?
  • ―Ich nich.

Klar wusste er das. Er kannte auch Hiero. Aber er zuckte bloß mit den Schultern.

  • ―Der Vater hat sich Sorgen gemacht. Feiner Mann.

Schlafen, wachen, schlafen. Ich fühlte mich fehl am Platz. Er wechselte das Thema. Offenbar, um mich aufzumuntern.

  • ―Warum stehen die Kühe immer mit dem Hintern zum Deich?
  • ―??
  • ―Weil sie ihn nicht mehr sehen können. Warum fahren Sie nicht nach Hause?
  • ―Geht nicht. Noch nicht.
  • ―Sie wollen die Graugänse finden, stimmt’s? Daraus wird nichts.

Formationsflug
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Eine Ahnung

davon, dass sein Denkweg in diesem von ihm geförderten Kopf systematisch ausgeblendet und bereits im voraus annulliert wurde, übermittelt der Radarstrahl, mit dem das hochempfindliche Selbstwertgefühl des Prof. Dr. Dr. h.c. mult Leckebusch seine Umgebung routinemäßig abtastet. Das ist nichts, worüber man kommuniziert. Kein Grund zur Beunruhigung. Wäre ich Leckebusch, ich würde mir sagen: Das ist der Gang der Dinge. So pflegt es zu gehen. Aber ich bin nicht Leckebusch und ehrlich gesagt, ich habe da etwas übersehen. Wie konnte mir das passieren? Nein, ich habe es nicht übersehen, jedenfalls nicht für mich, ich habe es für Leckebusch übersehen, an seiner statt, denn es ist … ehrenrührig, es rührt an seine Ehre, es rührt ans Selbstwertgefühl, die innere Graugans: der Herr Assistent macht einen persönlichen Klassenunterschied zwischen sich und ihm auf, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die losen Reden von Zwilling Einhart lassen sich leicht verkraften, solange sein Gebaren die Marotten des Chefs zitiert. Wir alle hängen ab von der Hand, die uns füttert. Das ist mehr oder weniger richtig. Es ist normal. Tronka, Genie-Tronka, wie man ihn nennen soll, wenn er nicht hinhört, ist nicht normal. Er ist irre.

Schiffbruch mit Pension

Schiffbruch mit Pension
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Renate Solbach: Figur 20
Alles was Recht ist

Ich habe mich entschieden. Ich werde das hier ins Netz stellen, sobald die Insel-Episode abgeschlossen ist. Der Geschäftsfreund hat recht: es ist der direkte Weg, die direttissima in die Öffentlichkeit und nichts anderes kommt für mich in Frage. Die Literatur, wie ich sie noch im Kopf habe, ist untergegangen. Sie ist ein Opfer der Habsucht geworden, und zwar auf beiden Seiten: der Seite derer, die vom Schreiben leben (statt in ihm, wie es die Klassiker taten), und der Seite der ›Leser‹, die etwas in der Hand haben möchten, das Buch, das gute Buch, das gebundene Buch, das Papier, am besten den Buchstaben, als gehöre er ihnen und nicht der Welt. Wer sind diese Leser? Anders gefragt: Was ist das für ein Lesen, das ins Papier vergafft ist statt in die Lektüre? Die Bücher, die so lange die Welt bedeuteten, sie waren zugleich das Tor zur Welt und die Gedanken drängten durch sie hinaus, jedenfalls nicht, als seien sie auf der Flucht vor der Wirklichkeit, herein in die Kuschelecke, als Gefährten von Bär und Maus und Ele dem Fant. Das gute Buch, das ich in den Auslagen finde, ist ein Kinderbuch für Erwachsene. Warum überlässt man Bücher nicht den Kindern? Sie lieben sie und das ist gut so.

Ich werde auch R ›ins Netz stellen‹. Dort gehört er hin, es ist mir gleichgültig, was Rennertz dazu gesagt hätte. Ehrlich gesagt, wundere ich mich, dass er nicht selbst längst den Schritt gegangen ist.

Schiffbruch mit Pension
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Insulaner

Ich bin wieder auf der Insel. Das ist einerseits korrekt ausgedrückt, andererseits unterschlägt es den Zusatz: ›in Gedanken‹. In Gedanken weile ich unter Tronka, Elisabeth, Hiero und all den anderen, zu denen neuerdings auch der Vermieter gezählt werden möchte. Ich sehe es ihm an. Alles an ihm verkündet: Ich bin nicht wie die anderen, ich bin eine Insel. Eine Insel im Meer der Rechthaber, deren Recht keinerlei Bedeutung besitzt, jedenfalls wenn es nach meinem Sinn geht, und ich besitze nun einmal keinen anderen. Womit auch er schlicht recht hat.

Während ich schreibe, fließen die Tränen. Die Tränen der Welt, sie rieseln die Scheiben entlang, die riesigen Scheiben des Strandcafés, durch die der Blick aufs Meer hinaus schweift, zur dunkel abgesetzten Schifffahrtsrinne und hinüber zum Festlandsstreifen, zu dem die Mittagsfähre sich tutend den Weg bahnt. Sie haben nichts zu bedeuten, sie bedeuten dem Menschen nichts und sie bedeuten ihm viel. Ein ganzer Hof von Bedeutungen tut sich auf, sobald einer im Trocknen sitzt und der Regen gegen die Scheiben pocht. Plötz-, plötzlich, urplötzlich zerreißt der Vorrang (Bühnenmetapher!) und die Sonne übernimmt: Urmoment der Menschheit, Ur-Erlebnis, die Himmel stehen offen und der einsame Selbstdenker begreift.

Wenn, wie mein hagerer Vermieter sich ausdrückte, die Kühe den Deich nur mit dem Hinterteil ansehen, dann kann der Grund nicht allein in der Langeweile zu finden sein, die sie bei seinem Anblick empfanden. Es musste einen tieferen Grund geben, so wie es ihn immer gibt. Der tiefere Grund, entschied ich nach kurzem Nachdenken, war die Weide, der ›Weidegrund‹, wie Leckebusch betont hätte, der Grund überhaupt, der sie einte und dafür sorgte, dass sie von Zeit zu Zeit die Köpfe drehten, um einander im Blick zu behalten, auf dass keine die andere übervorteile. Sie wollten nicht sehen, was sie beschützte und ihnen die Aussicht nahm. Sie wollten nicht wissen, dass es dort, wo es nicht weiterging, sehr wohl weiterging und jemand es ihnen verwehrte hinauszuschlendern und in einem Priel elendiglich zu ersaufen.

GEMEINSCHAFT SCHLÄGT WAHRHEIT

(Ob sie es nun wissen wollten oder nicht: sie waren Schlachtvieh.)

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3
Ankunft der Zauberer

Längst war die tutende Fähre aus meinem Blickfeld geglitten. Sie musste, wenn der Blick auf die Uhr nicht trog, die Strecke zum Festland durchmessen haben und, wer weiß, sich bereits wieder auf Inselkurs bewegen. Der Lichtvorhang war verschwunden, ein Sprühregen ließ die Friesennerze erblühen.

Urplötzlich rebellierte mein Inneres gegen die Insel. Abgeschnitten kam ich mir vor, getrennt von der Welt dort drüben – Momptis ›Festland‹ –, ohne dass ich hätte sagen können, was mich so an sie band, dass ich sie plötzlich mit Sehnsuchtsgefühlen bedachte. Sie waren mit dem Nebel aufgezogen und ließen mich stochern. Hinter dem Nebel musste es wohl liegen, das Land der Freien und Gleichen, das Land, in dem ein Wort wie ein Wort galt und ein Gedanke soviel wie ein anderer, vorausgesetzt, er kann mithalten – was ja in der Realität auch so ist, nur dass sich darunter die vollkommene Gleichgültigkeit von Gedanke und Person gegeneinander verbirgt.

Mithalten konnte auch mein Zimmerwirt. Wer sollte ihn daran hindern? Kein Leckebusch würde ihm das Maul stopfen für den Fall, dass er es zu voll nähme. Das gleiche traf auf Tronka zu, dessen Intelligenzquotient, nicht zu seinem Vorteil, vermutlich höher lag als der seiner Umgebung. Niemand trat ihm in den Weg, die Schwierigkeiten mehrten sich unauffällig, sie krabbelten an Land, um sich zu zerstreuen, hier und da türmten sie sich, ohne dass man behaupten konnte: Hier ist kein Durchkommen. Was, wie bei Elisabeth, galt, war allein Selbstbehauptung, auch wenn jeder wusste, dass im Hintergrund Fäden gezogen und Karrieren geplant wurden, alles nur, um die nächste Runde einzuläuten im Kampf um Pfründen, Macht und Deutungshoheit. Denn darum ging es.

Die Verdienste der prominenten Denker liegen keineswegs offen zutage. Keiner weiß wirklich, was sich hinter leichtgängigen Formeln wie ›Fukuyamas Ende der Geschichte‹, ›Huntingtons Kampf der Kulturen‹, ›Goldhagens willige Vollstrecker‹, ›Luhmanns Systemtheorie‹ verbirgt. Wer weiß schon, ob sie alle auf ein und demselben Hochplateau angesiedelt sind und ob sie sich dort mit Kants transzendentalem Subjekt oder Hegels Dialektik ein Stelldichein geben? Offenbar niemand, jedenfalls wagt sich niemand mehr aus der Deckung, sobald der mit einem Buchtitel verschmolzene Name Eingang in die Liste der ›hundert wichtigsten Denker der Gegenwart‹ gefunden hat.

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4
Nicht die Insel –

nein, nicht die Insel hielt mich gefangen, eher schon das Geblök der Kühe, das ab und an meinen Mittagsschlaf störte. Der Schlaf der Welt hatte meinen Sinn okkupiert. Was für Menschen waren diese Gelehrten, die jedem Tagungsruf folgten, um sich zu zeigen? Sie säten nicht, um zu ernten, sie ernteten, um zu säen, nachdem sie ihren Namen auf das Saatgut gekritzelt hatten. Was machte sie sicher, dass ihr Name nicht gerade dort verlorenging, wo ein Gedanke aufging, während die tauben Kerne ihn weitertrugen, weit in die Nacht des Geistes hinaus, den sie nicht anrufen durften, weil sie sich sonst lächerlich machten?

Was Hegels Dialektik angeht, so hatte mich Tronkas Buch in große Unsicherheit gestürzt. Ich bedauerte, dass Hegel in meinem Reisegepäck fehlte und ich in dieser Sache auf Erinnerungen an diverse Leckebusch-Runden und die Polemik eines jugendlichen Brausekopfs angewiesen blieb. Tronkas Widerlegung hatte sie mit einem rosa Schleifchen versehen, an dessen einem Zipfel stand: Achtung, gefährlich!, während am anderen zu lesen stand: Achtung, Geheimnis! Was galt? Beides? Beides zusammen? Was scherte es das Absolute, wenn in seiner Nachbarschaft die Instrumente der Logik versagten und es daher nicht weiter bestimmt werden konnte? Bestimmt war das so, aber ebenso bestimmt besaß es nicht die Bedeutung, die Tronka ihm beimaß, da nach seiner Theorie überhaupt keine Bedeutung ans Absolute heranragte.

Gesprächspartner Hiero, dort draußen ein Segelboot flickend, das ihn eines Tages mit ablaufender Flut hinaustragen sollte, verlängerte die Liste der Namen, wenn er von Tronkas Hegelbuch sprach, als handle es sich um einen Meilenstein der Philosophiegeschichte und damit der Menschheitsgeschichte im allgemeinen. Aber vielleicht unterlief ihm damit ein Fehler, den er bei anderen groß monierte, und er verquickte Namen und Sache: Tronkas Hegel war ebenso wenig Hegels Hegel wie Hegels Dialektik die Dialektik. Was konnte die Dialektik dafür, von Hegel entwickelt, um von Tronka ad absurdum geführt zu werden? Warum genügte es Tronka nicht, die Motive weiterzuführen, die Hegel die Feder geführt hatten? Es gab unendlich viel zu tun. Wozu das Geschwätz?

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5
Nein, Hiero

die Praxis, Gedanken mit Namen zu verbinden und über diese Eselsbrücke zu identifizieren, ist vielleicht nicht so harmlos, wie sie den Leuten vorkommt. Sie stammt aus dem Bereich der Denkstützen, die sich, lange genug eingesetzt, in selbständige Entitäten verwandeln, den Faustkeilen verwandt, mit denen bewaffnet unsere Ururahnen gegeneinanderstürmten. Wer nicht über Dialektik Bescheid weiß, wie soll der wissen, was ›Hegels Dialektik‹ bedeutet? Wer immer nur ›Dialektik bei‹ gelöffelt hat, dem tropft sie irgendwann aufs Tischtuch und hinterlässt einen Fleck, der nicht wieder herausgeht. Was nicht so schlimm ist, da es den anderen genauso ergeht. Es bedarf der Meister, um die Probleme der Meister zu lösen, doch da man Meister daran erkennt, dass sie andere Probleme zu wälzen pflegen als gerade dieses, bleibt nichts anderes übrig, als auf die Wiederkehr des Meisters der Meister zu setzen, dem man sich mit Haut und Haaren, und sei es nur für die Dauer einer Dissertation, verschrieben hat.

Wahrhaft unausrottbar, überdauert die Kaste der Ausleger alle Umbrüche der Geschichte, alle Glaubenswechsel und Kulturbrüche … erstaunlich, ganz erstaunlich, wenn man sich vor Augen hält, dass sie auf einem überaus aktiven Vulkan tanzt. Wer zur falschen Zeit die falschen Texte auslegt, lebt immer gefährlich, gleichgültig, ob er zur Kaste gehört oder nicht. Das System der Ehrungen, in dem der gemeine Dissident sich bewegt, hält Formen der Vernichtung bereit, gegen die gehalten der simple Totschlag einem Akt der Anerkennung gleichkommt. Rennertz hatte davon geredet, wenn er von akademischer Leichenfledderei sprach – obenhin, wie es sich gehörte, spöttisch oder amüsiert, nachdem Elisabeth den Titel eines Buches erwähnte, den sie bei ihrem Gatten aufgeschnappt hatte und von dem sie wusste, dass er unter seinesgleichen etwas galt, weil sie es aus dem Klang von Leckebuschs Stimme erriet.

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6
Providenz

  • ―Das ist Alex.
  • ―Eastwick.

Hiero, am linken Daumen nagend –: mit meiner Antwort konnte er nichts anfangen. Er bugsierte Alex mit der freien Pranke nach vorn, dem Tisch zu, an dem ich saß.

  • ―Ich geh dann mal. Heute kommt Kurt.

Kurt der Bootsbesitzer, Kurt der Tausendsassa, Kurt das Orakel: da war nichts zu machen. Hiero drehte sich und ging, nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen, der wohl der Auffrischung meiner sexuellen Inselkenntnisse dienen sollte, aber jede Verantwortung für mein Wohlergehen von sich wies. Ich senkte die Nase tiefer aufs Buch, als es dem entspannten Lesen förderlich war. Ich bin weitsichtig.

  • ―Eastwick?

Das schwarze Lockenbündel neigte sich dem Neunzig-Grad-Winkel zu. Sie buchstabierte.

  • Schiffbruch mit Zuschauer. Muss interessant sein.

Schon rückte sie näher. Keine Sonnenbraut schaute mir ins Gesicht, dafür ein spöttisch blitzendes Augenpaar. Smart. Sehr smart.

  • ―Segeln Sie auch?
  • ―Manchmal.
  • ―Haben Sie ein Boot?
  • ―Ich nicht. Mein Mann.

Hiero war’s nicht.

Schiffbruch mit Pension
7

Alle Befangenheit hinter mir lassend, das Büchlein mit dem ansprechenden Titel beiseitelegend, wo sie es aufgriff, um mit dem Finger darüber zu streichen, als handle es sich um Krokodilhaut oder ein museales Stück Zwischenkieferknochen, auf dem bereits Goethes Hand gelegen hatte, erläuterte ich ihr, dass just dieser Titel, bei völliger Unkenntnis des Inhalts, mich vor der Abreise zum Kauf bewogen hatte, ferner, dass ich ihn mit auf die Insel genommen hatte, weil mir das stimmig vorgekommen war, stimmig und irgendwie lustig, ja lustig, auch wenn das Thema, vor allem angesichts der Ernsthaftigkeit der Abhandlung, nicht gerade zum Lachen einlud, nicht gerade … nein, zum Lachen gerade … gerade nicht, obwohl der Verfasser, listig oder nicht, so tat, als wolle er bloß zeigen, wie diese oder irgendeine Metapher funktioniert, um daran sinnige Bemerkungen über das menschliche Weltverhältnis überhaupt unter spezieller Berücksichtigung modernerer Zustände anzuknüpfen, während der Titel doch zur Genüge … zur Genüge darauf verwies, worum es im Weltverhältnis des Verfassers und seiner Mitstreiter wirklich ging: nicht ums bloße Zuschauen, sondern darum zuzusehen, wie sich die prächtigen Fregatten dort draußen unter wechselndem Beschuss in ihre Bestandteile auflösten und in den Weiten des Ozeans zerstreuten … ungerührt zuzusehen und von diesen niemals endenden Untergängen in die eigenen Kammern zu retten, soviel man zu erbeuten sich in der Lage sah.

  • ―Ganz schön clever. Ich meine jetzt den Verfasser.
  • ―Und ziemlich pfiffig. Ich meine jetzt, wie er es anstellt. Ich könnte das nicht.
  • ―Ach. Ich dachte gerade: Könnte von ihm stammen.

Nachtrag Ein Beobachter höherer Provenienz hätte leicht zu der Auffassung gelangen können, dass dort draußen eine immergleiche, über einen immergleichen Ozean verteilte Fracht andauernd Richtung und Bestimmungsort wechselte – je nachdem, wer sich ihrer gerade bemächtigt hatte und kurzfristig mit ihr enteilte.
Schiffbruch mit Pension
8

  • Blumenberg, murmelte sie. Interessanter Name.
  • ―Eastwick.
  • ―Was Sie nur immer mit Ihrem Eastwick wollen.
  • ―Waren Sie schon mal dort?
  • ―Kein Hafen, keine Chance.

Das Smartphone lag griffbereit auf dem Tisch. Es summte, sie nahm es hoch, las einen Augenblick und begann zu tippen. Die Antwort kam prompt, sie überlegte kurz, ihr Blick streifte mich abwesend und sie tippte, weiter und weiter, flott trafen die Antworten ein, ich sah Alex, Enkelin eines uralten Strandräubergeschlechts, lächeln, eins ihrer schwarz bestrumpften Beine auf den Stuhl hochziehen und weitertippen, bis … bis ich des Hinsehens müde wurde.

 

Sicher war die alte Freibeuterinsel, auf der ich mich räkelte, nicht unschuldig daran, dass das Bild vom Schiffbruch meine Vorstellung kitzelte. Wo der Fährbetrieb sich im Nebel entmaterialisiert hatte, spannte sich eine glitzernde Oberfläche: rau, gefährlich, randlos. Seltsame Seegefährte entschwundener Jahrhunderte trieben da draußen ihr Spiel. Was immer mein schweifendes Auge umfasste, verlieh Einharts Rede vom ›abgesunkenen Kulturgut‹ einen deutlichen (und überaus deutungsbedürftigen) Sinn.
In dieser Schlacht der Abhandlungen, der Studien, der Tagungsbeiträge, Rezensionen und kritischen Gegenschriften, der Abstracts, Handbuch- und – höchste Kunst der Hingabe an die Sache! – Lexikon-Artikel versank, quasi im Minutentakt, unermesslich vieles in den Fluten, von dem sich bei näherer Betrachtung vermutlich mancherlei (und in der Summe wiederum unermesslich vieles) als ›durchaus‹ bewahrenswert dargestellt hätte.
Angenommen, ich hatte ein paar Bemerkungen richtig gedeutet, die an den Leckebusch-Abenden gefallen waren, so legte man sich das Treiben nolens volens als notwendigen Selektionsprozess zurecht. Aber wessen Not wurde da gewendet? Und wohin musste der Mann von der Straße blicken, wollte er on the other side of the table für sich Fortschritte registrieren?
Offenbar ließ die Geschichte der Wissenschaften und damit des Wissens, wie die der politischen und sozialen Institutionen, sich mühelos ebenso als Fortschritts- wie als Verlustgeschichte, sprich: als Prozess notwendiger – schon wieder dieses Wort! – Entdifferenzierungen beschreiben, der wiederum neuen, ebenso notwendigen Differenzierungsprozessen Vorschub leistete.
Wovon einem als Zuschauer das Herz stockte, gerade das trug in der Theorie das Etikett ›mühelos‹, ganz so, wie die billigen Effekte der Schauspielerei seit jeher die meisten Zuschauer in den Bann schlagen.

 

So weit war ich gekommen, als sich Alex zurechtsetzte und den Rock glattstrich.

  • ―Was ist los? War Kurt verhindert?
  • ―Er ist nicht gekommen. Scheiße.

Sie trollten sich.

Schiffbruch mit Pension
9
Dunkelheit sank

Das Café wollte schließen, doch wie zuletzt überwog die Höflichkeit gegenüber den paar verbliebenen Gästen. Bloß die üppigen Lüster blieben dunkel: Stromsparzeit. Mir war es recht.

Elisabeth, sag, wer sind deine Gäste?

Da standen sie, die Leichenredner des Geistes, das Glas in der einen, das Appetithäppchen in der anderen Hand, und informierten sich gegenseitig darüber, wovon zu sprechen sich lohnte und was man am besten ›vergaß‹, weil man schließlich, in der Theorie wie im Leben, vorankommen wollte. Sie waren, ließ man die unmerklichen Veränderungen, welche die Zeit an ihnen vornahm, einmal beiseite, heute dieselben wie gestern, sie waren Heutige, soll heißen, ganz und gar im Heute ›situiert‹ und von dem festen Willen beseelt, sich durch nichts und niemanden aus ihrem Heute herausdrängen zu lassen.
Ein phantasiebegabter Mensch hätte aus dem Handgelenk ein halbes Dutzend abweichender Deutungsvorschläge auf den Tisch geworfen. Aber er wäre sogleich an der Frage gescheitert, wie er in der Scientific Community auch nur einen von ihnen durchzusetzen gedächte, denn dazu, auch das hatte ich bereits verstanden, bedurfte es eher einer gewissen Dickfelligkeit und Langsamkeit im Denken. Diese Dickfelligkeit aber war nichts weiter als das wandelnde Heute, ein Ort, an dem das Gewebe der Welt sich auflöste und neu zusammenfügte, die Stelle, an der die Welt nur aus Gerede bestand, das eben deshalb dem Einzelnen entglitt und ihn einspann, bis es irgendwann zu einem festen Kokon wurde – ob vor oder hinter der Pensionierungsgrenze, darin lag wohl Schicksal.

Schiffbruch mit Pension
10

Das anzügliche Glitzern am Schwanenhals dieser jungen Frau … wie hieß sie nicht gleich? – wem hatte es gegolten? Ehrlich gesagt, unterschied es sich nicht groß vom Glit­zern da drau­ßen, das aller Theo­rie, so­bald die Zeit ge­kom­men war, ein küh­les Grab in den Wogen ver­sprach. Und wenn ich ›aller Theorie‹ dachte, dann meinte ich alle Theorie. Noch wusste ich zum Beispiel nicht, dass auch die angesagte Ent­dif­fe­ren­zie­rungs­the­se das glei­che Schick­sal schon ein­mal er­lit­ten hatte und nur im Ver­bund mit an­de­rem als avan­ciert gel­ten­dem Ge­re­de an die Ober­flä­che des aka­de­mi­schen Dis­kur­ses zu­rück­ge­spült wor­den war. Auch damit muss man rech­nen: kein Un­ter­gang ist so final, dass ihm nicht die Auf­er­ste­hung auf dem Fuße fol­gen könn­te.

Draußen vor der Tür, winkend, den Mantel schüttelnd: ist das Alex?

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
1
Renate Solbach: Figur 21
Balkonvögel,

hustete sie, das Bröckchen diskret von der Handfläche wischend.

Er war es. Odysseus, frisch dem Meer entstiegen, das Schnorchelgewirr in der rechten Hand, stapfte durch den Sand auf uns zu. Die Haut sehnig und runzelig, muskelentbehrend, wie Homer das genannt hätte, schroff abgesetzt vom dunklen, sauber rasierten Gesicht, auf das in dünnen Strähnen das gebleichte Haar niederrann oder -tropfte. Zwei fröhliche Schönheiten gingen ihm entgegen und hakten sich unter. Der Mann war missproportioniert. Der mächtige Oberkörper passte nicht zum deutlich armseliger ausgestatteten Rest.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, welche zurückliegenden Erfahrungen mit sich entziehenden Umgebungen unter Tronkas stiller Oberfläche brodelten. Auf alle Fälle fiel er als Sitzriese mit einem enormen Oberkörper und einem vielleicht noch enormeren Kopf bereits physisch auf.

Ich redete, wie mir der Schnabel gewachsen war, und registrierte aus dem Augenwinkel, dass es ihr gefiel. Mit der figurenreichen Promenade zu unseren Füßen schoss das Labyrinth aus bizarren Gesten, Redeweisen und rituellen Handlungen zusammen, in dem sich Tronka mit der Geschicklichkeit eines muskelstrotzenden Eichhörnchens bewegte.

Brennend verstand ich, dass dieses Hörnchen fast zur Gänze aus fast oder völlig misslungenen Versuchen bestand, die eigene Person vor der Folie ausgedehnter Lektüren ein zweites Mal zusammenzusetzen. Sich unterhakende Schönheiten spielten dabei eine nicht zu unterschlagende Rolle.

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
2
Rote Karte

  • ―Das bürgerliche Subjekt…– begann ich.
  • ―Interessiert mich nicht. Ich bin keine Dame.

Oft gehört. Stets geglaubt.

Fürwahr ein bizarres Repertoire. Neben dem Künstler mit wehender Mähne, Prototyp eines nie vergehenden neunzehnten Jahrhunderts, das groteske Zerrbild des sein privates Selbst sorgfältig vor den Blicken der anderen verbergenden Kavaliers im Stil eines Castiglione, den schon die harmlose Frage nach dem Befinden zu einem brüsken Ich lehne es ab, über persönliche Dinge zu reden provozieren konnte.

  • ―Kann ich verstehen. Ich meine: Geht mir genauso.
  • ―Echt?

Selbstverständlich gab es da den nur ›den Sachen‹ zugekehrten Philosophen à la Husserl, der keine psychologisierenden Ausführungen bei seinen Mitmenschen duldete, ohne, Fußballfan, der Tronka mit Leidenschaft war oder zu sein vorgab, die ›rote Karte‹ zu zücken. Diesem wiederum stahl der ›schneidende Kritiker‹ die Schau, dessen Reden den Gestus der Marxschen Frühschriften kopierten, wo doch seine Bücher in ihrer geschraubten, allenfalls musikalisch inspirierten Umständlichkeit das schiere Gegenteil suggerierten. Sie alle mussten in rascher Folge dem lockeren, im Säurebad vergangener Analysen oder durch die Gnade einer rundum gesunden Geburt von allen falschen Hemmungen und überkommenen Vorurteilen in der Wolle befreiten Kumpeltyp weichen, dessen schieres Vorhandensein offenbar die These von der Komplexbeladenheit des Gegenwartsmenschen Lügen zu strafen hatte. Seht her, schien dieser sagen zu wollen, wenn ihr den befreiten Menschen sucht, dann nehmt mich. Aber selbst diejenigen, die sich dem Zwang hinzusehen aus familiären oder Studiengründen nicht entziehen konnten, drehten den Kopf gleich wieder weg. So willkürlich schien die Vertauschung, die dieser Kopf an sich selbst vornahm, dass niemand sich guten Gewissens dabei aufhalten mochte.

  • ―Sag mal, könnte es sein, dass du mich gerade vergessen hast? Ich meine, ich kann auch gehen.
  • ―Bitte bleib. Es ist nichts. Es geht gleich vorbei.

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
3
Nichts ging vorbei

Auf eigene Weise frappierte mich der ›Kenner‹, der in den Semesterferien die großen Museen Europas bereiste und sich zu Hause auf seiner mit naivem Stolz gepflegten Stereoanlage von Stardirigenten und internationalen Spitzenorchestern Einspielung um Einspielung die Highlights der europäischen Musikgeschichte zu Gehör bringen ließ.

  • ―Dieser Typ, an den ich gerade denke, hält sich für einen großen Kenner.
  • ―Vielleicht ist er’s ja.
  • ―Das bestreite ich ja nicht. Oder doch, ich glaube, ich will es bestreiten. Gerade wollte ich es noch nicht, doch jetzt … ja, ich glaube, ich bestreite es. Weißt du, ich glaube, er umgibt sich mit einer … Entourage heißt das wohl, so einem Gefolge aus Studenten, alles höhere Semester, die im akademischen Betrieb etwas werden wollen, auch wenn sie es vehement abstreiten, und einer von denen, der gern den Überlegenen gibt, erzählte mir gerade vor der Abfahrt, welche Blüten das gelegentlich treibt. Das klang schon eigen. Wie gesagt, er macht sich gern ein bisschen wichtig und wollte um keinen Preis die Pointe verpatzen.
    Also dämpfte er die Stimme, wobei er die Hand leicht anhob und sinnend in Richtung eines imaginären Kamins blickte. Dann legte er los. Sie haben es vielleicht schon gemerkt, wir sind so eine Clique, wenn wir wollten, könnten wir einen Fan-Club aufmachen. Ich persönlich denke ja, Philosophen sollten keine Fans haben. Es verdirbt das Denken, vielleicht sogar mehr, aber das sind so Hintergedanken, sei’s drum. Wir treffen uns gelegentlich beim Meister, normalerweise zwei-, dreimal pro Semester, zum Skatspiel, nicht vor abends zehn und dann wird es gewöhnlich spät. Nennen Sie’s ein Ritual: einer von uns ruft an und macht einen Zeitpunkt aus, anschließend fahren wir alle zusammen mit der Straßenbahn. Er wohnt draußen, praktisch schon Bergisches Land, eigentlich ganz idyllisch, muss man sagen. Zurück nehmen wir uns dann ein Taxi, es kommt auch vor, dass wir über Nacht bleiben. Keine Frauen!
Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
4

An diesem Abend klingeln sie also, der große Meister steht in der Tür, wehendes Haar, etwas durch den Wind, wie ihnen scheint, sie betreten das Wohnzimmer, auf dem Plattenteller der Hightech-Anlage kreist, voll aufgedreht, eine seiner ultimativen Saint-Saëns-Einspielungen, Symphonie Nummer drei. Er läuft herum, drückt sie wortlos in die Kissen, hält jedem den Mund zu, allen hintereinander, wie ein Äffchen, nötigt sie also zu schweigen, darauf lässt er sich fallen und versinkt in konvulsivische Glückszustände, die von den Anwesenden in dieser Form niemand zu teilen vermag. Das geht so dreißig, vierzig Minuten lang.
Jetzt wieder O-Ton (der junge Mann ist sehr eloquent): Verstehen Sie mich nicht falsch, es mag in Ihren Ohren banausisch klingen, ich persönlich zweifle keine Sekunde am Hörvergnügen, das Saint-Saëns zu bieten vermag. Aber stellen wir uns den Tatsachen: keinem von uns war an diesem Abend nach edlem Gezirpe aus Hochpreisboxen zumute. Und dann das. Stellen Sie sich mal die ungleiche Runde vor! Wir haben Tränen gelacht danach. Irgendwann nahm die Vorstellung abrupt ein Ende und alle gingen, der Herr Assistent eingeschlossen, ohne ein Wort zu verlieren zum Skat über. Das war’s.
Du verstehst, was Mimik und Wortfall des Studenten ausdrücken sollten? Er wusste, wann sie eintreffen würden, die ganze Schau hatte er für sie abgezogen. Das leuchtet ein, auch wenn ich nachträglich glaube, dass sie ihrem Idol Unrecht taten und er die Platte am Ende einer Arbeitssitzung aufgelegt hatte, wie andere sich eine Zigarette anzünden, nachdem die Schreibspannung durch die Erwartung des bevorstehenden Skatabends von ihm abgefallen war. Aber in einem gewissen Sinn hatten sie ihn natürlich erkannt, als er sie zwang, die Musik bis zum Ende mit anzuhören, als seien sie unvermittelt in einen Gottesdienst eingedrungen.

Alex’ schwarzer Wuschel regte sich nicht.

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
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  • ―Ja, sagte sie. Ja. (Das zweite Ja hörte sich eher nach ›Jo‹ an, obwohl sonst unverfälschtes Hochdeutsch von ihren Lippen floss.) Hiero hat mir davon erzählt. Klang ein bisschen anders als jetzt, aber ist schon okay. Sie nehmen es ihm ja nicht übel.
  • ―Ich auch nicht.

Im Eifer des Redens hatte ich Hiero vergessen. Klar war er mit von der Partie gewesen. Was hatte er ihr gesagt? Was erzählte er überhaupt von seinem exotischen Studium, das hier draußen, siehe Zimmerwirt, bloß auf Kopfschütteln stieß? Meine Rede hatte mich fortgetragen, weit, vielleicht zu weit fort, wie ich beschämt registrierte. Das war eine andere Welt. Tronka hatte mich in seine Welt eingeladen, hier hockte ich nun, eingesponnen in meine Gedanken, und riss vielleicht Pflaster von Wunden, die ich nicht kannte, ohne jede Ahnung, was ich gerade gedankenlos anrichtete.

 

TronkDie Studenten oder Studierenden, wie man sie heute nennt (sie studierten wirklich, neben dem aufgetragenen Stoff, auch ihre Dozenten), sie hatten diesen Tronka ›gewählt‹, das heißt, sie saßen in seinen Seminaren und registrierten belustigt das Befremden und die Empörung, mit denen ahnungslose Neulinge auf das dortige Treiben reagierten. Seine ›Nummer‹, die pünktlich zu Semesterbeginn für stets erneute Heiterkeit sorgte, sah, wenn Hiero mir keinen Bären aufgebunden hatte, so aus: er betrat den Seminarraum, kramte wortlos (aus einer ausladenden, eigens zu diesem Zweck herbeigeschafften Schweinsledertasche) einen philosophischen Wälzer nach dem anderen hervor und errichtete auf dem Pult demonstrativ einen Scheiterhaufen aus ›heavy stuff‹ – so lange, bis der erste Neuzugang ›genervt‹ den Raum verließ. Auf das Signal hatte der Herr Assistent gewartet, er blickte kurz in den Raum, dann zur geöffneten Tür und verhieß mit scheppernder, durch einen Gluckser modifizierter Stimme … kommendes Scheitern:

  • ―Tja, meine Damen und Herren...

Ein paar Minuten später, nach einer Phase intensiven Füßescharrens und ‑trappelns, war man wieder unter sich und Tronka durfte die Damen – bis auf eine – aus seiner Anrede streichen. Die Veranstaltung, wie er sie sich vorstellte, konnte beginnen.

 

Heißt: Sie waren ihm ergeben und er musste ›es bringen‹. Auch der Saint-Saëns-Abend hatte es gebracht, mehr als meine Ausführungen, wie sich nun zeigte. Jedenfalls hatte sich mein Gesprächs­eifer abgekühlt und Alexandra, wie sie plötzlich genannt werden wollte, steuerte nichts dazu bei, ihn wieder zu entfachen.

 

Sicher, R wäre den Stoff anders angegangen.

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
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Das hier war Hiero-Land, sein Rückzugsgebiet, sein Kraftspender, sein Albtraum, falls er mit leeren Händen zurückkehrte: das im Blick fiel es mir leichter, die Ambivalenz zu begreifen, die in den mir bekannt gewordenen Berichten über Tronkas Eskapaden mitschwang. Die Sympathie, die seine gelehrigen Schüler für ihn empfanden, profitierte von der Gleichgültigkeit und Ablehnung der anderen. Sie verschaffte ihnen eine Aura, die der nüchterne Betrieb sonst schwerlich abgeworfen hätte. Das erlaubte ihnen, Treue mit Aufsässigkeit zu vermischen und gegenüber den weitgespannten Intentionen des eigenbrötlerischen Assistenten eine Skepsis zu kultivieren, die, hätte er sie gekannt, ihn gewiss tief verletzt hätte.

  • Der Hochmut überwog also auf beiden Seiten. Aber da es ein Hochmut im Werden war, fiel er nicht negativ ins Gewicht. Im Gegenteil, er steigerte das Amüsement, das sich an den seriösen Vorbehalten einiger von Leckebuschs Doktoranden, die aus Pflichtbewusstsein oder aus ›rein akademischer‹ Vorsicht hin und wieder den Weg zu dem selbstbewussten Assistenten fanden, brach wie die Brandung der Ägäis an den schwarzen Felsen von Santorin.

Aber das war nicht alles. Wenn es möglich ist, dass Menschen, neben dem Erfolg, auch den Misserfolg kultivieren, der draußen im Irgendwo auf ihresgleichen wartet, dann brillierte Tronka damit in keiner so exotischen Disziplin, wie ich anfangs annahm. Auf alle Fälle ging er die Aufgabe mit einem durch nichts zu verwirrenden, dienstlich wirkenden Ernst an, indem er gegenüber Leckebuschs Doktoranden, wann immer er einen traf, einen eigentümlich werbenden Gestus an den Tag legte. Nichts konnte vergeblicher – und verderblicher – sein als dieser Eifer. Er brachte ihn in eine Schieflage –: sich selbst, seinen Getreuen und dem Rest des Instituts gegenüber, der feixend auf das blamable Verhalten und seine Ergebnisse blickte. Welch ein Narr! Sie mochten ihn nicht und fürchteten es, mit ihm zusammen gesehen zu werden, da so etwas der ›Karriere‹ schaden konnte. Dafür tratschten sie weiter, was immer er ihnen sagte, und deuteten durch Blick und Tonfall an, was sie davon hielten.

  • Das war nicht länger ›Community‹, es war ›Society‹ in dem eigentümlich verengten Sinn, den die akademischen Nahverhältnisse den Ausdrücken überstülpten. Allerdings blieb es, wie ich bald herausbekam, nicht bei den Nahverhältnissen. Alles, was vor Ort getratscht wurde, bahnte sich seinen Weg nach draußen und ging ins Weite, es erfüllte die Luft wie die Ausströmung einer Orchidee, die gerade ihre Blüte öffnete … kein unpassender Vergleich, wenn ich in Rechnung stellte, dass Philosophie, die Mutter allen Wissens und, historisch gesehen, aller Wissenschaften, als Orchideenfach galt und entsprechend zurückhaltend bedacht wurde, wenn es um die Verteilung von Stellen und Forschungsgeldern ging.

GESELLSCHAFT SCHLÄGT GEMEINSCHAFT

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Sechse kommen durch die ganze Welt

Rein quantitativ gesehen, ist Gesellschaft das Feld der Misserfolge. Der Erfolg ist die Ausnahme, der Misserfolg die Regel. Der Misserfolg der Vielen generiert den Erfolg der Wenigen. Zum Glück existiert genügend Gemeinschaft, um, jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle, die Wunden zu kühlen und sich fit zu machen für neue Versuche. Wer, wie Tronka, wenig Gemeinschaftssinn zeigt und die Gesellschaftsregeln, teils aus Unkenntnis, teils aus Chuzpe, in den Wind schlägt, der kommt in der Regel nicht weit. Trotzdem lebt auch er … im Fall der Fälle mit mehr Chancen auf ein intensives Leben als die Halbautomaten, deren Rede wie Gegenrede sich im Jaja und Neinnein der Regelbefolgung erschöpft und die sich bloß gelegentlich wundern, dass sie, und zwar in jedem erdenklichen Sinn, von ihrer Umwelt abgeschöpft werden.

Dennoch ist, wie er lebt, nicht allein seine Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit vieler. Auch ein Sternenritter wie Tronka kann nicht verhindern, binnen weniger Jahre auf dem ›ganz banalen‹ Berufungswege als ›Kollege‹ zu enden. Die Leckebuschs dieser Welt wissen das, sie lassen diesen Aspekt keinen Augenblick aus dem Auge. Er ist das Nadelöhr, das der andere passieren muss, auch wenn er sich wie ein Kamel dabei anstellt. Die Laufbahn des Philosophen hat wenig gemein mit der Rennbahn zum Glück oder, was dasselbe ist, zum materiellen Erfolg, auf der viele straucheln, damit einige das Ziel erreichen. Sie besteht, wie ich immer wieder beobachten konnte, aus einer langen Folge von Momenten äußerster Unduldsamkeit sich selbst und anderen gegenüber sowie aus einer korrespondierenden Reihe nicht minder extremer Zustände, in denen die Befriedigung darüber, etwas erreicht zu haben, mit dem Zurückweichen dessen bezahlt wird, worauf man in all den Jahren zuhielt.

Leckebusch zum Beispiel, den ich bei den Treffen in seinem Hause so selbstsicher, so maßlos ›angekommen‹ erlebte, dass es unmittelbar die Lachmuskeln reizte, hielt sich in einer anderen Region seines Selbst, was aber nur eine Phrase ist, für intellektuell derart unergiebig, dass er nach seiner gescheiterten Ehe mit Elisabeth unter Zuhilfenahme einer auffälligen Kopfbedeckung, für die er bis dahin nur Spott übriggehabt hätte, es endlich wagte, vor aller Welt als Originaldenker zu posieren und entrüstet der Sphäre der Symposien und des nächsten Beitrags zu irgendeinem schicken ›Themenband‹ zu entsagen. Damit begab er sich zwar, auf der Suche nach der verlorenen Welt im Kopf, über den Tellerrand Akademiens hinaus, aber er blieb, der er immer gewesen war. Heute nenne ich es: ein Insasse des Archipels.

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Der Archipel

Der Archipel

Auch ich bin ein gelehriger Schüler. Der Archipel, wie ich ihn, leise auf das Manuskript anspielend, bereits nannte, beschränkt sich nicht länger auf die Terrassenversammlung im Hause Leckebusch … er nähert sich dem Panorama an, den Rs unsichtbares Haus mit seinen gläsernen, vom Boden in die Wolken und darüber hinaus reichenden Wänden verschafft. Noch gelingt es mir nicht die beiden Sichtweisen miteinander zu verschmelzen, wird es, dies nebenbei, wohl auch in Zukunft nicht, aber sie treiben aufeinander zu. Ich beginne zu sehen, was er sah, ich bilde mir neuerdings ein, seiner Einbildung folgen zu können: ein großer Schritt für mich, ein kleiner vermutlich für die Menschheit, insofern halte ich mich weiter ans bürgerliche Subjekt, während die Weltretter wieder einmal auf die Geschäfte drücken, denn sie gehen lausig zur Zeit.

Ich füge das ein, um anzudeuten, dass ich durchaus von dieser Welt bin, momentan vielleicht geschädigt durch die Nachbeben einer Pandemie, die vielleicht nur eine Pandemie in den Köpfen, mit ziemlicher Sicherheit jedoch eine der Köpfe war, auf die es in dieser Welt ankommen sollte: der Köpfe der Wissenschaftler, jener privilegierten Bewohner des Archipels, deren Unfähigkeit, wenn nicht blanker Unwille, mit einer Situation zurechtzukommen, die von ihnen selbst heraufbeschworen wurde, gegenwärtig zum Himmel … stinkt, ja stinkt, der Druck aufs Nervenkostüm erzeugt sinnliche Turbulenzen, die, je nach Persönlichkeitsprofil der Betroffenen, zwischen dem Geruch von Fäulnis und dem Geschmack des Todes oszillieren.

Heute kann ich beruhigt hinschreiben: es ist nicht gleichgültig, überhaupt nicht gleichgültig – um das ›Überhaupt‹ einmal wieder ins Spiel zu bringen –, was Rs Aufzeichnungen über den Archipel zutage fördern. Es hat nur eine Weile gedauert, bis bei mir der Groschen fiel – so möchte ich den Zangenangriff der anfangs so zögerlichen Erinnerung und einer empörenden Gegenwart auf mein Denkvermögen rekapitulieren –, jedenfalls der letzte, der dem Automaten gemäß alter Spielerhoffnung seine Schätze entlockt. Lese ich, wie es häufiger geschieht, ›die Wissenschaft‹ müsse endlich ›ihren Job machen‹, sie müsse ›sich rückbesinnen‹ oder besser gleich ›abtreten‹, dann entsteht tief in mir jenes trockene Glucksen, das sich langsam ausbreitet, an Höhe gewinnt, sich stetig, stetig emporschraubt in die höheren Erkenntnisregionen, um dort langsam zu verenden. Wenn ich etwas begriffen habe, dann, dass diese Leute, die hungern und dürsten nach Entscheidung, die am Ziel sind, ohne aufgebrochen zu sein, im Verein mit ihren Brüdern und Schwestern im Geiste, denen es Spaß macht, unterwegs zu sein, ohne einen Gedanken auf das Ziel zu verwenden, das eigentliche Welthindernis sind.

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Habe ich ›verwenden‹ geschrieben? Habe ich wirklich verwenden geschrieben? Natürlich hätte ich ›verschwenden‹ schreiben müssen und damit die Sichtweise jener Klasse von Neuwissenschaftlern übernommen, deren unaufhaltsamer Aufstieg in R einen ebenso kundigen wie skeptischen Kommentator gefunden hat. Ich glaube nicht, dass dies in seiner ursprünglichen Absicht lag, aber wer kennt schon die ursprünglichen Absichten eines Autors, vor allem dann, wenn er sie so umfassend zu verschleiern versteht wie just R, der Unsichtbare, die Kunstfigur … das Finale der europäischen Universität ist eine zu ernste, zu differenzierte, zu vielschichtige Sache, als dass sein Porträt aus einer simplen Absicht hervorgehen könnte.
Dies vorausgeschickt, sollte ich anmerken, dass der Archipel und die ›akademische Landschaft‹, wie sie von Gönnern oft malerisch genannt wird, keineswegs deckungsgleich sind. Eine Weile wusste ich zum Beispiel nicht, dass die Existenz eines Mompti, der sich so spöttisch-abwehrend gegen ›meine Kreise‹ geäußert hatte, was nur auf einem Missverständnis beruhen konnte, sich erst erschließt, wenn man weiß, dass auch sie in einem entlegeneren Teil des Archipels angesiedelt ist.
Es geht nicht um die Kunst, es geht schon lange nicht mehr um die Kunst, wenn Künstler malen, pinseln, Bleche verschweißen, Papierschnipsel ausstreuen und Sprüche klopfen, es geht auch nicht darum, was Wissenschaft zu alldem zu sagen hat. Es geht darum, dass ein und dasselbe Schicksal sie dahin- … fast hätte ich geschrieben: dahinrafft, aber das wäre etwas weit in die Zukunft ausgegriffen, die einzige Region, die, das habe ich noch von Rennertz gelernt, tabu bleiben muss, weil sie schlechterdings impenetrabel ist, ich könnte auch schreiben: undurchdringlich, aber damit stünde die Frage im Raum, was wohl hinter der Zukunft kommen könnte, und diese Frage lassen wir … lassen wir … hübsch auf sich beruhen.

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Insel der Verdammten

Die europäische Universität … jäh steigt, nicht aus dem Schlick da draußen, wo in der sich ausdehnenden Dunkelheit das gefürchtete Methan entweicht, sondern drinnen, im Gedächtnis, dem Ort des Widerstandes gegen die Zeit, die Stimme Rennertz’, meines Rennertz, des klugen Gesprächspartners, dessen Ironie so sehr meinem Geschmack entsprochen hatte:

  • ―Die europäische Universität, mittelaltersatt, lebt von der Kopernikanischen Wende. Der Wissenschaftler dreht seinen Gegenstand und plötzlich – Heureka! – dreht sich die Erde um die Sonne. Zuletzt gesehen bei Freud und Kollegen, verbissenen Eiferern übrigens, wenn du mich fragst. Vielleicht noch in der Quantenphysik. Danach kommt nichts Vergleichbares mehr.
  • ―Nichts? Gar … nichts? Das ist kühn.
  • ―Das ist nicht kühn, das ist Realismus. Wenn du im zwanzigsten Jahrhundert Wissenschaft at work sehen willst, dann rate ich: Schau auf das Manhattan-Projekt. Da ist alles versammelt. Maximale Zerstörungskraft, gepaart mit theoretischer Eleganz. Und was blieb übrig davon? Der Bikini, ein Stückchen Stoff, das die Nacktheit der Frau moralfähig machte.
  • ―Also doch eine Revolution.
  • ―Aber sicher, du … du … Schlaumeier.

Und im einundzwanzigsten?

Bürokraten haben, lese ich, eine Wissenschaft erfunden: The New Science of Sex and Gender. Es soll eine friedliche Wissenschaft sein, mit einem Netz von Lehrstühlen rings um den Globus, die niemanden ausradieren will, es sei denn das Patriarchat. Plus das Kinderkriegen, wie ihre Gegner zu befürchten scheinen. Man kann es ja probieren. Wissenschaften werden von Bürokraten aus der Taufe gehoben, wusste Rennertz das nicht? Ich habe ihn nicht danach gefragt. Es gab keinen Grund. Ich habe auch Tronka nicht danach gefragt. Vielleicht wollte ich uns beiden die Peinlichkeit ersparen.

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Am Patri-Arsch

Im Großen Planetarischen Sensibilisierungsrennen treten gegeneinander an:

  1. Elisabeth, des Patriarchen müde, der rollenmüde seine frühe Leidenschaft entdeckt: den Denker ohne Wenn und Aber, den Denker mit dem Zauberhütlein, an dem man dreht und schon entströmen dem Kopf all die Originalgedanken, die der Dozent sich, Sklave des Betriebs, verkneifen muss,
  2. Rennertz, der rasend gern, endlich der Bürde ledig, die sie an ihn fesselte, der Exfrau imponieren möchte,
  3. Tronka, der Filou, der Im-voraus-Annullierer, der nicht gelten lassen kann, was nicht dem eignen Kopf entsprang, dies aber unbedingt,
  4. Die Tronka-Truppe, die gerade das von ihm gelernt hat und im voraus probt.

So nebeneinandergestellt, liest es sich schon komisch. Dabei ist die Liste unvollständig, es fehlt die Tochter, es fehlt der Sohn, es fehlen die Kollegen, Assistenten, Sekretärinnen, Studierenden und Nichtstudierenden, es fehlen die zu Hause Gebliebenen und in die Ferne Geschweiften, es fehlen die Erfolgreichen und die Erfolglosen, es fehlen die Rohrkrepierer und die Großmäuler, die ‑Innen und Sternchenkrieger m/w/d – es fehlt, was (und wer) immer fehlt, wenn die Gesellschaft gesteigerte Ansprüche gegenüber dem Einzelnen erhebt und der Einzelne mit gesteigerten Ansprüchen an die Gesellschaft antwortet, denn auch solche gibt es, und nicht zu knapp.

Wo war ich stehengeblieben? Richtig! Bei Elisabeths noch in Zukunft gehülltem Ehe-Abgang und Leckebuschs philosophischer Kehrtwendung, die als späte Frucht jener von außen gesehen so ungleichen Verbindung gelten darf und vielleicht als letzter – natürlich aussichtsloser – Versuch, der Exfrau zu imponieren. Armer Philosoph! Was Elisabeth mit ihm verbunden hatte, war die gesellschaftliche Rolle, die er sich jetzt um eines höheren Zieles willen verkniff. Den Professor konnte sie betrügen, sie konnte ihn sogar verlassen, als sie von ihm genug hatte. Den Rauner mit über die Schläfe gezogener Baskenmütze, den sie wenig später, befremdliche Sätze absondernd, im Fernsehen auftreten sah, der sich ansonsten in eine Klause zurückzog, um sein neues Denken zu begatten oder sich begatten zu lassen, konnte sie nicht einmal ablehnen. Er war ihr peinlich. Hätte sie mehr darüber nachgedacht, so hätte sie ihm möglicherweise sogar Konsequenz zugebilligt, aber den primären Abwehrreflex hätte sie damit nicht aus der Welt geschafft.

Befremdliche Koinzidenz: seinen Lesern sollte es nicht anders ergehen. Sobald sie Witterung davon bekamen, dass die Zunft in ihm einen guten Zuarbeiter verloren hatte, zerstreuten sie sich, so dass der Erfolggewohnte für die Bücher, die er als seine Hauptwerke ansah, schließlich auf eine eher demütigende Verlagssuche gehen musste.

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Das war auf der Insel nicht abzusehen, es lag draußen im zusehends dichter werdenden Nebel, in dem einige wenige Lichter schwammen und künftige Erfahrungen ihr gestaltloses Wesen trieben. Dafür, dass ich von der akademischen Welt bis vor kurzem so gut wie keine Anschauung besessen hatte, verstand ich doch bereits so manches. Oberflächlich betrachtet standen die Bewohner des Archipels miteinander in einem berufsmäßigen, nicht besonders aufregenden Austausch. Ihre Welt war klein, mehr oder weniger kannten sie sich alle, sie trafen sich auf Kongressen, diskutierten miteinander oder beäugten sich aus der Distanz. Gleichgültig schien es, ob sie ihren dienstlichen Verpflichtungen in Gestalt von Vorlesungen, Sitzungen und Seminaren an Orten wie Freiburg, Göttingen, Frankfurt oder Münster oblagen.

Der Archipel tut seine Pflicht

Nun, es war gleichgültig, nur nicht für sie. Wo immer einer saß, schielte er nach den Posten und Positionen der anderen. Es existierte keine Hierarchie unter den Universitäten und Forschungsstätten, keine strikte Hierarchie, an die man sich hätte halten können, die Zahl der Stellen oder Studenten sagte genauso wenig über all das aus, was wenig später gebetsmühlenhaft die ›Qualität der Forschung und Lehre‹ genannt werden sollte, wie der Gedächtniskult um ein ehrfurchtgebietendes Gemäuer oder einen ererbten Namen oder ein Gründungsjahr oder ein inzwischen Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurückliegendes ›Reformprojekt‹. Es gab keine wirkliche Hierarchie, nur eine Vielzahl einander widersprechender Phantasmen, an deren Zustandekommen und aktueller Gestalt jeder mitwirken konnte, was sie auch eifrig taten.

Eine besondere Rolle fiel dabei den seit einigen Jahren in größerer Anzahl auftretenden Studenten zu, deren in notorisch überfüllten Veranstaltungen sich meldende Anwesenheit manche der Professoren zu einem Übel an sich deklarierten. Sie mochten ihre persönlichen Gründe haben, aber sie täuschten sich. Mangels anderer Kriterien hatten sie den forcierten Leidensausdruck zum Ausweis ihres Elitebewusstseins erkoren und zückten ihn unbarmherzig, sobald sie mit Bewohnern einer Winkeluniversität zusammentrafen, die vielleicht einen altehrwürdigen Namen aufzuweisen hatte, aber abseits der modernen Studentenströme lag.

Der Archipel entsteigt dem Wattenmeer
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Nostalgia

Die Abwesenheit von Hierarchie erzeugte Hierarchien. Sie geisterten durch den Raum, sobald Kollegen aufeinander trafen, wobei sie sich hüteten, sie offenzulegen oder gar gegeneinander abzugleichen. Zufällig wusste ich von Leckebusch, dass für ihn die Heidelberger Fakultät das Nonplusultra darstellte. Dagegen stand der Oxford-Snobismus seines emsigen Assistenten Einhart: ein Snobismus in die Ferne, der um die wahren Rangordnungen zu wissen glaubte und alle anderen mit polyglotter Ironie an sich abgleiten ließ, aber auch die Berlin-Nostalgie des dem Poststrukturalismus zuneigenden und allgemein nicht ganz ernst genommenen Kollegen Ruffmann. Der Mannn mit dem gewissen Ruff huldigte in Blicken und Gesten einem durch keine Nachkriegs-Malaise auszulöschenden Nimbus, bestehend aus Reminiszenzen an Kaiserzeit und Zwanziger Jahre, was seine häufigen Gäste aus dem europäischen Ausland gut fanden und vielleicht auch erwarteten. Wieder andere, darunter Tronka, brachten einen für einen Außenseiter wie mich schwer zu durchschauenden Hochmut ins Spiel, der sich mit Namen wie Marburg und Göttingen schmückte. Alle aber liebten Königsberg, diese vollends ins Imaginäre entrückte Hauptstadt des Geistes, in der die Kant-Nachfolge geschichtsbedingt dauerhaft vakant blieb, was in etwa auch den Zustand der Philosophie im Ganzen charakterisierte.

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Autistenfakultät

Ganz Auge und Ohr wurden sie, sobald einer der Älteren seine Memoiren oder, besser noch, einen Schlüsselroman veröffentlichte. Sie maßen den Wert eines solchen Buches (und, zumindest in solchen Momenten, ihren eigenen) daran, ob ein Halbsatz oder gar ein Absatz für sie dabei abfiel. Das war zunächst nichts Besonderes. Schließlich gehörte es zur Routine, jedes wissenschaftliche Buch, das eines ihrer Gebiete streifte, nach Spuren der eigenen Existenz abzusuchen. Aber während sie die Bedeutung einer Fußnote, einer versteckten Polemik oder einer rituellen Rühmung recht genau zu taxieren verstanden, verzerrte sich der Maßstab ins Groteske, sobald Belletristik ins Spiel kam.
So erzählte Historiker Hölzchen, derselbe, der beim ersten Treffen ein paar bewusst mysteriöse Bemerkungen über die Ortschaft Gauweiler hatte fallen lasse, die Umstände gleich dreimal hintereinander, unter denen er die Bekanntschaft des Germanisten Z gemacht hatte. Dessen Erinnerungen an Nazi-Jugend und Nachkriegskarriere waren gerade posthum erschienen, offenbar quollen sie von saftigen Bemerkungen über die Zunft und ihre Vertreter über. Sie gehörten zu dem Stapel Bücher, die ich mit auf die Insel genommen hatte, ohne bisher Zeit für ihre Lektüre gefunden zu haben. Hölzchen, der seine ungewöhnliche Lebensenergie damit zu verbrauchen schien, dass er unentwegt von Hölzchen auf Stöckchen kam, hatte einen Absatz entdeckt, den er, wie mir schien, ein wenig zwanghaft auf sich zu beziehen geruhte.

Z schilderte dort, wie er vor Jahren in einem New Yorker Hotel der Touristenklasse Wand an Wand mit einem deutschen Nachwuchshistoriker logierte, der offenbar zu einer Tagung angereist war und seine junge Familie mitgebracht hatte:

Ich kannte diesen Mann nicht, aber das konnte sich jederzeit ändern. Ich kannte jetzt seine Frau und seine Töchter. Ich kannte sie von einer Seite, die ich niemals kennengelernt hätte, wäre ich offiziell als sein Kollege mit ihnen in Kontakt getreten. Seltsam war, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, nach drei Tagen mehr über sie zu wissen als der anlassbedingt meist abwesende Gemahl und Vater. New Yorker Hotelwände sind dünn. Das Allerseltsamste aber war meine Furcht, eines Tages für dieses Wissen bezahlen zu müssen. Einige Wochen lang trug ich mich mit der unangenehmen Empfindung, in Zukunft Historikerkongresse meiden zu müssen. Das Schicksal hat es anders gewollt. Doch davon später.

Hölzchen wusste die Passage auswendig und trug sie mit unterschiedlicher Intonation vor, je nachdem, wer ihm gerade zuhörte. Dass Leute zuhörten, die den Bericht schon kannten, störte ihn nicht. Es schien auch niemanden zu stören, dass die Geschichte pointenlos blieb. Das Schicksal hat es anders gewollt gehörte zu den Redewendungen, die er ständig im Munde führte, ohne dass jemand ermessen konnte, welchen Grad an Ironie sie für ihn barg.

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Kollegenschelte

So waren sie – und was das Verblüffendste war: so wollten sie sein. Wenn einmal einer in Schrift oder Rede ausscherte – mitunter genügte es, bei rituellen Anlässen dem Klüngel fernzubleiben –, so rächten sie sich auf nicht immer subtile Weise, zum Beispiel, wenn eine neue Publikation von ihm die Runde machte.

  • ―Damit hat er sich ins Abseits geschossen. Wer könnte denn einen Verriss schreiben?

Das funktionierte immer, selbst wenn der Delinquent, wissenschaftlich gesehen, nur in dem fortgefahren war, was er schon früher getan hatte. Auch konnte man die Dissertation des in Ungnade gefallenen Kollegen ganz nebenbei auf Kosten all dessen loben, was er seither geleistet hatte. Das überforderte niemanden und löste selten Widerspruch aus. Im Gegenteil. Als alter Hase durfte man fast sicher sein: irgendein Jung-Eifriger würde die Spur schon aufnehmen und auch in der frühen Arbeit bereits die Ankündigung kommender Aberrationen erkennen, sobald es das Gesetz der Gruppe nahelegte. So brauchte man selbst wiederum nur das Haupt zu wiegen oder in ein wohliges Lachen auszubrechen, um zu bestätigen, dass die Richtung stimmte.
Nicht so Leckebusch. Seine Achtung vor jedwedem wissenschaftlichen Œuvre war viel zu ausgeprägt, als dass er an dergleichen Schäbigkeiten Gefallen gefunden hätte. Bei mancher Gelegenheit schien es mir so, als bemerke er sie nicht einmal. Jedenfalls ließ sich seine Art nachzufragen mühelos in dieser Richtung deuten. Häme war ihm fremd. Er lehnte sie nicht ab, sondern beäugte sie wie ein Reptil, von dessen Mechanismus der Nahrungsaufnahme er sich keinen klaren Begriff bilden konnte.

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Soweit zugelassen, hatten sich Tronkas Leute zwanglos unter Leckebuschs andere Besucher gemischt, so dass sie mir erst nach und nach ins Auge stachen: der gleiche Hochmut, den der Erzähler der Saint-Saëns-Anekdote ausstrahlte, umhüllte sie alle. Anders als er gaben sich die anderen schweigsam, wenn ich die Rede auf Tronka brachte. Auch Hiero machte in dieser Umgebung keine Ausnahme. Was sie verriet, waren typische Argumente und Wendungen aus Tronkas Arsenal, und mir fiel auf, dass die mithörenden Dozenten unvermittelt in Schweigen verfielen, sobald sie sie gebrauchten.

Über dieses Schweigen sprach ich eines Tages mit Rennertz, der sich Elisabeths Einladungen konsequent verweigerte – falls sie ihn überhaupt einlud. Er zog eine leichte Grimasse.

  • ―Schade um die jungen Leute, vielleicht gehen ihnen noch rechtzeitig die Augen auf. Vielleicht ist der Mann ein Genie, vielleicht ein Idiot, jedenfalls vertun sie ihre Zeit. Aber vielleicht haben sie ja etwas davon.

Für ein vierfaches ›vielleicht‹ klang, wie ich fand, seine Stimme recht entschieden und ich konterte:

  • ―Ganz verstehe ich das nicht. Worüber sollen ihnen die Augen aufgehen?

Er lachte.

  • ―Darin besteht das Geheimnis der Nicht-Genies. Sie verraten es keinem. Bekanntlich sind Genies sehr selten, es ist daher auch nicht nötig. Einen Tronka dagegen gibt es in jeder nur einigermaßen kompletten Gemeinschaft. Das wissen die anderen und deshalb misstrauen sie ihm. Sie lassen ihn aber nicht fallen, weil sie genausogut wissen, was man von ihnen und ihresgleichen zu halten hat. Sie sehen in ihm einen Verführer der Jugend, anschließend denken sie an Sokrates und wären es gern selbst.

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Seit der Episode im Hotelzimmer fiel es mir zunehmend schwerer, mich dem Sog solcher Aussprüche zu entziehen. Niemand fragt eine entspannt lächelnde Pythia, woher sie ihre Kenntnisse bezieht. Ich jedenfalls empfand keinerlei Misstrauen. Das lag sicher auch daran, dass sie mir halfen, mich im Tohuwabohu meiner Eindrücke zurechtzufinden. Nur die Behauptung, in jeder Gruppe gebe es einen Tronka, forderte meinen Widerspruch heraus. Dafür erschien mir diese Gestalt zu eigen. Zwar musste ich redlicherweise einräumen, dass es nicht viel bedeutete, wenn ich auf seinen Typus noch nicht gestoßen war. Doch sträubte sich etwas in mir, ihn für ein Allerweltsphänomen zu halten. Das mochte an unserem ersten Zusammentreffen liegen, bei dem er mich auf eine schwer zu beschreibende Weise überwältigt und für sich eingenommen hatte. Jedenfalls wäre es leichter gefallen, Rennertz’ Einschätzung zu teilen, hätte er mir, gleichgültig, ob in einem Davoser Hotel oder in der nahegelegenen psychiatrischen Anstalt, einen Saal voller Tronkas zeigen können, alle mit denselben großspurigen Gebärden, denselben präpotenten Redensarten, derselben Unfähigkeit, eine bestehende Situation zu überschauen, und derselben arroganten Treffsicherheit, Autoritäten herauszufordern, die noch gar nicht auf den Plan getreten sind. Rennertz lächelte, als ich es ihm sagte. Dann wurde er melancholisch.

  • ―Die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten.

Habe ich recht, wenn ich in der Er­in­ne­rung einen scheu­en Glanz in seine Augen tre­ten sehe? Je­den­falls ver­zich­te­te ich dar­auf, ihm zu wi­der­spre­chen. Doch woll­te ich noch wis­sen, was ich mir unter einer ›voll­stän­di­gen Ge­mein­schaft‹ vor­stel­len soll­te.

  • ―Voll­stän­dig ist eine Ge­mein­schaft, in der alle Schlüs­sel­po­si­tio­nen be­setzt sind.

Dabei blieb es. Weder ver­stand ich, was eine Ge­mein­schaft, noch, was eine Schlüs­sel­po­si­ti­on war.

Anita oder Die Häuslichkeit

Anita oder Die Häuslichkeit
1
Renate Solbach: Figur 22
Bread & Roses

Unvermittelt drang mein Zuhause in die Inselwelt ein. Alex war gegangen, zum Hafen, wie sie behauptete, um Blumen zu kaufen. Anita, ungestüm, leidenschaftlich, so dass es mir geraten erschien, den Hörer vom Ohr fernzuhalten, brach ins Zimmer, wirbelte den Staub gefühlter Jahrzehnte auf und kroch unters Bett, jedenfalls kam es mir so vor.

Der Punkt war der: In meinem Schreibtisch lagen Papiere, Unterlagen, wie sie sich ausdrückte, an die sie nicht herankam, denn sie konnte den Schlüssel nicht finden. Ich fragte mich, welche Unterlagen das sein mochten und wiegelte ab.

Nein, hatte es nicht. Entweder ich kehrte sofort zurück oder ich fände ihn bei meiner Rückkehr aufgebrochen vor.

Dass sie ›Unterlagen‹ in meinem Schreibtisch aufbewahrte, hatte ich nicht gewusst, konnte es auch nicht recht glauben, aber auf meine Bitte, nichts zu überstürzen, antwortete ein zwischen Zorn, Verbitterung und Larmoyanz changierender Ausbruch von erschreckender Hässlichkeit, so dass ich beschloss, das Thema vorerst nicht mehr zu berühren.

Ein anderes kam nicht in Sicht.

Ich drehte den Hörer ein wenig, legte viel Fingerspitzengefühl in meine Rede und wir beendeten das Gespräch – ergebnislos, wie mir schien. Meine Lust, Hals über Kopf abzureisen, um ihr zu Willen zu sein, stand auf dem Nullpunkt.

Anita oder Die Häuslichkeit
2
Anitevka

Konrad, sprach die Frau Mama,
Ich geh aus und du bleibst da.

Das Ende meiner Affäre mit Elisabeth war ein Desaster. Es hatte in unserer Beziehung genau die Art von Häuslichkeit erblühen lassen, vor der ich mich von Anfang an gefürchtet hatte. Ebenso rasch wie heftig hatten sich, meine Albträume überflügelnd, die ersten Exzesse eingestellt, auf die ich hilflos wie ein Neugeborenes reagierte. Für Anita war es eine Erfolgsstory.

Explosionen Explosionen, seit wir zusammenlebten: sie ereigneten sich in meiner unmittelbaren Nähe, so dass ich nicht immer sicher war, unversehrt davonzukommen, häufiger noch aus der trügerischen Distanz, die das Telefon bietet: Lass uns darüber reden. Aus diesen Intermezzi und Divertimenti ging sie an Leib und Seele gelöst hervor, ihr Teint leuchtete und ihre Augen flogen größer denn je über die Dinge dieser Welt hin, die für sie eine Konsumwelt war … und nichts weiter, hätte ich fast hinzugesetzt, wenn mich nicht eine zu groß geratene Prise Fairness weiterhin davon abhielte.

Sei hübsch ordentlich und fromm.
Bis nach Haus ich wieder komm.

Eigentlich geht es niemanden etwas an, aber da ich schon ins Bekennen geraten bin, kann ich genauso gut nachlegen. Meine Partnerin neigte zur Überspanntheit.

  • ―Hollywood, flüsterte ich. Das ist Hollywood.

Aber es war nicht Hollywood. Es war anstrengend und ich wusste nicht wozu.

Kirke, mythologisch für: Männer zu Schweinen! Als Erfolgsrezept nachweisbar, soweit die schriftlichen Zeugnisse reichen. Homers Zauberin ist nur eine aus der großen Zahl von Anwärterinnen auf den Titel der ersten, die es ausprobierte und für gut befand. Wie Elisabeth weise anmerkte: Was muss man da schon groß tun. Ich lese, dass K., wie so manche ihrer Schwestern, bei den adapt ladies der nächsten Generation in Ungnade gefallen ist. Lotta continua! (Die Lotterie geht weiter.)

Meine sanfte, rosige Anita zögerte nicht, mit treuem Augenaufschlag zu versichern, wenn so etwas – sie kaute an einem Fischbrötchen und tupfte sich, während sie sprach, mit einer Papierserviette den Schmollmund –, nicht mehr drin sei, dann habe das Leben für sie einfach keinen Wert mehr. Eine etwas kuriose Begründung dafür, dass sie hemmungslos das gemeinsame Konto abräumte, das einzurichten ich unvorsichtig genug gewesen war. Ich wusste, was sie als Kind durchlitten hatte, und wunderte mich über ihr oberflächliches Gebaren. Einmal stellte ich sie sogar zur Rede. Sie berührte mich lachend am Oberarm und fand mich ›süß‹, ›einfach süß‹, was zwar meine Laune nicht hob, aber unvermittelt das Gefühl Platz greifen ließ, wie eine Tür aus den Angeln gehoben zu werden.

Und vor allem, Konrad, hör!
Lutsche nicht am Daumen mehr.

Anita oder Die Häuslichkeit
3
Spatz und Tyrann

Ich stehe im Begriff etwas zu beichten. Ich weiß nicht, wie ich es anfassen soll, es handelt sich um ein heißes Eisen, jedenfalls für mich, obwohl es längst erkaltet sein sollte. Es ist bekannt, dass sich das Leben nicht an Drehbücher hält. Ich nehme an, auch dieser Satz stammt aus einem Drehbuch. Wo sonst käme all das dumme Zeug her, das sich Menschen tagtäglich an den Kopf werfen, sofern sie es nicht vorziehen, sich stumm einen hinter die Binde zu gießen?

Ich steige jetzt tief in meine Kindheit zurück. Folgen Sie mir? Es ist ein Experiment: Werden Sie mir glauben? Was ich zu beichten habe – es fühlt sich an wie eine Beichte, es ist eine Beichte, glauben Sie mir! –, gleicht Anitas Jugendtrauma wie ein Zwilling dem anderen. Würde ich eine Erzählung daraus fertigen wollen, sie läse sich so:

  • ―An einem milchig klaren Sonntagvormittag befand mein Vater, es sei an der Zeit, das winzige Schränkchen zu durchstöbern, in dem ich meine Aufzeichnungen und einen Teil meiner Bücher verwahrte. Einen Schreibtisch besaß ich nicht und ein Schlüssel war nicht vonnöten, eine Schiebetür musste reichen, um meine Habe den Augen der anderen Familienmitglieder zu entziehen. Nie hatte ich daran gezweifelt, dass sie für diese Aufgabe völlig ausreichte. Schon am Morgen fühlte ich, dass etwas ›im Gang war‹. Ich scheute mich lange, das Bett zu verlassen. Als ich endlich die Treppe hinunterstieg, die mein Rückzugsgebiet vom allgemeinen Wohnbereich trennte, bewegte sich meine Verfassung bereits zwischen Trotz und Verzweiflung. Mein Vater saß am Tisch, den Kopf leicht vorgeneigt, in den Händen ein Buch, das mir seltsam vertraut und zugleich fremdartig vorkam. Er hielt es mit gespreizten Fingern auf und blätterte darin, als handle es sich um ein Kochbuch, doch das Rezept, nach dem er fahndete, schien nicht auffindbar. Auf dem Tisch häuften sich Bücher, einige lagen verstreut auf dem Boden, bei zwei oder drei der billigen Taschenbücher – zu mehr reichten die Einkünfte nicht, die ich mit ein paar Stunden Nachhilfeunterricht für Schüler der unteren Klassen erzielte – war der Buchblock in einzelne Teile zerfallen und aus dem Einband herausgeglitten.

Anita oder Die Häuslichkeit
4
Desaster

Die Tür zu meinem Schränkchen war ausgehoben und lehnte, erstaunlich behutsam abgestellt, an der Wand. Was sich im Kopf meines Vaters abspielte, blieb mir unzugänglich. Dass er in meinen eingedrungen war und mit Büchern um sich warf, war von einer solchen Ungeheuerlichkeit, dass ich dort, wo ich sein Gesicht vermutete – ich wagte nur ein- oder zweimal hinzublicken –, bloß eine widerliche Fratze ortete. Ihr völlig in seine Spiele versunkener Träger war die hassenswerteste Person im Universum, die Stelle, an der es sich in Gestalt eines brüllenden Monstrums materialisierte und gegen mich losschlug. Dieses Brüllen vor jeder akustischen Inszenierung machte vielleicht den größten Eindruck auf mich, es erstreckte sich, ausgehend von dieser Person, auf die gesamte Umgebung. Der Raum mitsamt seinen Möbeln, dem widerlich mitspielenden künstlichen Licht, der im Hintergrund hantierenden Stiefmutter und dem Fensterausschnitt in seiner diffusen Helligkeit, dies alles schrie in einem Augenblick auf mich ein. So kam ich gar nicht auf die Idee, zu protestieren oder davonzulaufen. Angewurzelt stand ich im Türrahmen und wartete darauf, gleich jenen zerfetzten Büchern zu Boden geschleudert zu werden. Vorerst passierte nichts dergleichen, der Inquisitor blieb schweigend in eine Lektüre vertieft, die mir vorkam, als bahne sich einer mit der Axt eine Schneise durch das Unterholz der Gedanken, Worte und Empfindungen, in dem ich den träumerischen Teil meiner Tage verbrachte und das mir Schutz bot – den einzigen übrigens, an den ich mich aus jener Zeit erinnern kann, wenngleich ich nur unklar sagen könnte, wovor.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Also doch, die Scham

Aus einem solchen Haus komme ich, Guido Auerbach, und sicher, ich schäme mich dessen. Ich schäme mich für meinen Vater. Nicht einfacher Bücherhass trieb ihn an diesem Vormittag, sondern Kontrollsucht, ausgedehnt auf Schriften, die doch nichts weiter spiegelten als den Kanon der Zeit, aber in seinen Augen gespickt waren mit Konterbande, obwohl er kaum etwas davon aus eigener Lektüre kannte. Was ich besonders grotesk fand: auch Kafkas Prozess fiel seiner Raserei zum Opfer, wofür er sich, immerhin, im Nachhinein, wenngleich nur indirekt, entschuldigte. Es war bloß der Intimität unserer Beziehung geschuldet, dass ich Anita davon erzählte, nicht ahnend, welchen Gebrauch sie einmal davon machen würde.

Nun, da es heraus ist, sei auch das noch hinzugefügt: wir alle, Anita, Rennertz, Elisabeth, meine Wenigkeit kommen aus Häusern, auf denen nicht das Dunkel unaufgeklärter Verbrechen liegt, wie zweifelhafte Freunde uns immer mal wieder weismachen wollten, darunter Seelchen, die es aus innerster Überzeugung ablehnten, Solschenizyn zu lesen, als die Zeit dafür gekommen war, sondern eine Spannung, kommend aus tiefer Verstörung. Verstörte sind wir, unfähig des Hochmuts, mit dem die 68er sich ihre Welt eroberten, auch wenn sie nur das nächste Kartenhaus war, das heute vor unseren Augen zerfällt. Verstörte von Kindesbeinen an, aufgewachsen in Haushalten zwischen Menschen, die nicht wussten, was sie in einer untergegangenen Welt, die sie durch Zufall überlebt hatten, anders hätten machen können, weil zwischen der Unschuld des Mittuns und der Mittäterschaft, die sie beide, in individuell höchst unterschiedlicher Weise, empfanden, einerseits keine Brücke existierte, andererseits ein gerader Weg verlief: eine verzwickte Lage, die sie zwischen Schweigen und unvermittelten Ausbrüchen ideologischen Hasses schwanken ließ.

Ich bezweifle, dass der Mann, der mein Vater war, wusste, was genau er da zerfetzte und was er damit gleichfalls in Fetzen zerriss. Blinder Hass ließ ihn zum Hampelmann mutieren. Manchmal denke ich, das Bewusstsein dieser vom Lauf der Geschichte düpierten Mitmacher ohne eigenen Willen und eigentliche Absicht funktioniert wie eines der Bilder, auf denen der Maler Tenborch die Vorzüge des Möbiusbandes für verblüffende Sinnestäuschungen nützt. Bluff ist es allemal. Das mag unter Erwachsenen hingehen, aber auf Kinder, auf Heranwachsende ganz allgemein, die keine Ahnung von der Vorgeschichte des verdrehten Bewusstseins besitzen, wirkt es sich ebenso fatal aus wie … wie … das Verwirrspiel um das Geschlecht, das ihnen eine hypererregte Pädagogik neuerdings zumuten will, womit nichts verglichen sein soll. Ein so gestricktes Bewusstsein funktioniert und funktioniert doch nicht, ein Techniker würde dafür vielleicht den Terminus ›dysfunktionale Funktionalität‹ wählen. Jedenfalls funkt es von Zeit zu Zeit gewaltig.

Und den Daumen schneidet er
Ab, als ob Papier es wär’.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Trau deinen Sinnen

A wie Arroganz, B wie Bosheit, C wie Charakter, D wie Dummheit, E wie Eselei, F wie Floskel, N wie Niedertracht: Das ABC der Gesellschaft bleibt im Großen und Ganzen dasselbe, aber die Nuancen werden von Generation zu Generation anders gesetzt. Für mich hieß das: A wie Angenommenwerden. Die Formel schreibt sich leicht nieder, nachdem das Lebensproblem daraus entschwand und sie als leere Hülle zurückblieb, während die Person, deren akute Lage sie umreißt, sich lieber die Zunge abbeißen würde, als dass sie sich ihrer bediente. Der intime Umgang mit Anita hob zwar die Schamgrenze nicht auf, aber er ließ sie, jedenfalls auf eine gewisse Zeit, verblassen. Was paradox genug klingt, um als paradox zu gelten.

Fort geht nun die Mutter und
Wupp! den Daumen in den Mund.

Vertrauen lässt sich nicht kaufen. Auch erkaufen lässt es sich nicht, wie ich zu meinem Leidwesen erfahren musste, nachdem sich unsere Beziehung verfestigt hatte. Dafür trat, zu meiner maßlosen Verblüffung, etwas ein, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Anita zog ihre Kreise, sie zog sie enger und weiter, immer noch ein bisschen weiter, bis sie tage‑ und nächtelang meinen Blicken entschwand, und ich begann mich selbst zum Vertrauen zu nötigen, jeden Tag etwas mehr, bis der Käfig, bestehend aus einer Substanz, genannt Selbstzwang, sich um mich geschlossen hatte und jede Möglichkeit zum geordneten Rückzug abschnitt. Es ist etwas Fatales um diesen Selbstzwang, die torquierte Familie hat ihn, Stich um Stich, der unfertigen Seele eingeimpft, das Dreimal-durch-die-Finger-von-hinten-über-oben-nach-vorn-Blicken, als sei nichts und alle strahlten vor Glück und Beständigkeit, es kehrt pünktlich zurück, sobald neuer Bedarf sich ankündigt. Ich war Gefangener aus freien Stücken. Wie weit Anita den Mechanismus durchschaute, kann ich nicht sagen, doch dass sie ihn kräftig ausbeutete, unterliegt keinem Zweifel. Die böse Königin hatte ihn mir angehext und Rapunzel bediente sich seiner … wie sagt man? … nach Kräften.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Gute Frage

Warum war ich überhaupt mit Anita zusammengezogen? Es mag in fremden Ohren seltsam klingen, aber ich hatte den Auftritt zwischen Tronka und Elisabeths Tochter nicht vergessen. Ich wusste weder, worüber die beiden gesprochen hatten, noch ging es mich etwas an: es war, als hätte ich im Vorbeigehen durch eine zufällig offenstehende Tür einen Blick in ein fremdes Zimmer getan. Das reichte, um jedes Wort, das in meinem Beisein gefallen war, dem Gedächtnis einzuprägen. Dass Elisabeths Tochter mit einem richtigen Lebensproblem zu einem wie Tronka kam, hatte einen Stachel hinterlassen, dessen Impulse in alle möglichen Richtungen strahlten. ›Täuschung‹ hallte es in mir, womit ich keineswegs meinte, dass Elisabeth mich getäuscht hätte, was ja auch nicht der Fall war, denn sie hatte mir manchmal von ihrer Tochter berichtet, wenn wir uns nicht entschließen konnten, die Bettdecke preiszugeben, die unsere postkoitalen Plaudereien wärmte. Die Rivalität zwischen Mutter und Tochter schlug sich in ihrer Rede wie Kondenswasser nieder und umriss undeutlich eine jugendliche Gestalt, der jemals zu begegnen ich für eher unwahrscheinlich hielt.

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Eine Lektion namens Tronka

Getäuscht hatte mich mein Gefühl. Es hatte mir vorgegaukelt, alles, was Elisabeth anfasste, sei per se gerechtfertigt (oder zumindest ohne Tadel, mochte der, dem sie wehtat, sehen, wie er damit fertig wurde). Das Wort ›Jugendamt‹ hatte mich aufgeschreckt. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass es im Munde des bizarren Assistenten so wenig bedeutete wie Wörter wie ›gnoseologisch‹ oder ›Apperzeption‹.  in meinem.

Natürlich, hätte ich fast hinzugesetzt. Doch welche Natur spricht aus solchen Wörtern? Ein Tronka hat keine Natur, er lehnt es ab, eine zu haben, während er verzweifelt nach einer strebt. Seine Natur wäre die Verzweiflung, vorausgesetzt, er wäre imstande, sie festzuhalten.

Gerade daran kamen mir im Lauf der Jahre erhebliche Zweifel. Was ich damals noch nicht ahnte und jahrelang vehement bestritten hätte: Tronkas gar nicht so geheimes Lebensthema war – das Banale. Sie glauben mir nicht? Passen Sie auf. Bisher kennen Sie Tronka nur durch die Brille meiner Sätze. Ich habe Ihnen diesen Tronka gezeigt, und dieser Tronka war bisher nichts weiter als das Produkt meiner rückwärtsgewandten Phantasie. Dasselbe könnte ich über Rs Tronka schreiben, der Ihnen noch bevorsteht (falls Sie sich auf ihn einlassen wollen). Aber da kommt ein kleiner, feiner Unterschied ins Spiel. Während ich meinen Tronka aus den Nebeln der Vergangenheit schäle, denke ich über ihn nach, und dieses Nachdenken interferiert mit den Sätzen, die ich im Manuskript über ihn fand, Sätzen, die mir bis vor kurzem wenig sagten, aber seither immer herrischer sich unter die meinen mischen. Davon wissen Sie nichts, noch nichts, aber ich versichere: es ist die reine Wahrheit. Es entspricht sogar dem, was Tronka in seinem Buch über das Denken schreibt, und – es ist banal wie so vieles, was ihm im Laufe der Zeit in meiner Gegenwart über die Lippen ging.

Wenn Tronka munter plaudernd Kants ›Ding an sich‹ ins Lächerliche zog, dann war das Banale unsichtbar zur Stelle und widerlegte ihn mit jedem Wort seiner Rede, stante pede sozusagen, als Realität hinter der Realität, als ›Problem‹, zu dem es keinen diskursiven Lösungsansatz gab. Und ebenso erging es ihm mit Hegels Absolutem oder Heideggers ›Seyn‹.

So konnte es geschehen, dass er im Gespräch mit einer sehr jungen Frau, die nach allen Maßstäben einer vergehenden Gesellschaft ein Mädchen war, es aber sicher gehasst hätte, als solches tituliert zu werden, die Rolle des Ratgebers, die einzige, in der er sich einem jüngeren oder nichtakademischen Menschen zu nähern verstand, mit der erstbesten, die Situation von einer gänzlich unbrauchbaren Seite beleuchtenden Bemerkung überschritt, genauso wie er anschließend mir gegenüber sofort aus der Rolle des Philosophen vom Fach herausfiel, ohne sich darüber im geringsten den Kopf zu zerbrechen.

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Wie banal das alles

ist, davon gibt meine mit Anita eingegangene Beziehung ein ausgezeichnetes Beispiel. Tronkas zufällig aufgeschnappte Bemerkung hatte ein von keiner Seite vorgesehenes Eigenleben entwickelt. Vordergründig betrachtet, richtete es sich gegen die Mutter, also Elisabeth, doch dabei blieb es nicht stehen, es fraß sich zu mir durch, bis es mein allzu bewegliches Ego in eine Art Schwelbrand versetzt hatte. Es zeigte mir den Pranger, an dem meine Art zu leben über kurz oder lang stehen würde. In meinem Kopf beugten sich bereits, ausgerüstet mit einem untrüglichem Instinkt für das, was sie nichts anging, in Behörden, die ich nicht kannte, die ersten Sachbearbeiter*innen über mein frisch storniertes Liebesleben. Stornierte ich, so würden sie mich studieren, das stand so fest wie … wie…
Voll leisen Grauens sah ich Alex, Jane und Sukie, ausgerüstet mit frisch erworbener Amtsgewalt, auf eine Voodoo-Puppe einstechen, auf der, überaus lesbar, mein Name stand – in Großbuchstaben wohlgemerkt, mit einem Schwänzchen am Ende, einer Coda, die anzubringen eine sich wohl nicht hatte verkneifen können…

Und herein in schnellem Lauf
Springt der Schneider in die Stub’.

Ich kehre zurück. Keine der beiden Parteien konnte ahnen, was ihre Unterredung in der zufällig vorbeischlendernden, ihnen unbekannten Person auslöste, aber das Ergebnis fiel darum nicht weniger real aus. Außerdem war es gleichgültig, was sie sich dabei dachten, Täuschte sich Tronka, so täuschte ich mich auch, nahm er den Charme der jungen Frau zum Anlass, um den Narren zu geben, so benützte ich meinerseits den Inhalt eines aufgeschnappten Nonsens-Gesprächs, um auf diese verschlungene und allzu plötzliche Weise vom Verlangen nach einer tiefgreifenden Reform meiner Lebensverhältnisse heimgesucht zu werden, dem ich umgehend und, wie sich alsbald zeigte, ziemlich leichtfertig nachgegeben hatte.

Weh! Jetzt geht es klipp und klapp
Mit der Scher’ die Daumen ab.

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Schande

über mich: wie es so geht, hatte ich Anita vernachlässigt, als ich nach der zu dritt verbrachten Hotelnacht Elisabeth zu meiden begann. Erst die Episode im Hause Leckebusch verlieh der ungefestigten Beziehung neuen Auftrieb. Nun saß ich auf der Insel, rieb mir den Daumen und überlegte, ob ich dem Drang nachgeben sollte, umgehend nach Hause zu eilen, um das Massaker an dem besagten Schreibtisch abzuwenden.

Es war gemogelt, von ›dem Schreibtisch‹ zu sprechen und sich zu bemühen, nicht zu viel Nachdruck auf die paar Silben zu legen. Es ging um den ›Sekretär‹ meiner Mutter, ein mehr oder minder eingebildetes Erbstück, das ich unter Umständen, die mir irgendwann entfallen sind, an mich oder besser zu mir genommen hatte, nachdem es bei meinem Vater ein unbeachtetes und von unsachgemäß abgestellten Blumenvasen bedrohtes Dasein gefristet hatte.

War es Eifersucht oder Missvergnügen, was Anita bewog, ihre neue Macht über mich just an dieser Stelle auszuprobieren? Sie hatte ins Schwarze getroffen und konnte in Ruhe abwarten, wie ich den Vorstoß parieren würde. Mich dagegen hinderte die überflutende Unruhe daran, sie mir anders als hochgradig erregt vorzustellen, überdreht und zu allem imstande, sogar dazu, das gute Stück mit barbarischen Voodoo-Werkzeugen zu bearbeiten, um an den vermuteten Inhalt heranzukommen.

Ohne Daumen steht er dort.
Die sind alle beide fort.

Auch sie variierte ihre Kindheitsszene. Diesmal schien sie entschlossen, sich die Zertifizierung ihres Ich-bin-die-ich-bin mit physischer Gewalt zu ertrotzen. Was die Eltern ihr nicht zu geben imstande gewesen waren, das musste wohl oder übel in den unzugänglichen Tiefen meines Schreibtisches lagern. An die Stelle der Gedichte, von den elterlichen Empfängern roh mit dem Ausdruck der Sorge um den Geisteszustand und das künftige Wohl ihrer Tochter quittiert, war meine reale Person getreten:

  • ―Was suchst du da draußen auf der Insel? Nimm mich!

Womit sie möglicherweise ihre Bedürfnislage angemessen umschrieb, aber in mir die Scheidewand aufrichtete, die sie doch gerade niederzureißen gedachte. Wenn ich blieb, musste ich Gründe haben, die mich stärker zu fesseln vermochten als das Netz, das sie nach mir auswarf.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Was also wollte ich auf der Insel? Die Frage ist eng verbacken mit der, warum ich die Episode hier auf den Tisch bringe. ›Klarheit‹, das Zauberwort jener Jahre, hat mich nie mehr verlassen, es ist mein ständiger Begleiter auch dort geworden, wo es mich in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen droht. Die Menschen schätzen die Klarheit, aber sie mögen sie nicht. Sie scheuen sie in Gedanken, Worten und Werken, als wolle jemand sie zwingen, sich nackt auf der Straße zu zeigen. Ich wollte Klarheit, Anita wollte Klarheit. Des einen Klarheitsdrang schloss den anderen aus. Jedenfalls hätte ich, um ihrem zu genügen, meinen Versuch abbrechen müssen. Warum hätte ich das tun sollen?

  • ―Ich brauche jetzt Abstand, Anita. Das hat nichts mit dir zu tun, aber es muss nun einmal sein und es muss jetzt sein. Das einzige, was ich von dir verlange, ist, es zu verstehen.
  • ―Versteh ich nicht.

Musste sie mich verstehen? Hätte ich mich verstanden, dann hätte ich sie verstanden und meine … insulare Existenz wäre hinfällig gewesen.
…insulare Existenz…: so sieht es aus, das Motiv, sobald die eigene Bedürfnislage ins Spiel kommt (›skin in the game‹, wie ein Amerikaner schreibt, der offenbar Bescheid weiß), das Begehren, mehr zu sein als das, was die Alltagsexistenz abwirft, die doch bei alldem die wirkliche bleibt. Hat Rennertz sich in der Figur R eine ›Auszeit‹ genommen, ein inneres Forschungsfreisemester sozusagen, etwas, das jedem Arbeitnehmer zustehen sollte? Gut möglich, sehr gut möglich. Die nächste Frage wäre dann nur: ist er davon zurückgekommen? Und die nächste: als was? Vielleicht als Bumerang.

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Etwas über Selbstfindung als
gesellschaftliches Laster

Erkenne dich selbst! Der Satz, festgehalten auf einer Säule des Apollontempels zu Delphi, begleitet die Geschichte Europas. Genauer gesagt, er begleitet das europäische Denken, solange davon etwas existiert. Man kann kaum behaupten, jeder, der sich auf ihn berufen hat, sei seiner Aufgabe auch gewachsen gewesen. Philosophen wie Einhart und Tronka bekommen den scheuen Blick, wenn die Rede zufällig auf ihn kommt, sie fürchten den Test und verabscheuen die Medizin. Für sie ist der Mensch nichts Besonderes. ›Die Sprache‹ oder ›das Denken‹ haben ihre Denkkapazität absorbiert und lassen kaum Raum für Weiterungen. Anders Leckebusch, der mit wohlwollendem Pathos über eine nicht enden wollende Vergangenheit spricht, mit deren Beschwörung er, will man ihm glauben, die Vergangenheit, die nicht vergeht, in ihre wahre Dimension setzen möchte.

Die Gesellschaft ist da anderer Ansicht. Die Selbstfindung des Einzelnen ist ihr Geschäft. Sie ist ein Geschäftzweig unter anderen, umsatzträchtig wie kaum ein anderer, die Waffenbranche ausgenommen, jedenfalls dann, wenn man die Prozession der Scheidungshungrigen und Geschiedenen, der Trennungstäterinnen und Trennungsopfer, der Trennungstäter und Trennungsopferinnen, der Aus- und wieder Zusammenziehenden, der Fernreisenden mit dem einstigen Poona-Blick, der Psycho-Ratsuchenden und der sportiven Ego-Stärker, der Esoteriker, der Phantasy- und Gewaltpornographie-Süchtigen, der Yoga-und-sonstwas-Übenden, nicht zu vergessen der aus höheren Gründen Drogenabhängigen, an seinem inneren Augen vorbeiziehen lässt und sich fragt, welche Konsumwoge da an einem vorbeidonnert. Dabei ist das Wort nicht besonders beliebt: der massenhafte Anblick sich selbst Suchender erschreckt und lässt den Einzelnen auf Abhilfe sinnen. Den wahren Selbstsucher erkennt man daran, dass er den Hokuspokus der Selbstfindung ablehnt. Wobei zweifelhaft bleibt, ob der Satz Wer suchet, der findet auch in diesem Fall seine Richtigkeit hat.

Was ist dran am Ego-Wahn? Nicht viel und alles. Der Mensch ist nur da ganz Mensch … wo er spielt? Wo er seine Hausaufgaben macht … wo er liebt … für den Anderen da ist … sich keine Illusionen macht … glaubt? Irgendetwas? Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er sich als Mensch fühlt. Einen anderen Maßstab gibt es nicht. Es ist das begleitende Gefühl, das dem Einzelnen sagt, ich bin’s, nichts weiter, und es täuscht sich selten, weil nichts weiter dran ist am Selbstsein. Wer sich selbst erkennen will, der muss Umwege gehen. Aber es sollten seine sein.

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Tronkisten

Es wäre mir merkwürdig vorgekommen, hätte ich zu Anita gesagt: Ich muss auf die Insel, weil mich ein Philosophieassistent so beeindruckt hat, dass ich mir vorgenommen habe, seine Doktorarbeit in der Umgebung von Wattläufern und Sonnenbadern zu studieren. Ich wäre mir merkwürdig vorgekommen und es hätte auch nicht den Tatsachen entsprochen.

Genausogut – und vielleicht mit größerer Ehrlichkeit – hätte ich die umgekehrte Motivation beanspruchen können: nicht um ihn zu lesen hätte ich mich demnach auf die Insel begeben, sondern um seine anmaßliche Rede zu widerlegen, und das probate Mittel, ihn zu widerlegen, sei nun einmal die Lektüre seines jungenhaften und unendlich törichten Buches.

Beide Begründungen hätten aber, einzeln und gemeinsam, Anitas panische Empörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bloß gesteigert: Nimm mich! Und ... hatte sie nicht recht?

Nur, wenn es sich denn so verhielt, dann wurde mir nicht deutlich, welche Art von Recht sie damit eigentlich beanspruchte. Das Recht des stärkeren Reizes? Immerhin hatte ich mich ihr bereits nicht nur ein‑, sondern zweimal ›verbunden‹, in unterschiedlichen Graden und auf unterschiedliche Weise. Wenn ich zögerte, dann deshalb, weil ein überlegener Reiz sich dazwischengeschoben hatte. Ich wusste nicht, wie Tronka diesen alternativen Reiz bezeichnet hätte (›Sie mussten mal raus, wo ist das Problem?‹), ich wusste nicht einmal, ob ›alternativ‹ das richtige Wort war oder ob ich nicht mit seiner Wahl bereits dem Hexen-Abakadabra folgte, das in Anitas Kopf brodelte.

Denn irgendwie … wollte es mir fast scheinen, der eine sei aus dem anderen hervorgegangen. Was ich, folgte ich Anitas Worten, unserem gemeinsamen Leben entzog, das erschien mir irgendwo – an einem Ort jenseits aller Orte, an die sie mir zu folgen gedachte – doch auch als ein Geschenk unserer Zweisamkeit und sogar als das Wesen dieser Zweisamkeit selbst. Da lag sie also, die Utopie des Zusammenlebens, und ließ sich nicht wieder in die Flasche zurückstopfen. Wollte ich ehrlich zu mir sein, betrachtete ich unser Zusammensein als Quelle eines neuen Lebensgefühls, das es mir erlaubte, stärker auszugreifen und in einem höheren Maß ich selbst zu sein als zuvor.

 

Böse, böse – sehr böse sogar, was ich mir da, durch die verwünschte Lektüre angestiftet, an den Hals gezogen hatte. Ich wollte genau sein und Anita wollte Klarheit. Gestern wäre ich ihr noch gefolgt und hätte, darauf angesprochen, meinerseits Klarheit in der Beziehung verlangt. Heute verlangte ich, Tronkas ausufernde Philosophensätze im Rücken, Genauigkeit – und weiter nichts, soll heißen, alles, was sich daraus nach und nach ergeben würde. Genau sein hieß, ich war in die Symbiose abgerutscht, die verbotene Frucht der Zweisamkeit, über der ein feministischer Bannfluch schwebte, und Anita dachte nicht im Traum daran, mir Folge zu leisten. Wenn sie scharf nachgedacht hatte, dann hatte sie beschlossen, mir Zügel anzulegen. Was sie nicht wusste (oder, bei aller Bibelkenntnis, nicht wissen wollte), war:

ERKENNTNIS KENNT KEIN ZURÜCK

Anita oder Die Häuslichkeit
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Mein Problem? Mein Problem!

Hätte ich gewusst oder auch nur geahnt, welche Macht mir zu dieser Zeit bereits entgegenarbeitete, vermutlich hätte ich den Bogen des Vertrauens noch etwas höher gezogen und damit vermutlich überspannt. Diese unsichtbare Macht ist mir im nachhinein überall spürbar, sie wächst gleichsam von Tag zu Tag, wann immer das Manuskript vor meinem inneren Auge aufblinkt. Ehrlich gesagt, ich benötige die Reminiszenz nicht, Rs Gedankenwelt hat in meinen Kopf Einzug gehalten und sich unwiderruflich mit meiner eigenen vermischt.

IM ERSTEN SIND WIR FREI
IM ZWEITEN SIND WIR KNECHTE

Seit Anita bei mir eingezogen war, lachten wir getrennt. Lachte sie, etwa am Telefon oder im Gespräch mit einem ihrer zahlreichen ›Bekannten‹, die mir neuerdings in meiner Wohnung begegneten, als sei ich der Hausmeister oder ein Lieferant, der zufällig ihre Bahn kreuzte, dann spürte ich vor allem den Entzug. Noch immer besaßen wir kaum gemeinsame Freunde und ich spürte verständlicherweise keine Lust, Anita zu den Leckebusch-Abenden oder den sporadisch noch stattfindenden Treffen mit R mitzunehmen.

So waren es vor allem Leute aus ihrem früheren Leben, die an den Wochenenden bei uns vorbeisahen und mit denen wir gelegentlich einen Abend verbrachten. Meiner Passivität kam das entgegen. Aber mehr und mehr stellte es sich heraus, dass die anfangs so offen wirkenden Kontakte, die ich mir gern gefallen ließ, solange man mich als unverhoffte und mit Neugier betrachtete Zugabe akzeptierte, den Raum, in dem ich lebte, atmete, dachte, aussparten, als handle es sich um einen leeren Karton, den Anita nach ihrem Gusto mit Füllung versah oder auch nicht, ohne dass dies für sie und die Art der Beziehung, die sie zu Anita unterhielten, irgendeine Bedeutung besaß.

Lachte ich, konnte ich sicher sein, dass sie mir in der nächsten Stunde oder noch am nächsten Tag eine Szene machte, in der sie mir vorwarf, sie durch mein Gelächter tief verletzt zu haben, sei es, dass ich über sie gelacht, sei es, dass ich es nicht für nötig befunden hätte, sie in die Ursachen meines Ausbruchs einzuweihen. Der naheliegende Hinweis, dass mein Lachen eher undidaktischer, um nicht zu sagen argloser Natur war, wollte gut überlegt sein, weil er zu tagelangen Verstimmungen führte, deren Gründe mir regelmäßig dunkel blieben, vermutlich auch deshalb, weil ich erleichtert reagierte, wenn sich die Wogen wieder glätteten, und ich keinen weiteren Gedanken auf ihre Analyse verschwendete.

Dafür war unser gemeinsames Leben auch zu neu.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Das Leben ist eins der anstrengendsten

und mancher Arbeiter der Faust, der Feminismus und Müßiggang für ein und dieselbe Sache hält, wünschte sich vielleicht, stattdessen in den Krieg der Geschlechter zu ziehen und dafür Sold zu kassieren. Sähe man sich aber in seinem Leben um, dann würde man feststellen, dass seine ›Ausraster‹, um diesen ebenso banalen wie plastischen Ausdruck zu verwenden, fast alle in den Beziehungsbereich fallen, und davon, den üblichen Stress mit Kindern und Verwandtschaft abgerechnet, der Löwenanteil auf das sogenannte geschlechtliche Miteinander.

Nicht alles, was auf diesem heiklen Feld geschieht, ist dem Feminismus geschuldet. Vermutlich sogar nur weniges. Aber alles bekommt durch ihn eine besondere Note, eine gewisse Färbung, ein spezielles Aroma und vor allem: Biss. Gab ich zum Beispiel Anitas Drängen nach und brach die, wie ich fand, kaum aufgeschlagenen Zelte ab, dann für lange Zeit. Zuhause würden die mitgebrachten Bücher, die sich noch immer neben meinem Pensionsbett stapelten, ungelesen bleiben. Ungelesen würden sie in die Bibliothek zurückwandern und es wäre mehr als ungewiss, ob ich sie in meinem Leben noch einmal aufschlagen oder auch nur zu Gesicht bekommen würde.

Dabei ging es mir nicht um die Bücher. Sie waren kein Vorwand, aber sie waren auch nicht die Sache. Ich hatte gemerkt, dass die philosophische Lektüre Löcher produziert, Phasen reiner oder verhüllter Nachdenklichkeit, die sie von der Belletristik unterschied, in der das Undundund den Geist einlullt und weiterbefördert in Richtung Geister- oder Achterbahn. In diesem Sinn sind sicher auch meine ASKEMATA mehr der Philosophie geschuldet, als manchem meiner Leser recht sein dürfte. Ich nehme den Vorwurf, falls ihn jemand erheben sollte, gern auf mich. Noch immer möchte ich, was diese Dinge angeht, etwas herausbekommen. Diese Dinge sind meine Dinge. Wenn der Groschen fallen soll, dann erst einmal bei mir. So ging es mir schon auf der Insel, denn das eine sah ich mit großer Deutlichkeit: in dem Streit, den Anita da vom Zaun brach, ging es um Deutungshoheit. In der Beziehung gilt: Wer das Deuten hat, der hat auch das Sagen.

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Der Mann an der Karte bewegt den Zeiger

Nichts hatte mich, ungeachtet der Komik, an den Leckebusch-Abenden so berührt wie die Rhetorik des Begreifens.

  • Wenn Leckebusch das ›Bégreifen‹ als die Grundbewegung des anfänglichen Denkens und der unvermeidlichen Dialektik intonierte, hatte ich die Empfindung, vor einer Schwelle zu stehen, die zu überschreiten mir zwar nicht gleich gelingen würde, an die ich aber immer wieder würde zurückkehren müssen, um hinüberzugehen in ein anderes Leben, in dem das Lächerliche und Ungekonnte von den Wörtern abfiel und sie sich fügten – oder lösten –, um das, was man sagen konnte, auch wirklich so zu sagen, dass daraus der unwillentliche oder sogar vorsätzliche Versuch, es anderen nachzusprechen, vollständig verschwunden wäre.

Genau darin schien mir der Kern des Begreifens zu liegen: niemandem nach‑ und niemandem vorzusprechen, sondern ausschließlich und vollgültig als der und der Mensch zu sprechen, ohne dass es jemandem einfallen konnte, darin eine Beschränkung zu sehen, weil es die Beschränktheit des Einzelnen darin nicht oder nicht ernsthaft gab.

Ich glaubte zu verstehen, dass so etwas nur im Medium ›vernünftiger Rede‹ gelingen konnte. Wenn Begreifen das Ziel war, dann war vernünftige Rede das Mittel, das man sich gefallen lässt, um das Ziel zu erreichen. Da die Philosophen, die ich bei Leckebuschs getroffen hatte, sich nicht im Dienst befanden, setzte sich der Eindruck bei mir fest, die unendlich komplexe und schwer bedienbare Maschine ›Vernunft‹ müsse wohl in den Seminarräumen herumstehen, in denen sie ihren Beruf ausübten und sie hätten sie dort zurückgelassen, um wie andere Leute den Feierabend zu genießen … was ihnen nur teilweise gelang, weil sie es nicht schafften, die von ihr ausgehende Faszination für ein paar Stunden abzuschütteln.

Falls sie es denn wollten. Darin lag eine Schwierigkeit, aber auch ein Ansporn. Dass es Orte gab, an denen man die menschliche Vernunft – und zwar in voller Tätigkeit – besichtigen konnte, veränderte die Welt in nicht unerheblichem Maße. Jedenfalls beruhigte und beunruhigte mich der Gedanke. Während mehr und mehr Leute aus meiner Umgebung an Orte wie das indische Poona reisten und sich dort in seltsame Gewänder kleideten, um irgendwelcher Erleuchtungen teilhaftig zu werden, die sich nur in Form kindlicher Sprüche weiter geben ließen, plauderte ich hier mit den Würdenträgern des wirklichen Wissens, des Wissens, das die Welt veränderte, indem es sie interpretierte.

Denn dass diese Menschen für eine andere Welt als die bestehende arbeiteten, stand bei den Zusammenkünften, an denen ich als Zaungast teilnehmen durfte, außer Frage.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Ist es möglich, dem Irrtum entsagend sich zu irren?

Es ist wahrscheinlich.

Erstaunt hatte ich seinerzeit zur Kenntnis genommen, dass ein prominenter, mittels Freikauf in den Westen entsorgter Kritiker der realsozialistischen Ökonomie, ein theoretischer Kopf, in Poona gesichtet worden war, just dort, wo der große Bhagwan Shree Rajneesh sein kleines, aber profitables Business betrieb.

  • Nein, es ist nicht so, dass, wer dem Irrtum abschwört, sich in der Wahrheit bewegte. Das wäre in vielerlei Hinsicht zu einfach. Viele Menschen, von ihrer Beziehung enttäuscht, retten sich in die nächste und übernächste, ohne zu merken, dass sie Beute bleiben –– Schatzgut stets der gleichen Freibeuter beiderlei Geschlechts, nicht unähnlich der wissenschaftlichen Fracht, von der oben die Rede war. Die Wissenschaft, nicht faul, nimmt sich ihrer an, verführt sie wie R und verarbeitet sie zu Statistik. Minutiös führen sie Klage über die Verfehlungen der anderen Seite, ohne einen Blick auf die Beziehung selbst zu werfen, das Modell, dem sie mit ewig gleicher Inbrunst ihr Lebensglück zu Füßen legen.

Die Borniertheit der Menschenseele lässt äußere, in der Realität entfallene Zwänge als innere fortleben. Wer den heiligen Marx gegen den zur impersonalen ›Struktur‹ mutierten heiligen Stalin stark gemacht hatte, war im Osten ein Rebell, im Westen ein Medienereignis und – vielleicht gerade deshalb – ein wissenschaftlicher Sektierer. So jemand mochte Gründe haben, sich auf die Suche nach einer neuen ›starken‹ Bindung zu begeben, und wer war dafür besser geeignet als ein Guru, der die Befreiung von allen Zwängen, inneren und äußeren, mittels einfacher ritueller Handlungen verkaufte?

  • Vielleicht tat ich dem Ökonomen Unrecht und er reihte sich zu Forschungszwecken in die Pilgerschar ein oder befriedigte nur seine Reiselust, vielleicht war er auch flugsüchtig oder es ging ihm nicht viel anders als mir und er suchte in einer Maskerade, was ich auf der Insel suchte: einen allen polemischen Verhältnissen enthobenen Ort, an dem es möglich sein sollte, Wirklichkeit zu ›konzipieren‹, was wohl ›empfangen‹ hieß, aber einen seltsam aktivistischen Beigeschmack besaß, den die sexuelle Bedeutung so nicht hergab.

Vielleicht ja doch.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Hauptweg und Nebenwege
  • Ein Bild des Bauhaus-Malers Klee: ein buntes Labyrinth aus tausend kleinen, leicht gegeneinander verschobenen Rechtecken, die dazu einladen, Wege zu suchen und zu finden, den Hauptweg vor allem, den Weg nach draußen, von dem alle Menschheitsbastler träumen. Ihr werdet ihn nicht finden. Warum? Das wäre etwas ganz Neues.

  • Gleich daneben: Tabula rasa. Das weiße Quadrat im weißen Rahmen vor weißem Hintergrund: Traum jeder Galerie, oft realisiert, doch selten erreicht wie alles, was nur vollkommen Sinn macht. Maler sind Pfuscher aus Überzeugung, sie meiden das Vollkommene, weil es ihr Gewerbe zerstört. Frauen wollen perfekt sein, das prädestiniert sie fürs Unglück.

  • Tenborch, noch einmal: Reisen, um den inneren Kompass neu zu justieren, Gleiten auf den Möbiusbändern einer ewig trügerischen Einbildungskraft, mit immer den gleichen Höhen und Tiefen, als lägen Unendlichkeiten dazwischen, durchmessen und unbetretbar, here we are, Fähnchenträger des Glaubens, dass man sich nur die Hacken ablaufen muss, um das nie Dagewesene zu erfahren, um seiner ›ansichtig‹ zu werden, wie es korrekt heißen sollte, denn an sich ist es immer da und der Schlaueste dreht sich rechtzeitig nach ihm um.

 

Das Gesichtswesen Mensch braucht das geschaffene Gegenüber, in dem es sich erkennt, den Spiegel, und es ist herzlich gleichgültig, ob es sich dabei um Kulturlandschaften, Meditationsräume oder Fruchtbarkeitstabellen handelt. Nicht was es darin erblickt, ist wichtig, sondern der Umstand, dass es kontaminiert ist mit Arbeit, Beschäftigung, Mühen, Ausgaben, Seelenzuständen, mit zugebrachter und verausgabter Zeit.

 

Dass man in Spiegeln der Zeit ansichtig wird, wissen viele Leute und es ist ihnen unheimlich. Aber es überwiegt die Befriedigung, sagen zu können: ›Das bin ich, das alles bin ich noch einmal‹, und in diesem ›noch einmal‹ steckt der Gedanke des Wirklichen: ›Ich bin’s, ich bin es wirklich.‹ Alles andere – ›Was, das soll ich sein? Nie und nimmer!‹ – ist Koketterie, ist unerfülltes Auf-Nummer-sicher-Gehen, weil man nicht weiß, ob den anderen auch gefällt, was sie von einem zu sehen bekommen.

 

Die Plackerei im Angesicht einer nicht zu bewältigenden Fülle von Möglichkeiten lässt den anderen nicht aus, aber er steht, wie im Moment der Empfängnis, nicht im Zentrum. Insofern hatte Anita nicht einmal Unrecht, wenn sie mich zurückbeorderte und verlangte, dass ich mich ›stattdessen‹ mit ihr beschäftigte, wobei es sie nicht die Bohne interessierte, womit ich mich augenblicklich befasste, abgesehen davon, dass sie mir kein Sterbenswort glaubte.

Anita oder Die Häuslichkeit
19
An dieser Stelle

könnte ich mich verabschieden.
Not with a Whimper but a Bang.

Sie war ihm hörig (wenn nicht ihm, so seinem Projekt, was die Sache nur schlimmer macht). Ihre Telefonate, ihre Aushäusigkeiten, ihre Stimmungsumschläge, ihre tausendfach erprobte Unzuverlässigkeit, sie alle bekommen durch die eine Information, die ich nicht länger unterdrücken möchte, einen Sinn, zwar keinen guten, aber einen klaren. Ich sehe das, was du nicht siehst, könnte ich meinem Insel-Ich zurufen, das brächte es weder zu sich noch an meine Seite, es rückte nur seinen Schiffbruch ins rechte Licht.

  • Diese Frau, die meine Loyalität mit Füßen trat (und ihre vermutlich mit), sah in dem, was ich hier trieb, nur einen Vorwand, mich nicht mit ihr zu beschäftigen. In ihren Augen war ich ein Abtrünniger, ein Renegat, der mit Feuer und Schwert gerettet zu werden verlangte. Denn ich war ihrer, ihr Kerl, ihr Maskottchen, ihr Poller, falls sie einmal Lust hatte, zu Hause anzulegen.

  • ›Liebe machen‹ – exakt umschreibt der traurige Euphemismus den Freiraum, den sie mir im Gehege unserer Gemeinsamkeiten anwies. Aus ihrer Sicht benahm sie sich großzügig, wenn sie ihren Körper meinen Phantasien zur Verfügung stellte, obwohl ich mit Bedauern zur Kenntnis nehmen musste, dass auch diese Großzügigkeit bereits abnahm. So, das wusste sie, gehörte es sich. Die Bewirtschaftung eines erworbenen Gutes ist eine andere Sache als die Ausgaben, die sein Erwerb mit sich bringt. Andererseits hängt beides zusammen, schließlich soll sich die Anschaffung lohnen.

  • Ihr unstetes Alltagsverhalten kam nicht zuletzt daher, dass sie zwischen kurz- und langfristigen Renditevorstellungen schwankte. War sie den einen Morgen bereit, das frisch erworbene Gut um des raschen Profits willen zu kannibalisieren, so träumte sie am nächsten Tag von langfristigen Investments und lebenslangen Amortisationen.

Hin‑ und hergeworfen zwischen extremen Behandlungsweisen, deren Beschreibung langweilen würde, weil die Beispiele unter die Kategorie ›Alltag‹ fallen und ihre Brisanz verflogen ist, sobald man sie festzuhalten versucht, hatte ich begriffen, dass es sinnvoll war, ihre Großzügigkeit, wenn man das so nennen durfte, nur in Maßen in Anspruch zu nehmen. Zu meinem nicht enden wollenden Erstaunen besaß die Frau, mit der ich Tisch und Bett teilte, zwei Körper. Der eine ›brauchte den Sex‹ und griff irrlichternd zu, sobald sich eine Gelegenheit bot, der andere erwies sich rasch als Gliederpuppe in den Fingern einer zwanghaft kalkulierenden, das Spiel von Aufwand und Ertrag bedenkenlos ausreizenden Person.

Vom Ausbruch des Krakatau 1883 existieren zwei Bilder. Das erste zeigt einen harmonischen Gipfel, eingebettet in Wälder, überschattet von Wolkendunst und dem Schattenspiel des frühen fotografischen Negativs, das zweite, eine Handzeichnung des Geologen Rogier Verbeek, die schroffe Abrisskante, an welcher der Hauptteil der Insel im Meer versank.

 

Not with a Bang but a Whimper.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Beklommen registrierte ich die Skala von Gefühlsausbrüchen, Stimmungsschwankungen und rasch verfestigten Verhaltensweisen, die auf nichts weniger als den Ruin meiner Seelenruhe zielte. Ich fand einfach kein Mittel, der rasanten Folge von Explosionen und Explosiönchen mit Festigkeit zu begegnen. Das lag vor allem daran, dass ich das zugrundeliegende Kalkül nicht erkennen konnte, also das Set von Regeln, nach denen physische Gegenwart in körperliche Nähe oder Abwehr umschlug, weshalb ich die Empfindung hatte, der Umschlag könne jederzeit und in jeder beliebigen Situation eintreten.
In dieser Lage heißt es auf Distanz gehen, obwohl sie das Problem nicht löst. Zwar bot die Insel den Vorzug physikalischer Distanz, doch weigerte sich meine Psyche, ihr den fälligen Tribut zu entrichten. Anitas Telefonstimme im Ohr, wollten die Segnungen der Ferne sich nicht länger einstellen, weder die imaginäre Lust am grenzenlos verfügbaren, da abwesenden Körper des Anderen noch die kaum realere, die aus der entschlossenen Abwehr seiner Anmutungen resultiert.
Natürlich konnte ich mich fragen, ob sich da eine Drohung oder doch eine Verheißung regte. War es Verheißung, so verbarg sie sich geschickt hinter der Maske der Drohung. Davon zeugten die nervösen Anwandlungen, die kleinen Schweißausbrüche und Absencen inmitten der wieder aufgenommenen Lektüre, die leise Panik, die sich meldete, wenn das Tageslicht sich irgendwo über dem Wasser verlor. Die Frage ist, wem sie ihr Zeugnis anboten. Außer mir war niemand da und ich verfügte nicht über die Freiheit, die nötig gewesen wäre, die verschwiegene Botschaft zu buchstabieren: die Freiheit, über eine Trennung von Anita nachzudenken, nachdem ich mich gerade mit ihr verbunden hatte.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Kleines Beziehungs-Einmaleins

Damals wusste ich noch nicht, dass der Trennungsgedanke den Kern einer Beziehung darstellt, dass also ›Beziehung‹ vor allem ›Aufschub‹ bedeutet. In dieser Hinsicht war ich nicht weniger unbedarft als das Gros meiner Altersgenossen. Heute weiß jede Göre darüber Bescheid, für mich ein untrügliches Zeichen, dass auch diese Form des Zusammenlebens in die Jahre gekommen ist. Das Ende der Beziehung war ›offen‹, die Paare ließen es ›bewusst offen‹, es hatte ›einfach keinen Zweck‹, darüber nachzudenken, während in der Praxis eine Seite taktisch klug versuchte, der anderen die Ausgänge zu verlegen und den immer möglichen Absprung der eigenen Person zu reservieren. Doch auch das Gegenteil war möglich. Nicht wenige übten sich in der Kunst, den anderen hinauszudrängen, so dass ihr Beziehungsleid hauptsächlich daraus entsprang, dass der Kerl oder die Tusse partout nicht ›schlussmachen‹ wollte.

Das mag seltsam klingen, da man jene versunkene Zeit heute gern mit libertinären Lebenspraktiken assoziiert, die der Revolte entstammten und sich emotional weiterhin ihr verbanden, während sie sich im Alltag nach und nach diversifizierten und subkulturell verfestigten. Aber diese Verbindung brachte es mit sich, dass die ›normale‹ Beziehung allgemein als gültiges Gegenmodell zu den revolutionären, leider auf Dauer unlebbaren Entwürfen gehandelt wurde, auch wenn interessierte Magazine die Dinge gelegentlich anders darzustellen wussten. Beziehungspflege und ideologisch unterfütterte Promiskuität ließen sich ohne weiteres miteinander vereinbaren, vermutlich, weil es dem Doppelaspekt von Sexualität auf zeitgemäße Weise Rechnung trug und sich – oberflächlich betrachtet – nicht allzu weit von einer Praxis entfernte, die man zu verabscheuen behauptete, während ihre als reaktionär geschmähten Vertreter keine sonderliche Mühe hatten, das Neue in den hergebrachten Begriffen zu interpretieren.

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Der Weltenbrand lässt auf sich warten

›Normalität‹, nicht ›Befreiung‹ hieß das Schlüsselwort jener Jahre, ›befreite Normalität‹, jedenfalls ›Normalität danach‹, nach der Revolte, die heute noch in den Köpfen spukt, als habe sich nach ihr die Welt neu entworfen, nach ihr und nach ihrem Bilde, auch wenn es in vielem antiquiert und gewissermaßen stammelnd daherkommt. Stammler habe ich in meinen jungen Jahren genug angetroffen, sie wahrten, wie sie sich verstanden, das Erbe der Revolution und waren gewillt, sie weiterzutragen, weiter bis an die Grenzen des Erträglichen, dafür waren sie gerade gebildet genug, das heißt ausreichend ungebildet und unerzogen, denn das wollten sie sein: die ungezogenen Kinder der Gesellschaft.

Die neue Normalität funktionierte anders. Sie bestand in dem braven Versuch, es den Älteren recht zu machen, statt sich ein eigenes Bild der Welt zu verschaffen und so zu leben, wie das Gesetz des eigenen Inneren es nahegelegt hätte. Damals, im Entwurf der tabulosen Gesellschaft, begann das neue Tabu sich zu regen und erste Erfolge einzusammeln, das heute die Welt mittels Sprachpropaganda regiert, zu deren frühen Regungen es gehört, vor dem Wort ›Propaganda‹ zurückzuzucken, sobald man sich den sakrosankten Gebräuchen der happy few nähert, der beati possidentes, deren Monopol auf den Fortschritt sich tief ins Gemüt der Einzelnen eingesenkt hat (vorausgesetzt, man kommt aus dem ehemaligen Westen und hat nie ernsthafte Bemühungen unternommen, über den Tellerrand der political correctness hinaus zu gelangen).

The new normal, das war: Karriere ohne Karriere, Gleichheit ohne Gleichheit, Sex ohne Liebe, ›symbiosefreie‹ Befriedigung, Kindschaft ohne Kinder (›Nimm mich!‹), politischer Etikettenschwindel, der sich bis in die Kinderbücher und Klassenzimmer hinein ergoss und Einstellungen schuf, hinter denen man später kopfschüttelnd zurückblieb. Die Sandwich-Generation, wie man sie später nannte, das heißt Leute wie ich und du und ihr, sie lebte und krepierte für die Beziehung, das über sie verhängte Geschlechterverhältnis, aus dessen Spinnennetz sie sich nie befreien konnte, sie mochte so viel Hohn und Häme darüber konsumieren, wie sie nur wollte. Wirklich kann niemand behaupten, die Literaten wären damals stumm geblieben. Sie kippten Gift in die Wunden, schrieben Paare, Passanten, waren auf dem gleichen Stamm gezogen wie all die anderen und ihr opportuner Konfrontismus verdoppelte den Frust. In D erklärt man zum Schriftsteller einen, der ätzen kann.

Identität, las ich bei Tronka – oder glaubte es zu lesen, denn ganz sicher war ich mir nie –, ist das Andere des Andersseins, seine abgedunkelte Seite, die immer anwesend bleibt, während sie abwesend scheint, was mehr mit der Art und Weise zu tun hat, sich in Gedanken auf den einen oder anderen Aspekt einer Sache zu konzentrieren, als mit der Sache selbst. Außerhalb dieser Beziehung, so Tronka – er schien an der Stelle nicht übermäßig originell zu sein, aber auf eine für mich schwer zu durchschauende Weise konsequenter als andere –, ergibt die Rede von ›Identität‹ gar keinen Sinn, was offenbar hieß, dass man sich nichts weiter dabei denken konnte, so sehr man sich auch anstrengte. Diese Beziehung war also auf jeden Fall etwas Festes, etwas, das sich auf keinen Fall auflösen ließ, selbst wenn man es wollte, und sie war allen Beziehungen eingesenkt, die ein Mensch eingehen konnte – in Gedanken, Worten und Werken –, da er es in ihnen notwendig mit diesen beiden, mit Identität und Andersheit, zu tun bekam, auch wenn er noch angestrengt versuchte, sich aus allen diesbezüglichen Fragen herauszuhalten. Auf der anderen Seite war sie offensichtlich etwas Abstraktes, das sich beliebig füttern ließ, so dass jede Beziehung, die jemand einging, als solche gleichwertig neben allen anderen stand, ohne dass es weiter darauf ankam, wer sich da mit wem aus welchen Gründen und zu welchem Zweck zusammenschloss, Hauptsache, das Spiel von Identität und Andersheit, das Kreisen um die Frage ›Wer bin ich und wer bist du?‹ konnte beginnen.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Dass es, am Ausgang einer langen Diskriminierung, auch Homosexuelle danach gelüstete, in ›ganz normalen‹ Beziehungen aufzugehen, war demnach dem Modell der Beziehung geschuldet, der neuen Normalität, die im Prinzip nicht länger zwischen Hetero‑ und Homosexualität unterschied. Entsprechend büßten die hergebrachten, mehr oder weniger zweckmäßig um die Institution der Ehe gruppierten Weisen heterosexueller Verbindung über Nacht ihre alten Unterschiede ein und wo ein paar Jahre früher der Liebhaber mit seiner Geliebten ins Bett gestiegen war, erwachte unsereiner auf dem Matratzenlager einer Beziehung, in der alles darauf angelegt war, die alten Rollenbilder zu verneinen und aus diesen fortgesetzten Akten der Verweigerung etwas hervorgehen zu lassen, das sich ›gut anfühlte‹, aber seine Meriten weitgehend im Schutz der Zukunft entfaltete.

Anita und ich waren, als wir zusammenzogen, einfach ein Stück weitergegangen als zuvor und mussten nun herausfinden, ob wir womöglich einen Schritt zu weit gegangen waren. Der Schritt selbst ließ sich nur schwer beurteilen, da die Berichte früherer Generationen fehlten, die einen Maßstab an die Hand hätten geben können. Wir wollten nicht beurteilen (und nicht beurteilt werden), wir wollten erproben. Als die ersten Bücher auf dem Markt erschienen, in denen nüchtern die Vor‑ und Nachteile des Zusammenziehens gegeneinander abgewogen wurden, zersprang diese Welt mit einem lautlosen, nichtsdestoweniger mächtigen Knall, der noch heute in den schlaflosen Nächten mancher Jahrgänge nachhallt.

Ich weiß, ich schweife ab. Aber die Abschweifung ist beabsichtigt, da sie das Durcheinander aus Gefühlen, Gedanken und fortgesetzter Lektüre vorführt, in das Anitas Anruf mich gestürzt hatte. Während ich weiterlas, nachdachte, hin und her lief, versuchte ich beständig, mich in Hörweite des Telefons aufzuhalten, ohne mir darüber groß Rechenschaft abzulegen. Mühsames Unterfangen! Der Apparat schwieg, und je länger er schwieg, desto dringlicher wartete ich auf den Anruf, der, was wohl? … die Entscheidung bringen musste.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Ich wachte auf und eine Stimme schrie: Mörder! Meine Hand fuhr tastend über die Bettdecke, aber da war niemand. Die Stimme war mein wild pochendes Herz

Jäger und Gejagte.
Jägerin und Gejagter.

Da war er, der Aufschub, um den ich gebeten hatte. Er nistete im Schweigen des Telefons. Sein Schweigen war aggressiv, dem Zerren des Hofhunds vergleichbar, an dem ich vorbeikam, wenn ich essen ging, nicht sanft, wie ich es erbeten hatte. Ich wollte Heimkehr, wann es mir passte. Das Telefon schrillte stumm: Trennung.

Solange das Telefon schwieg, war ich frei, die Inselexistenz fortzusetzen. Es konnte sein, dass Anita das anders sah und mein Schweigen als Auftakt zur Trennung verstand. Das konnte durchaus sein und barg sogar den versöhnlichen Nebenaspekt, dass ihr Drängen auf meine Rückkehr den Impuls andeutete, unsere Beziehung retten zu wollen.

Wie oft habe ich diesen Ausdruck seither gehört und als wie zweideutig habe ich ihn empfunden! Angenommen, es war so, dann musste ich mich fragen, welche Substanz einer Beziehung innewohnte, die es nicht ertrug, dass einer der Partner sich eine Zeitlang an einen exponierten Ort zurückzog, um durch eine Tür zu gehen.

Und wenn ich so fragte, dann war das, als hätte ich die Antwort schon gegeben: die Substanz der Beziehung bestand in der Beziehung, die solange Bestand hatte, wie sie bestand.

Seltsamerweise fasste der Gedanke, dass Anita ohne mich womöglich nicht leben konnte und deshalb stündlich mein Kommen ersehnte, nicht für den Bruchteil einer Sekunde in mir Fuß. Er war lächerlich. Eine Beziehung war kein Roman. Da flogen sie hin, die losen Blätter einer leer am Strand zurückgelassenen und langsam verrottenden Literatur.

Erwogen hatte ich ihn, ich meine jetzt: den Gedanken, schon, aber nur, um ihn gleich wieder zu verwerfen. Er passte nicht zum Bild der Beziehung, unserer Beziehung, als deren Architekt ich mich fühlte. Ich hatte sie entworfen, in mir hatte sie Gestalt angenommen, bevor wir beide daran gingen, sie zu realisieren. In mir begann sie zu bröckeln und meine Seele schrie: Verrat.

Anita oder Die Häuslichkeit
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Projekte, Projekte

  • ―Machen Sie einen Entwurf! hörte ich aus dem Mund der anwesenden Professoren, sobald ein privilegierter Student einen Einfall kundtat.
  • ―Machen Sie einen Entwurf!

Der Vorgang erinnerte mich an längst vergessen geglaubte Reden von Vorgesetzten und führte die Assoziation abgekauter Bleistifte mit sich. Hatte ich ein Bild unserer Beziehung entworfen? Das war schlimm, ziemlich schlimm, gerade das, was mir Anita am Telefon vorgeworfen hatte, ohne den Vorwurf zu präzisieren.

Es war auch nicht nötig, ich kannte ihn schon. Womit ich nicht andeuten möchte, dass er mich kalt ließ. Ah, Homo Faber, murmelte es in mir, oder doch Lady Chatterly? Es gab noch mehr Titel, die in Betracht kamen, es gab die sagenhafte Beauvoir, die Heldin der neuen weiblichen Transzendenz, und ich kannte Anitas Repertoire. Damit musste ein Mann in meinem Alter rechnen. Mag sein, dass mir gerade deshalb der Ausdruck so leicht in die Tasten fließt. Ich habe mir ein Bild gemacht, damals wie heute, das soll vorkommen. Wobei der Vorwurf, näher betrachtet, ziemlich unsinnig war, denn was ich mir machte, das waren Sorgen, wirkliche Sorgen, die aus Anitas auf Dauer gestellter Überspanntheit hervorkrochen und ihre Tentakeln in Ritzen einsenkten, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.

Habe ich Überspanntheit geschrieben? Oh. Sie war, der Therapeut hatte es festgestellt, ›bipolar gestört‹. Das hört sich besser an.

Kritzeleien

Kritzeleien
1
Renate Solbach: Figur 23

 

Ich saß mit Alexandra im Strandkorb und krakelte blutende Herzen. Sie blickte mir auf die Finger und ich errötete. Ohne hinzusehen, begann ich zu kritzeln, so wie ein Hund zu scharren beginnt, der etwas hinter sich lassen will. Mit der Sonne war die Hitze gekommen, das Meer gleißte, wie es seine Art ist, die Strandgänger faulten auf ihren Liegestühlen.

Und die Mutter blicket stumm

Es gab keinen Tisch, zumindest keinen gedeckten. Die Lust, falls es sie gab, schwieg, auch wenn das Quecksilber, das in Alexandra steckte, sachte Unruhe stiftete.

  • ―Lass sehen. Du zeichnest ja richtig. Was ist das denn?
  • ―Keine Ahnung.
  • ―Du siehst ja gar nicht hin.
  • ―Warum auch? Das ist ein Fingertanz.

Angefangen hatte es ein paar Tage vorher: eigenartige Figuren, wohl eher Figürchen zu nennen, begannen die Blätter zu füllen, die ich, um für den kommenden Gedankenansturm gewappnet zu sein, vor mir liegen hatte. Ich maß dem keine Bedeutung bei, kritzelte nach und nach auf alles, was sich als Zeichenfläche anbot: Notizzettel, Servietten, Informationsbroschüren, selbst eine Kladde, die ich für ernsthafte Aufzeichnungen mitgebracht hatte, musste von einem bestimmten Augenblick an herhalten, um diesen mir unerklärlichen und manchmal beinahe lästigen Drang abzuleiten.

Auch in der Wahl meines Zeichengeräts verfuhr ich nicht besonders wählerisch. Bleistift, Kugelschreiber, Federhalter, Kreide – alles erwies sich als gleich genehm, wenn der Tanz der Finger begann.

  • ―Wer ist das?
  • ―Warum fragst du nicht, was das ist?
  • ―Aber das sieht man doch.

Ich hätte es mir ja denken können. Sie sah etwas, was ich nicht sah. Nur sicher konnte ich mir nicht sein. Hieros obszön weißer Oberkörper tropfte auf uns herab.

Kritzeleien
2

Alexandra stieß ihn weg.

Die beiden, fiel mir auf, benahmen sich wie Geschwister. Hiero, bemüht, den Ton anzugeben, spielte hin und wieder den Gekränkten, aber das führte nicht weit. Alexandra, man hörte es an ihren meist kurzen Einlassungen, hatte mit dem Leben noch eine Rechnung offen. Hiero studierte und sie saß auf der Insel. Das könnte dir so passen, klang es zwischen ihren Sätzen. Ob es ihm passte oder nicht, er quittierte es mit einer winzigen Spur von Hochmut. Offenbar wälzte er Lebenspläne für sie, immer vorausgesetzt, sie schaffte es, sich rechtzeitig von ihrem Lebenshindernis, genannt Ehemann, zu verabschieden.

Ich fand Vergnügen an meinem Gekritzel. Die Aufmerksamkeit der beiden schmeichelte mir, auch wenn mir Hieros Lob etwas gekünstelt vorkam. Keinen Gedanke verschwendete ich daran, das Gekritzelte zu sammeln und zu verwahren. Ich vergaß es einfach wieder, sobald ich den Stift weglegte oder zu einem anderen Zweck gebrauchte. Eine künstliche Schläfrigkeit überkam mich, wenn ich die frisch entworfenen Figuren genauer zu betrachten begann, gepaart mit Ungeduld. Sie gaukelte mir vor, die unschuldige Aufmerksamkeit auf das Fabrizierte halte mich von der ernsthaften Gedankenbeschäftigung ab, zu der ich mich verpflichtet fühlte. Soviel Selbstvergessenheit widerte mich an und ich gelobte mir innerlich Besserung.

Wie hätte sie aussehen sollen? Ich kannte einen, der kannte einen Literaturpreisträger, der sich nicht mehr vom Telefon wegbewegte, um den Anruf der Frau seiner feuchten Träume nicht zu verpassen. So etwas landet früher oder später beim Therapeuten. Seiner riet ihm, das Schreiben aufzugeben und stattdessen zu fotografieren. Die Sünde der Reflexion führt in die Hörigkeit. Man sollte sie wegknipsen.

  • ―Und wohin mit den Fotos?
  • ―Sammeln. Ordnen. Verkaufen. Denk an die 68er. Das wird alles historisch.
  • ―Historisch? Ich denke eher, das verschimmelt. Wir sind nicht historisch. Kein Hahn wird nach uns krähen.
  • ―Muss es immer ein Hahn sein?
  • ―Die 68er, kam es von Hiero, können mich am A‑
  • ―Sag’ es nicht.
  • ―… lecken. Was soll ich nicht sagen?

Kritzeleien
3

So kommt es, dass ich nun, da diese Zeit in mir wieder auftaucht, um vielleicht endgültig zu verschwinden, nichts in der Hand habe, um zu demonstrieren: da und da und da. Das stammt von meiner Hand. Das ist schade, denn es bringt mich meinen verflossenen Regungen gegenüber in eine Lage, die sich nicht grundsätzlich von der unterscheidet, zu deren Klärung ich diese Aufzeichnungen begann.

Recht besehen, stellt sie sich noch verzwickter als jene dar, da ich ja im Besitz des Manuskripts bin, während in meinem, sicher bescheideneren Fall schon beim Corpus Fehlanzeige herrscht. Angesichts der umfassenden Gleichgültigkeit, welche die Welt beiden Tatbeständen entgegenbringt, ist das sicher eine eher marginale, um nicht zu sagen gleichgültige Differenz.

  • ―Also du hältst das jetzt nicht für Kunst, oder?

So klang Hiero, das Ekel, und Alexa verpasste ihm einen Nasenstüber.

Und doch, und doch... kitzelt mich neuerdings die Vorstellung, eine kleine Ausstellung der auch nach dem Verlassen der Insel noch jahrelang weitergeführten Kritzeleien im, sagen wir, Gemeente-Museum oder einem stillen Nebenraum der Neuen Pinakothek oder des Städel, in Gesellschaft der würdig oder bedächtig dreinblickenden Werke anerkannter Meister vergangener Jahrhunderte, könnte mir helfen, meine Gedanken zu ordnen und zu verstehen, worum es mir in jenen Wochen zu tun war. Mag sein, dass es sich um einen dann doch zu privaten Zweck handelt, um den Einsatz öffentlicher Gelder zu rechtfertigen. Aber vielleicht ist gerade das zu oberflächlich gedacht.

Wissen Sie’s? Sie wissen gar nichts.

Kritzeleien
4

Figuren, ganz ähnlich denen, die ich damals aufs Papier warf, erschienen mir jahrelang im Übergang zwischen Schlaf und Wachen, unentwegt sich wandelnd, hervorgetrieben und entschwindend wie Blasen auf einer harmlos sprudelnden Quelle. Ohne äußere Gedächtnisstütze, angewiesen allein auf eine durch just diese Träumereien zerrüttete und in die Irre geführte Erinnerung, betrachte ich sie als Ausfluss der Langeweile und der Übereilung … sagen wir also, aufs strengste angemessen einer Situation, in welcher der Wunsch und die Mühsal des Begreifens von mir Besitz ergriffen hatten und irgendeiner Klärung entgegensteuerten, von der ich nicht wusste, woher sie kommen sollte, der ich aber inbrünstig entgegenlebte.

Kritzeleien
5
Sich in die Brust werfend

beteuerte Hiero, niemals werde Tronka, die Landratte, einen Fuß auf die Insel setzen.

  • ―Hier ist mythologischer Grund. Das hält er nicht aus.
  • ―Aber, aber. Wo bleibt die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption?
  • ―Der ist es vollkommen egal, ob sie von Seeungeheuern träumt oder vom Jackpot.
  • ―Wo ist das Problem?
  • ―Er kommt nicht. Er kommt einfach nicht. Ihr könnt ihn ja fragen. Vielleicht beißt ihm die Midgardschlange den Kopf ab. Ich meine natürlich: im Traum.
  • ―Hiero! Sei nicht albern.

Alexandra schien ernsthaft erbost.

Angeregt durch meine Lektüren, fehlten mir die ›begrifflichen Mittel‹, um mich auf die einzig angemessene Weise zu ihnen ins Verhältnis zu setzen, soll heißen, sie weiterzudenken und das Erdachte anschließend, wie es sich gehört hätte, schriftlich zu fixieren, um dafür mit einer Note belohnt oder ausgenüchtert zu werden.

  • ―Stimmt. Wo bliebe denn sonst die Leistung.

Kein Wunder also, dass ich zu dem Zeichen-Trick griff, um die aus der Lektüre resultierende Erregung abzuführen. Auch hatte ich schon entdeckt, dass bei manchen Philosophen der Publikationszwang das Denken erst in Gang setzte, insofern konnte ich vor der Hand nicht mithalten. Aber wenigstens schien es nicht verboten zu sein, auf eigene Faust Denksport zu treiben. Insofern hätte ein wenig Forschheit genügen müssen, um mich von meinen infantilen Kritzeleien abzuhalten.

Kritzeleien
6
Bad Bank

  • ―Mompti? Nie gehört. Wer ist das?

Midgard, die Welt zwischen den Deichen, eine überschaubare Größe. Eine Welt so gut wie jede andere oder, wie Hiero sich ausdrückt: nicht autark, aber intakt.

  • ―Wir sind zu neugierig, um autark zu sein. Die Welt ist alles, was der Phall ist.

Den Zusatz hätte er sich schenken können.

Alles andere als infantil, ruhen Momptis Kritzeleien in der geräumigen Schatulle meines Gedächtnisses. Sie ruhen dort, vergleichbar den meinigen, ein Schatz, unzugänglich (denn offenbar weiß nur ich um seine Brisanz), der unverwandt darauf wartet, irgendwann in naher oder ferner Zukunft geborgen zu werden, durch fiebrige Hände zu wandern und –? Und was? Darüber darf einer gar nicht nachdenken, es ist verboten, es ist tabu.

Und dennoch gibt es ihn: den Ausstellungswert eines Menschen. Bin ich, diese Person, es wert, vor aller Welt ausgestellt zu werden? Mich selbst auszustellen, die Produkte meiner ›Regungen‹ und damit die Regungen selbst? Bin ich so unwert, dass man sich nicht scheut, mich wie ein ausgestopfter Balzhahn vor einer Reihe kurzsichtiger, zerstreuter, traumdröseliger oder nur beflissener Voyeure meine vertrockneten Flügel spreizen zu lassen?

Die Gedanken brechen leicht ab, wenn sie diese Stelle passieren, bloß Zyniker verbreiten sich an ihr auffallend gern. Mnemo-Spezialisten wie Museums- oder Archivleute, die mehr mit dem ›Wie‹ befasst sind, weichen rasch auf anthropologische Gemeinplätze aus, sobald die Rede sich dem ›Warum‹ nähert.

Mompti oder das Unreine

Mompti oder das Unreine
1
Renate Solbach: Figur 23

 

  • ―Du glaubst doch nicht im Ernst –

Was sollte ich nicht glauben? Und auch noch ›im Ernst‹?

Auch darin musste ich Anita, wenngleich lachend, recht geben. Falls ich Einsamkeit angestrebt hatte, die unbefleckte Ruhe der Gedankenwelt, so hatte ich mich geirrt. So sehr hatte ich mich an Alexandras Gegenwart – und Hieros – gewöhnt, dass ich unwillkürlich Ausschau nach ihnen hielt, sooft ich auf der Balustrade dem Gruß der Morgensonne entgegentrat. In Gedanken arbeitete ich die Gespräche nach, die ich mit ihnen am Strand oder im Schlosscafé führte, wenn sie mich nicht in meiner Absteige besuchen kamen. Vielleicht ja hatte ein Impuls, vergleichbar dem, der mich zu meinem plan‑ und ziellosen Gekritzel bewog, Veranlassung zu Momptis ersten Zeichnungen gegeben. Unmöglich war das nicht. Im Gegenteil, es leuchtete mir ein wie irgendetwas, das seine, vielleicht sogar Kunst überhaupt in einen größeren ›Kontext‹ stellte: Ja sicher, so kann es gewesen sein, also wird es so gewesen sein.

  • ―Beweise mir das Gegenteil! Du kannst es nicht.

Du willst es nicht einmal. Nicht, wenn Alexandras aufmerksamer Blick auf deinen Kritzeleien ruht, die, wie um das Durcheinander zu komplettieren, auf dem Tisch herumflattern. Und wenn ich ›erste‹ sage, dann meine ich nicht die Ausgeburten kindlichen Spiels und pädagogischer Mühen. Ich meine … was eigentlich? Ich meine seine Illustrationen, die ich besser Notate nennen sollte, Aufzeichnungen zu stattgehabten Lektüren, die auf seine Art der Lektüre schließen ließen, ohne sich zu einer bestimmten ›Lesart‹ zu verdichten. Hiero verstand das nicht.

  • ―Alles ist Lesart. Was soll es denn sonst sein?

Alles? Was bedeutete dann der Ausdruck ›blitzende Leiber‹? Gerade durchzuckte mich ein Blitz, dessen Herkunft zu entschlüsseln ich mich scheute, denn er kam aus dem Nichts und ich wusste nicht, was der Denker in spe von dieser Instanz hielt.

Mompti oder das Unreine
2
An solchen Stellen trat

die Eigensicht, diese schweigsame Instanz, in das Verhältnis ein, wie es sich zwischen Tronka und mir hergestellt hatte, und veränderte den Umgang, den wir miteinander pflegten.

Warum Tronka? Warum nicht ich?

Er war der Kreative von uns beiden, wie ich neidlos zugeben musste. Warum also: nicht ich? Weil Neidlosigkeit eine Schimäre ist. Wer die Kunst kennt, kennt den Neid. Neben dem Künstler, der sein Publikum in den Bann schlägt, sieht der bedeutendste Mensch blass aus – eine Spielfigur, ein bloßer Chip auf dem Glücksbrett der Evolution, von der in diesem Moment keiner spricht. Dieser Mensch spricht aus, was ich nicht einmal zu denken wage. Nein, er spricht es nicht aus, er lässt es aufleuchten. Muss ich mich jetzt schämen? Es ist kein offener Neid, es ist Schamneid, was der Künstler in seinem sensiblen Gegenüber erregt.

Wir waren Freunde geworden, wirkliche Freunde, die sich aufs Wort und oft genug wortlos, in einer Geste, verstanden. Seltsam nur, dass seine Lebensgefährtin von dieser Freundschaft nichts wusste und mich wie einen Kunden behandelte, dem man das ganze Sortiment vorgeführt hat und der sich einfach zu keinem Kauf entscheiden kann. Sie führte mich sogar in ihrer Kartei, wie ich bei Gelegenheit herausfand, vermutlich versehen mit allen möglichen Frage‑ und Ausrufezeichen.

Dabei mochte ich sie, ich mochte sie wirklich, sie schien mir nicht abgeneigt, die Zuneigung zu erwidern, aber es schien sich auch um ein zartes Gewächs zu handeln, das vor der rauen Witterung des Geschäfts nicht zu bestehen vermochte. Jedenfalls hatte es diesen Anschein.

Mompti oder das Unreine
3
Pas de deux

Wenigstens blieb ich von Anitas dauerbeleidigtem Alltagsgeplapper verschont. Hiero arbeitete wieder am Boot.

  • ―Ich kann dir nicht sagen, was mein Gekritzel bedeutet, erklärte ich Alexandra, sobald ich mit ihr allein war. Lass uns über Mompti sprechen.

Ihr Einwand hörte sich berechtigt an, aber ich wusste die Lösung.

  • ―Wie kann ich über Mompti sprechen, wenn ich seine Bilder nicht kenne?
  • ―Du musst die Augen schließen. Momptis Bilder sind in dir, ich werde sie einzeln abrufen. Sie sind mehr Zeichnungen als Bilder, sehr feine Zeichnungen, wenn du mich fragst, wie die Seele sie zeichnet, aber sie haben auch etwas von meinem Gekritzel. Was die Illustrationen angeht, so musst du dir ein Buch, Kafkas Prozess … eine Erzählung vorstellen, die durch die Seele gegangen ist, den ganzen langen Tunnel, den wir Bewusstsein nennen, ohne groß darüber Bescheid zu wissen, und jetzt kommt sie heraus, völlig verändert, auf eine Weise fertig, die sich beim Lesen, das immer weitergeht, gar nicht herstellen kann. Kannst du mir folgen? Das ist ganz einfach. Sieh hier –

Ich nahm ihre Hand, umfasste mit ihr den zufällig bereitliegenden Stift und begann, etwas gebremst durch das ungewohnte Hemmnis, meinen üblichen Fingertanz.

  • ―Nein, sieh nicht hin, überlass dich der Bewegung, beginne zu zeichnen. Lass die Psyche zeichnen und misch dich nicht ein. Misch dich einfach nicht ein. Wenn du anfängst zu wollen, entspanne. Es beginnt von allein, wenn du verstehst, was ich meine. Vergiss die Kunst, sonst kannst du sie gleich vergessen. Die Kunst ist keine Kunst. Wir nennen sie so, das ist richtig, aber nicht aus innerster Überzeugung. Wir drücken ihr diesen Stempel auf. Die Kunst bietet ja für Außenstehende den Vorteil, dass sich an ihr mehr oder weniger klar ablesen lässt, was den, der sie ausübt, ›umtreibt‹, so dass die Galerien als notgeborene Auskunftsinstanzen Einblick in die wirklich bewegenden Motive der Menschen geben oder gäben, wäre nicht die Zensur durch den vorgeschalteten Zeitgeist und seine Spekulationen über die ›Güte‹ des Materials allgegenwärtig.

    Es hatte mich überkommen und irgendwo schämte ich mich.

Mompti oder das Unreine
4
Das Geschlecht der Kunst

Proust, nach dem Geschlecht der Kunst gefragt, soll geantwortet haben: unbedingt, absolu. Er hätte auch überhaupt sagen können, aber das hätte kein Leckebusch dieser Welt begriffen. Was ich Alex verschwieg: ein Gutteil der Bilder, die ich bei Mompti gesehen hatte, gingen auf das Konto des jungen Mannes, der auch er einmal gewesen war. Irgendwann hatte er sich des noch unausgereiften Talents bemächtigt und ihm seine Motive unter die Haut gespritzt, direkt ins Blut, so dass es heute noch weh tat, sie zu betrachten. Aber da ging es mir anders als seinen Fans, deren Augen zu glänzen begannen, sobald sie sich in ihre frühen Jahre zurückgesetzt fühlten. Er hätte auch die in einem Winkel seines Raritätenkabinetts vergrabene schwarze Fahne der Anarchie entrollen und an die Wand heften können, der Effekt hätte genauso und vermutlich stärker auf die Tränendrüsen gedrückt. Zwischen einer Handvoll Blätter, scheinbar achtlos mit Reißzwecken an einem Holzbrett befestigt, hing eines, auf dem stand in fetten Versalien: KUNST, durchgestrichen und überdruckt mit dem Wort POTENZ. Was soll der Käse, spuckte er, nach den Papstbildern des Malers Bacon gefragt, wir haben das gemacht. Er meinte damit: Was den Geist des Aufruhrs angeht, lassen wir uns kein X für ein U vormachen. ›Wir‹? Hätte man seine damaligen Mitstreiter kontaktiert, sie hätten sich an kein Wir erinnert, jedenfalls an keines, in dem er eine bedeutende Rolle spielte. Die übriggebliebenen Wirs, die ich kannte, wussten nur von sich selbst und denen, die in den zeitgeschichtlichen Darstellungen paradierten. Sie hatten sogar mehrfach versucht, ihn aus den einschlägigen Kunsthandbüchern zu entfernen, aber eine aufmerksame Clique von Verehrern verhinderte das.

Mompti oder das Unreine
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Er war schweigsam

geworden, der Gute, bisweilen sehr schweigsam, solange die Rede sich nicht in jene Zeiten verirrte. Auch seine Arbeiten waren schweigsam geworden. Dennoch hielt sich etwas aus jenen stürmischen Zeiten in seinem Gebaren, es konnte einem so vorkommen, als habe es sich dorthin geflüchtet und treibe mit ihm seinen Schabernack, Schiffbruch mit Zuschauer, denn er machte dabei alles andere als eine gute Figur. Vielleicht wollte er auch, wie ein paar Kollegen im Osten, seine proletarische Kinderstube demonstrieren, aber keiner nahm sie ihm ab. Nur die Lebensgefährtin nahm sie ihm übel. Sie selbst hatte ihre diesbezüglichen Vorräte seit langem entsorgt.

Man trifft solche Paare in der Passantenwelt, wandelnde Erinnerungsstücke an vergangene Phasen der gesellschaftlichen Mobilisierung, die sie verbal nicht selten ironisieren. Der im Lebensgefühl fixierte, fast möchte ich schreiben: eingedoste kollektive Aufbruch hält gerade die Kraft nieder, die dem Einzelnen aus den eigenen, unabdingbar privaten Aufbrüchen zuwächst und ihm ermöglicht, sein Leben zu führen. Plötzlich stehen sie ›in der Mitte des Lebens‹ wie in einem Irrgarten, niemand weiß wie, von dichten Hecken umfangen, deren betäubender Duft ihren Lippen das Bekenntnis abpresst, im Großen und Ganzen einverstanden zu sein.

Gut möglich, dass sich Ama (die als Künstlerin so lange in seinem Schatten dilettieren konnte, bis er schwach genug geworden war, um ihr zur Verfügung zu stehen und in den Dienst ihrer ›Karriere‹ zu treten) irgendwann unauffällig in die erste Agentin der Gesellschaft verwandelt hatte. Ohne von ihm Rechenschaft zu erwarten, präsentierte sie nach und nach ihre Rechnungen, ohne Aussicht auf Erstattung, aber mit dem klaren Ergebnis seines immer umfassenderen Ruins.

Mompti oder das Unreine
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Alex, sprach es aus der Tiefe meines neuronalen Systems, für die Dauer dieses Insel-Aufenthalts ernenne ich dich zur Dame meines Herzens und bin dein ergebener Kavalier. Hast du verstanden? Nein? Auch gut. Das Verstehen kommt und geht, Hauptsache, es richtet keinen Schaden an. Obwohl man das nie wissen kann. Beispiel Mompti, den du nicht kennst: Lege ich probeweise meine Kritzeleien in Gedanken neben seine ausgereiften, unendlich subtilen Produktionen, dann bette ich ein vages, möglicherweise unüberschreitbares Noch-nicht neben ein sich soeben abzeichnendes, dem Verstehen noch weitgehend unzugängliches Nicht-mehr.

>Hast du das verstanden? Habe ich es verstanden? Nein? Und trotzdem sind nur du und ich in diesen Gedankenaustausch verwickelt. Versuchen wir es noch einmal. Ich stelle dir Mompti, den du gar nicht zu kennen brauchst, als Rennpferd vor. Das ist praktisch und begründet keine weiteren Ansprüche. Der Parcours, über den ihn sein Reiter treibt (über dessen Identität wir uns fürs erste keine Gedanken machen), ist mit verschiedenen Hürden bestückt, einige davon tragen Namen – ’68, Haus, Ama, Schwester, Flachdruck, Ausstellung, Kundschaft, Jury –, andere, künstlerisch wichtige, bleiben namenlos. Sie können plötzlich aus dem Nebel auftauchen und wieder verschwinden, denn auf der Kampfstätte, soviel sei verraten, liegt dichter Nebel. Der Reiter treibt sein Pferd Runde um Runde, der Parcours ist ein Irrgarten in der Zeit, in dem das Pferd einen Ausgang sucht, doch der einzige Ausgang, der es erwartet, ist der unauffällig seine Zeichen mehrende Tod, der ihm als Reiter im Nacken sitzt. Das wirst du doch verstehen. Verstehst du es?

>Mompti, siehst du, ist da irgendwann hineingeraten. Ich hingegen, von dem du im Grunde ebenso wenig kennst, kenne das Leben nicht anders. Alles, was ich bei Tronka gelesen habe, bestärkt mich darin, dass dieses Rennen keinen Anfang und kein Ende besitzt. Geburt und Tod, die beiden Grenzen, sind Schwellen, die eine für die Physis, der andere für das Bewusstsein, sie gehören also bereits zu den Hürden, die bewältigt werden müssen, obwohl sie andererseits außerhalb des Rennens liegen. Die Dinge werden verzwickt, wenn man sie von innen anschaut, weil einem das Innen ein Außen vorgaukelt, aber nicht will, dass man nach außen gelangt. Mompti ist ein Narr, und wo bleibe ich?

Mompti oder das Unreine
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Schritte patschten die Promenade herauf durch die vom letzten Regenguss stehengebliebenen Pfützen. Pitsch-patsch, pitsch-patsch, pitsch –.

Ich blickte hinaus und sah niemanden. Der Unbekannte musste dicht vor der Ladenfront stehen. Nach ein paar Tagen lebt so ein Haus, du atmest die Bewohner, du spürst das Gebälk, ein verborgener Sinn registriert seine Gäste. Eine Zeichnung von Mompti hatte ich mitgebracht und auf den Schreibtisch gestellt: Civil War Company. Die Schlange erhebt ihr Haupt. Ich hatte sie nachgestrichelt, da lag sie. Es war mein Strich, nicht seiner, man konnte ihn unbeholfen nennen, doch ich spürte, so hatte ich es gewollt. Ich will mich nicht messen.

Nein, meine Suppe eß’ ich nicht.

Mompti, der lesende Künstler, hatte keines der Bücher gelesen, mit deren Kenntnis ich ihn konfrontierte. Dabei las er fast ununterbrochen, las mit dem Ernst des Illustrators, der seine Aufgabe kennt. In der gegenwärtigen Krise stellte er sich förmlich in den Schatten seiner Lektüren, als schmerze das grelle Licht des Problems, das sein Talent neuerdings aufwarf. Mit den Jahren waren seine Bilder quasi zu wissenschaftlichen Apparaten mutiert. Leser, die aufs Wort fixiert blieben und die Bildbeigaben allenfalls mit einem Seitenblick bedachten, gingen an den Lesarten, die aus ihnen sickerten und sich als Pfützen im Lesergedächtnis sammelten, ahnungslos vorbei.

Eine ähnliche Verwandlung hatte sich bei ›frei‹ geschaffenen Blättern wie diesem vollzogen. Sie gehörten zwar zu keiner Lektüre, suggerierten jedoch, fast wie ein Variantenverzeichnis, den gereinigten und vollständig scheinenden Text, zu dem es gehört und dessen Kenntnis es daher ahnungsweise vermittelt.

In diesen Text las ich mich zur Zeit ein.

Civil War Company
Mompti oder das Unreine
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Worauf war ich gestoßen?

Nun, auf keine Sammlung wohlgeformter, überlegter, sich zu schlüssigen Argumentationen zusammenfügender Sätze. Eher auf Magma, dessen gelassene Drift Momptis Bilder durchpflügte, alles, was es dort zu sehen gab, verschob und verdrehte und selbst die Koordinaten nicht unberührt ließ, in deren Netz der Künstler sie eingetragen hatte. Momptis Denken, vollständig mit der Verteilung von Farbwerten, Strichqualitäten und dem, was er das ›Gesehene‹ nannte, beschäftigt, hatte es weder ausgelegt (wie die vom nächtlichen Fang zurückgekehrten Fischer am Strand von Scheveningen) noch empfangen (wie die Frauen, die sich der Beute bemächtigt hatten und sie nach Hause trugen). Es blieb Gedankenhintergrund und erinnerte den, der sich in diesen Dingen auskannte, daran, dass Denken sich weder linear noch in einer Ebene bewegt, sondern auf einem Grund unreflektierter Differenzen und ›Voraussetzungen‹ dahingleitet.

Mompti lachte, als ich Bemerkungen über diese Hintergedanken machte. Es war ein wohlmeinendes Lachen, er hätte wohl gern mehr darüber erfahren, aber es fiel ihm schwer, mir zuzuhören, er musste das Gespräch ins Banale abgleiten lassen, als hätte ich seinen Verstand an einer kitzligen Stelle berührt. Ein verschobenes Denken, so fand ich, war die Ursache all dieser Bilder. Ich glaubte zu wissen, was dieses Denken verschoben hatte. Eine Erwartung, die der Maler in seiner Jugend mit anderen geteilt hatte, war über die Jahre oder über Nacht davongegangen, sie hatte sich herausgezogen, ohne dass etwas anderes an ihrer Stelle sich hätte einnisten können, eine neue Erwartung vielleicht oder eine anders geartete Nüchternheit.

Mompti oder das Unreine
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Auch davon erzählte ich Alexandra. Jemand im Haus hatte die Handwerker. Es klopfte und brummte scheinbar von allen Seiten. Sie nickte ernsthaft und sagte dann etwas Unerwartetes.

  • ―Aber lernfähig ist der nicht.
  • ―Wie meinst du das?
  • ―Es ist schwer, alle Hoffnung fahren zu lassen.

Sie hatte recht. Als gesellschaftlicher Typus war Mompti überständig. Heute, da viele Menschen ›alle Hoffnung fahren‹ gelassen haben, lässt sich das leichter verstehen als damals, da der gesellschaftliche Slang sich erst langsam der neuen Verfassung anzupassen begann, die aus den Leuten sprach. Erkennbar wurde es am Ausbleiben des Ruhms, das ihn von den nur scheinbar erfolgreicheren Vertretern seiner Generation trennte.

In ›Lernprozessen‹ ohne Ende hechelten Leute, die er für seine Freunde hielt, hinter einer Wirklichkeit her, zu der sie sich ein paar Jahre früher in Fundamentalopposition befunden hatten. Bulldozer träumen nicht. Gelernt hätte auch er gern. Aber der kollektive Marsch an die Tröge stieß in seinem zart gebliebenen Gemüt auf keinen Widerhall mehr. Ohne sich völlig festzulegen, sympathisierte er mit der Überzeugung, dass jemand, der so begierig ›dem Feind‹ seine Handlungsweise abschaut, über kurz oder lang selbst zum Feind wird.

 

Ach, ich verstand ihn gut. Die etwas summarisch so genannte Neue Linke, von der Gesellschaft lange verfemt und willkommen geheißen und irgendwann unvermittelt in ihrer Mitte angekommen, gab den Hans im Glück, immer bereit, ihr Pfund in das umzutauschen, was ihr gerade dafür geboten wurde. Jeder Korruptionsfall, in den einer der ihren verwickelt war, war daher mehr: ein Symptom der laufenden Veränderung und ein weiteres Beweismittel in jenem stillen und ununterbrochenen Gerichtsverfahren, das in Momptis Kopf ablief und den ehedem geteilten, in einer Art Hassliebe festgehaltenen Gesinnungen galt. Die Erwartung hatte sie in alter Frische konserviert, ihr Ausbleiben die Überzeugung reifen lassen, sie allein hätten seine Generation ›gültig‹ geprägt und ihr das Genick gebrochen. Mompti war zum Gesinnungsfall geworden.

 

Währenddessen spielten sich andere, die es weiterhin mit der ihm abhanden gekommenen Erwartung hielten, als Verantwortungsethiker auf und bliesen zum Krieg.

Mompti oder das Unreine
10
Illusions perdues

Auf Momptis Blättern ist der umfassende Verrat zu besichtigen, den seiner Meinung nach alle begingen, welche die ›Ideen von ’68‹ weiter entwickelt hatten, indem sie sich nach Gutdünken aus ihnen den rhetorischen Mantel eines den jeweiligen Umständen angepassten Handelns zurechtschneiderten. Zu seinem Glück sah nicht jeder Bewunderer so genau hin, andernfalls hätte er, wie er mir zuzwinkerte, den Schuppen zumachen können. Auch das Schöne muss sterben, wenn es nichts zu beißen gibt. Und Ama wollte nicht sterben, jedenfalls nicht für eine Sache, die ihr, wenn nichts anderes mehr half, ›Angst machte‹. Auch Alexandra, die berufstätig war und über ein geregeltes Einkommen verfügte, hätte das verstanden. Hiero, dem ich, von der Insel zurückgekehrt, ein paar Grafiken zeigte, die mir Mompti im Lauf der Zeit überlassen hatte, zeigte sich überrascht:

  • ―Die Typen kennt man einfach.

Man erkennt sie in trauter Zwietracht an der Seite ihrer zu Karikaturen erstarrten Gesinnungsgenossen, die auf den Einstellungen der ersten Stunde insistierten und eine moralische Autorität in Anspruch nahmen, die keiner ernst zu nehmen brauchte. Man sieht, wie sie waren, sie schimmern gleichsam durch sich selbst hindurch wie zu Boden gesenkte Fackeln im Moment des Erlöschens. Man sieht durch ihre Augen in die Welt und ist not amused, denn was man sieht, ist das Bild einer kalten, von irgendeinem blinden Wunsch deformierten und zur Müllkippe deklarierten Utopie, aus der jemand Lurche in ein Aquarium umsetzt.

Mompti oder das Unreine
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Traumgewächs

Momptis Bilder rührten an etwas, das Leckebusch vermutlich als ›einsetzende Reflexion‹ bezeichnet hätte, angenommen, er sah in zeitgenössischer Malerei ›überhaupt‹ etwas anderes als eine sich stetig vermehrende Sammlung bunt bedruckter Geldscheine. Sie rührten daran, aber dabei blieb es dann auch. Ihr Thema war und blieb die Erwartung, er wohnte dem Prozess ihrer Erblindung bei und wurde so etwas wie ihr Chronist. Er sah die Leere in den Köpfen wachsen wie Cannabis, er nahm die Köpfe auseinander, um das Gewächs besser zu begutachten, und setzte sie wieder zusammen, nicht ohne kleine Verschiebungen vorzunehmen. Er bemerkte, wie das Ideenvakuum sich mit Machtgelüsten füllte, bis die Züge auseinandergingen und sich die wahren Gesichter zeigten, Gesichter ohne Wahrheit, wie er sie nun einmal verstand. Er wusste, dass ihm wenig Zeit blieb und dass er Ama mit durch diese Zeit schleppen musste. Er wusste es, so wie man weiß, dass letztlich der Fischbestand in stehenden Gewässern an Sauerstoffarmut zugrunde geht.

Mompti oder das Unreine
12

 

Der Wunsch, sich um jeden Preis ›unterhalten‹ zu lassen, zerstört früher oder später jede ernsthafte Lektüre. Er ist der Vater der clownesken Bücher, deren Bebilderung Mompti ein nicht unbehagliches Auskommen bescherte. Seine Lebensgefährtin wusste das wohl. Wenn er gelegentlich in Gefahr geriet, es zu vergessen, war sie unweigerlich zur Stelle und erinnerte ihn in brennender Sorge daran, welche unerledigten Aufgaben noch anstanden und von welcher Leute Auffassungen sie lebten, worauf er sich ein paar Tage grollend in seine Haut zurückzog, um anschließend schweigend weiter zu funktionieren.

Spesen. Notizen

Spesen. Notizen
1
Renate Solbach: Figur 24
Kommt Zeit, kommt Raum

Ein Schatten liegt auf diesen Aufzeichnungen, der Schatten Rs, in dessen Geist ich, von Tag zu Tag deutlicher, schreibend atme … ›gleichsam‹, denn alles klingt hier gleich und ungleich, in sich verschoben wie die Bildwelt Momptis, es ist, hinter den Sätzen, ein Vergleichen, ein An- und Abgleichen im Gange, von dem ich nicht weiß, wie es enden soll. Ich stehe in seiner Schuld, soviel ist mir inzwischen klar, er hat mich, wie damals Mompti, meine eigene Lebenszeit sehen gelehrt und mich dabei aufs Schwerste gekränkt … das alles, nachdem ich zuerst gar nichts zu sehen glaubte, einmal abgesehen vom Begreifen, das mir noch immer ein bisschen nach Bégreifen klingt und deshalb beiseite gestellt bleibt. Es ist aber nicht meine Lebenszeit, die mir Gedanken macht, auch nicht das Denken selbst, das Leib- und Magenthema Tronkas, des Denkerkönigs Ohneland, wie immer er mich traktiert hat, obwohl es nach wie vor Spannung verspricht. Es ist die minimale Bewegung des Sonnensystems, an der ich, als Lebender unter Lebenden, mit meinem Sinnen-Dingsda teilhaben durfte, bildhaft gesprochen (wie alles, was ich hier zum Besten gebe) und doch nicht bildlich genug, um als Parabel durchgehen zu können:

Und es bewegt sich doch.

Spesen. Notizen
2
Experimentum Mundi

R hat recht. Das ungeheure Experiment, den Menschen aus der Natur hinauszudrängen, ist unterwegs. Es läuft gut, jedenfalls für seine zahlreichen Initiatoren, aber nicht gut genug für die Natur, die in diesem Prozess über keine Stimme verfügt. Denn ein Prozess ist es, mit Richtern und Staatsanwälten, ein paar Verteidiger erheben das Wort hier und da, wenngleich ihre Position ersichtlich unterbesetzt ist, aber die Angeklagte, Riesin von Statur, zerdrückt die Anstrengungen in der hohlen Hand. Was ich damit sagen will? Der Weg vom Ngorongoro-Krater nach Angram ist kurz. Ein großer Schritt für die Menschheit, ein kleiner Schritt für den Einzelnen. Was ist der Mensch? Forscher der Vergangenheit haben ihn als Mängelwesen beschrieben, als sich selbst durch Ratio komplettierende biologische Maschine. genötigt, Ich halte dagegen: Die Lehre vom Instinktverlust ist Unsinn. Der Kompensationsgedanke ist Unsinn. Der Mensch ist das komplexeste Tier. Seine genetische Ausstattung deklassiert die der biologischen Konkurrenz. So sieht es aus. Sie spendiert ihm jene Entscheidungsspielräume, von denen die restliche Natur nur träumt (falls sie es kann und nicht selbst nur ein Vor-Traum ist). Selbstverständlich sind sie genetisch verankert. Wer glaubt, er könne ›contra naturam‹ handeln, ist in mancher Hinsicht auf der richtigen Seite, aber er muss sich auf einiges gefasst machen. Der universale Zweibeiner genießt das evolutionäre Privileg, sich vor Publikum interpretieren zu müssen. Er darf sich die Kleidung aussuchen, die ihm Anerkennung einbringen soll. Aber tragen muss er sie, will er vor Scham nicht vergehen.

Spesen. Notizen
3
Organisches

Das Gefühl, du musst etwas zulegen, während das Ganze an Wert verliert, erst langsam, dann, fast unmerklich am Anfang, schneller, du legst aber langsamer zu, als es nötig wäre, um den Verlust auszugleichen, erst aus Wahlfreiheit, aus Daffke, dann aus Kapazitätsmangel, was immer das heißen mag, vielleicht aus Unvermögen, den Vorgang in seiner Tiefe zu begreifen, und die Schere öffnet sich, öffnet sich – nicht zu deinen Gunsten … ein Traum, ein Albtraum, der von Zeit zu Zeit in die Wirklichkeit einzieht, sie unterminiert wie dich selbst: dann ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem es heißt, die Zelte abzubrechen. So erging es mir auf der Insel: weder die Bequemlichkeit des Balkonstuhls noch die Heimeligkeit der Strandkörbe noch das Gefühl körperlicher Frische nach einem Strandlauf konnte daran etwas ändern. Die Lektüren, die zu absolvieren ich gekommen war, hatten den Glanz des Anfangs verloren. Begann ich zu lesen, durchflog mich der Gedanke, ein Schatten nur, nichtsdestoweniger ein Gedanke: Das kannst du genauso gut (oder besser) zu Hause erledigen. Angram, die Geheimnisvolle, ein Organismus sui generis, hatte den Fremdkörper eine Zeitlang geduldet und jetzt schied sie ihn, Stückchen für Stückchen, aus.
ANGRAMAnders, vielleicht vornehmer ausgedrückt: Angram versank, bei vollem, vielleicht nicht mehr so grellem Sonnenlicht, vor meinen Augen im Nebel. Wie damals sehe ich Hiero und Alexandra sich in Alltagswesen zurückverwandeln und achtern zurückbleiben. Das geschah nicht blicklos, es gab keinen Bruch zwischen uns. Wir grüßten einander weiterhin freudig und plauderten ein wenig. Eine blinkende Vertrautheit erhielt sich bis zum Schluss, als durchschaue jeder die verborgene Identität des anderen und respektiere sein neuerliches Inkognito.

Spesen. Notizen
4
Mehr Luft

Mängelwesen ist nicht der Mensch, sondern die als ›wesenhaft‹ empfundene Umwelt. Die Zeiten des Überflusses gehen schnell vorüber und mit ihnen die Phasen, in denen der Mensch sich ohne magische Anleihen orientiert. Wenn die Atmosphäre verschwimmt, um sich neu zu sortieren, dann sagt man gern: etwas liegt in der Luft. Dabei treibt die Luft selbst, das riesige Luftmeer, ein Spiel mit den Menschen. Alle Menschen sind Luftwesen. Der verdurstende Mensch stöhnt »Wasser«, doch sein erstes, kaum reflektiertes Begehren heißt: Luft. Lange bevor die Atemluft knapp wird, wird es die Luft zum Atmen – der kleine Unterschied ist jedem Sprachkundigen geläufig. Deshalb, dies nebenbei, besteht der sicherste Weg, die Menschheit zu pathologisieren, darin, ihr einzureden, sie schade mit ihrem Ausstoß an CO2 der Natur. Allein das Wort ›Ausstoß‹ beleidigt das Lebewesen Mensch. Wir gleiten dahin, ein kleiner Ausschnitt aus dem Verwandlungsgeschehen der Natur, ein Fitzelchen, ein Stöckchen im Strudel, ein Abdruck im Schlick, mit Mompti zu reden, der sich langsam füllt. Stockt der Atem, stockt alles. Warum spürt man Wetterfühligkeit stärker, wenn man mit sich allein ist? Vermutlich atmet sich’s leichter im gleichen Rhythmus. Man geht auch leichter auseinander.

Spesen. Notizen
5
Das Elisabethanische Zeitalter

Ich gehöre nicht zu den glücklichen Menschen, die in Parabeln denken (und ich bezweifle, dass R zu ihnen gehört). Ich muss wissen, worum es sich handelt, bevor ich den Mund aufmache oder in die Tasten greife. Ich will mitreden können, zumindest können, nachdem ich begriffen habe, wer in diesem Lande das Sagen hat und wer nicht. Man trifft auf Menschen, die sind immer schon angekommen, sie stürzen von einem Ende der Skala zum anderen, ohne Zwischenstopp, ohne gelten zu lassen, ohne zuzulassen, dass Geltung sich bildet. Das sind, ich will nicht sagen, meine Widersacher, aber mit einem Seitenblick auf Rs Manuskript möchte ich sie, nur dies eine Mal, ›Antipoden‹ nennen. Das ist ein schönes, ein altmodisches Wort, und es trägt am ehesten der Tatsache Rechnung, dass ich oft genug in meinem Leben ihre Füße im Gesicht zu spüren bekam.

Auch Elisabeth (die Elisabeth meiner Erinnerung) gehörte zu den Fertigen. Ich schreibe das ohne Zorn, denn ich habe sie geliebt. Außerdem ist sie, soviel ich weiß, noch quicklebendig, auch wenn unser Kontakt aus Gründen, die nicht hierher gehören, endgültig der Vergangenheit angehört. Menschen wie Elisabeth nehmen sich, was sie brauchen, und sie brauchen viel. Heute nennt man solche Menschen Ikonen. Die Medien tragen sie, von trügerischen Floskeln angestrahlt, dem Menschheitsteil voraus, der sich dafür erwärmt. Würde morgen dieser Planet dank eines winzigen kosmischen Ereignisses verglühen und überlebte, dank eines unglücklichen Zufalls, ein Journalist – ich denke da an einen bestimmten –, dann würde er, gefragt, was an ihm so bemerkenswert war, vermutlich antworten: Elisabeth. Es gibt viele Elisabeth und täglich werden es mehr.

Spesen. Notizen
6
Puppets on a String

Wir haben den Pranger wieder eingeführt. Da klemmen sie: Elisabeth, Rennertz, Liz, Leckebusch, Hiero, Alexandra, Mompti un sine fru, wir … alle wie von mir gewünscht. Ein komischer Ort für Menschen, die man einmal geliebt, geehrt, geschätzt, beneidet hat. Fast hätte ich mich noch einmal an sie gewöhnt. Doch Reisen in die Vergangenheit enden, wie sie beginnen: abrupt.

  • ―Lass sie laufen. Was willst du? Sie sind Luft. Lass sie laufen. Oder willst du ihnen ewig hinterherhecheln? R hat sie benützt, ich weiß Bescheid. Das Gedächtnis hat sie ausgespuckt, es kann sie wieder einsammeln. Sie haben ihre Schuldigkeit getan, sie können gehen.
  • ― Gekommen, um zu bleiben. Das Netz, sagt man, verliert nichts.
  • ―Information ist Pranger. Wissen ist Pranger. Nichtwissen ist Pranger. Kunst ist Pranger. Ja sicher, auch sie.
  • ―Was hätte sie dem Wissen voraus? Unbekümmertheit? Ignoranz? Frechheit? Stattdessen auch sie: am Pranger.
  • ―Angespieen, verhöhnt, christusförmig. So sieht sie sich, so will sie gesehen werden.
  • ―Geleckt, willfährig, ein Spaß ohne Bedeutung. Ein Spaß für Hohl‑, Hohl‑, Hoh‑
  • ―Meintest du Köpfe?
  • ―Sie macht mir Angst.
  • ―Wem nicht? Wo es doch ihre Aufgabe ist.
  • ―Eine neue Kunst des Sagens ist angebrochen –: die Unterdrückung von Information. ›Wir sagen nichts. Oder doch? Oder nicht? Oder nicht doch? Wenn wir es nicht sagen, dann sagen es andere. Sie sagen es sowieso. Also sagen wir: Lüge.‹
  • Lüge, Lüge, Lüge. Noch was?
  • ―Heraus damit.
  • ―Warum dann ich?
  • ―Du sollst dir ein Beispiel nehmen. Elisabeth schadet der Pranger nicht. Sie stand schon immer dort, sie oder eine ihrer zahllosen Vorgängerinnen. Man möchte blasphemisch werden.

Stimmen. Steine.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch

Spesen. Notizen
7
Durchstoße die Leinwand!

Zugegeben, ich habe lange gebraucht, nicht um zu begreifen, wer vermag das schon, sondern um lesen zu lernen. Der Blick zurück – wie man den zweiten Durchgang gern nennt, obwohl es nicht mit Blicken getan ist – hat mich lesen gelehrt. Das Begreifen ist ein glitschiges Feld, man stolpert von Hypothese zu Hypothese, bis man fällt. Am Ende des Begreifens steht der Fall, der man ist, und wartet darauf, dass man näher kommt. Es gibt viele Fälle.

Mittlerweile lese ich im Manuskript wie in einem offenen Buch, um mich einer unbilligen Metapher zu bedienen, denn es ist kein Buch und wie mir scheint, will es auch keines werden.

Ein Netz, bestehend aus Interferenzen von Netzen

Man kann die Welt nicht zurückstopfen.

Man kann es für eine kurze Weile, aber es ist nicht recht und es geht nicht gut aus.

 

ALLES WAS IST MUSS AUCH ERKANNT WERDEN
ALLES ERKANNTE MUSS SEIN

Kurkonzert

Kurkonzert
1
Renate Solbach: Figur 25

 

Und wie ich mich erinnere. Jeden Morgen Schlag zehn riss es mich aus der Lektüre. Der Kopf kullerte in die Ecke, der Körper erhob sich taumelnd, tastete nach seinen Wunden und erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Vielleicht eine kleine Entschädigung? Rache! Sie sollen nicht davonkommen! Und sicher, sie blieben: die kleine Kapelle samt ihren Notenständern, die zierliche Frau mit dem komischen Mikrofon, die gigantischen Lautsprecher, vor deren Sound die Möwen entsetzt aufs Watt hinausflohen, denn Ruhe, Ruhe war nirgends.

Da waren Menschen,

drei, vier Reihen offenbar tauber Mitbürger und Mitbürgerinnen, vor der Front des Pavillons im weißen Sand aufgereiht, dem weißen Sand von Angram, stumpf schimmernd im Licht der kräftiger werdenden Sonne, die sich nicht scheute, dem Spektakel ein paar Minuten lang beizuwohnen. Ein paar Kinder spielten zwischen den Stühlen Fangen. Die Vertreibung aus dem Paradies ist eine ernste Sache. Sie zu bewerkstelligen braucht es Dilettanten. Zum Glück für alle gibt es sie in jeder Klasse und jedem Lebensalter.

Die Messe, die hier unter offenem Himmel stattfand, unterschied sich in wenigen, aber aufschlussreichen Details von der, die den meisten der Anwesenden noch immer im Blut lag, wenngleich sie sich abgeklärt gaben und sie Sonntag für Sonntag aussparten, so dass im Laufe der Jahre eine Öffnung entstanden war, durch die es zog. Den Ansager gab es auch hier. Er stellte die Stücke vor und klatschte in die Hände. Der Geist schwebte hernieder und die Hostie leuchtete auf. Sie trug ein kurzes Glitzerkleidchen und Schuhe, deren Absätze bis in den Himalaya reichten. Sie war stets dieselbe, ohne dieselbe zu sein. Sie war Hostie und Priesterin, ein Ensemble ewig gleicher Posen, abgeschaut den aus Fernsehen und Videoclips bekannten Kolleginnen.

Kurkonzert
2

Niemand hatte sie in die Kunst der Inszenierung eingewiesen, niemand zog sie für ihre Künste zur Rechenschaft. ›Das ist mein Leib‹ sagten ihre Gebärden, ›das ist mein Leib, den ich vor euch breche (nicht für euch, wo kämen wir da hin), das ist mein Blut, das ich vor euch in Wallung bringe, damit auch eures in Wallung gerate‹. Es wallte aber nichts und es brach nichts, außer der Illusion, der sie sich keine Sekunde lang hingab, da sie wusste, dass sie nicht zählte und sich daran nichts ändern würde. Die Leute auf der Promenade verlangsamten den Schritt und blieben ein, zwei Minuten stehen, bevor das Leben weiterging. Auch ich auf meinem Balkonsessel nahm schließlich, zurückgelehnt und fast entspannt, an dem Spektakel teil.

  • ―Nicht hinhören, einfach nicht hinhören, erklang die Stimme des Zimmerwirts über meinem Ohr. Man kann das trainieren. Nein, eigentlich nicht, man macht sich etwas vor. Aber es ist nicht immer da. Die verschärfte Haft findet hier drinnen statt.

Ich konnte mir vorstellen, auf welche Stelle am Kopf er deutete. Aber ich sah nicht hin. Das Buch auf meinen Beinen rutschte, glitt, klappte zusammen und fiel zu Boden. Er hatte recht, aber was er anbot, war keine Hilfe. Merkwürdige Dinge geschahen unter dem Diktat des Lärms. Das Wandern der Gedanken, gerade noch der soeben gelesenen Buchseite zugewandt und aus ihr die Inspiration für Ausflüge in unübersehbare Gelände beziehend, kam zum Erliegen. Umsonst ruderten die Ameisenfüße noch eine Weile, ehe sie vollends erschlafften.

  • ―Natürlich können sie einen ausschalten. Immer, an jedem Ort. Sie müssen dazu nicht in Erscheinung treten.

Auch du, Brutus. Ich hatte das Kinoplakat gesehen. Auch seine Welt wurde in Hollywood-Studios fabriziert.

 

Ich bringe dich weg, sprach der Mann zur Schildkröte. Wohin willst du mich bringen, gab die Schildkröte zurück, siehst du nicht, dass wir uns beide auf dem Rücken einer Schildkröte befinden? Warte nur ab, sie bringt uns überallhin.

Kurkonzert
3

Der rituelle Zirkus braucht keine Motive, er ist sich selbst genug und er funktioniert, solange er immer neue Konsumenten-Armeen aus dem Boden stampft. Die Urlauber, die dem Konzert hingebungsvoll lauschten, waren vom Veranstalter als alt und hässlich, als minderbemittelt in beiderlei Wortsinn konzipiert worden. Man hatte ihnen einen Geschmack aufs Ohr gedrückt wie einen Behördenstempel, der Mastschweine in Güteklassen unterteilt. Das war seltsam, denn sie unterschieden sich nicht von den Mitmenschen, die im Bilde (und somit jung, schön und intelligent) zu sein beanspruchten. Man hätte denken können, es seien dieselben Leute. Zum Beispiel zeigte sich nichts von der Verachtung, die junge Menschen für diese Art von Gedudel empfinden mussten, auf dem stark gebräunten Gesicht der Blondine dort – ich war jetzt doch aufgestanden und an die Brüstung getreten –, deren halboffener Mund die Sinnlichkeit eines Pin-up Girls demonstrierte. Auch der Jüngling an ihrer Seite, ein Wuschelkopf mit seltsam blasierten Zügen, der seine Augäpfel wie zwei überteuerte Rassehunde unter strenger Kontrolle Gassi gehen ließ, ließ nichts dergleichen erkennen. Abgesehen davon, dass sich auf den meisten Gesichtern ohnehin nicht viel zeigte, was man nicht bereits wusste, wirkte vielleicht die Zugehörigkeit zu diesem Ort, zu dieser Strandszene disziplinierend, so dass jeder das, was er hörte, weil er ihm nicht ausweichen konnte, ›nicht so übel‹ fand und daraus den Vorteil zog, sich obendrein für ungemein differenziert zu halten.

Kurkonzert
4

Wie naiv ich war. Ich wusste nichts davon, dass diese Dinge ununterbrochen und allerorten in kleinen und großen wissenschaftlichen Projekten erforscht wurden, vermutlich also auch geradewegs vor meinen Augen. Das Strandidyll trog. Es handelte sich, unsichtbar für meinesgleichen, um ein gesellschaftliches Labor, in dem die ausgeklügeltsten Untersuchungen liefen, ohne dass die Folgen für die erforschte Personengruppe, von leichten Gehörschäden abgesehen, als besonders gravierend eingeschätzt werden mussten. Vielleicht befand sich jenes Pärchen dort unten, für mich ein Emblem jugendlicher Selbstadoration, mitten in einer Feldstudie und kämpfte abends mit den Tücken gedruckter Statistiken. Vielleicht übte es sich in ›dichter Beschreibung‹. Womöglich hatte es auch meinen Balkon längst entdeckt und mich dem Inventar der imaginären Lokalität, die unter seinen emsigen Blicken und Fingern entstand, zugeschlagen. Die Professoren, die ich kannte, waren recht einseitig ausgewählt, es fehlten, ohne dass es mir damals aufgefallen wäre, die Sozialwissenschaftler und Psychologen. Vielleicht fand Leckebusch, Vertreter von Disziplinen, die dreist den Primat der Philosophie ablehnten und sich obendrein als ihre legitimen Erben ausgaben, hätten in seinem Hause nichts zu suchen. Vielleicht mieden sie ihn und seinesgleichen, oder es hatte sich, einfachste Lösung, ›nichts hergestellt‹: auch das ein Zug im unverwüstlichen Kampf der Fakultäten. So hatte ich mir inmitten meiner anspruchsvollen Lektüren den naiven Blick auf mein soziales Umfeld bewahrt. Ich weiß, das muss nicht immer der Blick des Naiven sein. Aber ich bin Realist genug um zuzugeben, dass es in meinem Fall wohl so war. Schon dass ich mir einen ›Durchblick‹ anmaßte, der mehr von Interesse und Langeweile diktiert wurde als von der Beherrschung der Werkzeuge, bezeugt den Sachverhalt. Mein angemaßter Blick vom Balkon war nicht dazu angetan, die Situation zu verbessern.

Kurkonzert
5

Das junge Paar, sie im kurzen weißen Rock, mit einer sandfarbenen Baumwollbluse bekleidet, er in Jeans und blauem T-Shirt, auf dem – untrügliches Kennzeichen der Banalität! – das Emblem irgendeiner amerikanischen Universität prangte, wartete wohl vor der Kulisse des Meeres auf eine Eingebung. Als ich nach einer Weile wieder hinsah, war es verschwunden. Anders das Gedudel, das mir jetzt im wie von ferne durchklingenden Rauschen der nahen Brandung langsam, ganz langsam zu versinken schien, so wie es im Meer von Punk, Hardrock und Softpop nur die winzige Zinne einer Sandburg repräsentierte, die unter Wasser bereits zu einer unförmigen Erhebung zerlaufen war und von Welle zu Welle weiter einsackte.

Die Welle

Die Welle
1
Renate Solbach: Figur 26

 

Es muss eine sommerliche Szene sein und sie muss in einem Park spielen, vielleicht im Garten eines vor langer Zeit gekauften oder einfach nur gemieteten Hauses: ich liege mit Anita im Bett und wenn ich den Kopf hebe, fällt mein Blick durch die Terrassenfenster auf eine Reihe unordentlich verteilter Stühle, einer ist ins Gras gekippt, auf einem anderen stapelt sich der Abfall vom Vorabend, es müssen Leute da gewesen und wieder gegangen sein, die Tür steht ein wenig auf und eine leichte Brise bauscht den Vorhang. Ich muss fest geschlafen haben, aber jetzt bin ich wach, Anita neben mir ist mäuschenstill, ich halte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Gedanken kommen und gehen, der stärkste unter ihnen ist die Stille, scharfgestellt und leicht ausgefranst an den Rändern, dort, wo der Lufthauch, der leise am Türrahmen scheuernde Store, ein Insekt, das den Weg durchs Gewebe nicht findet, gedämpftes Gezwitscher von draußen sich ablösen und durchdringen; so leicht ist die Welt. Ich hebe den Kopf, zwischen den Buchen, die ernst und freundlich im Morgenlicht stehen, bewegt sich eine Gestalt, kommt näher, sie trägt einen hellen Anzug, sie winkt, als wolle sie auf sich aufmerksam machen, aber nur kurz, ohne den Schritt zu verlangsamen, noch wenige Schritte und sie betritt die Terrasse.

Die Welle
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Ich kenne diesen Mann flüchtig, er ist ein Kollege meiner Frau, ein älterer Herr, als Gesprächspartner unattraktiv, aber kaum zu bremsen, er überquert die Terrasse, jetzt hebt er eine Hand und presst den Ballen gegen die Scheibe, als wolle er sich vom Inhalt des Zimmers überzeugen, und klopft leicht dagegen. Ich liege nackt unter der Decke, mein Geschlechtsteil ist geschwollen, das hier ist eine Distanzunterschreitung, ich weiß es, doch während ich darüber nachdenke, ob ich nur aufstehen und die Tür wortlos schließen oder ihn vom Grundstück jagen soll wie einen Hund oder einen Einbrecher, erhebt sich Anita, die gerade noch schlief, läuft in ihrem kurzen Pyjama zur Tür, schiebt den Store zur Seite und öffnet mit einer schlaftrunknen Geste, wie man sie unter Verwandten oder ganz ganz engen Freunden verwendet, und einem »Komm herein!, das kein Befremden und kein Zögern bekundet. Sie hat es verhalten gesprochen, mit einer stumpfen, vom Schlaf belegten Stimme, und dieser Mensch, den ich kaum kenne, betritt unser Schlafzimmer, er ›poltert herein‹, wirft mir einen flüchtigen Gruß zu und beginnt zu reden, als säße er im Lehrerzimmer oder auf der Terrasse, umgeben von Kolleginnen und Kollegen, es ist alles eins. Auch Anitas Stimme klingt rund und auskunftsfreudig, sie kokettiert nicht, sondern ist bei der Sache, sie spricht wie mit einem Familienmitglied, so ist es. Dieser Mann ist ein Teil ihrer Familie und ich habe es nicht gewusst. Er ist kein Onkel und auch kein älterer Cousin, sie wird ihm morgen wieder zwischen zwei Unterrichtsstunden auf dem Flur begegnen und sie werden die Gelegenheit zu zwei Sätzen nützen oder mit einem Augenzwinkern aneinander vorbeigehen, es ist eine einfache Beziehung, die vielleicht den Sex einschließt (was weiß ich), aber auf eine so lautlose und den ›Sachkontexten‹ zugewandte Weise, dass es nichts zu bedeuten hat, jedenfalls nichts, was einer ›von draußen‹ dabei unterstellen würde.

Seltsamerweise hat sich mein Glied weiter gestrafft, es schmerzt jetzt förmlich, so sehr hat es sich in die Sache hineingesteigert. Es würde mir nichts ausmachen, mich nackt aus dem Bett zu schälen und das kollegiale Gespräch in Richtung Bad zu verlassen, aber so, in diesem Zustand, ist daran nicht zu denken und das einzige, was mir bleibt – ich könnte den Kerl hinauswerfen, aber darauf habe ich bereits verzichtet –, ist der Rückzug in den Schlaf, der auch schon seine Boten vorausschickt. –

Die Welle
3

Als ich aufwache – auch das gehört zu den Spielen der Erinnerung, ich weiß –, ist der Raum verlassen, die Terrassentür steht offen und draußen stapeln sich die Stühle, die linde Brise weht noch immer, sie ist stärker geworden, aber das scheint mir vielleicht nur so. Befände ich mich noch auf der Insel, so würde ich mir eine Badehose überstreifen und zum Strand hin-übergehen. Hier begnüge ich mich damit, einen der Stühle vom Stapel zu heben, mich auf ihm niederzulassen und den weiten Himmel zu betrachten, der einen bemerkenswerten Anblick bietet. Ich gäbe viel darum, wenn mir jemand jetzt den Späher dort oben zeigte, dessen Kameraauge auf diese Terrasse gerichtet ist und Aufnahmen von mir und meinem Geschlechtsteil liefert, das schlaff und zusammengekrümelt keine Anstalten macht, sich ins Bild zu bringen, als ob es wüsste, dass es ohnehin unter der Auflösungsgrenze liegt und die Auswerter von ihm keine Notiz nehmen werden. Aber was haben sie dann davon, diesen schwarzen Punkt auf ihre Platten zu bannen, dieses auslöschbare Ich in einem versteinerten Weltall, unbewegt und ohne Beweger, Teil einer Struktur, für die sie Namen besitzen, die ich nicht kenne, Register, deren Vorhandensein ich nur ahnen kann, deren Art und Umfang mir aber bis ans Ende meiner Tage verborgen bleiben wird, abgelegt in Bunkersystemen, die den unbekannten Feind wie einen nahen Erlöser erwarten? Nichts, wie mir scheint, aber was mir scheint, ist ihnen Hekuba. Während sie angestrengt auf all diese Punkte starren, die ihnen nichts sagen, die zu sehen sie vielleicht nur vorgeben, da sie auf großräumige Bewegungen und Funktionsknoten konzentriert sind, regt sich dieses seltsame Bewusstsein, dem ein wolkenloser Himmel müheloser als jede Leinwand die Empfindung verschafft, da zu sein, da und dort, am wenigsten hier – wo, bitte, soll das sein?

Es regt sich.

Tabula

 

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